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Was kostet es, das Ruder noch einmal herumreißen und die eigenen Träume leben zu wollen? Seit zwanzig Jahren sitzt Pablo Simó im selben Architekturbüro und schafft den Absprung nicht. Ebenfalls zwanzig Jahre dauert seine Ehe mit Laura, mit der ihn nurmehr die Gewohnheit und die gemeinsame, pubertierende Tochter verbindet. Als unerwartet eine junge Frau ins Büro kommt und nach Nelson Jara fragt, enthüllt sich allmählich ein Geheimnis, in das Simó ebenso verwickelt ist wie sein Chef und eine Arbeitskollegin. Das aufgetauchte Mädchen bringt das prekäre Gleichgewicht von Simós Leben ins Schwanken. Und eine nach der anderen entgleiten ihm die Gewissheiten, die ihn bis zu diesem Augenblick getragen haben.
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Seitenzahl: 351
Pablo Simós Leben gerät ins Wanken, als ein junges Mädchen die Erinnerungen an den Querulanten Nelson Jara wachruft – was ist in jener Nacht in der Baugrube passiert? Kann man sein Leben mit vierzig noch mal rumreißen, ohne sich die Finger dabei schmutzig zu machen?
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Claudia Piñeiro (*1960) ist eine der erfolgreichsten Autorinnen Argentiniens. Nach dem Wirtschaftsstudium arbeitete sie als Journalistin, Dramatikerin und Regisseurin. Sie erhielt den Premio Clarín, den LiBeraturpreis und den Premio Hammett und war für den International Booker Prize nominiert.
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Peter Kultzen (*1962) studierte Romanistik und Germanistik in München, Salamanca, Madrid und Berlin. Er lebt als freier Lektor und Übersetzer spanisch- und portugiesischsprachiger Literatur in Berlin.
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Claudia Piñeiro
Der Riss
Kriminalroman
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel Las grietas de Jara bei Alfaguara Argentina, Buenos Aires.
Originaltitel: Las grietas de Jara
© by Claudia Piñeiro 2009
Vermittelt durch die Literarische Agentur Mertin, Inh. Nicole Witt
© by Unionsverlag, Zürich 2024
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: 101cats
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-30270-9
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Über dieses Buch
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Inhaltsverzeichnis
DER RISS
1 – Pablo Simó sitzt am Tisch und zeichnet den …2 – Borla braucht keine fünf Minuten, um sich die …3 – Abgesehen davon, dass jenseits des Waggonfensters erleuchtete Haltestellen …4 – Mehrere Tage lang hören Pablo Simó und die …5 – Pablo Simó hatte Nelson Jara wenige Wochen vor …6 – Nur eine Woche nach der Begegnung in dem …7 – Den Rest des Tages überlegt Pablo, welche Gebäude …8 – Als Pablo die Wohnung betritt, trifft er dort …9 – Als Pablo sich an diesem Abend ins Bett …10 – An diesem Nachmittag geht Pablo zum Friseur …11 – Gerade als Pablo den Reißverschluss an seinem neuen …12 – Für einen Samstagnachmittag sind viel zu viele Leute …13 – »Weil man es eben so macht« …14 – Während der drei Jahre seit der Nacht …15 – »Was ist das? Was machst du hier?«16 – Pablo Simó sitzt in der U-Bahn, und das …17 – Er steht früh auf. Es ist Sonntag …18 – Am Montag trinkt Pablo wie immer vor der …19 – Als wäre nichts passiert, bleibt Pablo den ganzen …20 – Mit dem Koffer in der Hand kommt er …21 – Früh am nächsten Morgen erscheint Pablo mit seinem …Mehr über dieses Buch
Über Claudia Piñeiro
Claudia Piñeiro: Lesen als Revanche
Claudia Piñeiro: »Frauen und Männer lesen unterschiedlich«
Über Peter Kultzen
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Für Sivori,der so wie Pablo Simó durch diese Stadt spaziertund über die Liebe nachdenkt.
»Hören Sie zu. Angenommen, dieser Knacks war nicht in Ihnen – nehmen wir an, es war ein Knacks im Grand Canyon.«
»Der Knacks war in mir«, sagte ich heroisch.
F. Scott Fitzgerald, Der Knacks
Pablo Simó sitzt am Tisch und zeichnet den Entwurf eines Gebäudes, das es nie geben wird. Wie jemand, der, ob er will oder nicht, Nacht für Nacht den gleichen Traum durchlebt, wiederholt er seit Jahren die immer gleiche Skizze: ein elfstöckiges Hochhaus, nach Norden gewandt. Er hat eine ganze Aktenmappe voll solcher Zeichnungen, wie viele es sind, weiß er nicht, er hat schon lange aufgehört, sie zu zählen – über hundert, noch keine tausend. Sie sind nicht nummeriert, tragen aber seine Signatur – Architekt Pablo Simó; außerdem datiert er sie. Um herauszufinden, wann er die erste Skizze angefertigt hat, müsste er ganz unten im Stapel nachsehen, das macht er aber nicht; auf der letzten steht das Datum dieses Tages: 15. März 2007. Irgendwann wird er den Stapel einmal durchzählen, ganz bestimmt, sagt er sich – lauter Zeichnungen desselben Hochhauses, auf dem immer gleichen Grundstück, immer dieselbe Anzahl von Fenstern und Balkons in immer demselben Abstand, unabänderlich die gleiche Fassade, der gleiche Garten vor dem beziehungsweise rings um das Gebäude, die gleichen Bäume, auf jeder Seite der Eingangstür einer. Würde er nachzählen, wie viele Ziegelsteine er jedes Mal auf der Fassade andeutet, käme er höchstwahrscheinlich stets auf dieselbe Anzahl, vermutet Pablo. Deshalb zählt er sie auch nicht, er hat Angst, seine Vermutung könnte sich bestätigen, was bedeuten würde, dass nicht er es ist, der immer wieder den gleichen Entwurf zeichnet, sondern dass der Entwurf sich gewissermaßen immer wieder von ihm zeichnen lässt.
Während sein drei Millimeter starker Caran-d’Ache-Bleistift über das Papier wandert, hier etwas schraffiert, da etwas nachbessert, redet Simó sich zum x-ten Mal ein, dass er dieses Hochhaus tatsächlich eines Tages bauen wird – sobald er sich endlich dazu durchringt, aus dem Architekturbüro Borla & Compagnons auszusteigen. Heute ist allerdings nicht der richtige Tag für solche Entschlüsse, sagt Pablo sich zumindest, um nicht daran denken zu müssen, dass er inzwischen fünfundvierzig Jahre alt ist, dass es immer unwahrscheinlicher wird, dass das Hochhaus jemals etwas anderes sein wird als eine Handvoll Bleistiftstriche auf einem weißen Blatt Papier und dass Marta Horvat zwei Meter von ihm entfernt nachlässig die Beine übereinanderschlägt, so als säße da gar niemand ihr gegenüber.
Auch wenn Marta Pablo Simós Aufmerksamkeit in Beschlag nimmt, ist es inzwischen nicht mehr so wie früher: Nicht dass Pablo nicht wollte, aber seit einiger Zeit – wie lange schon, sagt er sich lieber nicht – findet das Vergnügen, sich vorzustellen, sie gebe sich ihm hin, jedes Mal mittendrin ein jähes, ja gewaltsames Ende. Früher war das nicht so, da träumte er den ganzen Tag von Marta, und bei diesen Träumereien bestimmte er über sie, er zog sie aus, küsste sie, streichelte sie. Da er allerdings keinen Grund ausfindig machen konnte, weshalb er sich jemals von Laura trennen sollte, stellte er sich stattdessen einfach vor, Laura stürbe – schließlich sterben wir alle irgendwann einmal.
Marta sitzt zwei Meter von dem Tisch entfernt, an dem Pablo ebenso selbstverständlich den Bleistift über das Papier gleiten lässt, wie er geht spricht oder ein- und ausatmet. Marta diskutiert am Telefon lautstark mit einem Bauunternehmer. Sie schimpft, weil ein Fundament nicht rechtzeitig fertig geworden ist; dass es geregnet hat, interessiert sie nicht, sagt sie, auch nicht, dass in dem Monat zwei Feiertage waren, und der Streik der LKW-Fahrer schon gar nicht. Nachdrücklich wie immer, Pablo kennt das genau, erklärt sie, dass sie keinerlei Verständnis dafür hat, wenn Absprachen nicht eingehalten werden. Dann legt sie auf. Pablo sieht den Mann am anderen Ende der Leitung natürlich nicht, kann sich aber gut vorstellen, wie der sich fühlen muss, nachdem man ihm auf diese Weise das Wort abgeschnitten hat. Ohne hochzuschauen, weiß er, dass Marta inzwischen aufgestanden ist und im Zimmer hin und her geht, er hört jeden ihrer Schritte, hört, wie sie sich eine Zigarette anzündet, hört, wie sie das Feuerzeug wieder in die Handtasche wirft und die Handtasche auf ihren Stuhl, er hört, dass sie wieder losmarschiert – aber jetzt kommt sie zu ihm. Pablo schiebt seine Zeichnung unter ein paar Blätter, Marta soll nicht sehen, was er macht, es wäre zwar nicht das erste Mal, dass sie ihn beim Skizzieren seines nach Norden ausgerichteten elfstöckigen Hochhauses ertappt, aber er hat keine Lust auf ihre Kommentare über ihn und seine Obsessionen, »die nirgendwo hinführen«. So würde Marta Horvat sich allerdings niemals ausdrücken, sie würde stattdessen sagen: »Das haut so nicht hin, Pablo, mit der GFZ.« Und obwohl niemand Pablo das Wort GFZ zu erklären braucht, hat Marta das in all den Jahren immer wieder getan. Jedes Mal, wenn sie ihn beim Zeichnen seines geliebten Hochhauses überrascht hat, ist sie ihm mit diesem Einwand gekommen, so als hielte sie Pablo schlichtweg für unfähig zu begreifen, dass die gemäß Grundstücksfläche zugelassene Stockwerkanzahl keinesfalls unterschritten werden darf, weshalb es auch in Buenos Aires niemandem einfallen würde, sich auf einem Grundstück von der Größe von Pablos Projekt ausgerechnet auf mickrige elf Stockwerke zu beschränken. Pablo ließ sie jedes Mal einfach reden, obwohl er ihr Argument mit einer simplen Erklärung hätte entkräften können: Sein Hochhaus soll gar nicht in Buenos Aires stehen. Sein erstes ganz und gar eigenständiges Projekt möchte er nicht in dieser Stadt verwirklichen. Und er weiß auch, warum. Er kennt diese Stadt besser, als ihm lieb ist, keine ihrer Straßen ist er nicht schon irgendwann einmal auf der Suche nach einem Baugrundstück für das Architekturbüro Borla & Compagnons entlanggegangen, und deshalb weiß er auch, dass, bevor in Buenos Aires auch nur ein einziger Ziegelstein verbaut werden kann, ein Gebäude dem Untergang geweiht werden muss: Sei es ein Parkhaus, eine Schule, ein Einfamilienhaus, ein Kino, eine Lagerhalle oder ein Sportstudio, Hauptsache, das dazugehörige Grundstück ist lang und breit genug, um darauf ordentlich in die Höhe gehen zu können. Pablo Simó möchte aber nicht, dass sein Hochhaus sich auf den Trümmern eines anderen Gebäudes erhebt. Deshalb wird er, sobald der große Tag gekommen ist, eine andere Stadt dafür auswählen, wovon Marta wiederum keine Ahnung hat. Welche Stadt genau, weiß Pablo nicht – vielleicht ist es eine Stadt, die er noch gar nicht kennt –, sehr wohl aber weiß er, dass es eine Stadt sein soll, in der die Fassade seines Hauses das volle Morgenlicht empfängt, und zwar auf einem Grundstück, auf dem es für niemanden etwas zu beweinen gibt.
Marta Horvat bleibt hinter ihm stehen. Zuoberst auf dem Papierstapel, mit dem Pablo seine Skizze verdeckt, liegt ein Anzeigenentwurf, den er überprüfen muss, bevor er an die Werbeagentur zurückgeht. In ein paar Tagen beginnen sie wieder mit dem Verkauf schlüsselfertiger Wohnungen, innerhalb eines Gebäudes, von dem bislang bloß die Baugrube existiert. Die Anzeige muss unbedingt in der nächsten Wochenendausgabe erscheinen. »Wohnen Sie im Paradies auf Erden«, lautet die Überschrift, die in auffällig großen und bunten Buchstaben gesetzt ist, im Unterschied zu dem kleiner geschriebenen Text darunter, der allerdings in der Fußzeile noch einmal zu großer Form aufläuft, wo er – in Bordeauxrot – den Namen des Bauherrn verkündet: Architekturbüro Borla & Compagnons. Marta sieht Pablo über die Schulter und überfliegt den Anzeigentext. Sie weist ihn darauf hin, dass es nicht »Waschküche« heißen soll, sondern »Laundry«. Als Pablo zögert, macht sie ihm klar, dass die Agentur für diese Anzeige offensichtlich dieselbe Vorlage verwendet hat wie bei ihrem letzten Projekt, in der Avenida de La Plata; und in einem Stadtteil wie Boedo könne man durchaus von einer »Waschküche« sprechen, aber doch nicht in Palermo! Pablo gibt nach, streicht das Wort »Waschküche« durch und schreibt »Laundry« darüber. Als hätte sie mit diesem Hinweis für beide das Terrain abgesteckt, kehrt Marta zu ihrem Schreibtisch zurück und gibt zu verstehen, dass der Arbeitstag, wenigstens für sie, zu Ende ist.
Der Arbeitstag ist aber noch nicht zu Ende. Das weiß allerdings auch Architekt Borla nicht, weshalb er in diesem Augenblick aus seinem Büro kommt, in der Hand die Aktenmappe und einen Regenschirm. Letzteren muss er bei anderer Gelegenheit hier vergessen haben, heute Morgen war der Himmel über Buenos Aires nämlich strahlend blau, und so blieb es auch, wenigstens bis zum späteren Nachmittag. Borla tritt an Martas Schreibtisch und stellt ihr eine Reihe von Routinefragen; dabei schielt er in ihren Ausschnitt. Sie antwortet lächelnd, woraufhin Borla die Stimme senkt, sodass Pablo nicht mehr hören kann, worüber die beiden sich unterhalten; dass Martas schlechte Laune, in der sie noch vor Kurzem den Bauunternehmer durchs Telefon beschimpft hat, verflogen ist, ist jedoch nicht zu verkennen. Marta unterstreicht jedes ihrer Worte mit einer Handbewegung. Pablo verfolgt dieses Hin und Her von seinem Zeichentisch aus und ist dabei besonders vom hypnotisierenden Rot von Martas Fingernägeln in den Bann gezogen. Die Hände vollführen alle möglichen Figuren, bald geht es aufwärts, bald abwärts, bald im Kreis herum, dann verharren sie für einen Augenblick reglos, so als dächte ihre Besitzerin nach, bis diese sich die Hände vors Gesicht schlägt und dahinter aus vollem Hals lacht. Borla nähert den Mund jetzt ihrem Ohr und sagt etwas hinein, nur ein Wort, das nicht länger dauert als sein Hinabbeugen. Dann tritt er einen Schritt zurück, fasst die Frau in den Blick – und jetzt lachen beide.
Es sieht ganz danach aus, dass Pablo nur wenige Minuten später allein im Büro sein wird, woraufhin er wie jeden Abend seine Zeichenutensilien aufräumen und sich an die Brusttasche fassen wird, um sich zu vergewissern, dass das Maßband an seinem Platz ist. Anschließend wird er seinen Notizblock in die Innentasche seines Jacketts stecken, den Caran-d’Ache-Bleistift zwischen dem zweiten und dem dritten Hemdknopf anklipsen – die Spitze nach innen beziehungsweise unter dem Stoff –, um dann, wie immer als Letzter, das Büro zu verlassen. Doch manchmal nehmen die Dinge ganz unerwartet einen anderen Verlauf, so wie an diesem Abend, an dem Pablo Simó wieder einmal das elfstöckige Hochhaus gezeichnet hat, das er niemals bauen wird, beziehungsweise genau in dem Augenblick, als Borla gerade zu Marta gesagt hat: »Soll ich dich irgendwohin mitnehmen?« Denn da klingelt es plötzlich an der Tür, Borla macht auf, und herein kommt eine junge Frau mit schwarzen Turnschuhen, Jeans, weißem T-Shirt und einem riesigen Rucksack auf dem Rücken; so groß wie der ist, befindet die Frau sich bestimmt nicht bloß auf einem Spaziergang. Pablo schätzt ihr Alter auf kaum mehr als fünfundzwanzig Jahre, und ohne sich vorzustellen oder wenigstens zu grüßen, sagt die Frau:
»Kann mir jemand von Ihnen sagen, wo ich Nelson Jara finde?«
Und da bleibt die Welt – Pablo hat schon immer befürchtet, dass es irgendwann so kommen würde – für den Bruchteil einer Sekunde stehen, um sich gleich darauf mit Vollgas in Gegenrichtung weiterzudrehen. Ohne ein Wort zu sagen und ohne sich gegenseitig anzusehen, versetzen die drei Angesprochenen sich in die Nacht zurück – drei Jahre ist das jetzt her –, in die sie nie wieder zurückkehren wollten, das hatten sie sich damals geschworen.
»Entschuldigen Sie, ich bin auf der Suche nach Nelson Jara …« Die junge Frau gibt sich nicht so schnell geschlagen.
Architekt Borla taucht als Erster wieder in der Gegenwart auf und fragt: »Wie war der Name?«
»Nelson Jara«, sagt die Frau noch einmal.
»Sagt mir nichts«, erwidert Borla. Und fragt dann ihn, Pablo Simó: »Sagt dir das was, Pablo? Nelson Jara, ist dir der Name schon mal untergekommen?«
Borla wartet auf die verabredete Antwort – »Nee, nie gehört« –, aber da kann er lange warten. Pablo sagt weder das noch sonst etwas, er schweigt; bis dahin hat er Borla folgen können, bis zu dem Augenblick, in dem dieser seinen Part zu Ende gesprochen hat, aber – und da kann Borla ihn noch so eindringlich ansehen – jetzt bringt er kein Wort mehr hervor. Wie sollte er auch so tun, als wüsste er nicht, was, wie Pablo weiß, auch Marta weiß, und Borla ebenso: dass Nelson Jara nämlich tot ist und seine Leiche sich im Eingangsbereich befindet, mehrere Meter unterhalb der Fliesen, auf denen ständig jemand unterwegs ist, sie drei zum Beispiel, wenn sie wie jeden Tag das Bürogebäude betreten oder wieder verlassen; genau genommen liegt die Leiche unter dem Betonboden der Tiefgarage, eben dort, wo sie Nelson Jara in jener Nacht vor drei Jahren begraben haben.
Borla braucht keine fünf Minuten, um sich die junge Frau vom Hals zu schaffen. Er sagt, den Namen – wie war das noch mal, Nelson Jara? – hat er vielleicht doch schon mal gehört, kann sein, dass sie ihm irgendwann mal eine Wohnung verkauft haben, oder er sollte einen Auftrag für sie ausführen; wenn es wichtig ist, kann er auch in den Unterlagen nachsehen, aber was ihre eigentliche Frage betrifft – nein, also irgendwas Genaueres kann er ihr zu dem Mann nicht sagen. Borla wirkt tatsächlich sehr überzeugend, selbst Pablo würde ihm glauben, wüsste er nicht, dass Borla lügt. Für Marta dagegen ist die Sache offenbar nicht so einfach, sie lässt laut die Finger knacken – bei dem krachenden Geräusch könnte man glauben, sie bricht sie durch –, genau wie damals in der Nacht, und bei dem Geräusch, beziehungsweise bei dem Gedanken an das Geräusch, fühlt Pablo sich nicht gerade besser. Bis Borla schließlich zu der Frau sagt, die an diesem Abend einfach so bei ihnen hereingeschneit ist – dabei duzt er sie plötzlich –: »Entschuldige die Frage, aber wer bist du eigentlich?«
Da fühlt sich die Frau auf einmal sichtlich unbehaglich und antwortet das Erstbeste, was ihr einfällt, Hauptsache, dadurch sind weitere Fragen ausgeschlossen: »Es geht um eine Angelegenheit, die ich zu Ende bringen muss, dafür brauche ich ihn, sonst nichts.«
Aber Borla lässt sich nicht abschrecken: »Das muss ja was ziemlich Wichtiges sein.«
»Für mich schon.«
»Und worum geht es?«
»Was Persönliches«, sagt die junge Frau, und ihrem Tonfall ist zu entnehmen, dass mehr darüber nicht aus ihr herauszubekommen ist.
»Was Persönliches« – auch Pablo hat es gehört. Er blickt auf, und obwohl die Frau so tut, als wäre nichts, obwohl sie Borla erhobenen Kopfes direkt in die Augen sieht, merkt Pablo, dass sie verunsichert und auf ein Verhör, wie Borla es ihr aufzwingen möchte, nicht vorbereitet ist. Sie dagegen haben sich im Verlauf der letzten drei Jahre gründlich vorbereitet: Sie haben sich genau zurechtgelegt, was sie im Fall der Fälle auf jede nur denkbare Frage antworten würden, sie haben ihre Antworten immer wieder geprobt, haben vor dem Spiegel geübt und ausgemacht, wer von ihnen – Marta, Borla oder Pablo – wann was sagen soll.
Borlas Strategie geht auf, schon bald ist klar, dass, wenn überhaupt irgendjemand, dann die junge Frau hier unter Beobachtung steht.
»Was Persönliches«, sagt sie noch einmal, schon im Begriff, sich den schweren Rucksack, den sie auf dem Boden abgestellt hatte, wieder aufzuladen. Und dann fügt sie hinzu: »Also wenn Jara hier nicht aufzutreiben ist, dann können Sie mir jedenfalls nicht weiterhelfen. Aber trotzdem vielen Dank.« Das ist alles, ohne weitere Erklärungen öffnet sie die Tür und geht hinaus.
Borla, Marta Horvat und Pablo Simó verharren eine ganze Weile reglos. Wie lange das noch so hätte weitergehen können, bleibt offen, denn plötzlich klingelt das Telefon, und alle drei fahren erschrocken auf. Pablo geht dran, am anderen Ende ist Laura, die ihn gar nicht erst zu Wort kommen lässt. Sie sagt, er solle bitte früh nach Hause kommen. Dann legt sie eine Pause ein, und Pablo hört vom anderen Ende der Leitung einen leisen Seufzer, als müsste sie sich Mühe geben, nicht gleich loszuweinen. Kurz darauf sagt Laura noch einmal: »Kannst du heute früh kommen, Pablo, geht das?«
»Ich komme doch immer früh, Laura. Was ist denn los, kannst du mir das nicht sagen?«
»Ich sags dir, wenn du da bist.«
»Ist wieder was mit Francisca?«, mutmaßt Pablo.
»Ich hab doch gesagt: Wenn du da bist.«
Laura legt auf. Pablo betrachtet eine Weile den Hörer und legt dann seinerseits auf. Er will Borla und Marta schon erklären, worum es sich handelt, als er feststellt, dass die beiden das Gespräch überhaupt nicht beachtet haben. Ihnen ist nicht nur völlig egal, wer da warum gerade angerufen hat, sondern jede Äußerung von seiner Seite, die nicht mit der soeben verschwundenen jungen Frau und der Bedeutung – der möglichen Bedeutung – von deren unerwartetem Erscheinen bei ihnen im Büro zu tun hat, empfänden sie offensichtlich als Zumutung.
»Und jetzt, Mario?«, sagt Marta zu Borla.
»Nichts«, antwortet Borla so gelassen, dass Pablo nicht weiß, ob seine Selbstsicherheit echt oder bloß gespielt ist. »Wir brauchen die Sache nicht ernster zu nehmen, als sie ist: Die Frau sucht Jara, hier ist er nicht, wir brauchen uns also weiter keine Gedanken zu machen, so was kommt vor. Das war doch zu erwarten – das haben wir immer schon gewusst. Dass in den drei Jahren nie jemand nach ihm gefragt hat, war sowieso ein Riesenglück, stimmts, Pablo?«
Aber Pablo Simó antwortet nicht, er merkt gar nicht, dass Borla ihn anspricht, sein Blick ist inzwischen nämlich von Martas Händen zu seinen eigenen gewandert, allerdings nicht, weil er, so wie Marta bis gerade eben, seine Finger knacken lassen will. Er sieht seine Hände bloß an, wendet sie hin und her, ballt sie zusammen, öffnet sie wieder und denkt dabei, wie schmutzig sie in der Nacht damals waren, die ganze Erde unter den Fingernägeln, und wie weh das tat, noch viele Tage lang, und bei feuchtem Wetter kehrt der Schmerz zurück und erinnert ihn an etwas, was er nie hat vergessen können. Obwohl Marta immer noch zittert, tut sie jetzt wie beim Kartenspielen, soll heißen: Sie übergeht Pablo einfach, als hätte er »ich passe« gesagt, und antwortet an seiner Stelle: »Ich mach mir schon Sorgen … Warum hat sie ausgerechnet hier nach Jara gefragt? Warum denkt sie, wir könnten wissen, wo er ist?«
»Die war bestimmt nicht bloß hier, Marta«, erwidert Borla. »Die hat bestimmt überall rumgefragt, im ganzen Viertel, zuerst im Café, ganz sicher, und beim Metzger, und beim Portier bei ihm im Haus.« Um Marta zu beruhigen, versucht Borla es zuletzt mit einer Redewendung: »Man muss nicht aus jeder Mücke einen Elefanten machen.«
Borla sieht sie mit weit aufgerissenen Augen an, er will wissen, welche Wirkung seine Worte haben. Da weder Marta noch Pablo etwas sagen, fährt er fort: »Ich glaub nicht, dass die noch mal hier auftaucht. Wenn sie aber trotzdem wiederkommt und nach Jara fragt, sagen wir einfach das Gleiche: dass wir keine Ahnung haben, wo er sein könnte.«
Die letzten Worte hat Borla sehr entschieden ausgesprochen, für ihn ist das Thema damit beendet. Da er nicht erwartet, dass die anderen beiden noch etwas beisteuern, übernimmt er erneut die Initiative, greift nach Martas Handtasche, drückt sie ihr in die Hand, hilft ihr, in ihr Leinensakko zu schlüpfen, und während sie den Arm in den Ärmel schiebt, sagt er noch einmal nachdrücklich: »Keine Sorge, Marta, wir haben nichts zu befürchten.«
Dann geht er zur Tür, öffnet sie und fordert die beiden auf, hinauszugehen, um anschließend das Licht auszuschalten – was sonst immer Pablo übernimmt. Der Arbeitstag ist zu Ende, gibt er ihnen zu verstehen, ohne zu merken, wie sehr er Pablo Simó damit aus der Ruhe bringt, der in aller Eile seine Sachen zusammenschieben und in seinen Taschen verstauen muss, ohne das gewohnte Ritual einhalten zu können. Maßband, Bleistift und Notizblock dürfen mitkommen, aber nicht an der seit Urzeiten festgelegten Stelle, was, Pablo ahnt es, nichts Gutes verheißen kann.
Leichten Schrittes streben sie dem Ausgang entgegen und unterhalten sich über lauter belanglose, austauschbare Dinge, wie warm es ist für Mitte März, oder dass die Tage jetzt bald wieder kürzer werden, jedes Thema ist recht, solange es ihnen ermöglicht, so zu tun, als wäre dieser Arbeitstag in dem Augenblick zu Ende gegangen, als Borla zu Marta gesagt hat: »Soll ich dich irgendwohin mitnehmen?«, und als wäre daraufhin nicht die Tür aufgegangen und eine junge Frau in Jeans, weißem T-Shirt und schwarzen Turnschuhen erschienen, um – vergeblich – nach Nelson Jara zu fragen, beziehungsweise, als brauchten sie bloß noch die paar Schritte bis zur nächsten Ecke zu gehen, wo Pablo sich verabschieden und das letzte Stück bis zur U-Bahn allein zurücklegen wird, während Marta zu Borla ins Auto steigt und alle sich damit dorthin begeben, wo sie hingehören.
Abgesehen davon, dass jenseits des Waggonfensters erleuchtete Haltestellen und dunkle Tunnelstrecken einander ablösen, bietet die U-Bahn-Fahrt Pablo Simó wenig Ablenkungsmöglichkeiten, also denkt er, ob er will oder nicht, an Jara. Und wenn es denn schon sein muss, versucht er, ihn sich wenigstens lebend vorzustellen. Jara, der mit einer Riesenladung Akten und Schnellheftern im Büro erscheint, Jara, der es schafft, jedes Mal im unpassendsten Moment aufzukreuzen, Jara, der ihm im dunklen Flur des alten Büros auflauert. Jara mit seinen Zahlenlisten und Grafiken, Jara mit seinen Unterlagen voll gelber Leuchtstiftmarkierungen, Jara in seinem abgetragenen Anzug, Jaras Schuhe. Potthässliche Schuhe, wie ihm gleich am ersten Tag auffiel, als Jara mit seiner prall gefüllten Aktentasche bei ihnen in der Tür stand; Pablo sprach ihn allerdings erst darauf an, als Jara einmal über die Rollen mit Klebefolie neben Martas Schreibtisch stolperte. Pablo half ihm beim Aufstehen, konnte dabei aber den Blick nicht von Jaras Schuhen abwenden – klobige, harte, unförmige Schuhe, mit lauter Einkerbungen um die Spitze herum, wie am Rand einer Empanada; sie forderten die Frage geradezu heraus: »Warum tragen Sie solche Schuhe, Jara?«
»Weil ich Plattfüße habe, Herr Architekt.«
Aber nach orthopädischen Schuhen sahen sie nicht aus – auch wenn es vielleicht wirklich welche waren. So oder so hätten sie, abgesehen von den Empanada-Kerben, dem miserablen Leder und den – doppelt geknoteten – viel zu kurzen Schuhbändern, unbedingt einmal ordentlich geputzt gehört. Zwar hatte sich Jara immerhin die Mühe gemacht, sie einzucremen, aber anschließend noch mit dem Poliertuch nachzuarbeiten und das Leder auf Hochglanz zu polieren, dazu hatte sein Wille ganz offensichtlich nicht mehr gereicht. Doch sosehr Pablo sich jetzt auf diesen fehlenden Glanz konzentriert, um Jara zu Lebzeiten vor sich zu haben – die Schuhe erweisen sich als Falle und bringen Pablo zurück zu der Nacht, in der er sie zum letzten Mal an Jaras Füßen gesehen hat: Er weiß noch genau, wie das war, schließlich musste er Jara am unteren Ende anpacken, während Borla ihn unter den Achseln fasste. So waren die Schuhe auch das Letzte, was Pablo von Nelson Jara zu sehen bekam, bevor der in dem Loch verschwand, in dem sie ihn beerdigten.
Nur beim Umsteigen wird diese Bilderfolge in Pablos Innerem unterbrochen, mehr Verschnaufpausen sind ihm nicht vergönnt. Sobald er im nächsten Abteil ist, geht der Film wieder von vorn los. Als er sich gerade daran erinnert, wie seine Arme plötzlich von der Last von Jaras Körper befreit wurden und welches dumpfe Geräusch dieser beim Aufschlagen auf den feuchten Erdboden verursachte, geht vor ihm die Tür auf – die U-Bahn hat die Station Castro Barros erreicht, und Pablo steigt hastig aus. Zwei Stufen auf einmal nehmend geht er die Teppe hinauf, an die frische Nachtluft. Es ist später als sonst, und er weiß, dass Laura ihn erwartet, es gibt mal wieder Schwierigkeiten mit ihrer Tochter, und auch wenn die sich durch seine Heimkehr nicht einfach auflösen, kann Laura sich, sobald Pablo vor ihr steht, zumindest Erleichterung verschaffen. Pablo hat allerdings, als er vor einer halben Stunde das Büro verlassen hat, gegen ein heiliges Ritual verstoßen: Er hat seine Sachen nicht in der gewohnten Reihenfolge verstaut, weshalb er sich jetzt die Taschen abklopft, um zu prüfen, ob er tatsächlich Bleistift, Notizblock und Maßband eingesteckt hat. Daraufhin beschließt er, das, was er sonst jeden Abend macht, bevor er nach Hause geht, nicht auch noch ausfallen zu lassen, nämlich in der Bar an der Ecke einen letzten Kaffee zu trinken. Weil sich ganz in der Nähe die bekannte Konditorei Las Violetas befindet, gehen die meisten Leute an dieser kleinen Kneipe einfach vorbei, weshalb Pablo sich an ihrem Tresen nur umso wohler fühlt, machen ihm, anders als in Las Violetas, hier doch weder Touristen noch sonstige Gelegenheitsbesucher aus anderen Stadtteilen von Buenos Aires den Platz streitig.
An einem Fenstertisch rührt er den Zucker in den Kaffee und versucht eine andere Methode, um ohne den toten Nelson Jara vor Augen seine Wohnung betreten zu können: Er denkt an Marta Horvat, das hat noch immer funktioniert. Genauer: an das rötlich braune Muttermal an ihrem Unterschenkel, kurz bevor dessen Rundung in die Kniekehle übergeht. Nachdem sein Kaffeelöffel auf dem Tassenboden mehrere Kreise vollzogen hat, entwickelt sich die Sache allmählich in die gewünschte Richtung, soll heißen: Bald gibt es auf der Welt nur noch das Muttermal beziehungsweise das Bein, auf dem es sich befindet, beziehungsweise die Frau, zu der das Bein gehört. Er bezahlt den Kaffee und geht jetzt endgültig nach Hause. Unterwegs passt er auf, dass sich das Muttermal nicht vor seinen Augen in Luft auflöst, und schafft es so, das, was gerade im Büro geschehen ist, das Mädchen mit dem Rucksack, Borlas Lügengeschichten wie auch Jaras Schuhe zu harmlosen Ärgernissen zu reduzieren, die sich an einem nicht genauer bestimmbaren Ort befinden, wo sie von Martas Muttermal unter Verschluss gehalten werden. Er steckt den Schlüssel ins Schloss, und als er die Tür aufmacht, sieht er Laura vor sich, die weinend in einem Sessel sitzt.
»Ich kann nicht mehr, sie macht mich völlig fertig«, sagt sie zur Begrüßung.
Pablo weiß, dass seine Frau, wenn sie in diesem Ton »sie« sagt, Francisca meint, ihre gemeinsame Tochter. Dem heiseren Klang ihrer Stimme kann er außerdem entnehmen, dass Laura geschrien hat, und zwar ziemlich laut und ziemlich lange. Laura erzählt jetzt, dass sie Francisca an diesem Tag ohne Vorankündigung in der Schule habe abholen wollen, Francisca sei aber nicht am Ausgang erschienen – wie man ihr im Schulsekretariat mitgeteilt habe, sei sie an diesem Tag überhaupt nicht in der Schule aufgetaucht. Sie habe daraufhin die angrenzenden Straßen abgesucht und Francisca schließlich in einer Bar entdeckt, wo sie ausgerechnet mit dieser Anita, also der Freundin von ihr, die Laura am wenigsten mag, und drei Kerlen am helllichten Tag Bier getrunken habe.
»Drei Jungen«, verbessert Pablo sie.
»Drei Kerle«, sagt Laura, »der eine hatte einen richtigen Bart.«
Mehr sagt Laura nicht, jetzt weint sie bloß noch, und das, bis sie sich zum Abendessen an den Tisch setzen. Francisca hat nicht zum ersten Mal die Schule geschwänzt und auch nicht zum ersten Mal Bier getrunken, und sie war auch nicht, nimmt Laura jedenfalls an, zum ersten Mal mit Jungen unterwegs, die um einiges älter sind. Aber zum ersten Mal hat ihre Mutter sie dabei gesehen, und den Anblick, wie Francisca lachend auf ihrem Stuhl saß, die Arme um die angezogenen nackten Beine gelegt, das Bier aus der Flasche trank und die Flasche an den Typen neben ihr weiterreichte, während sie sich von einem anderen Typen das Knie streicheln ließ, all das kann Laura Pablo nur mit den Worten wiedergeben: »Ich kann nicht mehr, sie macht mich völlig fertig.«
Schließlich sitzen sie also zu dritt bei Tisch. Kaum ist es so weit, klingelt das Telefon. Laura sieht die anderen beiden mit ihren geröteten Augen an. Zuerst Pablo, dann Francisca, dann wieder Pablo. Pablo kennt diesen Blick, er weiß, dass seine Frau, ohne ein Wort sagen zu müssen, damit zu verstehen gibt, dass sie jetzt ganz bestimmt nicht aufstehen und ans Telefon gehen wird. Francisca hält dem Blick ihrer Mutter stand, und Pablo weiß, zu seinem Leidwesen, dass sie Laura damit nur noch mehr reizt. Wie verärgert seine Frau ist, erkennt er daran, wie sie die Halsmuskeln anspannt und in ihrem Essen herumstochert, ohne die Gabel ein einziges Mal zum Mund zu führen, vor allem aber an der bläulichen Vene, die sich jetzt genau über dem linken Auge an ihrer Stirn abzeichnet. Pablo steht auf, um zum Telefon zu gehen. Auch wenn, wie Pablo weiß, die Stimmung dadurch nicht besser wird, will er doch wenigstens verhindern, dass sie noch schlechter wird, weil das Telefon klingelt und keiner drangeht. Aber bevor er abheben kann, hört es auf zu klingeln.
Pablo kehrt an seinen Platz zurück und probiert, ein Gespräch in Gang zu setzen. Auf der Suche nach einem Thema schieben sich unweigerlich Martas Muttermal oder Jaras Schuhe in den Vordergrund. Er versucht es trotzdem weiter – da erscheint die junge Frau mit den Jeans, dem weißen T-Shirt und den schwarzen Turnschuhen vor seinem inneren Auge. Aber auch sie eignet sich nicht, weder für eine Unterhaltung mit seiner Frau noch mit seiner Tochter. Da mischt Pablo einfach Wirklichkeit und Erfindung und denkt sich eine Geschichte aus, die sich angeblich während seiner Nachhausefahrt in der U-Bahn zugetragen hat. Er behauptet, der Zug sei auf einmal zwischen zwei Stationen im Tunnel stehen geblieben, woraufhin einer der Fahrgäste einen hysterischen Anfall bekommen habe. Er beschreibt die Anspannung im Gesicht des Mannes ganz so, wie sie sich in diesem Augenblick ihm gegenüber auf Lauras Gesicht abzeichnet, allerdings ohne das Detail mit der blauen Vene über dem linken Auge, er will sich ja nicht verraten. Umso ausführlicher geht er auf die schlecht geputzten Schuhe des Mannes ein, die doppelt geknoteten Schuhbänder, er sagt, der Mann habe sogar versucht, eins der Fenster zu öffnen, um aus dem Waggon zu kommen, und es seien mehrere andere Fahrgäste nötig gewesen, um ihn davon abzuhalten. Zu behaupten, dass er einer von diesen Fahrgästen gewesen sei, wagt Pablo allerdings nicht, sosehr es ihn reizt. Er weiß, dass seine Fähigkeit zu lügen begrenzt ist; dafür behauptet er, neben anderen habe sich eine junge Frau mit einem seltsamen Muttermal am Bein, in Höhe der Kniekehle, daran beteiligt. Pablo schildert den Vorfall so begeistert, als hätte in Wirklichkeit er und nicht der klaustrophobische Mann im Mittelpunkt des Geschehens gestanden. Laura und Francisca interessieren sich allerdings gerade einmal so sehr für seine U-Bahn-Geschichte, dass sie ab und zu vom Teller aufsehen und ihn anblicken.
»Gibst du mir mal das Salz?«, sagt seine Tochter. Pablo gibt es ihr, und Laura steigen Tränen in die Augen.
Wie hat seine Frau den Satz »Gibst du mir mal das Salz?« wohl verstanden, dass ihr davon die Tränen in die Augen steigen? Oder wie hat sie es aufgefasst, dass er seiner Tochter das Salz gegeben hat? Pablo Simó weiß es nicht. Wieder klingelt das Telefon. Rasch sagt er zu Francisca: »Kannst du drangehen?«
Francisca steht auf, aber da sagt Laura warnend: »Wenn es für dich ist, legst du gleich wieder auf – du hast ab sofort Telefonverbot, für eine Woche.«
»Dann kann wer anders drangehen«, sagt Francisca und setzt sich wieder hin.
Laura sieht Pablo an, sie möchte etwas von ihm, und er würde ihr den Gefallen gern tun, eben das, weswegen sie ihn so ansieht – was genau das sein soll, weiß er allerdings nicht. Obwohl er weiß, dass es sich nicht darum handelt, dass er ans Telefon geht, schiebt er jetzt seinen Stuhl zurück, um aufzustehen. Derweil klingelt das Telefon noch zweimal und verstummt dann. Pablo bleibt also sitzen, und die drei essen schweigend weiter. Lange Zeit hört man bloß das Besteck klappern oder das Geräusch von Wasser, das in ein Glas gegossen wird. Pablo sieht sich außerstande, mit seiner U-Bahn-Geschichte weiterzumachen, sich eine neue auszudenken scheint ihm allerdings ebenso wenig möglich, er will es auf keinen Fall übertreiben. Vielleicht ist es wirklich am besten, erst einmal gar nichts zu sagen. Im Augenblick bleibt wohl ohnehin kaum etwas anderes übrig, als ein wenig Zeit verstreichen zu lassen und zu hoffen, dass Francisca trotz des Streits ein paar Wochen, vielleicht einen ganzen Monat lang das normale Leben einer normalen Fünfzehnjährigen führt, die jeden Tag zur Schule geht, ihre Prüfungen besteht und früh nach Hause kommt, bis Laura sich irgendwann wieder beruhigt hat. Das ganz normale Leben eines ganz normalen Mädchens, nichts anderes wünscht sich Laura von ihrer Tochter, auch Pablo weiß das, schließlich hat Laura genau dieses Wort benutzt, als sie vorhin mit ihm über Francisca gesprochen hat: »Ist es wirklich so schwer für sie, normal zu sein?«
Er wusste nicht, was er dazu sagen sollte, er weiß ja nicht einmal selbst, was das eigentlich heißt, »normal«. Ist er normal? Und Francisca – ob sie später eher ihm oder Laura ähneln wird? Die Erwartungen ihrer Mutter wird sie wohl kaum erfüllen, nimmt er an, aber wenn sich das irgendwann herausgestellt haben sollte, wird es zu spät sein und sich nicht mehr ändern lassen, und Laura wird nichts anderes übrig bleiben, als es hinzunehmen. Vorläufig beschränkt sich für Pablo das Problem jedenfalls darauf, irgendwie die Zeit herumzubringen, abzuwarten, dass Francisca das Alter hinter sich lässt, in dem Kinder noch beeinflussbar scheinen, bis das einstige Kind irgendwann so erwachsen geworden ist, dass es niemandem mehr Rechenschaft darüber ablegen muss, was es trinkt und mit wem, wann und wo. Hat er etwa jemals vor irgendwem Rechenschaft darüber abgelegt, was er vor drei Jahren gemacht hat? Er sieht seine Tochter an, die wütend, aber ohne ein Wort zu sagen, ihren Teller leert. Er fragt sich, mit wem sie inzwischen mehr zu tun hat: mit der Francisca, die ihre Mutter herausforderte, indem sie sich ihm auf den Schoß setzte, ihn umarmte und ihm für alle hörbar ins Ohr flüsterte: Willst du mich heiraten? Oder mit der, die in Bars geht und Bier trinkt und schon bald zum ersten Mal Sex haben wird, wenn das nicht sowieso schon passiert ist, und zwar mit jemandem, von dem Pablo nicht einmal den Namen kennt. Aber hat er überhaupt das Recht zu wissen, wie der erste Mann heißt, mit dem seine Tochter schläft?, fragt er sich. Als sie so alt waren, wie Francisca jetzt ist, waren sie schon ein Paar, aber miteinander geschlafen haben sie erst Jahre später. Als sie so alt waren wie Francisca, begnügte er sich damit, Lauras Brüste zu berühren, weiter ließ sie ihn damals nicht gehen, aber ihm reichte das damals auch. Anfangs umfasste er sie bloß mit seinen wie zu Klauen geformten Händen, aber oberhalb der Kleidung; dort ließ er sie eine Weile liegen, streichelte ihre Brüste, drückte sie, bemühte sich, ein Gefühl für ihre Größe zu bekommen; und erst später versuchte er dann, die Hände unter Lauras Kleidung zu schieben, Laura ließ ihn aber nicht, sie erlaubte ihm bloß, sein Gesicht an ihren bedeckten Brüsten zu reiben, sie durch die Kleidung hindurch zu küssen, das allerdings, sooft er wollte. Wenn Pablos Schwanz dann hart wurde, ergriff er Lauras Hand und führte sie an seine Hose, damit sie es spüren konnte; sie spürte es und schickte ihn jedes Mal – fast sofort – weg.
»Los, geh jetzt, na mach schon«, sagte sie dann zu ihm.
Und er gehorchte und schlich geknickt die drei Querstraßen von Lauras Haus bis zu dem seiner Familie entlang, unentschlossen, ob er auf dem Bordstein abwarten solle, bis die Erektion vorbei war, oder aber schnell nach Hause laufen und sich in seinem Zimmer selbst befriedigen – alles, was er wusste, war, dass weder das eine noch das andere ihm Erleichterung verschaffen würde. Fünfzehn dürften sie damals gewesen sein, höchstens sechzehn, Pablo fragt sich allerdings, was bei ihnen damals eigentlich so anders gewesen sein soll als heute bei ihrer Tochter. Er hat keine Antwort darauf, noch so eine Frage, die er nicht beantworten kann.
Pablo sieht Francisca an und dann Laura – wie fremd die beiden einander sind! Er fühlt sich auch fremd. Die Zeit ist schuld, sagt er sich schließlich, daher die ganzen Missverständnisse, die Zeit, soll heißen: die Jahre diesseits beziehungsweise jenseits einer Grenzlinie, die das Alter bezeichnet, von dem an Kinder nicht mehr – falls sie es überhaupt jemals waren – eine bloße Folge von Handlungen ihrer Eltern sind. Wie könnte die Last, die Francisca für Laura darstellt, leichter werden? Indem Francisca wieder ein kleines Mädchen würde oder aber endlich erwachsen – ihre Tochter am einen oder anderen Ufer dieses Grenzflusses zu sehen, das wäre wirklich eine Erleichterung für Laura. Stattdessen befindet Francisca sich mitten in der Strömung, und sie glauben immer noch, sie könnten sie heil irgendwo absetzen. Auch wenn das keineswegs sicher ist. Niemand ist sicher, wo auch immer er sich befindet.
Laura beendet das Schweigen, bei dem Pablo sich inzwischen geradezu wohlfühlt, indem sie aufsteht, ihren Teller in die Spüle stellt und mit einer Obstschale zum Tisch zurückkehrt. Pablo greift nach einem Apfel, und als er hineinbeißt, sieht er wieder seine Tochter an. Er sagt sich, dass Laura in diesem Alter viel größere Brüste hatte als Francisca. Ob die Brüste seiner Tochter noch wachsen können, weiß er nicht – vielleicht kauft sie sich eines Tages ja auch die Brustgröße, die sie haben will, so wie Marta. Pablo gesteht sich ein, dass es womöglich nicht ganz richtig ist, Franciscas Brüste mit denen von Marta oder ihrer Mutter zu vergleichen. Er versucht, seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten, ohne wie zwangsläufig bei der endlosen Nacht zu landen, als Marta ihn weinend zu Hause anrief. Deshalb fragt er Francisca jetzt: »Willst du kein Obst?« Dabei hält er den gerade angebissenen Apfel vor ihr in die Höhe.
»Kann ich aufstehen?«, ist Franciscas Antwort.