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Inés ist frisch aus dem Gefängnis raus und bereit für ein neues Leben, fünfzehn Jahre, nachdem sie die Geliebte ihres Mannes umgebracht hat. Gemeinsam mit ihrer Knastkumpanin Manca gründet sie ein Unternehmen: FFF, Frauen, Fliegen, Finale – ökologische Schädlingsbekämpfung und Privatdetektei, von Frauen für Frauen. Doch Señora Bonar, eine ihrer Kundinnen, will mehr loswerden als nur Ungeziefer – könnte Inés nicht ihre Expertise einbringen, um auch die Geliebte ihres Mannes aus dem Weg zu räumen? Inés will sauber bleiben, aber als Manca eine teure Behandlung benötigt, gerät ihre moralische Standhaftigkeit ins Wanken. In einer bitterbösen Komödie erzählt Claudia Piñeiro von zwei Freundinnen auf der Suche nach Freiheit, in einer Gesellschaft, die Freiheit für Frauen nicht vorsieht.
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Seitenzahl: 491
Veröffentlichungsjahr: 2025
Vor fünfzehn Jahren brachte Inés die Geliebte ihres Mannes um, jetzt ist sie frisch aus dem Gefängnis raus und gründet ein Unternehmen: FFF, Frauen, Fliegen, Finale – ökologische Schädlingsbekämpfung und Privatdetektei, von Frauen für Frauen. Doch eine reiche Kundin will mehr loswerden als nur Ungeziefer – denn auch ihr Mann hat eine Geliebte.
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Claudia Piñeiro (*1960) ist eine der erfolgreichsten Autorinnen Argentiniens. Nach dem Wirtschaftsstudium arbeitete sie als Journalistin, Dramatikerin und Regisseurin. Sie erhielt den Premio Clarín, den LiBeraturpreis und den Premio Hammett und war für den International Booker Prize nominiert.
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Silke Kleemann (*1976), Übersetzerin, Lektorin und Autorin, studierte Angewandte Sprach- und Kulturwissenschaft und übersetzt Romane, Lyrik sowie Kinder- und Jugendliteratur aus dem Spanischen, u. a. Juan Filloy, Ariel Magnus und Marina Perezagua. Sie erhielt den Bayerischen Kunstförderpreis.
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Claudia Piñeiro
Die Zeit der Fliegen
Roman
Aus dem Spanischen von Silke Kleemann
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Die Originalausgabe erschien 2022 bei Alfaguara Argentina, Buenos Aires.
Lektorat: Nina Hübner
Originaltitel: El tiempo de las moscas
© by Claudia Piñeiro 2022
Diese Ausgabe erscheint in Vereinbarung mit der Schavelzon Graham Agencia Literaria, www.schavelzongraham.com.
© by Unionsverlag, Zürich 2025
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Pflanze – The Natural History Museum (Alamy Stock Foto); Fliege – Aleksandr Podoinitcyn (Alamy Vektorgrafik)
Umschlaggestaltung: Sven Schrape
ISBN 978-3-293-31180-0
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Cover
Über dieses Buch
Titelseite
Impressum
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Inhaltsverzeichnis
DIE ZEIT DER FLIEGEN
1 – Ein Gang führt in den nächsten. Ab und …2 — Ein Jahr später3 – Inés’ Ankunft kündigt sich mit stotternden Knallgeräuschen an …4 – Ich wiederhole: Ich sehe eine Fliege5 – CHOR6 – Inés zittern die Beine, der Fuß auf dem …7 – Laura setzt den Schlusspunkt hinter den psychologischen Bericht …8 – Aber konkret, wie viel hat sie dir angeboten?« …9 – Bevor sie ins Bett geht, öffnet Susana Bonar …10 – Eine Fliege ist keine Geißel, wie die französische …11 – Obwohl es gerade erst hell wird und sie …12 – Beim Betreten des Büros verscheucht Inés ihre Fliege …13 – Okay, dass Fliegen kopulieren, wusste ich. Für die …14 – CHOR15 – Die Manca steht vor der notierten Adresse …16 – CHOR17 – Nachdem Inés den Schock über das unerwartete Auftauchen …18 – Es gibt solche und solche Fliegen. Und schwarzes …19 – Das gefällt mir überhaupt nicht. Bevor wir mehr …20 – Die Manca hört nicht auf Inés’ Ratschläge und …21 – Susana Bonar hat bis weit in die Nacht …22 – CHOR23 – Die Manca sagt, ich soll über Mütter und …24 – Guten Tag, Frau Bonar.«25 – Gleich nach dem Aufstehen fängt die Manca mit …26 – Rody 2 hat nun alle Informationen, die er …27 – CHOR28 – Kannst du mir mal sagen, Manca, was es …29 – Inés probiert die Perücke an, die ihr die …30 – Sie kommen um die Mittagszeit bei dem Sender …31 – Inés besteht darauf, das Gift allein abzuholen und …32 – Als die Manca bei der Tankstelle eintrifft …33 – Dann wird Laura sie morgen tot finden.«34 – Kurz nach Mittag, nach dem Besuch beim Arzt …35 – Für den Laien sind Motten gleich Motten …36 – Nach einem präzisen, peinlich genauen Einsatz mit Augenmerk …37 – CHOR38 – An der ersten roten Ampel sucht Inés ihr …39 – Ein paar Straßen weiter holen Inés und die …40 – CHOR41 – Laura kommt völlig außer Atem bei sich zu …42 – Guillermina wälzt sich in ihrem Bett, sie kann …43 – Inés und die Manca starten mühsam in den …44 – Es liegt daran, dass die Zeit für Fliegen …45 — Einige (etliche) Monate späterNachweisDankMehr über dieses Buch
Über Claudia Piñeiro
Claudia Piñeiro: Lesen als Revanche
Über Silke Kleemann
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Für meine Tochter, für alle Töchter.
Der Tod einer Fliege, das ist der Tod. (…)
Man sieht einen Hund sterben, man sieht ein Pferd sterben, und man sagt etwas, zum Beispiel, armes Tier …
Aber wenn eine Fliege stirbt, sagt man nichts, man notiert es nicht, nichts.
MARGUERITE DURAS, Schreiben
Die Milch der von dir ausgedörrten Brust / verwandeln in Olivenöl / Den Boden, auf dem du krabbeltest / bestreuen mit tausend Glasscherben /An der verlorenen Nabelschnur / dich für immer zurückholen, Curuminha / in die Dunkelheit des Schoßes / den du niemals hättest verlassen sollen.
CHICO BUARQUE, Uma cançao desnaturada
Es gibt drei Themen: Liebe, Tod und Fliegen.
Dieses Gefühl, diese Furcht, diese Präsenzen haben den Menschen seit Anbeginn seiner Existenz stets begleitet.
Sollen andere die beiden erstgenannten behandeln.
Ich kümmere mich um die Fliegen, die besser sind als die Männer, nicht aber als die Frauen.
AUGUSTO MONTERROSO, »Die Fliegen«, in Movimiento perpetuo
Ein Gang führt in den nächsten. Ab und an hört Inés, wie jemand sie grüßt, aber sie guckt nicht hin, dreht sich nicht um, hebt nur die Hand bis auf Kopfhöhe. Diese minimale Geste wiederholt sie jedes Mal, wenn sie ihren Namen hört, sie möchte freundlich sein. Würde sie hingucken, so fürchtet sie, könnte sie die Fassung verlieren, und sie will nicht, dass das letzte Bild von ihr an diesem Ort das einer Frau ist, die weint. Lieber will sie als eine freundliche Frau in Erinnerung bleiben. Von der Manca hat sie sich schon heute Morgen verabschiedet. Beim Mittagessen saßen sie noch einmal beisammen, aber schweigend, denn alles, was sie sich zu sagen hatten, hatten sie im Privaten gesagt oder würden es nicht sagen, zumindest für den Augenblick: im Fall von Inés, weil die, um etwas aussprechen zu können, sich erst einmal trauen müsste, es zu denken; und die Manca weiß, dass es Themen gibt, die ihre Freundin erschrecken, und wenn sie eines nicht möchte, dann das.
Inés geht weiter, eskortiert von einer Strafvollzugsbeamtin, die sie kaum kennt. Heute wäre ihr eine andere lieber gewesen, eine von denen, mit denen sie so viele Jahre hier drin verbracht hat. Fünfzehn Jahre. Die Tasche wiegt nicht schwer auf ihrer Schulter. Die meisten ihrer wenigen Sachen hat sie verschenkt. Sie fühlt sich, als würde sie gleich ein drittes Mal geboren werden: das erste Mal, als ihre Mutter sie aus sich rausgepresst hat; das zweite, als sie Charo bzw. »die Deine« ermordet hat; das dritte, sobald die Tür aufgeht und sie frei ist. Frau kommt nackt zur Welt, wozu also irgendetwas mitschleppen, so dachte sie sich, als es hieß, sie solle ihre Sachen packen, als sie erfuhr, dass sie rauskommen würde. Das denkt sie auch jetzt: Jede kommt nackt zur Welt.
Die Beamtin hält die Entlassungspapiere hoch, als sie den Ort erreichen, der das Drinnen vom Draußen trennt. Von irgendwoher sorgt der Empfänger des Befehls dafür, dass das Tor automatisch aufgeht. Inés steht da und blickt auf die Straße, an die sie keine Erinnerung mehr hatte, wagt nicht, loszugehen. Sie hat das Gefühl, die Sonne strahle auf der anderen Seite stärker; sobald sie das Tor durchschreitet, wird sie die Brille mit den dunklen Gläsern brauchen, die sie lange nicht mehr benutzt hat. Die Sonne drinnen und draußen ist dieselbe, das weiß sie, aber ihr ist ebenfalls ganz zweifelsfrei klar, dass ihr von diesem Augenblick an der Schatten der Gebäudetrakte fehlen wird, das Getümmel der Mitinsassinnen, der Schutz ihrer eigenen Zelle, trotz der Feuchtigkeit und Kälte. Sie zieht die Brauen zusammen, kneift die Augen ein Stück weit zu, um sich dem zu stellen, was vor ihr liegt. »Viel Glück!«, sagt die Beamtin neben ihr; Inés weiß, dass das kein aufrichtiger Wunsch ist, sondern sie – in Anbetracht ihrer offensichtlich unentschlossenen Haltung – dazu antreiben soll, endlich rauszugehen. Zu guter Letzt macht sie die drei Schritte, die es braucht, um von einer Seite auf die andere zu gelangen. Hinter ihr schließt sich das Tor. Inés sieht das nicht, weil sie sich nicht umdrehen möchte, aber sie hört es: Den Motor, der das System in Gang setzt, das Gleiten über die Metallachse, den Schlag, als das Türblatt an den Rahmen stößt, das Drehgeräusch des Räderwerks vom Schloss, bis es schließlich einrastet. Dieses Tor kann nicht wieder aufgehen; falls sie erschreckt kehrtmachen und es öffnen, um Zuflucht bitten wollte, so würde ihr das nicht gelingen, man würde sie nicht einlassen. Um zurückzukehren, müsste sie erneut einen Fehler machen. Hat sie einen gemacht? Fünfzehn Jahre sind vergangen, und sie hat noch immer keine zufriedenstellende Antwort auf diese Frage.
Hinter ihrem Rücken ist jetzt nichts als Stille. Da atmet sie tief ein, blickt zur einen Seite und zur anderen, schiebt sich die Tasche auf der Schulter zurecht. Die Straße liegt verlassen da; auch wenn sie voller Menschen wäre, es wäre egal. Sie weiß es: Sie ist allein. Dieser Umstand enttäuscht sie nicht – sie war nicht davon ausgegangen, dass irgendwer auf sie warten würde –, er bestätigt jedoch auf brutale Weise ihre Vorahnung: Wieder kommt Inés nackt zur Welt.
Ein Jahr später
Ich sehe eine Fliege.
Ein schwarzer Punkt, eine Fliege, die es gar nicht gibt, schwirrt vor meinem linken Auge herum. Und ich sage das gern so, fast wie eine Prinzipienerklärung:
Ich, Inés Experey, sehe eine Fliege.
Experey kommt natürlich von »Ex-Pereyra«. Die Ex von Ernesto Pereyra. Denn ich bin keine Pereyra mehr. Drinnen haben mich die Wärterinnen mit meinem Mädchennamen, Lamas, angesprochen; wenn ich den höre, versetzt mich das direkt in die Vergangenheit. Ich verleugne sie nicht, aber sie ist vorbei (c’est fini). Inés Lamas, der Name, den man mir bei meiner Geburt gegeben hat, das bin nicht ich. Ich habe erst gar nicht kapiert, dass ich gemeint war, so viele Jahre lang hatte ich diesen Nachnamen nicht mehr benutzt, seit unserer Hochzeit nicht, als der Standesbeamte ihn laut aussprach (Inés Lamas, wollen Sie die Ehe eingehen mit Ernesto Pereyra?). Mit der Zeit habe ich mich daran gewöhnt; wenn ich angesprochen wurde, musste ich antworten, auch wenn ich das nie mochte (Lamas, bist du taub oder ist dir auch noch eine Fliege ins Ohr geflogen?). Deshalb habe ich, als ich rausgekommen bin, Pereyra und Lamas für immer hinter mir gelassen. Neues Leben, neuer Name.
Meinen jetzigen Nachnamen, Experey, habe ich mir selbst ausgesucht, denn wenn jemand fragt, wie frau heißt, muss frau ja sowieso nicht den Ausweis zeigen. Ich definiere mich als Inés Experey. Heißt das nicht so? Sich als etwas oder jemand definieren? Das habe ich aus dem Fernsehen. Ich bin ein Schwamm, sauge alles auf, ich lerne beim Zugucken. Was mir nützt, das verwende ich; was nicht, das nicht. Und die Selbstdefinition nützt mir, deshalb verwende ich sie. Warum auch nicht? Womöglich bekomme ich es sogar hin, dass es irgendwann exakt so in meinem Ausweis steht (Inés Experey, Personalausweisnummer 13555555), denn an Gründen dafür fehlt es nicht. Viele Leute ändern den Namen oder das Geschlecht im Ausweis, ich wünsche mir da Gleichbehandlung. Ich bin auch eine andere, nicht mehr die alte, sechzehn Jahre sind vergangen: fünfzehn drinnen, eins draußen. Heute trage ich mein Haar weiß, es kommt mir nicht mehr wie früher darauf an, ob ein blonder oder ein kastanienbrauner Schopf schöner glänzt. »Typisch Argentinierin«, habe ich früher einmal gesagt. Und das ging schlecht aus. Weil ich zu klein gedacht habe. Jetzt möchte ich groß denken, universell denken (think big). Graue Haare sind weltweit Trend, da hab ichs auch probiert. Mit einem guten Silbershampoo, denn Gelbstich und drahtharte Strähnen mag ich überhaupt nicht. Für hellgraues Haar, denn das für dunkelgraues Haar sorgt für einen Lilastich, und dann sieht es noch schlimmer aus als im Originalzustand. Von Kopf bis Fuß habe ich mich umgekrempelt. Fünfzehn Jahre Einsitzen, und eins in meinem neuen Haus. Ein kleines, bescheidenes Zuhause, ganz anders als das, in dem ich mit Ernesto gewohnt habe, aber dafür gehört es mir, Schluss mit Gütergemeinschaft. Wenn ich heute noch genau wie früher wäre, wäre das eine Katastrophe, ich hätte nichts gelernt. Und gelernt habe ich, das will ich meinen! Ich musste mich neu erfinden und mir einen neuen Namen geben. Inés Experey ist gar nicht übel, es erinnert mich daran, wer ich war, und macht zugleich Schluss damit. (Verzieh dich, Ernesto Pereyra! Verzieh dich, Charo!)
Mit der Deinen ist es etwas anderes.
Ich muss ein Geständnis ablegen: Wenn ich allein vor dem Spiegel stehe und mir Dinge sage, von denen ich nicht möchte, dass irgendwer sie erfährt – nichts Schweinisches, dunkle, schwere Dinge wie zum Beispiel: Wenn ich Charo vor mir hätte, schätze, glaube, wette ich, dass ich wieder (peng!) abdrücken würde –, nenne ich mich selbst die Deine. Als könnte jede »die Deine« sein, falls erforderlich, und folglich auch ich. Darauf bin ich eines Tages gekommen, schon in Freiheit, als ich mir vor dem Spiegel mit einer Pinzette die Augenbrauen zupfte. Ich zog fest, und es tat weh, ich muss mir wohl in die Haut gezwickt haben. Du arme Deine, sagte ich mir, niemand soll dir mehr wehtun. Ich erschrak, als ich mich so nannte, auch wenn es nur in Gedanken war. Und betrachtete mein Bild im Spiegel: Ein kleiner Tropfen Blut markierte die exakte Stelle, wo ich mich verletzt hatte. Ich holte tief Luft und seufzte kräftig, anschließend wiederholte ich laut: »Ganz die Deine.« Es klang noch schwach, aber gut, und das beruhigte mich; ich drückte mein Kreuz durch, straffte die Schultern und versuchte es mit einem zaghaften Lächeln, den Blick nach oben und das Kinn leicht nach vorn: »Ganz die Deine.« Da fühlte ich mich wirklich angesprochen und blieb dabei. Auch wenn ich das nur für mich benutze, nie vor Dritten, die es nicht verstehen würden. Nicht einmal der Manca habe ich es gebeichtet, und das, obwohl ich der Manca alles erzähle. Oder fast alles. Die Deine – die Wendung, mit der Charo, die Frau, die ich getötet habe, ihre Briefe an meinen Ex-Mann unterschrieb. Manche nannten sie »seine Liebhaberin«. Eine hässliche, unpassende Bezeichnung für sie, denn diese Frau liebte ihn nicht mehr als ich. Ich war auch eine Liebende. Meine Liebe war nicht übertrieben, das stimmt, ohne viel Brimborium, wir waren seit vielen Jahren verheiratet, wenig Sex – das habe ich nie geleugnet (oder vögeln etwa alle nach jahrelanger Ehe noch viel? Wenig und mal eben schnell, da müssen wir uns nichts vormachen). Aber es war sehr wohl eine bedingungslose, solide, starke Liebe. Krankhaft, heißt es in den Akten zu Charos Tod, doch mit der Formulierung bin ich nicht einverstanden. Ich bin nicht krank, und ich war auch nicht krank. Erst recht nicht krank vor Liebe. Gekränkt, verletzt, kaputt, betrogen, malträtiert, missachtet, weil für dumm verkauft, das ja. Krank nicht. Vergebliche Liebesmüh, das mit einem Richter zu diskutieren. Was im Strafgesetzbuch nicht aufgeführt ist, existiert für das Hohe Gericht nicht. Und falls es irgendwann aufgenommen wird, Pech gehabt, zu spät! Sie, Charo, hat selbst im Tod viele Dinge behalten, die mir gehörten; da erscheint es mir zulässig, meinerseits ihre Signatur zu behalten, nur für den Hausgebrauch. So nenne ich mich selbst die Deine, wie Charo mit Lippenstift unter die Briefe an Ernesto schrieb, meinen Mann. Meinen Ex-Mann, pardon.
Keiner soll sagen, dass das kein fairer Handel ist.
Inés’ Ankunft kündigt sich mit stotternden Knallgeräuschen an. Minuten später parkt sie ihren klapprigen Kastenwagen vor dem Haus, das sie gegen Schädlinge behandeln soll. Ein Wohnhaus, zufällig und bedauerlicherweise nicht weit weg von dort, wo Inés aufgewachsen ist. Es sind nur rund fünfzehn Querstraßen bis zu dem Haus, das ihre Mutter Laura Pereyra hinterlassen hat, Lali, Inés’ Tochter, und wo diese vielleicht noch immer wohnt. Oder auch nicht, woher soll sie das wissen? Als sie die Mail mit der Anfrage bekam, checkte sie die Adresse und zögerte, ob sie zusagen sollte, ließ sich ein paar Tage Zeit mit der Antwort. Schließlich befand sie, dass das möglicherweise daraus entstehende Ungemach, in der Gegend ihrer Kindheit unterwegs zu sein, nicht gravierend genug war, um sich deswegen ein Monatsabo entgehen zu lassen, den Komplettservice, das teuerste Schädlingsbekämpfungspaket. Wenn, wie heute, der Termin ansteht, fährt sie aber trotzdem einen Umweg, um nicht an der Straße vorbeizukommen, wo sie bis zu ihrer Hochzeit mit Ernesto gelebt hat.
Der Auspuff des Lieferwagens ist kaputt und stößt in unregelmäßigen Abständen Rauch aus, als würde das Fahrzeug husten. Inés weiß, dass sie es so bald wie möglich in die Werkstatt bringen muss, aber wenn sie den Wagen für ein paar Tage aus dem Verkehr zieht, kann sie nicht arbeiten, und dann fließt weniger Geld in ihr ohnehin schon schmales Portemonnaie. Diesen Luxus kann sie sich momentan nicht leisten und lässt lieber ihren Wagen husten. Sie hat gelernt, mit dem Nötigsten auszukommen, sie, die früher immer ihr Erspartes gehabt hatte. »Mein Geheimversteck«, so nannte sie diesen kleinen abgezwackten Teil des Familieneinkommens, den sie vom gemeinsamen Konto mit Ernesto abhob und hinter einem losen Ziegelstein in der Garage versteckte. Sie ist nicht bereit, auch nur eine Stufe weiter abzusteigen, schon seit Langem lebt sie ihrem Empfinden nach unterhalb ihrer neuen Armutsgrenze.
Ihr Firmenwagen ist ein Renault Kangoo Baujahr 2007. Das Beste, was sie sich von dem Festgeld hatte kaufen können, das der Richter nach der Auflösung der Ehe für sie anlegen ließ. Auf Bitten des Anwalts ihres Ex-Mannes, der gewiefter war als der Pflichtverteidiger, den sie abbekommen hatte, verkauften sie das Haus, in dem sie so viele Jahre gemeinsam gelebt hatten, das Auto – zum Schrottwert, nachdem es als Beweisstück im Verfahren zum Mord an Charo freigegeben worden war – und einige wenige Möbel und Elektrogeräte, die ein bisschen was wert waren. Der Richter verteilte das Geld zu gleichen Teilen, wie vom Gesetz vorgesehen. Zum damaligen Zeitpunkt hatte Ernesto seine Schulden bei der Justiz schon in Ordnung gebracht: Es war bald klar gewesen, dass er niemanden getötet hatte, wenigstens nicht absichtlich; er wurde nur wegen fahrlässiger Tötung und Unterschlagen von Beweismitteln verurteilt. Eine geringfügige Strafe für das Ausmaß an Schaden, den er angerichtet hat, das glaubt Inés noch immer. Sie hingegen hat das Gefühl, mit der Justiz quitt zu sein: Sie hat getötet und den Preis dafür bezahlt. Da Inés, als das Geld aus der Auflösung der Ehe verteilt wurde, im Gefängnis saß – und dort noch etliche Jahre bleiben würde –, bat sie darum, die Mittel so einzusetzen, dass ihr Teil nicht an Wert verlor. Man sollte ihr eine winzige Wohnung kaufen, und sei es auch nur ein Zimmer, falls es für mehr nicht reichte. Sie brauchte die Gewissheit, ein Dach über dem Kopf zu haben, wenn sie ihre Freiheit zurückerlangte. Der – kleine – Rest des Geldes wurde als Festgeld angelegt. Und davon kaufte sie später den Kastenwagen. Was Ernesto mit seinem Anteil gemacht hat, weiß Inés nicht, und sie bemüht sich, dass es ihr egal ist. Es ist ihr aber nicht egal. Sie sind nicht mehr Mann und Frau, das hat nicht geklappt, es klappt nicht immer. Dazu waren sie aber bestimmt, glaubt sie. Oder glaubte sie. Oder glaubt sie ebenso stotternd wie ihr Auspuffrohr. »Manchmal funktionieren die Dinge nicht so, wie frau sich das gewünscht hätte, da kann der Wille noch so gut sein«, wiederholt sie von Zeit zu Zeit in Erinnerung an jene Jahre. Obwohl das immer seltener vorkommt.
FFF, UNBEDENKLICHE SCHÄDLINGSKONTROLLE, hat sie auf eine der Türen des Lieferwagens gepinselt, und auf die Windschutzscheibe hat sie selbst entworfene Abziehbilder geklebt. Ein Nachbar bemerkte ihr gegenüber: »Sie brüsten sich, den Planeten mit ungiftigen Insektiziden zu schützen, und währenddessen pusten Sie uns alle mit stinkenden Abgasen aus Ihrem Auto voll.« Sosehr sie den Mann auch für den unangenehmsten Kerl im Viertel hält, sie weiß, er hat recht: Der knallende Auspuff stellt einen Widerspruch dar, der ihr eigenes Geschäft anschwärzt. Zum Glück achtet nicht jeder so genau auf diese Ambivalenz wie ihr unangenehmer Nachbar. An Kundinnen mangelt es ihr nicht, bisher hat sich keine beschwert, und sobald sie kann, wird Inés den Schaden beheben. Bis dahin soll der Meckerer nicht zu viel meckern, denn FFF ist ein Unternehmen mit zwei Gesichtern: Einerseits bekämpft es Schädlinge; andererseits führt es Ermittlungen durch. »Irgendwas hat doch jeder im Keller«, wie die Manca sagt, und sie kann das nur unterschreiben, indem sie den Satz auf ihre Art abändert: »Man bekommt das Ungeziefer, das man verdient.« Inés kümmert sich nicht um den anderen Teil der Arbeit, zumindest nicht offiziell. Sie weiß, dass sie eine Gabe fürs Ermitteln hat, sie mag das, widersteht aber der Versuchung. Ab und an hilft sie der Manca bei einem Fall, wobei sie Abstand wahrt – so wie ein geheilter Suchtkranker sich von der Substanz fernhält, um deren Anziehungskraft er noch immer weiß, wie auch, dass ein Rückfall sein Verderben wäre. »Das Leben ist die Summe sich gegenseitig aufhebender Widersprüche«, hat Inés einmal irgendwo gelesen, und daran denkt sie, wenn sie sich an die Beschwerden ihres Nachbarn erinnert oder wenn die Manca sie fragt, warum sie nicht das macht, was sie gern tut. Oder wenn sie sich im Spiegel ansieht und sich »die Deine« nennt. Das, so ahnt sie, ist ihr größter Widerspruch.
Mit der Manca, ihrer Freundin aus der Zeit drinnen, teilt sich Inés das Büro, das Festnetztelefon, Kaffeemaschine, Schreibtisch und den Firmennamen. Ihr Spitzname, der »die Einarmige« oder »die Einhändige« bedeutet, passt nicht so ganz: Ihr fehlt keine Hand, eine ist aber abgestorben. Als sie ein Kind war, explodierte bei ihr zu Hause in der Küche ein Siphon mit Sprudelwasser. Sie spielte gerade in der Nähe und wurde verletzt. In der Notaufnahme wurden die Splitter entfernt, die Wunde gesäubert und genäht. Wieder zu Hause lebte sie ihr Mädchenleben weiter, bis sie ein paar Tage später vor Schmerz ohnmächtig wurde: Ein Stück Glas war in ihrem Körper verblieben und hatte seinen Weg fortgesetzt, bis es die Sehne durchschnitt, was diese Hand für immer unbrauchbar werden ließ und ihr den Spitznamen einbrachte. Die beiden Freundinnen und Geschäftspartnerinnen haben zwar eine strikte Arbeitsteilung, beraten sich aber, wenn die Fälle es erfordern, auch wenn Inés mehr über Autopsien, Forensik und Profiling weiß als die Manca über Kakerlaken. Durch die Zusammenlegung der Unternehmen konnten sie die Kosten senken, sich vor allem aber beistehen und gegenseitig unterstützen, als es galt, einen Weg zu finden, das Überleben draußen zu sichern.
Den Namen FFF haben sie zusammen ausgewählt. Von den drei Fs haben sie zwei gemeinsam. Das F für Finale, das endgültige: den Tod, denn Schädlingsbekämpfung und Ermittlungen führen zum Tod oder nehmen dort ihren Anfang; das für Frauen, weil sie das sind und es ihnen lieb ist, wenn auch ihre Kundschaft weiblich ist, obgleich gelegentlich ein Mann anfragt, den sie aus Sorge annehmen, dass man sie der umgekehrten Geschlechterdiskriminierung beschuldigen könnte. Das dritte F war ein Zugeständnis der Manca an Inés: Es ist der Anfangsbuchstabe ihres Lieblingsinsekts, F wie die Fliege, die Muse, die sie bei allem, was sie tut, inspiriert. Die sie vor ihrem linken Auge begleitet. Aber obwohl die beiden ganz genau wissen, woher ihr Unternehmen seinen Namen hat, geben sie niemandem so viele Erklärungen, das ist auch gar nicht nötig. Inés’ Karte ist weiß und darauf stehen in schwarzen Buchstaben der Firmenname, das Motto, ihr eigener Name – den sie für sich gewählt hat, Inés Experey – und ihre Position: stellvertretende Geschäftsführerin. Das »stellvertretend« hat sie hinzugefügt, obwohl es außer ihr keine weitere Geschäftsführung gibt; das erschien ihr besser, zur Sicherheit. Wer auch immer eine Beschwerde hat, soll denken, dass das Unternehmen noch eine hierarchische Struktur über ihr hat. Sie engagierte auch jemanden für das Design der Internetseite und eines Infoflyers – alles in denselben Farben und mit derselben Schriftart –, wo sie ein paar wesentliche Punkte aufzählt, das »Leitbild« ihres Unternehmens nennt sie das: 1. Nicht-toxische Insektenkontrolle, die wirksamste am Markt. 2. Besser vorbeugen als behandeln. 3. Schädlingsmanagement und -entfernung. 4. Völlige Vernichtung der Insekten und ihrer Nachkommen nur in Extremfällen. 5. Ganzheitliche und gewissenhafte Behandlung von synanthropen Plagen in urbanen Gebieten. 6. Der Planet gehört all seinen Bewohnern, schützen wir ihn. Die Manca wollte, dass sie »Bewohner:innen« oder »Bewohnern und Bewohnerinnen« schrieb, aber Inés ist nicht so angetan von diesem neuen Sprachgebrauch und außerdem sicher, dass ihre Kundschaft sich nicht wegen des generischen Maskulinums beschweren wird. Auch wenn sie nicht ganz ausschließt, beim nächsten Nachdrucken nur »Bewohnerinnen« zu schreiben.
Die Karte der Manca ist das Gegenteil von ihrer, knapp formuliert, schwarz mit weißen Buchstaben: FFF Detektivagentur. 100 % weiblich, Vertraulichkeit garantiert. Bei den meisten ihrer Fälle geht es um Untreue, Ehemänner mit Doppelleben oder Scheidungskrach. Sie würde alles geben, damit sie auch andere bekommt. Die Klagen über die Männer langweilen sie, eine Frau wegen eines Schwerenöters weinen zu sehen, regt die Manca auf. Sie würde sie lieber auf ein Bier einladen und ihr helfen, diesen Typ zu vergessen, der ihr so wehgetan hat oder noch tut. Möglichst alle Typen. Aber Ehebruch und Scheidung bringen Geld, es gibt Güter aufzuteilen und satte Honorare. Und wenn es darum geht, herauszufinden, was der Besagte verbirgt, kämpft die Manca wie der beste Soldat oder die beste Kriegerin, auch wenn es sie langweilt oder aufregt. Sicher, reizvoller erscheint ihr die Suche nach Aufenthaltsorten, das Aufspüren von Personen, womöglich weil sie viele Jahre lang nach ihrem Vater gesucht hat; den suchte sie nicht für eine liebevolle Wiederbegegnung, sondern um ihm die Prügel zurückzuzahlen, die er ihr, einer ihrer Schwestern und ihrer Mutter so viele Jahre lang verabreicht hatte. Was den Namen anbelangt, hat sie es wie Inés Experey gemacht und sich nach Gutdünken einen erfunden: María Lamanca, unter Verwendung ihres Spitznamens, um den sie nicht repräsentierenden Nachnamen ihres Vaters auszumerzen. Eine Position druckte sie nicht auf ihre Karte. Sie hätte gern »Inhaberin« geschrieben, aber Inés meinte, das klinge altmodisch. Und das wars, nicht mal ein Infoflyer: »Wer etwas wissen will, soll fragen.«
Inés sieht die Liste der Aufträge für den Tag durch: Nur noch zwei sind zu erledigen, der, der gleich ansteht, und ein weiterer. Zwischen den Schrägstrichen für Tag, Monat und Jahr auf dem Formular ist alles weiß. Sie füllt das Datum immer aus, aber heute ist ein Jahrestag, den Inés nicht nennt, nicht aufschreibt, nicht erwähnt, als könnte sie so ein Unglück vermeiden, das sie dem Karma dieses Tages in der Vergangenheit zuschreibt. Wenn sie könnte, würde sie heute nicht arbeiten, sondern unter der Decke verkrochen im Bett bleiben. Aber da sie sich diesen Luxus nicht leisten kann, macht sie weiter, hinterlässt jedoch keinen Eintrag von dem Datum, das sie schwermütig macht.
Sie öffnet die hintere Wagentür und holt ihr Arbeitsgerät heraus. Zwei 5-Liter-Flaschen, eine mit kurzem und eine mit langem Sprührohr. Alle mit ihrem Logo, FFF. Sie hat die besten am Markt erhältlichen Sprühgeräte gekauft und die gleichen Aufkleber daraufgepappt wie die für den Lieferwagen. Sie hasst diese Handsprüher, die nur einen schwachen Flüssigkeitsfaden ausspucken. Er wirkt nicht kräftig genug, um irgendwas zu töten. Oder irgendwen. Sie mag die Geräte, bei denen man mit einer Handpumpe Druck aufbauen muss. Den Pumphebel kräftig zu betätigen, hilft ihr außerdem, Spannungen abzubauen. Manchmal tauchen dabei vor ihrem inneren Auge Gesichter auf. Gesichter, die sie sehr gut kennt. Oder sehr gut kennengelernt hat. Wenn das geschieht, pumpt sie noch kräftiger, als würde sie sie traktieren: Ernesto, Charo, ihre Mutter, die eine oder andere Mitinsassin aus dem Gefängnis, eine Wärterin, ihr meckernder Nachbar. Wenn nicht, ist der Rhythmus weniger brutal. Sie trägt eine Maske, vielleicht ein weiterer Widerspruch in Anbetracht ihres Unternehmensmottos: »Unbedenkliche Schädlingskontrolle«. Und doch meint Inés, dass das Tragen der Maske ihr bei ihrer Berufsausübung Seriosität verleiht, wie bei einem Arzt, der sich das Stethoskop um den Hals hängt, auch wenn er gar nicht vorhat, es zu benutzen. Gummihandschuhe trägt sie hingegen nicht; an die hat sie schlechte Erinnerungen, Bilder aus einer anderen Zeit, als sie welche trug, um beim Durchstöbern einer Wohnung, auf der Suche nach Beweisen für die Untreue ihres Mannes, keine Spuren zu hinterlassen. Erinnerungen an eine Zeit, in der, obwohl sie keine Spuren hinterließ, nichts so ausging, wie sie es erwartet hatte.
Sie klingelt. Bewegt die Hand vor ihrem linken Auge auf und ab. Wartet. Noch tut sich nichts, und die Fliege, ihre eigene, der schwarze Fleck, der sie schon eine ganze Zeit lang beunruhigt, ist weiter da. Sie klingelt noch einmal; sie befürchtet, die Kundin könne sie versetzt haben. Doch sie irrt sich, zu ihrer Überraschung öffnet ihr die Hausherrin, Frau Bonar, persönlich. Bei den vorherigen Malen wurde sie von ihrer Hausangestellten empfangen. Ihren Hausangestellten, Plural, denn in der kurzen Zeit, die sie diese Kundin hat, ist Inés schon mindestens dreien begegnet. »Das Mädchen hat heute ausnahmsweise frei«, sagt Frau Bonar zur Begrüßung. Inés fällt das auf, sie fragt sich, warum die Frau sich ihr erklärt. Außerdem wirkt sie wie eine Chefin, die niemandem ausnahmsweise freigibt: Sie blickt hochnäsig, grüßt herablassend. Inés muss anerkennen, dass diese Frau davon abgesehen eine ihrer elegantesten Kundinnen ist, ihr finanzieller Wohlstand ist offensichtlich, was den Unterschied zwischen ihr und ihrer Umgebung noch vergrößert. Das hat Inés schon bei anderen Gelegenheiten wahrgenommen, auch wenn sie sie bis heute fast immer aus der Entfernung gesehen hat, in Eile, auf dem Weg zu ihrer Arbeit. Trotzdem hatte Inés registriert, dass sie teure Markenkleidung trug, die Schuhe blitzsauber, das Haar gestylt, und nach Parfüms duftete, die sie aus anderen Zeiten kennt. Jetzt, wo ihr Budget nicht mehr für ihren früheren Lebensstil reicht, ruft ein solcher Duft in ihr meist eine Mischung aus Bewunderung und Neid hervor. Nicht jedoch heute, nicht an diesem Nachmittag, an dem die Hausherrin anders wirkt und anders riecht.
Die Frau sagt ihr, dass sie in den Innenräumen anfangen soll und sie sie, wenn sie fertig ist, auf der Veranda erwartet, um zusammen eine Limonade zu trinken. Diese Einladung wundert Inés sogar noch mehr als der freie Tag für die Angestellte; in den vergangenen Monaten hat Frau Bonar sie nicht nur nie zu irgendetwas eingeladen, sie hat nicht einmal das Wort an sie gerichtet. Dass sie Distanz gewahrt hat, bedeutet nicht, dass sie den gebuchten Service nicht kontrolliert hätte, denn während Inés ihrer Arbeit nachgegangen ist, hat sie sie sehr wohl einmal hinter einem Fenster beim Spionieren entdeckt. Sie würde sogar fast schwören, dass sie bei einem der ersten Male ein Foto von ihr gemacht hat, was Inés Sicherheitsbedenken und der Sorge vor Kriminalität zugeschrieben hat, die so viele Personen hegen, jedem anderen gegenüber. Oder jeder anderen.
Wie auch immer, die Aussicht, mit ihrer Kundin Limonade zu trinken, begeistert sie nicht im Geringsten, aus vielerlei Gründen, vor allem aber weil Inés den Eindruck hat, dass Frau Bonar heute schon etwas intus hat. Viel intus hat. Vielleicht hat es deshalb gedauert, bis die Frau die Klingel gehört hat. Im ersten Moment hat Inés das Aroma des Pinot Noir mit dem Duft eines anderen, seltsamen Parfüms verwechselt, einem, das sie nie benutzt hat, das ihr aber nicht völlig unvertraut ist, ein Männerduft mit Holznote. Doch jetzt, nachdem sie sie, leicht nach rechts geneigt, vor sich hat hergehen sehen, ist ihr mit Sicherheit klar geworden, dass ihre Kundin nicht nach einem neuen Parfüm, sondern nach Wein riecht.
Inés setzt die Maske auf und nimmt die Treppe ins Obergeschoss, stellt die Sprühgeräte ab und beginnt zu pumpen, um den Druck aufzubauen. Sie bearbeitet den Kolben und fragt sich dabei, wie sie es anstellen soll, damit das Gespräch, das sie unten erwartet, kurz wird. Sie hat noch ein weiteres Haus vor sich und möchte nicht zu spät kommen, eine Kundin, die auch in diesem Viertel wohnt, aber auf der anderen Seite der Bahnstation. Frau Bonars Haus sieht ein wenig unordentlicher aus als bei den vorherigen Malen, Inés nimmt an, das liegt am Ausgang der Angestellten. Das Ehebett ist nur auf einer Seite benutzt, offensichtlich schläft die Frau allein. Zumindest letzte Nacht hat sie allein geschlafen. Inés weiß nicht, ob das immer so ist, denn wenn das Hausmädchen da war, war das Bett schon gemacht, wenn sie zum Aussprühen ins Schlafzimmer kam. Offensichtlich ist jedoch, dass die Hausherrin die Laken heute nicht glatt streichen, sondern warten wird, bis der ausnahmsweise freie Tag vorbei ist, damit eine andere das für sie tut.
Wie zuvor ist das zweite Zimmer in diesem Stockwerk abgeschlossen, der Schlüssel steckt im Schloss. Die Anweisung, die sie am ersten Tag bekommen hat, lautet, aufzuschließen, drinnen ihre Arbeit zu erledigen und dann hinter sich wieder abzuschließen. Es ist ein Zimmer mit einem Einzelbett, das nie bezogen ist, nichts als eine Matratze auf dem Lattenrost, die Wandschränke leer, es gibt keine Bilder, keine Dekorationsgegenstände, keinerlei Lebenszeichen. Es wirkt wie ein Raum, der irgendwann für eine Nutzung vorgesehen war, aber nicht fertig eingerichtet wurde. Wie das Zimmer, das auf ein Baby wartet, das nicht kommt, oder ein letztlich nicht benötigtes Arbeitszimmer, oder der vorgesehene Schlafplatz für Gäste, die nie eingeladen werden. Die Wände wurden vor nicht allzu langer Zeit weiß gestrichen, das verraten ein paar kleine, kaum sichtbare Flecken auf dem Boden. Zweifellos ist das der am einfachsten mit den Sprühgeräten zu behandelnde Raum im Haus: Je weniger sich ansammelt, desto weniger Ungeziefer.
Inés geht durch die Zimmer. Sie reckt sich, um mit dem langen Sprührohr hinter jedes Möbelstück zu kommen, so weit der ausgestreckte Arm reicht und noch ein bisschen weiter. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen, um auf die Holzbalken zu sprühen, die das Schrägdach halten. Sie nebelt die Sockelleisten ein, fährt mit dem kurzen Rohr über die Fensterrahmen, nimmt sich gründlich die Abflüsse in den beiden Bädern auf diesem Stockwerk vor. Der Flur ist vollgehängt mit gerahmten Fotos, Männer und Frauen, die in die Kamera blicken, die meisten davon Arm in Arm mit der Hausherrin. Inés besprüht die Bilderrahmen, für den Fall, dass sich dahinter Spinnen verstecken. Aber sie traut sich nicht, sie abzunehmen, weil ihr einmal, in einem anderen Haus, ein Bild heruntergefallen ist, das Glas zersplitterte. Obwohl sie sich um die Reparatur kümmerte, verlor sie die Kundin. Und sie kann einfach nichts mehr verlieren.
Im Erdgeschoss wiederholt sie das Prozedere mit derselben Sorgfalt. Auf der Arbeitsfläche in der Küche ist sie sogar noch pingeliger, unter dem Waschbecken, dem Lieblingsort der kleinen Kakerlaken, die durch die Rohre hochkommen. Als das Innere des Hauses gewissenhaft wie immer ausgesprüht ist, ganz wie es der fünfte Punkt ihres Unternehmensleitbilds verkündet – 5. Ganzheitliche und gewissenhafte Behandlung synanthroper Plagen in urbanen Gebieten –, tritt sie auf die Veranda heraus. Wieder bewegt sie ihre Hand vor dem linken Auge, auch wenn da keine Fliege ist und sie das weiß.
»Soll ich den Garten machen und anschließend trinken wir die Limonade?«, fragt sie ihre Kundin, die an einem Rattantisch vor einem Tablett mit einem Krug und zwei Gläsern auf sie wartet, obwohl die Bonar selbst noch immer mit ihrem Kelch Pinot Noir beschäftigt ist.
»Ich warte hier auf dich.«
Inés nimmt an, dass das Ja heißt, geht weiter in den Garten und beginnt, ihn mit dem langen Spritzrohr zu besprühen. Als noch ein Drittel der Fläche übrig ist, kommt aus dem Gerät kein Gift mehr; sie schüttelt es und stellt fest, dass die Flüssigkeit ausgegangen ist. Doch es ist keine gute Idee, zum Auffüllen zum Lieferwagen zu laufen, deshalb tut sie so, als würde sie weitersprühen, bewegt das Spritzrohr hin und her und verteilt eine inexistente Flüssigkeit. Nicht weil sie zu faul wäre, Faulheit ist ihr absolut fremd. Sie will auch das »gewissenhaft« nicht vernachlässigen, allerdings wägt sie Gewissenhaftigkeit gegen Pünktlichkeit ab, und ihre Obsession für den Zeitplan gewinnt: Sie muss rechtzeitig zum Haus ihrer nächsten Kundin. Entweder füllt sie das Sprühgerät auf, oder sie trinkt die Limonade. Sie entscheidet sich nicht nur für die Pünktlichkeit, sondern auch dafür, der Bitte ihrer Kundin nachzukommen: Deren Einladung auszuschlagen, könnte die ihr als Geringschätzung auslegen. Sie ahnt, dass die Bonar in keinem Zustand ist, in dem sie irgendeine fehlende Flüssigkeit, abgesehen von der, die sie gerade trinkt, bemerken würde. Und als hätte die Frau ihre Gedanken gelesen, verschwindet sie schwankend in der Küche und kommt mit einer weiteren Flasche Wein zurück, aus der sie ihr leeres Glas nachfüllt.
Inés blickt auf die Uhr. Sie rechnet aus, dass das bevorstehende Gespräch sich nicht länger als zehn Minuten hinziehen darf, damit sie rechtzeitig zu ihrem nächsten Termin kommt. Sie läuft zur Veranda, lässt die leeren Tanks auf dem Rasen stehen, nimmt die Maske ab und bittet um Erlaubnis, sich drinnen die Hände waschen zu dürfen. Normalerweise macht sie das nicht bei ihren Kundinnen im Haus, aber wenn sie sich mit ihr hinsetzen soll, um ein Glas von was auch immer zu trinken, ist es wohl erforderlich, saubere Hände zu haben. Als sie zurückkommt, wartet sie, dass die Bonar ihr ein Zeichen gibt, sich zu setzen. Die Frau lässt sich Zeit, sie scheint in Gedanken sonst wo zu sein. Inés räuspert sich, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie kalkuliert, dass sie nur noch acht Minuten hat.
»Setz dich doch, Inés«, sagt Frau Bonar, und Inés ist überrascht, dass sie sich ihren Vornamen gemerkt hat.
»Ich hoffe, Sie sind zufrieden mit meinen Diensten. Beim nächsten Mal machen wir die Larvenkontrolle.«
»Larvenkontrolle«, wiederholt die Bonar.
Sie serviert ihr ein Glas Limonade, bleibt jedoch selbst beim Wein. Inés trinkt, um die Abmachung zu erfüllen. Sie hat noch sieben Minuten. Sie hasst Unpünktlichkeit, nirgendwo erlaubt sie es sich, zu spät zu kommen; ihr ist unbehaglich, und das merkt man ihr an. Frau Bonar trinkt langsam, als weide sie sich an diesem Unbehagen, sie blickt auf ihr Glas, trinkt erneut und nimmt erst dann das Gespräch wieder auf: »Wie effektiv sind diese Mittel, die du zur Schädlingsbekämpfung benutzt?«
»Sehr gut.«
»Wie gut?«
»Die besten auf dem Markt.«
»Und für andere Nutzungsarten?«
»Was meinen Sie?«
»Ich weiß nicht, zum Beispiel, wenn ich ein Haustier hätte, würde dein Gift ihm schaden?«
»Ah, nein, auf keinen Fall. Wissen Sie, ich arbeite in vielen Häusern, wo es Hunde und Katzen gibt, und ich garantiere Ihnen, dass ihnen nichts passiert. Wollen Sie sich ein Haustier anschaffen?«
»Nichts liegt mir ferner«, sagt Frau Bonar und verharrt einige Augenblicke in Schweigen. Sie betrachtet die bordeauxrote Flüssigkeit, die sie am Boden ihres Glases schwenkt, bevor sie die nächste Frage abfeuert: »Und wenn ich wollte, dass ihnen etwas passiert?«
»Ich verstehe nicht.«
»Wenn ich zum Beispiel eine Katze mit deinen Mitteln töten wollte, ginge das?«
Inés fühlt sich nicht mehr nur unbehaglich, die Fragen ihrer Kundin beunruhigen sie. Nicht dass Frau Bonar mit dem Gedanken spielt, das Haustier eines Nachbarn umzubringen. Sie nimmt sich einen Moment Zeit, damit ihre Antwort sie nicht um das Komplett-Abo zur Schädlingsbekämpfung bringt, das die Frau gebucht hat. Die Bonar gewährt ihr diese Zeit nicht und hakt nach: »Ginge das?«
»Nicht, wenn sie die Mittel in der Dosis zu sich nimmt, wie ich sie anwende.«
»Wenn sie eine andere Dosis zu sich nimmt, dann schon?«
»Warum fragen Sie mich das?«
»Sonst schon?«
»Wenn Sie eines der Konzentrate unverdünnt verwenden und es ins Wasser oder ins Futter des Haustiers tun, dann stirbt es vielleicht wirklich. Ich habe es nie ausprobiert, aber ich glaube nicht, dass ein mittelgroßes Tier das überstehen würde.«
»Würde es sofort sterben, oder leiden?«
»Das kommt auf die Menge an, und ob es Gift gegen Kalt- oder Warmblüter ist.«
»Was heißt das?«
»Gift gegen Kaltblüter-Schädlinge wie Insekten öffnet die Natriumkanäle oder hemmt die Cholinesterase, das Nervensystem kollabiert, die Organe funktionieren nicht mehr. Gift gegen Warmblüter wie Nager verursacht innere Blutungen, das ist sehr grausam.«
»Und einen Hund?«
Inés sieht auf die Uhr. Hat sie noch vier Minuten? Drei? Sie steht auf und geht auf die Sprühgeräte zu. Sie hat kein Interesse daran, weiter über die mögliche Vergiftung eines Haustiers zu sprechen.
»Es wird spät für mich. Ich muss rechtzeitig bei meiner nächsten Kundin sein, entschuldigen Sie.«
»Einen Hund?«, wiederholt die Bonar.
»Auch«, antwortet sie, ohne stehen zu bleiben.
»Und einen Menschen?«
Die Frage überrascht sie nicht, irgendwie hat Inés sogar schon darauf gewartet. Sie wäre lieber bereits weg gewesen, bevor Frau Bonar das fragt – es hätte den Lauf der Dinge vollkommen verändert. Sie blickt die Bonar an, versucht zu ermessen, ob sie das wirklich ernst meint. Die merkt das und räumt jeden Zweifel aus.
»Eine Frau, um genau zu sein.«
Inés wird schwindlig. Sie stellt die Ausrüstung wieder auf den Boden, gerade ist ihr vollends klar geworden, dass das hier kein zufälliges Geplauder ist, und auch kein Gedankenspiel. Wie auch die Limonade und der Pinot Noir nicht zufällig sind, und der freie Tag der Hausangestellten auch nicht. Ganz im Gegenteil, Frau Bonar unterzieht sie einem ausgeklügelten Verhör mit einer konkreten Absicht, sie stellt wohlbedachte Fragen passend zu einem Plan, den nur sie kennt. Inés gefällt es nicht, dass ihre Kundin sie manipuliert. Noch weniger gefällt es ihr, in das, was diese Frau vorhat, verwickelt oder davon kompromittiert zu werden. In ihrer Situation als Strafentlassene macht sie sich Sorgen, die Limonade angenommen zu haben, sie befürchtet, schon allein die Tatsache, dieses Gespräch zu führen, könne ihr schaden.
»Wir sehen uns beim nächsten Mal«, wiegelt sie ab und nimmt ihre Arbeitsgeräte.
»Eine Frau, die mir meinen Mann wegnehmen will, genau wie dir das passiert ist.«
Inés spürt jetzt ein Stechen, es ist nicht mehr nur Schwindel. Die Erkenntnis, dass die Bonar weiß, wer sie ist, trifft sie. Der Schmerz ist echt, als hätte die Frau ihr ein unsichtbares Stilett ins Brustbein gerammt. Ausgerechnet heute, an dem unsäglichen Datum, das sie sich nicht auf den Arbeitsplanzu schreiben traut. Kaum zu glauben. Sie weiß nicht, ob sie das den Planeten, dem Karma, dem Zufall oder der bis zum Äußersten getriebenen Vorausplanung dieser Frau zuschreiben soll. Die macht ihr jetzt schon Angst. Weiß die Bonar, welcher Tag heute ist? Wie viel weiß ihre Kundin über sie und Ernesto? Und über Charo? Plötzlich wird ihr wieder schwindlig, und sie muss die Sprühgeräte noch einmal abstellen. Frau Bonar bemerkt das und ahnt, dass in diesem Anflug von Schwindel eine Möglichkeit liegt, sie zu erwischen, den Panzer zu durchbrechen, den Inés zu ihrem Schutz aufzufahren versucht, und rückt vor.
»Wundere dich nicht, es muss dir auch nicht unangenehm sein. Ich hatte gleich am ersten Tag, als du in mein Haus gekommen bist, das Gefühl, dich zu kennen. Ich habe mich erinnert, dein Gesicht schon mal irgendwo gesehen zu haben. Es war nicht leicht rauszufinden, wo, weil du deinen Nachnamen geändert hast, aber so schwer nun auch wieder nicht. Ich bin Fernsehproduzentin, sicher schaust du ein paar von meinen Sendungen, sie sind erfolgreich, alle schauen die. Ich habe alles produziert, was du dir nur denken kannst, Mode, Sport, Shows, Magazine, aber aktuell kümmere ich mich um Nachrichtenprogramme. Ich stehe hinter der Kamera, deshalb ist mein Gesicht nicht so bekannt, ich bin wie eine graue Eminenz. Vor etlichen Jahren bin ich bei den Abendnachrichten eingesprungen, zur besten Sendezeit, und wir haben über deinen Fall berichtet. Ich fing gerade erst an; damals war jeder Beitrag, den ich produzierte, eine sehr wichtige Erfahrung für mich. Aber insbesondere dich habe ich nie vergessen. Ich hatte das Gefühl, dass ich an deiner Stelle hätte sein können. Das war wie eine Vorahnung, denn irgendwann war ich es dann.«
Inés hat keine Ahnung, von welchen Fernsehsendungen die Frau spricht. Sie erinnert sich an den Flur im Obergeschoss und die gerahmten Fotos, diese Galerie von Menschen jeden Geschlechts. Ob das bekannte Leute, Berühmtheiten, Hollywoodstars, Prinzen oder graue Eminenzen wie die Bonar sind, weiß Inés nicht, und es ist ihr auch egal. Sie hat sich nie mit den Bildern aufgehalten, hat nur geprüft, ob rund um die Rahmen Spinnweben auftreten, die auf Nester mit kleinen weißen Eiern hinweisen könnten, aus denen mit der Zeit haufenweise winzige Spinnlein krabbeln würden. Aber auf die fotografierten Personen hat sie nicht geachtet. Und selbst wenn, hätte sie sie womöglich nicht erkannt, sie schaltet den Fernseher allenfalls ein, um herauszufinden, wie das Wetter wird oder ob es Straßensperrungen gibt.
Frau Bonar trinkt, sie hat noch Wein für einen Schluck in ihrem Glas, und Inés gerade mal noch zwei Minuten.
»Ich glaube an Rehabilitation und Vergebung. Ich habe dich wiedererkannt, ich weiß, was du getan hast, und habe deine Dienste weiter gebucht. Du siehst, ich habe keine Vorurteile wegen irgendjemandes Vergangenheit.«
»Das sehe ich, ja.«
»Aber außerdem weiß ich, dass du die passende Person bist, um mir zu helfen.«
»Wie sollte ich Ihnen helfen?«
»Indem du mir das nötige Gift besorgst, um diese Frau auszuschalten.«
Vor Inés’ innerem Auge blitzen Erinnerungen auf, eine überlagert die nächste: sie hinter einem Baum, wie sie das Treffen von Ernesto und seiner Sekretärin beobachtet, Alicias Wohnung, die Waffe, die Handschuhe, der Kellner in der Bar, der Kuss von ihrem Ex-Mann und Charo am Flughafen Ezeiza, der ihr offenbarte, dass diese Frau und nicht Alicia die wahre Geliebte war, Ernesto und Charo, wie sie in das Stundenhotel gehen, das Auto auf dem Parkplatz, das Warten hinter dem Kofferraum versteckt, schließlich der Schuss. Ihr ist, als habe die Bonar gerade noch etwas gesagt, aber sie weiß nicht, was, sie konnte nicht zuhören. Mit einer schnellen Bewegung schüttelt sie den Kopf, wie um diese Bilder zu verscheuchen, die weniger freundlich sind als ihre Fliege.
»Ich will Perfeno«, sagt Frau Bonar zu ihr, und daraus schließt Inés, dass die Frau sehr genau weiß, wovon sie spricht, dass sie nicht improvisiert, dass alle ihre vorherigen Fragen nicht darauf abgezielt haben, etwas über Gifte zu erfahren, sondern um sie auf die Probe zu stellen und ihre mögliche Reaktion zu erahnen.
Falls ihr noch irgendein Zweifel am Wissensstand der Bonar zu der Materie geblieben sein sollte, vertreibt die Frau ihn unverzüglich: »Perfeno ist ideal für meine Zwecke: eine weiße Emulsion, die nach fast nichts riecht, sie reizt die Haut nicht, macht keine Flecken. Vor Kurzem habe ich in einer meiner Sendungen einen detaillierten Bericht über Gifte für den Hausgebrauch in Auftrag gegeben, nur um mehr zu erfahren und besser wählen zu können. Chef-Privileg.«
»Ich benutze dieses Mittel nicht.«
»Aber du kannst es auf jeden Fall kaufen. Das ist nur für Profis. Es gibt Register, und du bist sicher registriert.«
»Diesen Service biete ich nicht an.«
»Noch nicht. Denk darüber nach. Wenn wir Frauen einander nicht helfen …«
Eine Minute, Inés schätzt, dass ihr nur noch eine Minute bleibt, um nicht zu spät zum nächsten Termin zu kommen. Und sie hat weder Zeit noch Lust, mit der Bonar über ein »wir Frauen« zu diskutieren, von dem sie nicht glaubt, dass es sie einschließt.
»Ich würde alles tun, damit mein Mann mich nicht verlässt. Inklusive diejenige auszuschalten, die ihn mir wegnehmen möchte und mich bei lebendigem Leib umbringt.«
»Falls Sie das tun, möchte ich lieber nichts davon wissen.«
»Ich brauche dein Gift.«
»Es gibt andere.«
»Ich kann nicht in einen Baumarkt gehen und Rattengift kaufen. Ein solches Gift müsste ich viele Male und in kleinen Dosen verabreichen, damit sie es nicht merkt. Dazu habe ich keine Gelegenheit. Perfeno ist ideal. Das wird ein one shot.«
»Bitten Sie irgendeinen Kollegen.«
»Andere Profis würden mich verpfeifen. Wer meinen Schmerz nicht versteht, wird mich letztlich anzeigen. Du hingegen verstehst mich, das weiß ich.«
Natürlich versteht Inés sie. Sechzehn Jahre sind vergangen, sie hat bereits bezahlt, sie will nicht, dass diese Frau oder sonst wer sie daran erinnert, aber es ist unvermeidlich: Schon ist die Erinnerung da. Trotzdem und obwohl sie sich mit der Bonar identifizieren kann, obwohl sie diesen Schmerz kennt, obwohl sie selbst es sein könnte, die Pinot Noir trinkt und einer anderen Frau erzählt, dass ihr Mann sie betrügt, dass sie Angst hat, dass er sie dieses Mal verlässt, und wie sehr sie das verletzt, macht sich Inés genau in diesem Moment daran, mit ihren Giften aufzubrechen. Sie ist drauf und dran zu gehen, als die Bonar ihren letzten Trumpf spielt: Sie wirft einen Umschlag auf den Tisch. Das Geräusch, wie der Packen herabfällt und über das Holz rutscht, lässt Inés innehalten.
»Das ist, damit du darüber nachdenkst. Ein Vorschuss, für nichts Bestimmtes. Den musst du nicht zurückzahlen, der ist nur, damit du bei deinem nächsten Einkauf in Betracht ziehst, worum ich dich gebeten habe. Zähl es. Es sind Dollars, viele Dollars. Ich habe das hier und so viel, wie nötig ist.«
Inés kommen zum ersten Mal Zweifel, sie nimmt sich den Augenblick Zeit, den sie nicht hat. Wer würde nicht zögern, wenn es heißt: »Das sind Dollars, viele Dollars.« Selbst wenn der Preis dafür ist, zu spät zum nächsten Termin zu kommen. Seit sie nicht mehr die Frau von irgendwem ist und sich allein über Wasser halten muss, weiß sie, dass frau für ein Jobangebot dankbar ist und das Für und Wider sorgfältig abwägt, bevor frau eine Entscheidung trifft. Vor allem ist frau dankbar. Ist es ein Jobangebot, Gift im Auftrag einer anderen zu kaufen? Ist es eine Straftat oder gerade mal ein Vergehen? Sie wird sich mit der Manca beraten. Die wird es wissen, und falls nicht, findet sie es heraus. Inés greift nach dem Umschlag, öffnet ihn einen Spaltbreit, so eben mit zwei Fingern, späht hinein. Es sind Dollarscheine, tatsächlich, grün. Aber die Vernunft siegt, und sie zählt sie nicht; wenn sie das täte, würde die Frau es so interpretieren, dass sie ihren Auftrag annimmt. Sie ist in der Nachspielzeit. Inés tritt vom Tisch zurück und will gehen.
»Nimm es mit, ohne Verpflichtung, Inés, das ist nicht die Bezahlung für den Einkauf. Nur eine Aufmerksamkeit, weil du mir einige Minuten deiner Zeit geschenkt hast. Es gehört dir, fürs Zuhören und Nachdenken, nur dafür. Nimm es mit.«
Inés schüttelt den Kopf. Noch nie hat jemand sie fürs Zuhören und Nachdenken bezahlt. Und in Dollars schon gleich gar nicht. Sie klemmt sich ein Sprühgerät unter die Achsel und hält das andere gut fest. Macht kehrt und geht zwei, drei Schritte. Frau Bonar sticht ein weiteres Mal mit ihrem unsichtbaren Stilett zu: »Bist du sicher?«
Nein, sicher ist sie nicht. Wie sollte sie auch?
Sie dreht wieder um. Nimmt den Umschlag und steckt ihn in die Tasche.
»Ich denke darüber nach, danke«, sagt sie.
Und dann, mit den Dollars und den Sprühgeräten, geht Inés wirklich.
Ich wiederhole: Ich sehe eine Fliege.
Ich, Inés Experey, sehe eine Fliege.
Ein kleines Insekt fliegt vor meinem linken Auge. Sollen sie es doch nennen, wie sie wollen, sollen Augenärzte und Insektenforscher es verleugnen oder mir einreden, dass ich mich irre. Eine Fliege. Schwarz, richtig schwarz; von wegen schwärzlich oder gräulich. Schlichtweg schwarz. Sie steigt auf und ab, bewegt sich von einer Seite zur anderen, treibt dahin wie durch das Wasser eines Schwimmbeckens. Sie sieht aus wie eine dieser Fruchtfliegen, die sich im Sommer auf das Obst stürzen. Als ich sie zum ersten Mal sah, wollte ich sie loswerden (peng!). Das war, als ich dort drinnen war, in dem von Gebäudetrakten mit hohen Fenstern und Gittern umgebenen Hof. Ich bewegte die Hand vor dem Auge, schüttelte sie, aber die Fliege ließ sich nicht beirren. Ich war überrascht, hatte sogar eine böse Vorahnung. Es ist ja allgemein bekannt: Wenn man mit der Hand vor einer Fliege rumwedelt, ist das Viech nicht blöd und fliegt weg. Diese hier nicht, sie blieb völlig ungerührt. Ich bat eine Mitinsassin, sich mein Auge anzusehen. Vielleicht hing das Insekt dort im Feuchten fest. Die Frau kam mir zu nah (stopp!). Immer kamen mir die Mitinsassinnen dort drin zu nah. Außer der Manca. Sobald ich ihr sagte: »Rück mir nicht auf die Pelle, Manca«, blieb sie, wo sie war, sie respektierte meinen Raum, den physischen, körperlichen Abstand. Die anderen waren unbelehrbar, und bei ihnen spürte ich einen Vibe, der mich irritierte. Zu meiner Zeit hieß es »Lesbierin«, ich weiß schon, dass das so nicht mehr gesagt wird, so wie man auch nicht Wärterin und erst recht nicht Gefängniswärterin zur Strafvollzugsangestellten sagen darf. Ich bin ein Schwamm und lerne. Aber ich kann diesen Vibe nicht leiden (wenn es feucht wird, erst recht nicht). Auch wenn ich mich zu dem Zeitpunkt schon daran gewöhnt hatte und damit klarkam. Die Manca war nicht zur Hand (nicht mal mit einer), und außerdem wollte ich, dass mir jemand – wenn auch mit Vibe – bestätigte, was ich sah, sonst hätte ich einen Nervenzusammenbruch bekommen. Ich bin eine nervöse Frau, auch kalt und berechnend – wie Ernesto mir bei einer der Anhörungen in meinem Gerichtsverfahren (oder Charos, je nachdem von welcher Seite man den Tod betrachtet) ins Gesicht schleuderte –, denn eines schließt das andere nicht aus. Kalt, berechnend, nervös, ängstlich. Nicht krank. Die Mitinsassin zog mein Unterlid sanft nach unten, dann das obere nach oben. Ihre Finger rochen nach Zigarette, ihr Atem auch; wie diese Verurteilten rauchten. Verurteilte kann ich sagen, glaube ich. Gefangene nicht; es heißt, »ihnen wird die Freiheit entzogen«. Und das mit den Verurteilten ist relativ, auch wenn der Begriff an sich okay ist, denn nur wenige von uns waren rechtskräftig verurteilt. Die Justiz steckt uns ins Gefängnis, nimmt sich zum Urteilen aber Zeit und lässt viele Frauen in einem Limbus zwischen Straftat und Urteil leben, aus dem sie erst herauskommen, wenn Fristen verstreichen, die keine versteht. Als wären sie im Grunde von der Inkompetenz des Systems für schuldig erklärt worden. Noch immer dicht vor mir, ihre Brüste streiften mich fast, sagte meine Mitinsassin: »Nichts«, und leckte sich anschließend über die Lippen. Während sie es noch einmal wiederholte und dabei schmatzte, als würde sie sich Essensreste aus den Zähnen fischen, sah ich weiterhin die kleine Fliege, die in meinem Auge von rechts nach links schwamm, leicht nach oben geneigt. »Und sie bewegt sich doch«, sagte ich, und sie, die keine Ahnung von Galileo und seinem Disput hatte, gab verwirrt zurück: »Was sagst du, Ine?«
Das gab mir den Rest. Viele dort nannten mich »Ine«, verschluckten das S am Schluss und betonten das I statt das E. Grauenvoll, aber was sollte ich schon sagen? Fast war mir das »Lamas« der Gefängniswärterinnen lieber. Ich antwortete nicht. Meine Mitinsassin schlug vor, andere hinzuzurufen, damit die auch noch guckten; ich lehnte ab. Wenn ich das zuließ, würde es mit einem Harem von Frauen rund um mich enden, die ihre Meinung zu etwas äußerten, von dem sie keine Ahnung hatten. Und unnötig an mir herumfummelten. Wenn sie die Fliege nicht sah, würden die anderen sie auch nicht sehen.
Ich ging auf die Krankenstation, wurde untersucht. Die diensthabende Ärztin war nicht in Augenheilkunde ausgebildet, und zu allem Überfluss war sie junges Gemüse, guten Willens, aber ohne Erfahrung. Sie versicherte mir, ich müsse mir keine Sorgen machen, viele Menschen hätten solche in ihren Augen schwebenden »Mücken«, manche sähen sie, andere nicht. Ein schöner Trost. »Glaskörper«, sagte sie und beschrieb das als »tote Zellen«, als »Ablösungen einer gelatinösen Masse, die mit dem Alter auftreten«.
»Was soll das heißen, alt?«, gab ich zurück, und das Doktorpüppchen wurde rot.
»Nun ja, das tritt mit dem Alterungsprozess auf«, versuchte sie zu erklären, doch das reichte ihr offenbar noch nicht, denn sie fügte hinzu: »Nicht unbedingt im hohen Alter.« Mein Blick war vernichtend, sie senkte ihren, um etwas in meine Akte zu schreiben, und sah nicht wieder auf. Ich weiß nicht, ob in diesen medizinischen Unterlagen steht, aus welchem Grund eine Insassin dort drin ist, falls das Doktorpüppchen aber wusste, dass ich jemanden getötet hatte, hatte diese Information wohl geholfen, ihr die Farbe von den Wangen zu wischen, die innerhalb von Sekunden von Rot zu Weiß wechselten. Die meisten meiner Mitinsassinnen waren wegen ihrer Tätigkeit als Drogenkurierinnen da, weil sie heimlich etwas über die Grenze geschmuggelt oder bei sich zu Hause in kleinen Mengen verbotene Substanzen vertickt hatten. Getötet hatten nur wenige von uns, und die Ärztin musste das wissen. Immer noch ohne mich anzusehen, versicherte sie mir, dass die Fliege sich im Lauf der Wochen oder vielleicht auch Monate an einer Stelle niederlassen werde, wo ich sie nicht mehr sehen oder mein Gehirn den Verdrängungsmechanismus aktivieren werde.
»Was ist das?«, fragte ich.
»Eines Tages hat das Gehirn es satt, sie zu sehen, und verdrängt sie, es sieht sie nicht länger. Es beschließt, dass sie nicht mehr da ist.«
Da sagte ich mir, Inés, mach dir keine Sorgen, wenn es um Verdrängung geht, bist du Expertin. Das war ich immer schon. Als Beweis nenne ich nur meine Ehe.