Between - Selina Kissmann - E-Book

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Selina Kissmann

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Beschreibung

LEBEN & TOD, HELL & DUNKEL, WAHRHEIT & LÜGE, ENGEL & DÄMON, LORAS & TYRON Gegenteile sollten nichts miteinander zu tun haben und doch scheinen sie einander zu brauchen, um zu existieren. Doch wie gut können sie ihre Differenzen überwinden, wenn das Schicksal aller Welten davon abhängt? Ein alles verändernder Auftrag: Wir müssen versuchen, einen Dämon zu bekehren. Eine einfache Bedingung: Ich gebe dir eine Chance, wenn du mir eine gibst. Ein Wettstreit um die Zeit: Finden wir nicht bald eine Lösung, könnte dies katastrophale Folgen für das Bestehen der Oberwelt haben. Der Kampf zwischen Gut und Böse beginnt. Wer wird als Sieger hervorgehen?

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Autorinnenporträt

Selina Kissmann

Um sich von ihrem Studium der Sozialwissenschaften eine Pause zu verschaffen, setzt sich Selina vor den Laptop und fängt an zu tippen. Von großen Romanzen, dramatischen Intrigen, tödlichen Gefahren und einer Menge Fantasie lässt sie sich in andere Welten ziehen und hofft, andere mitnehmen zu können. Seid gespannt, welche Geschichten sie noch zu Papier bringen wird, denn Between up and down ist erst der Anfang.

»Was aus Liebe getan wird, passiert immer jenseits von Gut und Böse.« ~ Friedrich Nietzsche

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1: Tyron

Kapitel 2: Loras

Kapitel 3: Tyron

Kapitel 4: Loras

Kapitel 5: Tyron

Kapitel 6: Loras

Kapitel 7: Tyron

Kapitel 8: Loras

Kapitel 9: Tyron

Kapitel 10: Loras

Kapitel 11: Tyron

Kapitel 12: Loras

Kapitel 13: Tyron

Kapitel 14: Loras

Kapitel 15: Tyron

Kapitel 16: Loras

Kapitel 17: Tyron

Kapitel 18: Loras

Kapitel 19: Tyron

Kapitel 20: Loras

Kapitel 21: Tyron

Kapitel 22: Loras

Kapitel 23: Tyron

Kapitel 24: Loras

Kapitel 25: Tyron

Kapitel 26: Loras

Kapitel 27: Tyron

Kapitel 28: Loras

Kapitel 29: Tyron

Kapitel 30: Loras

Kapitel 31: Tyron

Kapitel 32: Loras

Kapitel 33: Tyron

Kapitel 34: Loras

Kapitel 35: Tyron

Kapitel 36: Loras

Kapitel 37: Tyron

Epilog

Nachwort

Prolog

Unsere Eltern geben uns ein Zuhause. Unser Job gibt uns Geld. Unser Geld gibt uns Möglichkeiten. Unsere Welt gibt uns Raum und das Leben gibt uns eine Zeitspanne.

Im weltweiten Durchschnitt leben wir Menschen etwa 71,5 Jahre. In dieser Zeit erleben wir Tragödien, Glücksmomente, Liebschaften, Abenteuer und vieles mehr. Manchmal vergeht die Zeit in Windeseile und dann wieder in Zeitlupe. Ein Kind wartet Ewigkeiten auf seinen Geburtstag. Je näher er rückt, desto langsamer vergehen die Tage, doch ist er endlich gekommen, die Gäste sind erschienen, Kuchen wurde gegessen und Geschenke ausgepackt, ist er schon wieder vorbei, als sei dieser Tag nicht mehr als ein Wimpernschlag gewesen.

Es scheint eine so lange Zeit zu sein. 70 Jahre. Manch einer stirbt schon in jungen Jahren mit 20 oder als Kind, dagegen scheinen Menschen die 70, 80 oder gar noch älter werden, ewig zu leben, doch es ist wie der Geburtstag eines Kindes: eigentlich nur ein Wimpernschlag. Die Zeit auf unserer Erde ist nun mal begrenzt. Was danach kommt, das versuchen Menschen seit ihrer Existenz herauszufinden.

Im alten Ägypten wurden Pharaonen mumifiziert, um sich dem Totengericht stellen und in das von Osiris regierte Jenseits zu gelangen. Das alte Judentum ging davon aus, dass die Menschen, ob gut oder böse, nach Scheol kommen, einer Schattenwelt, in welcher sie die Ewigkeit verbringen müssen.

Im Buddhismus glaubt man an die Reinkarnation. Das heißt, wenn man stirbt und die Seele den Körper verlässt, sucht sie sich einen Neuen. Wen sie findet, hängt ganz von dem Karma des Toten ab.

Heute gibt es die verschiedensten Theorien, die meisten aus altertümlichem Ursprung, doch niemand weiß, was passiert, wenn man von einem Auto überfahren wird oder in einem Meer ertrinkt.

Keiner weiß es, bis auf die Toten.

Was wäre, wenn sie mit uns sprechen würden und uns erklärten, dass unsere Welt, mit ihrem Raum, ihren Möglichkeiten, den Jobs und dem Geld nur der mittlere Raum ist. Ein kurzer, begrenzter Aufenthaltsort, um zu entscheiden, wo es danach hingeht. Begriffe wie „Himmel" oder „Hölle" sind geläufig, doch im Reich der Toten nennt man sie „Oberwelt" und „Unterwelt".

In beiden herrschen bestimmte Hierarchien. In der Oberwelt bleiben die meisten reinen, weißen Seelen in ihrem persönlichen, perfekten Reich. Ein Garten der Ewigkeit. Wer aufsteigen möchte, kann sich zum Engel ausbilden lassen. Strenge Regeln stehen dann auf dem Programm, doch auch ein paar mehr Möglichkeiten, wie zum Beispiel die Mitte besuchen und beschützen zu dürfen. Erzengel sind in der Oberwelt die Herrscher. Ihr Anblick ist selten und mächtig. Ihr Wille ist Gesetz.

In der Unterwelt gibt es weniger Regeln. Die Hierarchie erfolgt ganz natürlich auf Grundlage der vollendeten Todesjahre. Zuerst muss die ankommende Seele jedoch verwandelt werden, was durch Folter einer fremden Seele erfolgt. Ab einem bestimmten Zeitpunkt, den keiner wirklich kennt, gilt man als Urdämon. Sie sind das Äquivalent zu den Erzengeln. Sie regieren ihre jeweiligen Welten, doch sie alle unterstehen ihrem Oberhaupt. Der Heilige Vater auf der einen – und Luzifer, einst sein Sohn, auf der anderen Seite. Doch die Existenz beider bleibt unbewiesen. Seit Jahrtausenden hat keiner sie gesehen. Man kennt sie nur von Geschichten und Legenden.

Früher einmal wollte jeder in die Oberwelt, ins sogenannte „Paradies". Man lebte nach den Regeln, sorgte dafür, dass die Seele rein und weiß blieb, und erhielt dafür die Belohnung. Heute ist es vielen egal. Sie glauben nicht, an ein Leben nach dem Tod. Sie glauben nicht an die Ewigkeit und so verschmutzen sie ihre reine Seele, was schneller geht, als man annehmen möchte. Ihre Strafe ist die Unterwelt.

Zumindest glauben die Engel daran.

Die Dämonen sind glücklich in ihrer Welt. Sind ihre Seelen einmal schwarz, so steht es geschrieben, so sind sie es für immer. Und schwarze Seelen genießen die Dunkelheit, das Feuer, die Qualen und die Freiheiten. Für sie ist die Unterwelt das wahre Paradies.

Welche Welt nun tatsächlich die Erstrebenswertere darstellt, ist nicht genau zu benennen. Die Oberwelt, trotz ihrer strengen Regeln? Die Unterwelt, trotz ihrer Folter? Vielleicht gibt es keine Perfektion. Alles, selbst die Welt der Engel und des Lichtes, hat seine Schattenseite und genau diese gilt es ausfindig zu machen, wenn sich ein Krieg zwischen Oben und Unten anbahnt. Und was ist der Schnittpunkt zwischen Oben und Unten? Richtig. Die Mitte.

Kapitel 1

~ Tyron ~

Die Unterwelt. Kein Ort für schwache Nerven. Hier warteten Angst, Schrecken und Qualen. Gigantische Flammen des tosenden Höllenfeuers erhitzten den steinigen Boden. Sie erhellten die tiefen Schluchten und brachen bis zu den hohen Decken hinaus. Erbärmliche Erdlinge hätten sich ihre zarten Füße bei diesen Temperaturen verbrannt. Tyron allerdings liebte die Hitze, genau wie alle anderen Dämonen.

Als Erdling stellte man sich die Hölle immer als einen furchtbaren, grausamen Ort der Folter vor – was sie auch war – allerdings nur für die Neuzugänge. Für alle anderen entsprach es einer spaßigen Unterhaltung, mit anzusehen, wie die Frischlinge die schlimmsten Qualen erleben mussten. Schmerzen, Angst, moralische Folter. Alles Bestandteile der Metamorphose.

Tyron hätte es größte Freude bereitet, jemanden vorzeitig hier hinunter geleiten und ihm vorführen zu dürfen, was ihm bevorstand. Der Gesichtsausdruck wäre mit Sicherheit köstlich und der Spaß erstklassig gewesen. Doch der Letzte, der etwas dergleichen versucht hatte, musste sechshundertsechsundsechzig Jahre in der heißesten aller Flammen brennen. Eine bittere Strafe, doch diese erhöhte bloß den Respekt vor einer solchen Tat. Der Dämon war anschließend eine ganze Weile gebrochen gewesen – doch er wurde zur Legende. Schließlich war der Übergang in die Mitte und zurück äußerst kraftaufwendig, insbesondere, wenn man noch Gepäck dabei hatte, das nicht stillhalten konnte.

Ja, Erdlinge waren jammernde Kreaturen. Heulten, kreischten und zappelten bei jedem noch so kleinen Kratzer. Umso schöner war es, sie zu beobachten, wenn sie ihrem Schicksal begegneten, denn das Klagen und die Angstschreie waren wie eine schöne Melodie in den gierigen Ohren der Dämonen. Unfassbar, dass sie alle einst so erbärmlich gewesen sein sollen.

An sein Leben als Erdling konnte sich Tyron nur schwer erinnern. Den Großteil seiner Vergangenheit hatte er im Torturengebiet vergessen, der Rest kam nach und nach abhanden. Alles, was ihm geblieben war, war das Wissen, dass er ein langweiliges Leben geführt hatte, welches den unendlich vielfältigen und komplizierten Normen und Geboten gehorsam war. Irgendwann musste er sich dazu entschieden haben, dem ein Ende zu setzen und seinen Weg zu verändern, sonst wäre er wohl kaum hier gelandet. Was es aber war, das ihn hier her, in die freie Welt, befördert hatte, das war nun seit Langem schon ein Rätsel. Vielleicht war das auch besser so. Die Erinnerungen aus einem vergangenen Leben waren nach dem Tod in der Mitte völlig belanglos und unbrauchbar. Je schneller man sie loswurde, desto besser.

»Na, hast du dir schon Pläne gemacht, was du alles anstellen wirst?« Einer der Urdämonen, Ezmon, trat neben Tyron. Sein Henriquatre-Bart war so grau wie der Ansatz seiner einst braunen Haare und die Falten in seinem Gesicht ließen ihn schwächer Aussehen, als er war. Für Tyron war er damals eine Art Ausbilder gewesen. Er hatte ihn durch die Metamorphose begleitet und ihn anschließend in der Unterwelt willkommen geheißen. Keiner hier konnte genau sagen, wie lange er schon durch die felsigen Gänge der unendlich weiten Unterwelt, die sie ihr Zuhause nannten, wanderte, doch seinen Erzählungen nach zu urteilen, musste es schon eine verdammt lange Zeit sein.

»Wer sagt, dass ich etwas anstellen werde?« Tyron schmunzelte in sich hinein, denn sein Ruf eilte ihm voraus. Jeder, der schon ein paar Jährchen hier war, kannte ihn als einen berüchtigten, aber intelligenten Unruhestifter. Ein Titel, auf welchen er mehr als stolz war, und den er sich verdient hatte.

Sie standen an einem der vielen Abhänge, die in die große, tiefe Schlucht des Feuers führten. Nicht selten schaffte es ein Idiot, hinabzustürzen und niemals wieder aufzutauchen. Tyron stellte sich dennoch immer wieder gerne nah an den Rand und starrte hinab in die tobenden Flammen. Der Nervenkitzel durch den möglichen Absturz in Kombination mit der Schönheit und Geborgenheit des Feuers erschuf den perfekten Ort, mit der perfekten Aussicht.

»Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem du zu uns kamst«, erzählte der Urdämon. »Du warst ein jämmerliches Etwas. Und sieh dich jetzt an: Du bist stark, raffiniert und auf dem Weg zu deinem ersten Ausgang nach so vielen Jahren. Kannst du dich überhaupt noch an die Mitte erinnern?« Ezmon warf seinem Gegenüber einen fragenden Blick zu, doch alles was er im Gegenzug erhielt, war ein halbherziges Schulterzucken.

Es war leichter, sich an weniger persönliche Dinge wie die Umwelt zu erinnern, doch Tyron wusste kaum noch etwas. Wie auch? Er wusste ja kaum etwas über sich selbst. Ihm war nur im Gedächtnis geblieben, dass es dort grausam gewesen war. Er sah noch den schwarzen Rauch aus grauen Gebäuden kommen, die von grauen Wegen umgeben waren, auf denen vereinzelte dunkle Fahrzeuge umher düsten und widerlichen Gestank hinterließen. Dann waren da noch Gefühle. Gefühle, mit denen er nun zum Glück nicht mehr länger zu kämpfen hatte. Sorgen, Neid, Kummer, Schmerz – alles weg. Genauso wie die ganzen Regeln und Verpflichtungen. Wozu das alles? Er landete ja doch in der Unterwelt. Zugegebenermaßen vermutlich das Beste, was ihm hätte passieren können.

Die Mitte war, von dem, was er noch im Sinn hatte und woran sich andere erinnerten, ein grauer, düsterer Ort, in welchem das Schlechte unkontrolliert umherwanderte. Und das kam von jemanden aus der verdammten Hölle! Deswegen bekam Tyrons Zuhause seit einiger Zeit jährlich rund sechsundsiebzig Prozent aller Neuzugänge. Zu Lebzeiten fürchteten sich wohl die meisten vor diesem Schicksal, doch im Nachhinein, wenn sie die Metamorphose überstanden und sich in dieser Welt eingefunden hatten, ging es ihnen doch wie Tyron. Sie waren heilfroh, ein Teil dieser großen, freien Gemeinschaft zu sein.

Natürlich verfolgten die Dämonen auch gewisse Richtlinien, aber diese waren doch in ihrer Menge recht bescheiden und oftmals sehr vage formuliert, sodass man sich eine spaßige Grauzone schaffen konnte. Die wenigen Regeln, die es gab, die kannte jeder und man wusste, was einem blühte, sollte man es wagen, sich zu widersetzen. Doch bei all den Freiheiten, wen scherten da schon ein paar kleine Regeln? Die waren immer noch nichts im Vergleich zu dem, was in der Welt weiter oben vor sich ging.

Ezmon drehte sich zum Gehen um, doch hielt noch einen Moment inne. »Kommst du?«, fragte er. Sich einem Urdämon nicht zu widersetzen war zwar keine Regel, doch aber auf gewisse Weise ein ungeschriebenes Gesetz. War man schlau, gehorchte man jedem, der in der Hierarchie über einem stand. Diese Hierarchie ergab sich aus den bereits abgeschlossenen Todesjahren. Eine vernünftige Regelung, wie Tyron fand, da so auf bestimmte Weise fast jeder von anderen bestimmt wurde, gleichzeitig auch über einen Haufen anderer bestimmen konnte. Ohne weitere Fragen folgte er seinem alten Ausbilder.

Auf dem Weg begegneten sie unzähligen Kameraden, die den Urdämon allesamt grüßten. Damit war kein freundlicher Händedruck gemeint. Dämonen begrüßten sich, indem sie sich scherzhaft beleidigten oder einen versauten Kommentar abgaben. Das war auf diesem Boden gang und gäbe.

Nach nur wenigen Metern wurde Tyron klar, wohin man ihn führte. Der Ort, an dem alles begann – das Torturengebiet. Warum nur wurde er hierher gebracht? Und das ausgerechnet an diesem Tag? Nicht, dass er es dort nicht genießen würde, doch es schien recht suspekt. Befürchtete Ezmon etwa, Tyron könnte bei dem Betreten der Mitte schwach werden?

»Wieso führst du mich hierher?«, Tyron blieb abrupt stehen, als sie den riesigen Saal betraten. Er musste sehr laut sprechen, damit man ihn zwischen all dem Geschrei, welches hier vorherrschte, verstehen konnte. Es war schwer, sich vorzustellen, dass auch er einst an diesem Ort gequält wurde. Wirklich daran erinnern konnte er sich nicht. Solche Sachen vergaß man mit der Zeit. Vom Hören-Sagen wusste er, dass er einer der ganz schnellen Sorte war, was die Metamorphose anging. Etwas, worauf man hier unten stolz sein konnte. Das war nun schon einige Jahrzehntchen her. Genug Zeit, um sich vollständig dieser Art zu "leben" hinzugeben. Nun war er alt genug.

Es waren Gerüchte im Umlauf, dass Dämonen, die freies Geleit in die Mitte erhielten, die Seite wechseln könnten. Diese Annahme hatte zwar keine faktischen Beweise, trotzdem war es nur älteren Dämonen gestattet, die Unterwelt zu verlassen. Manche behaupteten, dieses Gerücht sei der Grund dafür. Tyron ging allerdings davon aus, dass es nur darum ging, Frischlinge von Dummheiten abzuhalten. Wie zum Beispiel wahllos und unvorsichtig Menschen zu quälen.

Letzteres war für die Urengel extrem wichtig. Jeder durfte seinen Spaß haben, doch es gab gewisse Grenzen, die es einzuhalten galt. Niemand wollte den Ärger von oben riskieren. Zwar waren viele der Meinung, ein Krieg mit der Oberwelt sei unumgänglich und für die Dämonen kein Risiko, was den Erfolg anbelangte, doch die Urdämonen hielten stets dagegen. »Der große Meister ist noch nicht so weit«, sagten sie immerzu. Woran das lag, war Tyron und den anderen nicht klar, doch wie bereits erwähnt, hörte man auf die Urdämonen.

»Viele sind vor ihrem ersten Ausgang nervös«, begann Ezmon. Seine Stimme war so kräftig, dass er problemlos das Geschrei übertönte. »Sie wissen nicht mehr, wie die Mitte aussieht oder was sie erwartet. Ich dachte, es wäre hilfreich, wenn du vorher daran erinnert wirst, wo du herkommst. Zu sehen, was aus den Erdlingen wird. Die Mitte ist nur ein vorübergehender Aufenthaltsort. Das hier. Das ist die Ewigkeit.« Der Urdämon lief ein paar Schritte vor und begutachtete einen Erdling, aufgehängt an eisernen Ketten über einer von Lava gefüllten Schlucht. Ein Neuling der feinsten Art, bestimmt erst wenige Stunden alt, denn er schrie sich förmlich die Seele aus dem Leib – als wäre das noch möglich. Vermutlich wusste er, dass er gleich ein nettes, warmes Bad nehmen würde.

»Gerüchte besagen, es gebe eine gewisse ,Gegen-Metamorphose'. Eine Erleuchtung der Seele oder so ein Scheiß. Du befürchtest doch nicht etwa, mit mir könnte so etwas passieren, oder? Ich wüsste nämlich nicht, was so ein mickriger Ort an sich haben könnte, damit ich bereit wäre, das hier aufzugeben.«

Ezmon drehte sich zu ihm um und fing an, lauthals zu lachen. »Gegen-Metamorphose'? Wer hat dir denn so einen Schwachsinn erzählt?« Sein Lachen wurde noch ein wenig lauter, als er auf den jüngeren Dämon zugelaufen kam. »So etwas wie eine ,Gegen-Metamorphose' gibt es nicht. Ist deine Seele einmal schwarz, so bleibt sie es für immer. Nur weiße Seelen können sich verändern, weißt du wieso?« Er hielt kurz inne, doch Tyron antwortete nicht. Er starrte ihn nur fragend an. »Weil schwarz eine dominante – nein, die dominanteste Farbe ist, die es gibt. Schwarz ist stark, mächtig. Weiß ist schwach. Deswegen erhalten wir auch die meisten Neuzugänge. Alle sagen, sie wollen in die Oberwelt, doch was sie wirklich wollen, ist Stärke und Macht. Sie wollen haben, was wir haben. Sein wie wir sind.«

Ein Schmunzeln glitt über Tyrons Mund. Es stimmte, dachte er. Die Dämonen waren stark und mächtig. Mehr als jedes andere, existierende Geschöpf. Schwarz überdeckte Weiß. So war es immer und so würde es immer sein. Wie hatte er nur daran zweifeln können?

Nachdem sie noch eine Weile den grässlich-schönen Schreien gelauscht hatten, war es endlich so weit. Ein Freund von ihm, Markan, derjenige, den Tyron damals quälen musste, als er neu war, begleitete ihn vor das große, feuerrote Tor in einem abgelegenen Bereich der Unterwelt. Schon immer wollte Tyron wissen, wie es hinter diesen gigantischen Felsen, welche das Tor umgaben, aussah.

Er stellte sich oft vor, dass sich dort mehrere Meter hohe Lavafontänen befanden und Feuer, das noch größere und unbeherrschtere Flammen spukte, als je zuvor jemand gesehen hatte. Er ging auch davon aus, dass, was auch immer er gleich sehen würde, etwas Edles haben musste. Vielleicht ein goldener Thron? Und etwas Gefährliches. Vielleicht ein Drache! Gab es Drachen in der Unterwelt? Was auch immer es war, es würde ihm seinen Atem rauben. Und irgendwo hinter diesen Toren musste sich eine Art Portal befinden, mit welchem es ihm möglich war, in die Mitte zu gelangen. Vielleicht konnte man auf diese Weise sogar der Oberwelt einen Besuch abstatten. Er würde es sicher bald herausfinden.

Als er endlich vor dem prächtigen Tor stand, hielt er kurz inne. Nicht, dass es ihm hier unten nicht gefallen hätte, doch aus irgendeinem Grund wartete er nun schon seit geraumer Zeit auf diesen Moment. Vermutlich war es bloße Neugierde darüber, wie die Mitte nach so vielen vergangenen Jahren aussah. Er hatte sie schließlich ewig nicht gesehen. Es musste sich vieles verändert haben. Am meisten verlockten ihn die Möglichkeiten, sich zu amüsieren, indem man mit den Erdlingen ein wenig spielte, sie manipulierte, ihnen Angst einjagte, ohne, dass sie es überhaupt merkten.

»Nervös?« Tyrons Freund blickte ihn verwundert an.

»Nein.« Er legte eine Hand an den großen, kalten Türgriff und lächelte. »Aufgeregt.«

Dann öffnete er die schwere Tür und lief in den riesigen Saal hinein.

Kapitel 2

~ Loras ~

Die Wolken waren so weich, als säße man auf flauschiger Zuckerwatte – nur nicht so klebrig. Ein Mensch fiel durch diese Wunder von des Herrschers Hand einfach hindurch. Sündhaft, dass sie es ohne des Vaters Hilfe ohnehin soweit hinauf geschafft hatten. Doch erblicken konnten sie das Reich des Guten erst dann, wenn ihre Zeit gekommen war, vorausgesetzt sie hatten es sich verdient.

Es schmerzte ein wenig, hinabzusehen auf die vielen unschuldigen Kinder mit dem Wissen, dass einige von ihnen all das hier niemals zu Gesicht bekommen würden. Dabei kamen sie alle mit den gleichen Chancen auf die Welt. Vielleicht nicht finanziell oder materiell, nicht einmal was die Familie und die unmittelbar spürbare Liebe anging, doch jedes Kind wurde gut geboren und hatte sein ganzes Leben lang die Wahl, diesen Zustand beizubehalten oder sich dem Bösen hinzugeben. Hätte Loras ihnen nur zeigen können, was ihnen entging, sollten sie die falsche Wahl treffen. Doch das war strengstens verboten. Jeder musste sich für sein eigenes Leben und damit für sein eigenes Schicksal entscheiden und die Konsequenzen – ob gut oder schlecht – hinnehmen.

Immerhin kam mit dem Schmerz, dass nicht alle die Oberwelt sehen würden, auch die Freude, dass manche eben dieses Glück eines Tages erfuhren. Man sah förmlich, wie ihre Seelen heller wurden, wenn sich ihre immer wehrenden Träume vom Paradies erfüllten. Wenn sie realisierten, dass alles, was sie in ihrem Leben hinnehmen mussten, es nun wert war. Hätten doch nur alle Menschen dieses Gefühl erfahren können.

Jeden Tag nahm sich Loras ein paar seiner kostbaren Minuten Zeit, um sich die gesamte Pracht der Erde anzusehen und ihre Bewohner zu begutachten. Dabei konzentrierte er sich vor allem auf jene, die gerade Momente der Freude erlebten. Er sah gerne zu, wie Mütter zum ersten Mal ihre Babys im Arm hielten oder wie ein Liebespaar den Bund der Ehe einging. Es wäre zwar schöner, hätten sie sich bis zu diesem Zeitpunkt einander aufgehoben, doch etwas dergleichen war zu einem seltenen Phänomen der Neuzeit geworden.

Irgendwann wurde den Engeln mitgeteilt, dass eine solche Sünde nicht mehr länger zu den Infernis-Sünden gehörte und den Weg zur Oberwelt für niemanden versperren sollte. Andernfalls wäre dieser unendliche Raum inzwischen sehr leer. Dennoch war die Wissbegierde die Erste aller Sünden. Wenn man mit etwas nicht bis zum heiligen Bund der Ehe warten konnte, so dachte Loras, wollte man es zu gerne wissen, was seines Erachtens eine gewaltige Form der Wissbegierde darstellte. Einige andere Engel dachten wie er, doch das war irrelevant.

Es waren die Urengel, welche ihre Befehle von den Erzengeln erhielten, die über die Regeln entschieden. Da gab es keinerlei Widerrede. Ob die Erzengel ihre Befehle vom Vater persönlich überbracht bekamen, ließ sich nur vermuten. Von den einfachen Engeln, wie Loras einer war, hatte ihn niemals jemand zu Gesicht bekommen.

Einmal hatte Loras den Erzengel Uriel von Weitem gesehen. Eine der schönsten Begegnungen seiner Erinnerung – wenn sie auch nicht von großer Dauer war. Es hieß, sie waren viel beschäftigt, weshalb nur die Urengel mit ihnen sprechen durften. Zu gerne hätte er sich mit einem der Sieben einmal unterhalten. Er hätte nach der Entstehung der Erde gefragt, auch wenn er natürlich die Geschichte in- und auswendig kannte. Es stellten sich ihm noch so viele Fragen zu den Details und was war schon eine gute Geschichte, wenn sie nicht von Augenzeugen berichtet wurde? Doch das sollte wohl ein ewiger Traum bleiben.

Während sich Loras die Schöpfung seines Vaters aus weiter Ferne ansah, vergaß er ganz die Zeit. Er sollte einen der Urengel treffen. Zu einem offiziellen Gespräch geladen zu werden, geschah nicht alle Tage, daher war es nicht verkehrt, pünktlich zu erscheinen. Er musste los.

Natürlich war Loras nicht gesagt worden, worum es sich bei dem Anliegen handelte, doch das spielte keine Rolle. Was immer die Urengel verlangten, kam vermutlich von den Erzengeln und war somit oberstes Gesetz. Sich an sämtliche Regeln und Befehle zu halten, fiel Loras nicht schwer, doch die leichte Anspannung, die aus dem Nichtwissen resultierte, konnte er nicht verleugnen.

Der Weg zu jenem himmlischen Palast, in welchem man ihn erwartete, war nicht weit, nur etwa dreihundertsiebenundsechzig große Schritte entfernt. Zudem war es ein schöner Weg. Vorbei an so manchem verwunschenen Garten der Ewigkeit, in welchem die guten Seelen sich ihr eigenes kleines Paradies schaffen konnten. Manche verließen ihr Paradies niemals, andere verfolgten ein halbwegs soziales Leben, indem sie sich fremde Gärten ansahen und mit anderen Seelen in Kontakt traten. Wieder andere, solche wie Loras, beschlossen, sich ihrem Herrn zur Verfügung zu stellen und auf ewig in seinem Dienst zu stehen.

Das Gespräch, zu welchem er geladen war, sollte im heiligen Palast stattfinden. Loras verneigte sich vor den prächtigen Toren, als er sich ihnen näherte. Jede Treppenstufe, die er betrat, fühlte sich an, wie eine der größten Ehren, die ihm je zuteil gekommen waren. In seinem Kopf schwirrten all die Möglichkeiten, welche ihn in dem Saal, den er bislang nur ein einziges Mal betreten durfte, erwarten könnten. Doch damit kamen auch Zweifel einher. Hatte er etwas falsch gemacht? Würde er Ärger bekommen? Oder wartete hinter der gigantischen Tür vielleicht sogar eine erfreuliche Überraschung, wie eine Ehrung oder ein Lob von ganz oben? Er durfte nicht zu wissbegierig werden, doch er konnte seine Gedanken nicht stoppen.

Es dauerte nur ein paar Sekunden, nachdem er dreimal angeklopft hatte, bis man ihm den Eintritt gewährte. Wie beim letzten Mal, als er an diesem magischen Ort gewesen war, wurde er von dem hellen Licht, welches diesen Raum durchleuchtete, geblendet. Alles glänzte und strahlte, als wäre es nagelneu und nicht bereits Jahrtausende alt. Es dauerte einen Moment, bis sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, doch als dies geschehen war, konnte er ihnen kaum trauen.

Hinten im riesigen Saal, auf einem goldenen Altar, saßen drei Engel. Er erkannte jeden von ihnen binnen einer halben Sekunde. Links der Urengel Larzus. Rechts der Urengel Kahan. Und in der Mitte ...

»Raphael«, flüstere Loras voll Erstaunen. Raphael, einer der Vier, wie man sie hier oben nannte. "Die Vier" waren die vier ersten und stärksten Erzengel: Michael, Gabriel, Raphael und Uriel. Und nun war einer von ihnen hier, nur wenige Meter von Loras entfernt. Er konnte es kaum fassen. Wieso nur wurde ihm ein solches Glück zuteil? Hieß das etwas Gutes oder etwas furchtbar Schlimmes?

Von Raphael hatte er schon so einiges gehört. Er galt als der Engel der Heilung, aber auch als Schutzengel für Reisende. Wie sehr wünschte Loras, dass er hätte dabei sein können, als Raphael als Begleiter von Tobias in Erscheinung getreten war. Und nun saß er vor ihm. Ob er zu mir sprechen wird? Es war nicht in Worte zu fassen, wie sehr er dies hoffte.

»Tretet vor«, schallte die raue Stimme des Urengels Kahan. Auch über ihn gab es einige Geschichten, doch neben Raphael wirkte er klein und uninteressant. Nichts, was er je erreicht hatte, hätte mit den unglaublichen Geschichten von einem der Vier mithalten können. Alleine einen Erzengel zu sehen, war hundertmal spannender als alles, was Kahan zu berichten hatte. Nichtsdestotrotz war er ein Urengel, dessen Befehlen Loras zu folgen hatte, was in diesem Fall alles andere als schade war. Mit jedem Schritt, den er näher an Raphael trat, spürte er mehr und mehr die maßlose Energie, die von ihm ausging.

Vor den Treppen, welche den Altar hinauf führten, blieb er stehen und kniete nieder, so lange, bis man ihn ansprach.

»Loras, Engel des Schutzes und der Mitteilung, Hüter der Gebote, Ihr steht nun vor einem der Vier. Es sei Euch gestattet, euch zu erheben«, erklärte Larzus mit seiner hellen, wenn auch strengen Stimme. Ohne ein Wort zu sagen, richtete Loras sich langsam auf und überlegte, ob er einen Erzengel überhaupt direkt in die Augen schauen durfte, doch das leuchtende Weiß fesselte ihn. Hatte es solch eine Lektion etwa nicht in seiner Ausbildung gegeben? Vielleicht hatte er es auch vergessen, er hätte ja nie gedacht, dass er sich je in einer solchen Situation wiederfinden würde.

»Ihr habt euch den Regeln des Vaters, sowie dem Schutz von Oberwelt und Mitte verpflichtet. Eure Aufgaben begrenzten sich bislang auf die Mitteilung von negativen Auffälligkeiten an die ausführenden Engel. An diesem Tage soll Euch eine neue, weitgreifendere Aufgabe zuteilwerden«, sprach Kahan. Seine Worte hallten durch den gesamten Saal, aber vor allem in Loras’ Kopf wider. Welche Aufgabe das wohl sein würde? Nie hätte er geglaubt, dass Engel eine solche Aufregung verspüren konnten. Es fühlte sich an, als würde seine Seele in einem sehr schnellen Takt pochen. Sodass es fast schon schmerzte, aber auf eine gute Weise.

»Euer Name lautet Loras? Wer gab euch diesen Namen?« Das war sie. Die Stimme Raphaels. Eine Stimme, die kaum ein gewöhnlicher Engel je zu hören bekam. Ein Moment, von dem er wusste, dass er ihn niemals vergessen würde.

»Mein Ausbilder, Großengel Zuros.« Loras' Antwort kam prompt, sodass er seine Worte fast verschluckte. Hatte er gerade wirklich mit Raphael direkt gesprochen? Wie ein echtes Gespräch? Loras musste seine ganze Kraft darauf konzentrieren, ruhig zu bleiben. Eine schwierige Aufgabe. Vermutlich noch schwerer als seine Abschlussprüfung. Schwerer als alles, was ihm je passiert war oder noch passieren würde.

»Wisst Ihr, wer ich bin?« Loras wusste nicht nur, wer er war, sondern er kannte auch alle seine Geschichten. Er hatte sich seit seinem ersten Tag als Engel vorgestellt, Raphael oder einen seiner Brüder kennenzulernen. In seinen tiefsten Träumen kämpften sie Seite an Seite, um als Helden die Oberwelt zu retten, und traten als enge Vertraute, wenn nicht sogar Freunde, aus der Schlacht.

»Ihr seid Erzengel Raphael. Einer der Vier.«

»Korrekt. Ist Euch ebenso geläufig, weshalb Ihr nun vor mir steht?« Loras schüttelte mit Blick gen Boden den Kopf. Hätte er es wissen sollen? War es offensichtlich? Die Ungewissheit bereitete ihm innere Schmerzen. Es war, als hätten Sekunden die Zeitspanne von Jahren eingenommen, während er auf eine Antwort wartete. Doch kurz bevor Raphael ihn von seinem Elend befreien konnte, fiel ihm etwas ein.

»Urengel Kahan sprach von einer Aufgabe. Ich weiß allerdings nicht, um was es sich hierbei handelt.« Für einen Moment hatte er ganz vergessen, dass noch zwei weitere Engel in diesem Raum waren, mit denen er bereits gesprochen hatte. Alles, was vor Raphaels Worten, an ihn gerichtet, geschehen war, hatte er ausgeblendet.

»Es handelt sich bei dem heutigen Unterfangen in der Tat um eine Aufgabe, welche ich Euch zu vermitteln gedenke.« Seine Stimme war dunkel und besonnen. Man konnte die Weisheit in seinen Worten hören. Alles, was er sagte, klang, als sei es von äußerster Relevanz. Wenn sich ein Erzengel extra Zeit nahm, um eine Aufgabe zu erläutern, dann musste sie auch wichtig sein. Hoffentlich war Loras der Sache gewachsen.

»Nun denn«, sprach Raphael weiter. »Gewiss seid Ihr in Eurer Ausbildung darüber aufgeklärt worden, wie eine Seele an Reinheit verliert und weshalb keiner schwarzen Seele der Zugang zu unserem Reich gewährt wird, ist dies korrekt?« Loras nickte gespannt. »Die Menschheit, so traurig es sein mag, wurde in den letzten Jahrzehnten zunehmend ... wie sagt man? Rebellischer. Der Glaube an unseren Herrn ist inzwischen eine Seltenheit und die zehn Gebote sind zu zehn Fabelregeln geworden, an die man sich nicht länger zu halten braucht. Die Oberwelt wird leerer, derweil gewinnt die Unterwelt an Zuwachs. Das Gleichgewicht, wie es einst zwischen den Welten herrschte, ist längst nicht mehr. Sollte sich die Unterwelt gegen uns erheben und uns erneut, nach Jahrtausenden, den Krieg erklären, so stünden wir Engel desperat da. Dies gilt es zu vermeiden.«

Gefesselt von Raphaels Worten hörte Loras jeder Silbe aufmerksam zu und fragte sich derweil, was das alles mit ihm zu tun haben sollte. Was konnte er schon zu der Lösung dieses Problems beitragen? »Es gibt neue Theorien, in welchen es heißt, es sei möglich, eine bereits schwarze Seele gewissermaßen zu erleuchten. Sollte dies tatsächlich im Bereich des Möglichen liegen, wie wir uns aktuell erhoffen, so könnte dies unsere Rettung bedeuten.«

Raphael erklärte Loras sein Anliegen, als hätte er es aufgenommen und würde es nur noch abspielen. Kein Muskel zuckte, kein Mundwinkel verriet eine Mimik. Doch da war er nicht allein. Loras hatte keine angemessene Reaktion im Kopf und blieb ebenso starr. Er verstand noch immer nicht, wie der Plan der Erzengel aussah. »Die Schwierigkeit liegt in unserer Regel, unsere Gestalt den Unvollkommenen nicht präsentieren zu dürfen. Was bedeutet, dass die Theorie nur an einer vollständig schwarzen Seele geprüft werden kann.« Sie mussten sie also an einem Dämon testen. Hieß das etwa – »Wir müssen versuchen, einen Dämon zu bekehren.«

»Einen Dämon?« Die Worte platzten aus Loras’ Mund heraus, ohne, dass er es kontrollieren konnte. Er hatte selbstverständlich nicht beabsichtigt, einen der Vier in seiner Rede zu unterbrechen. Wie konnte er nur?

»Korrekt«, antwortete einer der beiden Urengel. Loras hatte nicht darauf geachtet, welcher es war. Zu sehr war er von dem Gedanken an seinen Fehler abgelenkt worden.

»Eure Aufgabe besteht darin, den Dämon Tyron ausfindig zu machen und zu versuchen, seine Seele zu reinigen. Nach unseren Angaben ist er das vielversprechendste Versuchsobjekt. Er soll in den nächsten Tagen zum ersten Mal die Unterwelt verlassen, wodurch er beeinflussbarer als seine Artgenossen erscheint. Überzeuge ihn davon, ein Leben bei uns, in der Oberwelt, führen zu wollen und lasse ihn beichten, wenn die Zeit gekommen ist. Wenn die Theorie stimmt, wird sich seine Seele aufhellen, sofern er gute Taten vollbringt und zu seinen Schlechten steht.«

»Bitte entschuldigt meine Unwissenheit, doch mir stellt sich die Frage, ob es nicht einfacher wäre, einen unvollendeten Dämon von dem Guten zu überzeugen. Einen, der sich noch nicht an die Welt des Bösen gewöhnt hat.« Die Ehre, mit einer solchen Aufgabe betraut zu werden, war nicht zu bestreiten, doch Loras konnte sich nicht vorstellen, wie man einen Vollblutdämon zu der Einsicht bringen sollte, dass die Oberwelt die bessere Wahl war. Er hatte bisher zu keinem Dämon tatsächlichen Kontakt gehabt, doch aus dem, was ihm erzählt wurde und was er gelesen hatte, schloss er, dass dies eine schier unmögliche Aufgabe war.

»Das wäre gewiss der einfachere Weg, doch wir müssten dafür in die Unterwelt eindringen. Ein solches Unterfangen bräche den Pakt, welcher den Frieden zwischen unseren Welten bislang noch wahrt. Unsere beste Aussicht also, liegt bei Tyron. Werdet Ihr Euch diesem Auftrag annehmen?« Was war das für eine Frage? Verweigerte man eine Aufgabe der höher gestellten Engel, konnte man aus seinem Dienst entlassen werden. Doch seine Angst davor, keine Resultate, zumindest keine befriedigenden, zu erbringen, war groß. Drum brachte er nicht mehr als ein bescheidenes Nicken zustande.

»Nun gut. Mein Bruder Sariel wird Euch als Berater zur Seite stehen. Ihm persönlich werdet Ihr Bericht über Eure Fortschritte erstatten und an ihn könnt Ihr euch wenden, falls Fragen aufkommen. Sobald er die Zeit entbehren kann, wird er Euch aufsuchen. Nun sollten wir nicht länger plaudern, denn die Zeit ist begrenzt. Finden wir nicht bald eine Lösung, könnte dies katastrophale Folgen für das Bestehen der Oberwelt haben. Wir alle zählen nun auf Euch.«

Hin- und hergerissen zwischen der Vorfreude, Sariel zu treffen und sich mit ihm zu unterhalten und dem Druck, den Raphaels letzter Satz in ihm ausgelöst hatte, begab sich Loras nach draußen. Er musste diesen Tyron finden.

Kapitel 3

~ Tyron ~

Tyron blickte zum ersten Mal seit 128 Jahren, in denen er nun schon ein Dämon war, hinauf in den Himmel, dann hinab auf die Erde und er sah alles, was dazwischen lag. Nun gut, vielleicht nicht alles, doch er konnte Häuser wiedererkennen, Straßen, Erdlinge – und davon nicht wenige. Es schien, als wäre er in einer recht großen Stadt gelandet. Vielleicht in der Stadt, in welcher er einst gelebt hatte und in der er vor langer Zeit gestorben war, auch, wenn sie inzwischen ganz anders aussah. Alles sah anders aus.

Es war bemerkenswert, all diese Farben und Strukturen zu sehen. In der Unterwelt leuchtete nichts so hell wie hier und auch die Farbvielfalt war durchaus begrenzter. Dafür wurde man nicht an jeder verdammten Ecke geblendet! Es war zwar bemerkenswert, aber vor allem anstrengend. Seine Augen brannten förmlich bei dem Anblick.

Und doch faszinierte ihn diese Umgebung. Wo waren die Pferde mit ihren Kutschen? Was hatten die Erdlinge für Kleider an? Hässliche Sachen, wie Tyron fand. Und was leuchtete alles an den großen Häusern aus komischen Materialien? Diese neue Zeit erweckte seine Neugierde.

Er beschloss, sich erst einmal umzusehen und herauszufinden, was sich über die Jahre hier alles verändert hatte.

Als er vor einigen Minuten den Saal der Unterwelt voller Neugierde betreten hatte, war er auf fast alles eingestellt gewesen. Die Urdämonen hatten ihn sogar darüber informiert, in welche Richtung sich die gute alte Mitte entwickelt hatte, beziehungsweise was die Erdlinge aus ihr gemacht hatten. Trotzdem war Tyron überrascht. Noch nie hatte er etwas dergleichen gesehen. Es war so ... viel. Als er zuletzt hier gewesen war, hatte fast alles aus Holz, Stein oder Stoff bestanden. Diese Materialien fand er nun nirgends wieder, zumindest nicht eindeutig. Die Fortbewegungsmittel waren nicht aus Holz, im Boden unter sich sah er keine Steine, und er wusste nicht, was die Erdlinge da an ihren zerbrechlichen Körpern trugen, doch es sah nicht nach Stoff aus. Zumindest nicht nach dem, den er kannte.

Auch in der Unterwelt hatte es grundlegend nur Feuer und Stein gegeben. Mehr nicht.

Der große Saal, in welchen er gerufen worden war, auf den er so viele Hoffnungen gesetzt hatte, war auch nur ein großer, leerer Raum gewesen. Umringt von Steinen, die auf noch mehr Steinen ruhten. Außer einem kleinen Podest, auf welchem die Urdämonen Platz genommen hatten, hatte es dort nicht viel zu sehen gegeben. Nicht mal ein spektakuläres Portal.

Ein Fingerschnipsen, eine kleine Bewegung mit einer enormen Macht, die er nun selbst beherrschte, und schon hatte er hier gestanden. Inmitten einer völlig fremden Welt. Einer Welt, so drastisch verändert, dass er nicht einmal wusste, ob sie ihm besser oder schlechter gefiel, als jene die er gekannt hatte.

Er ging in ein Geschäft und besorgte sich möglichst unauffällige und doch gutaussehende Kleidung, durch die er seine schwarze Dämonenuniform austauschte, um nicht aufzufallen.

Während er durch die Straßen lief, sah er sich nicht nur um, sondern hörte auch zu. Die Sprache, welche er vernahm, klang richtig, doch die Wörter waren ihm unbekannt. "Bruh", "Bae" und "Yolo" waren nur ein paar der skurrilen Ausdrücke, welche er in nur fünf Minuten aufgeschnappt hatte. Es musste sich um eine andere Sprache handeln. Auffällig war allerdings, dass vor allem jüngere Generationen sie verwendeten.

Die jungen Leute betrachtend, kam eine Erinnerung hoch, an die Zeit, als er in dem gleichen Alter gewesen war. Tyron wusste noch, dass er zu dieser Zeit kaum Tageslicht zu sehen bekommen hatte. In der Dunkelheit war er zur Arbeit gegangen und in der Dunkelheit war er nach Hause gekommen. Während die Sonne den Himmel erleuchtete, hatte er Stunde um Stunde zwischen kahlen Wänden verbracht. Nie hatte man ihn draußen zu sehen bekommen. Und nun? Man fand sie an jeder Ecke, kaum einen Meter konnte man gehen, ohne auf einen von den jungen Leuten zu stoßen. Wie es schien, hatte keiner von ihnen eine Arbeit zu verrichten. Wovon lebten sie dann? Und womit verbrachten sie ihre freie Zeit?

Tyron folgte einer Gruppe aus fünf Erdlingen der jüngeren Generation, wobei jede Generation, vergleichen mit der seinen, eine junge Generation darstellte. Sie führten ihn zu einem großen Platz, an welchem sie noch mehr ihrer Art trafen. Sie grüßten sich auf eine solch merkwürdige Weise, dass der Dämon nicht einschätzen konnte, ob es sich um Feinde, Freunde oder Familie handelte. Gemeinsam betraten sie ein großes Gebäude mit vielen interessant aussehenden Papieren an den Wänden. Die Farbenpracht war eindrucksvoll. Die Größe der Papiere bemerkenswert. Kurze Schriften, vergleichbar mit den Schlagzeilen einer Zeitung, zogen die Aufmerksamkeit gekonnt auf sich.

In einem großen Saal stellten sie sich hinter eine andere Gruppe von jungen Menschen, die wieder hinter anderen standen. Am Anfang oder Ende dieser chaotischen Reihe war eine Art Kasse zu finden. Dort konnte Tyron erkennen, dass die Erdlinge Geld abgaben, um weitergehen zu dürfen, wenngleich die Währung ihm nicht bekannt war. Er folgte der Gruppe auf Schritt und Tritt, um herauszufinden, was sie zu dieser Zeit, am späten Nachmittag, trieben.

Seit Jahrzehnten konnte sich Tyron kaum mehr an sein früheres Leben als Erdling erinnern, doch der Aufenthalt in der Mitte zeigte einen wahrlich großen Einfluss auf das Erinnerungsvermögen. Die Urdämonen hatten ihn dahingehend aufgeklärt gehabt, doch er erschrak immer wieder für ein paar Sekunden, wenn ihm erneut etwas aus seiner eigenen Vergangenheit einfiel.

Zum Beispiel wusste der Dämon nun wieder, dass er sich nach Feierabend, wenn es denn mal dazu kam, meist mit Freunden getroffen hatte. Der Geruch von frischem Moos in einem dicht bewachsenen Wald kam ihm hierbei in den Sinn. Tyron hatte kaum Erinnerungen daran, was genau sie im Wald unternommen hatten, doch er glaubte, es hatte oft etwas mit bestimmten Bauwerken, wie Unterschlüpfen aus Ästen oder Kämpfen mit Schwertern aus Stöcken zu tun. Er wusste nicht, ob er und seine Freunde jemals etwas anderes getan hatten. Das hier sah jedenfalls nach etwas völlig anderem aus und Tyron brannte darauf, herauszufinden, was es war.

Überall waren Bilder, die sich bewegten. Über die Vielfalt der neuzeitlichen „Technologie" war der Dämon informiert worden, doch er hatte sich nichts darunter vorstellen können.

Die Gruppe, der er folgte, kaufte kleine Karten, danach Essen und Trinken. Hierbei war „Popcorn oder Nachos" die Frage aller Fragen. Für Tyron war beides unbekannt, doch neugierig auf den Geschmack war er schon, schließlich roch man insbesondere das, was er als „Popcorn" identifizierte in allen Gängen. Es musste gut sein, denn es wurde in Massen produziert.

Er folgte ihnen weiter in einen noch größeren Saal mit vielen Sitzgelegenheiten, die äußerst gemütlich aussahen. Solch weiche Materialien konnte man in der Unterwelt nirgends finden.

Eine ganze Weile geschah gar nichts. Leise Unterhaltungen, die den Dämon langweilten, hektische Fingerbewegungen auf „Smartphones", einer Technologie, welche so durch die Decke gegangen war, dass man Tyron alles Erdenkliche darüber erzählt hatte, auch wenn dieser nicht das Geringste davon verstehen konnte. Er hatte sie sich allerdings größer vorgestellt. Angeblichen sollten in diesem Gerät allerlei Namen, Telefonnummern, Spiele und Bilder einen Platz finden, doch wie sollte das in einem so begrenzten Raum möglich sein? Es ergab keinen Sinn.

Gelangweilt wartete er darauf, dass etwas geschah. Der süßliche Geruch der Naschereien um ihn herum sorgte dafür, dass sein Magen sich umdrehte. Zögerlich versuchte der Dämonen einen dieser gepoppten Körner, biss auf einen harten Kern, spukte ihn vor sich auf den Boden und musste wegen des starken Zuckers fast würgen. Was war das für ein Zeug?

Ein lauter Ton riss den Dämon aus seinen Gedanken. Die riesige Wand vor ihm begann zu leuchten. Was er sah, erinnerte an sich bewegende Bilder – Videos! So hatten die Frischlinge es genannt. Videos, welche er bereits aus dem ersten Saal, wo die kleinen Karten und das Popcorn verkauft worden waren, kannte. Nur war das hier um einiges größer, bunter und heller. Unangenehm hell. Die Bilder bewegten sich so schnell, dass Tyron nicht wusste, wo er hinsehen sollte. Wieso musste es für Erdlinge nur immer so schnell gehen? Das war damals in der Fabrik schon so gewesen. Schneller, besser, mehr. Das war ihr Motto gewesen. Der Dämon erkannte nicht, was ihnen daran so gefiel. In der Unterwelt lief alles schön gemächlich ab. Niemand hetzte einen. Warum auch? Man hatte die Ewigkeit Zeit.

Ohne noch mal zurückzusehen, verließ er den Saal, bevor sein Kopf noch zu platzen begann von all den aufkommenden Schmerzen. Das war zu viel für den ersten Tag. Ein paar misstrauische Blicke trafen ihn, da er mit seiner ein Meter zweiundachtzig großen Gestalt das Sichtfeld jener die hinter ihm Platz genommen hatten, versperrte, als er aufstand.

Gut, dass bei ihm ein Augenbrauenzucken reichte, um alle Aufmerksamkeit fort von sich selbst zu lenken. Seine Kraft, die Erdlinge zumindest in gewisser Form und Intensität zu kontrollieren, kam ihm zugute, so hatte er immerhin kein Geld für diese furchtbare Erfahrung ausgeben müssen. Außerdem hatte er das Manipulieren von Gedanken vor, seitdem er gehört hatte, dass man eines Tages in die Mitte zurückkehren durfte. Hier hatte er endlich die Chance, seine Fähigkeiten auf die Probe zu stellen. Die Chance, herauszufinden, was er überhaupt alles konnte und wo seine Grenzen lagen.

Bevor er an diesen altbekannten Ort geschnipst worden war, hatte man ihn ausdrücklich an die begrenzten Vorschriften erinnert. Man konnte sich seinen Spaß erlauben, durfte dabei aber keinesfalls seine wahre Form preisgeben. Die Geheimhaltung hatte höchste Priorität. Warum war Tyron nie ganz klar gewesen. Sollten die Erdlinge doch erfahren, was ihnen bevorstand.

Die zweite Regel bezog sich darauf, dass man keinem Erdling großes Leid zufügen durfte. Im Grunde ging es dabei um sämtliche Verletzungen des Körpers und der Seele, doch es war allseits bekannt, dass man keine Konsequenzen erwarten musste, wenn es sich nicht um gravierende, langfristige Verletzungen, Erkrankungen oder seelische Schmerzen handelte.

Die dritte und letzte Regel war recht einfach, denn sie ergab sich aus der zweiten. Man durfte keinen Erdling ermorden oder sonst wie zu dessen Tod aktiv beisteuern. Im Umkehrschluss durfte man auch keine Leben retten. Den Engeln war auch diese Regelung von äußerster Bedeutung, auch wenn sie lachhaft war. Wieso sollten die Dämonen einen jämmerlichen Erdling retten wollen? Daraus ergab sich keinerlei erkennbarer Nutzen.

Natürlich hatte nie ein Dämon einem Sterbenden geholfen, doch alle anderen Vorschriften waren im Laufe der Zeit immer wieder von verschiedenen, mutigen Dämonen gebrochen worden. »Man kann Verbrechen begehen, man darf sich nur nicht erwischen lassen«, hatte Pirok, ein guter Freund, vor einigen Jahren zu ihm gesagt. Man wollte wohl durch diese Regeln einen Krieg mit denen von oben verhindern.

Diese ganze Kriegsgeschichte war schon sehr alt. Es hatte wohl einmal einen Krieg gegeben, den die Dämonen verloren hatten. Seit jeher wollte ihre Spezies sich rächen und ihren rechtmäßigen Platz zurückerobern, doch vorher mussten sie sich ganz sicher sein. Wie sicher sollte es noch werden? Sie hatten die weitaus größere Armee. Sie hatten die Skrupellosigkeit. Sie hatten die Stärke. Und einigen Gerüchten zufolge gab es in der Oberwelt schon seit längerem Zweifel und kürzlich kam es, den Erzählungen nach zu urteilen, auch zu Unruhen deswegen. Es hätte also keinen besseren Zeitpunkt für einen Angriff geben können! Wieso sie dennoch nichts unternommen hatten, war ihm ein Rätsel.

Doch Tyron würde nicht seine kostbare Zeit mit Fragen vergeuden, auf die er keine Antworten erhielt. Er wollte mehr von der Mitte sehen. Mehr Gedanken manipulieren. Mehr erleben.

Unglücklicherweise hatte er nicht die geringste Ahnung, wo er hinsollte. Verglichen mit seiner Welt, war das hier von mickriger Größe, dafür gab es allerdings auch viel mehr zu erblicken. Jedes Haus sah anders aus, jede Ecke bot neue Möglichkeiten. In der Unterwelt, wo ein Stein dem anderen glich, musste man sich darauf konzentrieren, sich nicht zwischen den Grautönen zu verirren.

Auf der Suche nach einem Ziel schlenderte Tyron durch die schmalen Straßen und beobachtete die Leute. Es war interessanter als erwartet. Die Gangart, die Art und Weise, wie man die Haare trug, die Kleidung, alles war grundverschieden. Insbesondere die Frauen hatte er anders in Erinnerung. Wo waren die Hochsteckfrisuren geblieben? Und was hatten sie alle im Gesicht? Nie zuvor hatte er so schwarze Wimpern und so rote Lippen gesehen. Das Verrückteste war, dass es nicht nur rote Lippen gab. Auch Knallpinke oder lila-farbene. Vielleicht waren sie krank? Sonst sahen sie allerdings sehr gesund aus. Sie liefen aufrecht, waren schnell unterwegs, als hätten sie ein Ziel direkt vor Augen.

Bei den Männern war es ähnlich. Einige trugen große, schwarze Taschen und rannten in Anzügen umher, die sich kaum von denen unterschieden, die Tyron noch kannte, andere sahen recht lässig aus mit einem einfachen T-Shirt und einer Hose in schlichten Farben – ähnlich dem Stil, welchen Tyron trug. Zu seiner Lebzeit hatte er natürlich ganz anders ausgesehen. Er konnte sich an keine Details erinnern, doch kam ihm Manchester als Material für die Hosen in den Sinn und Leinen für die Hemden. Nicht die schickste Kleidung, aber deutlich besser als das, was er auf den Straßen der Neuzeit erblicken musste.

Es war verrückt, dass ihm all das erst jetzt wieder einfiel. Er hatte den älteren Dämonen nicht wirklich Glauben schenken können, als sie ihn darüber aufgeklärt hatten. Zumindest hatte er nicht erwartet, ein solches Ausmaß von Erinnerungen zu erleben.

Wenngleich es auch nur Neutrales betraf. An Persönliches oder Emotionales sollte sich keiner erinnern können, ganz gleich, wie viel Zeit sie in der Mitte verbringen sollten. Zum Glück. Wer wollte schon mit seiner elenden Vergangenheit konfrontiert werden? Die Oberwelt ließ alle Erinnerungen zu. Die Unterwelt hatte zwar keine Möglichkeit, sie zu löschen, doch man konnte sie mit viel Zeit, und vor allem durch viel Schmerz, überdecken.

Ganz besonders interessiert war Tyron an den jüngeren Generationen. Er konnte sich nicht erklären, woran es lag, doch sie erschienen ihm um einiges interessanter als die Älteren, die sich nur von A nach B bewegten, ohne sich umzusehen.

An einem abgelegenen Bahnhof, der dem Anschein nach außer Betrieb war, fand er eine weitere Gruppe. Diesmal ein paar mehr, um die vierzehn waren es wohl. Er konnte nicht gut sehen, da er sich versteckt halten musste, doch wenn er sich konzentrierte, konnte er alles hören, als stünden sie direkt neben ihm. Lautes Gelächter, zerbrechendes Glas, Alkohol. Eine Party – das war der perfekte Ort für einen Dämon, der auf Schabernack aus war.

Betrunkene waren ein leichtes Spiel. Sie waren auch ohne Manipulation bereit, fast alles zu tun. Aufgrund der fehlenden Übung gab es kaum etwas Besseres für Tyron, um seine Fähigkeiten und möglichen Grenzen zu testen. Er wollte sehen, wie weit er sie bringen konnte.

Sie tranken nur harmloses Bier und hatten noch nicht viel intus. Vermutlich, um dummen Entscheidungen aus dem Weg zu gehen. Vielleicht war ihnen nicht bewusst, dass schon wenige Schlucke reichten, um sie mindestens dreißig Prozent zugänglicher für dämonische Kräfte zu machen. Auf ging der Spaß.

Tyron beschloss, leicht anzufangen. Einer in der Gruppe stach ihm sofort ins Auge, denn er passte nicht in das Bild. Eine große Brille saß auf seiner Nase und er wirkte angespannt in dieser Runde. Schüchtern. Er vermied jedweden Augenkontakt, starrte nur auf den Boden vor seinen Füßen oder rüber zu Blondi mit dem Vogeltattoo im Genick. Die Sachlage war offensichtlich. Er war verknallt. Es war nicht zu übersehen. Ein Klassiker der Liebesgeschichte. Nun war es Zeit für den Jungen, aus sich herauszukommen. Tyron gab ein bisschen Anlaufhilfe. So gesehen vollbrachte er gerade sogar eine gute Tat.

Er beobachtete den Jungen ganz genau und ließ seine Kräfte spielen. Es gelang nicht sofort, doch schließlich stand der Brillenträger selbstbewusst auf und setzte sich genau neben das Objekt seiner Begierde. Sie schaute nicht mal zu ihm auf. Du wirst ihn schon noch beachten, Süße. Noch ein paar Sekunden. Und es war geschafft.

Der verschüchterte Junge, der vermutlich ohne Tyrons Unterstützung eines Tages als dreißigjährige Jungfrau enden würde, machte den ersten Schritt, drehte den von blonden Haaren bedeckten Kopf zu sich und steckte ihr die Zunge in den Mund.

Es fühlte sich gut an, dem armen Jungen zu helfen. Es war nicht direkt Tyrons Intention gewesen, etwas Gutes zu bewirken, doch er freute sich ein wenig für den Kleinen. Für einen Kuppler hatte sich der Dämon eigentlich nicht gehalten, doch sah er die beiden jungen Menschen zusammen, dann – da hörte er es. Das unverkennbare Geräusch einer bösen Backpfeife. Die musste mit viel Energie gekommen sein, so laut wie sie war.

Gespannt schaute Tyron zu, was er angerichtet hatte. Das Mädchen sprang empört auf und schrie den Jungen an, der gar nicht wusste, wie ihm geschah.

»T-Tut mir leid. Keine Ahnung was in mich gefahren ist. E-Ehrlich!« Trauriger Kerl. Und es kam noch schlimmer, denn nun stand auch noch ein anderer, viel größerer und muskulöser junger Kerl von seinem Platz auf. Er schmiss die noch halb volle Bierflasche auf den kalten Asphalt, sodass sie in tausend Scherben zersprang und stampfte auf den Streber zu. Er packte ihn an dessen T-Shirt und hob es leicht an, genau wie seine rechte Hand, die sich zu einer Faust ballte.

Eine typische Drohgebärde, dachte Tyron. Er würde nicht wirklich zuschlagen. Doch da lag der Dämon erneut falsch. Mit voller Wucht und lautem Gebrüll traf die Faust das Gesicht des Jungen. Die Brille fiel dabei zu Boden und zerbrach dort in Einzelteile, wie die Flasche zuvor.

Der Knabe tat Tyron ein wenig leid. Offensichtlich hatte er ihn die Freundin eines Sportlers küssen lassen, vor dessen Augen. Doch wenn er ganz ehrlich war, war das noch viel besser und unterhaltsamer als der Plan, dem nun grün und blau Geschlagenem bei einem Mädchen zu helfen. Amüsiert verfolgte er die Show, die sich ihm bot. Zumindest eine Weile lang.

Ein seltsames Gefühl ließ ihn sich abwenden und umsehen. Nichts Auffälliges ließ sich erblicken, riechen konnte er nur die Mischung aus billigem Alkohol und einer blutenden Nase, doch irgendetwas stimmte nicht. Jemand war hier. Vielleicht war es ein anderer Dämon, oder aber ein ...

»Engel.« Die blau leuchtenden Augen erschienen in einer dunklen Gasse. Es wirkte gespenstisch, was auch nicht ganz realitätsfern war. Tyron hatte noch nie einen Engel zu Gesicht bekommen. Das hatten grundsätzlich nur wenige Dämonen bisher. Man ging sich aus dem Weg. So wie es Erdlinge auch taten, wenn sie absolut keine Gemeinsamkeiten aufweisen konnten.

Das Flügelviech trat näher, hielt aber früh genug an, um einen gewissen Abstand zu wahren. Ob er Angst vor Tyron hatte? Nun, das sollte er! Der Dämon jedenfalls hatte keine Angst. Der Blick des Engels fiel auf das Geschehen im Hintergrund, welches Tyron fast vergessen hatte.

»Seid Ihr dafür verantwortlich?«, fragte der Mann, der so unauffällig und langweilig gekleidet war, dass man meinen könnte, er gehörte tatsächlich in die Welt der Erdlinge. Tyron zuckte gelassen mit den Schultern.

»Ein bisschen vielleicht.«

»Mir wäre es lieb, Ihr würdet etwas dergleichen unterlassen, aber darum bin ich nicht hier. Könntet Ihr wohl mit mir kommen?«

»Wohin?« Tyron musste recht laut sprechen, um das Gebrüll von weiter hinten zu übertönen. Verdammt, dieser Kerl konnte es wohl wirklich nicht leiden, wenn jemand seine Freundin abknutschte. Auch der Engel warf erneut einen Blick auf die Streithälse des Bahnhofs.

»An einen ruhigeren Ort.« Tyron wollte zwar lieber seine Fähigkeiten weiter austesten, doch die Neugierde trieb ihn dazu, einzuwilligen. Was konnte ein Engel schon von ihm wollen?

»Nun gut, gehen wir.«

Kapitel 4

~ Loras ~

»Mein Name lautet Loras.« Seine Stimme klang deutlich und bestimmt, so wie er es geplant hatte. Er durfte sich nicht anmerken lassen, wie nervös ihn die Situation machte und er wollte auch nicht, dass das Schwarzauge neben ihm deuten konnte, wie sehr er auf ihn angewiesen war. Sariei hatte dies mehr als deutlich gemacht.

»Ich bin Tyron«, antwortete er.

»Ich weiß.« Loras’ Wissen über den Dämon schien ihn weder sonderlich zu überraschen, noch machte es den Eindruck, als interessierte es ihn auch nur im Geringsten. Stumm liefen sie weiter. Für Loras war das gar nicht mal so ungünstig. Er hatte sich bis dato noch nicht gründlich überlegt, wie er seine Aufgabe umsetzen sollte. Sariel war ein wichtiger Engel mit wenig Zeit, demnach konnte er nicht so viele Tipps abstauben, wie ihm lieb gewesen wäre, als er ihn vor fünf Tagen getroffen hatte.

~ Oberwelt, vor 5 Tagen ~

»Keinesfalls dürft Ihr den Dämon über unser Begehren aufklären. Jedwede Information über unseren Plan sollte verschwiegen bleiben«, erklärte der Erzengel. »Etwas dergleichen würde ihn bloß abschrecken. Und falls er in seinen Kreisen von unserer verzweifelten Lage erzählen würde, könnte das den Krieg auslösen, den wir zu vermeiden versuchen.« Ganz gleich, was Sariel auch sagte, er klang immer, als würde er etwas immens Wichtiges verkünden. Er könnte auch von einem Zahnarzttermin berichten und ein Jeder würde gespannt lauschen. Das hatten die Sieben so an sich. Bei Raphael, seinem Bruder, war die Wirkung noch stärker gewesen, als sie im großen Saal miteinander gesprochen hatten.

Auf die Frage, wie er sonst mit dem Dämon in Kontakt treten und ihn auf ihre Seite ziehen sollte, erhielt Loras allerdings keine Antwort von Sariel.

»Euch wird schon etwas einfallen«, sagte er lediglich. Dabei hätte Sariel es doch am besten wissen müssen. Er war in der Unterwelt gewesen, für die längste Zeit, die ein Engel je dort verbracht hatte. Natürlich sprach Loras diesen Gedanken nicht laut aus. Zwar wusste jeder um die Geschichte, doch es hieß, dass sie bei Sariel Wunden hinterlassen hatte, die nicht mal die Ewigkeit heilen konnte. Ironisch, in Hinblick auf seine Funktion als Heilengel.

Den Schmerz, den er noch irgendwo aufbewahren musste, konnte man ihm nicht ansehen. Seine Ausstrahlung war fast so scheinend wie jene von Raphael. Er redete, ohne Emotionen zu zeigen, und stand aufrecht da. In seiner wahren Gestalt, mit weiß glühenden Augen, einem langen schimmernden Gewand und nach hinten gekämmten, blonden Haaren, erreichte er eine Größe, die den Menschen verwehrt blieb. Doch er verbreitete keinerlei Angst. Natürlich war Loras nervös gewesen, ihn anzutreffen, doch er verspürte eine gewisse Sicherheit in seiner Nähe. Nur, wenn man als Engel gesündigt hatte, musste man sich vor ihm in Acht nehmen.

In der Stadt war zu dieser Zeit nicht wenig los. Es war lange her, seit Loras das letzte Mal zwischen den Menschen gegangen war, sodass sie ihn erblicken konnten. Sonst verblieb er als stiller Beobachter aus dem Himmelreich, doch nun offenbarte er sich seinen Schützlingen – natürlich nicht in der vollen Gänze seiner wahren Gestalt. Er sah aus wie ein ganz normaler Mann neben einem anderen, ganz normalen Mann – wenn Letzterer auch eine seltsame Haltung beim Gehen annahm. Irgendwie gebeugt und er schlurfte mehr über den Boden, als dass er lief. Hatte man ordentliches Gehen in der Unterwelt nicht gelernt?

Loras fielen noch andere, für ihn unbegreifliche Verhaltensweisen an Tyron auf. Zum Beispiel hatte er ihn dabei beobachtet, wie er ein breites Grinsen aufsetzte, während er einer älteren Frau beim Stolpern und Fallen zusah. Loras eilte natürlich sofort herbei, um behilflich zu sein. Sariel hatte ihn zwar daran erinnert, den Kontakt zu Menschen auf ein Minimum zu beschränken, doch helfen war niemals verboten. Nur dem unweigerlichen Schicksal, wenn dies auch den Tod bedeuten sollte, war sich nicht in den Weg zu stellen.

»Bist du immer so freundlich?« Tyron stellte Anführungszeichen mit seiner Stimme, sowie mit seinen Fingern nach, als er das letzte Wort aussprach.

»Ja. Seid Ihr immer so schadenfroh?«

»Ja.« Das nüchterne Gespräch ließ Loras darauf schließen, dass Tyron ihm seine Aufgabe nicht leicht machen würde. Zumal er nicht wissen konnte, ob es überhaupt möglich war. Dies galt es herauszufinden.

»Haben wir es bald mal? Ich hatte heute eigentlich andere Pläne.« Ich erhielt bereits einen Einblick in jene Tätigkeiten, welche hier als „Pläne" bezeichnet werden. Tatsächlich hatte Loras keine Ahnung, wo er Tyron hinführen sollte. Er dachte nach wie vor darüber nach, wie er ihn überzeugen konnte, auf die Seite des Lichtes zu wechseln, ohne zu erklären, weshalb. Daher irrte er ratlos durch die Straßen und dachte angestrengt nach. Die Geduld des Dämons war beschränkt. Wartete er zu lange, würde er sich abwenden. Loras musste schnell einen Ort finden, an welchem sie ungestört reden konnten.

Es vergingen noch ein paar wenige Minuten, die sich dank des peinlichen Schweigens, da Loras nicht mehr auf Tyrons Frage geantwortet hatte, zogen, als wären es Stunden. Immer mal wieder, aber nie zu lange, sah Loras zu dem Dämon hinüber, auf der Suche nach irgendeinem Zeichen, mit welchem er ihn überzeugen konnte. Er entdeckte eine lang verwachsene Brandnarbe an den, vom locker hängenden T-Shirt mit V-Ausschnitt freigegebenen Armen, sah, wie Tyron Steine gelangweilt vor sich her kickte, doch nichts Nützliches. Dann endlich, sprang ihm die Erlösung dieser Qual ins Auge.

In einer schattigen Gasse fand sich ein offensichtlich verlassenes Lagerhaus. Der ideale Ort. Natürlich überprüften sie gleich nach Eintritt, dass wirklich niemand hier zu finden war, der sie hätte belauschen oder sehen können. Die Wahrung ihrer Gestalt war für beide Spezies eine der wichtigsten Regeln.

Nachdem sie alle Räume abgesucht hatten, stellten sie sich einander gegenüber. Loras konnte förmlich hören, wie Tyrons Geduldsfaden riss. Trotzdem war er noch hier. Die Neugierde musste ihn verrückt machen. Vermutlich hatte er noch nie mit einem Engel zu tun gehabt, er war ja zum ersten Mal seit seinem Tod in der Mitte. Länger konnte er ihn aber nicht hinhalten. Tyron erwartete Antworten. Seine dunklen Augen funkelten ihn finster an. Dabei kam Loras ein Gedanke.

Einer wie er würde sich nichts von einem Engel sagen lassen. Schon gar nicht, wenn Loras Hilfe erbat. Zunächst musste er eine Bindung zu ihm aufbauen. Ihm nahe genug kommen, um ihn einschätzen zu können. Seine Schwächen herausfinden, so intrigant das auch sein mochte. Da fiel Loras ein, was seine Mutter zu seinen Lebzeiten einst gesagt hatte.

»Wenn du Freunde finden möchtest, musst du gemeinsame Interessen suchen. Dann habt ihr etwas, worüber ihr euch unterhalten könnt.« Jahrhunderte waren vergangen, doch daran erinnerte er sich noch.

»Ich hasse Regeln«, platzte es aus ihm heraus. Tyrons Blick verlor an Finsternis und gewann an Verwirrung. Loras hatte keinerlei Gemeinsamkeiten mit einem wie Tyron, daher musste er lügen. Es schmerzte seiner Seele, doch es blieb ihm nichts anderes übrig. Er brauchte einen gemeinsamen Nenner.

Du sollst nicht lügen,