Between - Selina Kissmann - E-Book
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Between E-Book

Selina Kissmann

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Beschreibung

GEWINNEN UND VERLIEREN, VERTRAUEN UND VERRAT, LIEBE UND HASS, ENGEL UND DÄMON, ARITANA UND ELAAS Inmitten des Chaos wird man vor die Wahl gestellt, wer man sein möchte und an wessen Seite man kämpft, wenn es darauf ankommt. Manchmal kann man nicht jeden retten, doch um das alte Gleichgewicht wiederherzustellen, muss man es wenigstens versuchen, oder nicht? Ein gewagter Plan: »Wir werden sie rächen.« Ein Berg an Geheimnissen: »Es gibt noch einiges, was ihr nicht wisst.« Eine Frage, die alles verändern kann: »Liebst du mich?« Der Kampf zwischen Gut und Böse geht weiter. Wer kann das Schicksal besiegen?

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Autorinnenporträt

Selina Kissmann

Um sich von dem Alltag eine Pause zu verschaffen, setzt sich Selina vor den Laptop und fängt zu tippen an. Von großen Romanzen, dramatischen Intrigen, tödlichen Gefahren und einer Menge Fantasie lässt sie sich in andere Welten ziehen und hofft, andere mitnehmen zu können. Die Between-Reihe ist ihr Herzstück, der Beginn einer Reise, die sie mit jedem Atemzug genießt. Gerade ist sie fleißig dran den dritten und finalen Teil veröffentlichungsreif zu machen und danach – nun, bleibt gespannt, sie plant Großes.

»Es ist besser, ein einziges kleines Licht anzuzünden,

als die Dunkelheit zu verfluchen.«

~ Konfuzius

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1: Aritana

Kapitel 2: Elaas

Kapitel 3: Aritana

Kapitel 4: Elaas

Kapitel 5: Aritana

Kapitel 6: Elaas

Kapitel 7: Aritana

Kapitel 8: Elaas

Kapitel 9: Aritana

Kapitel 10: Elaas

Kapitel 11: Aritana

Kapitel 12: Elaas

Kapitel 13: Aritana

Kapitel 14: Elaas

Kapitel 15: Aritana

Kapitel 16: Elaas

Kapitel 17: Aritana

Kapitel 18: Elaas

Kapitel 19: Aritana

Kapitel 20: Elaas

Kapitel 21: Aritana

Kapitel 22: Elaas

Kapitel 23: Aritana

Kapitel 24: Elaas

Kapitel 25: Aritana

Kapitel 26: Elaas

Kapitel 27: Aritana

Kapitel 28: Elaas

Kapitel 29: Aritana

Kapitel 30: Elaas

Kapitel 31: Aritana

Kapitel 32: Elaas

Kapitel 33: Aritana

Kapitel 34: Elaas

Kapitel 35: Aritana

Kapitel 36: Elaass

Kapitel 37: Aritana

Epilog

Nachwort

Prolog

Es hieß, Menschen trügen zwei Seiten in sich: eine gute und eine böse. In der Filmbranche bekämpften sich Gut und Böse häufig, wobei es klare Abgrenzungen gab: Helden als die eindeutig Guten, Schurken als die eindeutig Bösen.

In der chinesischen Philosophie glaubte man an das Modell von Yin und Yang. Auch hier fanden sich solch starke Gegensätze wie Gut und Böse, jedoch bekämpften sie sich nicht, sondern standen im Einklang miteinander. Zudem sah man das Gute im Bösen und das Böse im Guten. Doch was sollte das bedeuten?

Heutzutage ging man davon aus, dass jeder Mensch, mochte er noch so perfekt erscheinen, eine böse Seite in sich trug. Etwas Dunkles, was er zu verschleiern wusste. Vielleicht zeigte es sich nur in sporadischen Gedanken, doch diese Seite konnte jederzeit erweckt werden.

Andere Menschen wurden als böse angesehen, aufgrund von Taten und Prinzipien, doch jeder Mensch, der noch so grausam erschien, war einst ein Kind. Ein Baby, unschuldig und mit weißer Weste, oder nicht? Einige gingen davon aus, dass ein Neugeborenes weder gut noch böse sein konnte, da Gedanken und Handlungen, die zu einer Klassifikation führen könnten, noch nicht bestünden. Das Bewusstsein hierfür fehlte.

In vielen Religionen hieß es: ›Sei gut und du wirst dafür belohnt‹ – etwa mit dem Paradies nach dem Tod, mit einem besseren nächsten Leben oder mit sofortigen Momenten des Glücks. Was einfach klang, war nicht so einfach getan. ›Gut‹ war nichts Greifbares. Es war ein von Menschen erschaffenes Konzept, welches erst bestimmt werden musste. Allerdings gestaltete sich diese Definition bereits seit Jahrhunderten als äußerst schwierig. Jede Religion, jede Ethnie, jede Epoche und jedes einzelne Individuum hatten eine eigene Vorstellung von dem, was gut sein sollte, und von dem, was böse sein sollte. Götter repräsentierten in Religionen zumeist das absolut Gute und wer ebenso zu sein versuchte, musste sich an die geltenden Regeln und Gebote halten. Diese dienten als Wegpfeiler, um das Gute zu definieren und von dem Bösen abzugrenzen.

Die Frage blieb jedoch, ob es möglich war, ein Wesen zu erschaffen, das, wenn auch nach dem Tod, in seinem Zustand absolut war. Ganz und gar von Gutherzigkeit oder Boshaftigkeit durchtrieben. Bei einem lebenden Menschen war ein solcher Zustand kaum vorstellbar. Diese Person dürfte niemals einen bösen oder aber niemals einen guten Gedanken gehabt haben. Allein durch die Variationsbreite der Definitionen schien dies unmöglich.

Doch was, wenn diese Unmöglichkeit vorausgesetzt wurde? Engel hatten absolut gut zu sein, so wie Dämonen absolut böse zu sein hatten. Wenn jedoch in jeder gesunden Seele beide Seiten schlummerten, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie geweckt wurden. Gut zu sein, war schließlich kein ewiger Zustand. Man entschied sich dafür, so wie man den Entschluss für das Gegenteil fasste – so die Theorie. Wenn nun ein Engel beschloss, seinen Trieben Folge zu leisten, auch wenn diese nicht als ›gut‹ erachtet wurden, oder wenn ein Dämon den Entschluss fasste, sich für das Richtige einzusetzen, anstatt für das, was von ihm erwartet wurde: Was passierte dann? War das System in diesem Falle kaputt oder funktionierte es dann erst richtig?

Denn so wie jede Seele zwei Seiten aufwies, die einander ausglichen, besaß fast alles auf der Welt einen Gegenpol, den es brauchte. Was wäre schon die Kälte, wenn man Wärme nie gefühlt hatte? Was wäre Freude, wenn man nicht wüsste, wie sehr Leid schmerzen konnte? Was wäre Licht, wenn man die Dunkelheit nicht kennen würde?

Das Gute, das man sich oft als rein und weiß vorstellte, und das Böse, oft als unheimlich und schwarz dargestellt, waren zwei Gegensätze, die einander anzogen, die einander benötigten, um zu existieren, um ein Gleichgewicht in der Welt zu schaffen.

Wenn man beides gleichermaßen in sich trug, wohin gehörte man dann? Zu den Engeln? Oder zu den Dämonen? Die Seele war nicht länger absolut.

Sie war irgendetwas zwischen Schwarz und Weiß.

Kapitel 1

~ Aritana ~

Wie ein Schrei in tiefster See.

Man tat sein ganzes Leben lang – und noch länger – das Richtige. Man befolgte alle Regeln, bewahrte stets ein freundliches, hilfsbereites Wesen, stellte sich selbst immer hinten an und plötzlich war das alles egal. All die guten Taten, die netten Worte, die Mühe, die hinter dieser Perfektion steckte, hatten sich wie in Luft aufgelöst und waren für immer verschwunden.

Wie ein Schrei in tiefster See.

Und weshalb das alles? Wegen eines Fehlers. Ein kleiner Impuls, nur ein Funken in der Dunkelheit, der zu einem gewaltigen Feuer ausgeartet war und alles zerstört hatte. Nichts war übrig geblieben. Ein Fehler und alles, was zuvor gewesen war, wurde Geschichte.

Wie ein Schrei in tiefster See.

Ein Fehler, welcher nichts zu bedeuten hatte. Ein schwacher Moment in dem Rauch des Chaos, der sie umgab. Eine einmalige Sache, doch man konnte ihr nicht verzeihen. Man wollte ihr nicht verzeihen.

Sie hörten ihren Schrei und tauchten sie unter Wasser.

Es wäre so einfach gewesen. Nur einmal über den eigenen Schatten springen und die Vernunft walten lassen. Sie waren gewarnt worden, dass Konsequenzen folgen würden, doch sie entschieden sich, die Gefahr in Kauf zu nehmen. Bezahlen mussten die Menschen. War es all das wirklich wert gewesen?

Aritana stellte sich diese Fragen jeden einzelnen Tag, doch an keinem fand sie eine Antwort. Es gab kaum jemanden, dem sie diese Fragen hätte stellen können, denn niemand konnte sie hören. Niemand außer Loras. Ein Glühwürmchen in der Dunkelheit. Ein Trost in dieser misslichen Lage, aber mit wenig Tragweite. Die Ungewissheit machte sie fertig. Die Machtlosigkeit machte sie krank. Die Unsichtbarkeit machte sie einsam.

Loras gab sein Bestes, sie bei Laune zu halten und ihr gut zuzureden, doch Aritana merkte selbst, dass er genauso litt. Wie war es auch anders möglich? Sie waren beide wie Geister. Allein und ohne Sinn und Zweck in der Welt. Sie konnten nichts tun, außer dem Untergang stillschweigend zuzusehen und sich ihren Teil hinzuzudenken.

»Es muss Elaas gewesen sein.« Loras lief vor ihr auf und ab, mit seinen Armen auf dem Rücken verschränkt. Hinter ihnen lag einer der wenigen halbwegs friedlichen Orte, die noch geblieben waren. Ein Park am Rande von der Kleinstadt Aniles, wo der langsam dicker werdende Schnee die Asche auf den Bäumen und Wiesen versteckte und so den Anschein gab, als wäre nie etwas vorgefallen. Den Menschen jedoch konnte man es ansehen. Jedem einzelnen. Sie alle trugen das gleiche hoffnungslose blasse Gesicht. Manche verbargen die Mund- und Nasenpartien mit einer Sturmhaube oder einer Halbgesichtsmaske, doch konnten nicht verhüllen, was sich darunter für ein Ausdruck verbarg. Kein Augenpaar traute sich, vom Boden aufzuschauen. Die Brauen zusammengezogen und die Haltung geknickt, als hätten sie alle einen Buckel bekommen.

In manchen Ortschaften funktionierte das Leben noch halbwegs normal, doch von diesen gab es nicht viele, seit Luzifer befreit worden war und seine Armee ihr Unwesen trieb. Weshalb diese wenigen Orte halbwegs verschont blieben, wusste keiner, doch es sorgte für ein Gefühl der Ungerechtigkeit unter den Menschen, welches zunehmend in Chaos ausartete. Überall herrschte Chaos.

»Er war es. Nur so macht es Sinn«, murmelte Loras vor sich hin.

»Was war er denn diesmal? Wir hatten schon ›Elaas war ein Urdämon, der uns ausspioniert hat‹ und ›Elaas ist in der Mitte und versteckt sich bei Tyron‹. Mein Favorit bisher: ›Elaas war ein Engel, dessen Aura von Rakaan verschleiert wurde‹.« Jeden Tag kam Loras mit einer neuen Theorie zu Elaas, Tyron und bezüglich des Rituals an. Er konnte wohl nicht verkraften, dass er die Antworten nicht kannte und vermutlich niemals erfahren würde.

»Ich glaube nicht länger, dass er ein Urdämon war, doch er hat uns ganz sicher verraten! Überleg doch mal. Im Tempel habe ich den echten Nubibus-Kristall an Maarau übergeben. Bei ihm war er sicher. Der Einzige, der außer uns davon wusste, war Elaas. Er kam nie in die Unterwelt zurück, weil er Maarau verfolgt hat. Es muss so gewesen sein.«

»Loras, hör auf. Elaas hat uns gerettet. Er hat seinesgleichen umgebracht, um uns zu retten. Außerdem hat Tyron ihm vertraut. Er hat uns nicht verraten.« Es machte Aritana allmählich wahnsinnig, ständig diese Anschuldigungen und wirren Vermutungen zu hören. Zumal sie ziemlich sicher zu wissen glaubte, was passiert war. Die Dämonen brauchten für das Ritual auch ein Opfer ihrer eigenen Gattung. Sie waren ihnen auf die Schliche gekommen und hatten sich deshalb Elaas geschnappt. Als Frischling, der sich für sie und Tyron eingesetzt hatte, war er ein leichtes Opfer gewesen. Er war tot. Gestorben für sie. Dass Loras dies nicht wahrhaben wollte, konnte Aritana verstehen, doch es schmerzte, ihn so reden zu hören.

»Wir kannten dieses Wesen doch kaum. Er war immerhin ein Dämon. Und nur weil er seinesgleichen umgebracht hat, sollten wir ihm glauben? Das hat er doch nur getan, um an uns und den Kristall zu kommen. Für die ist sowas doch überhaupt nicht schlimm. Sie haben kein Gewissen!«

Aritana war zu erschöpft, um erneut eine solche Diskussion zu führen. Sie hatte seit ihrem Fall vor drei Monaten nichts zu tun, nirgendwo zu sein, und trotzdem fühlte sie sich ausgelaugt wie nie zuvor. Es waren die ständigen Gedanken und Sorgen, die in ihrem Kopf tobten und sie nicht zur Ruhe kommen ließen.

»Wir müssen wieder zu dem Lagerhaus.« Endlich blieb Loras stehen.

Sie waren so oft dort gewesen. Zu Beginn hatten sie es kaum verlassen. Irgendwann kamen sie nur noch alle zwei Tage, doch inzwischen sahen sie keinen Sinn mehr darin. Nicht, dass es irgendwo anders besser wäre, doch wenn sie es betraten, dann in der Hoffnung, Tyron würde kommen - und jedes Mal wurden sie enttäuscht. Immer wieder aufs Neue realisieren zu müssen, dass er nicht kommen würde, und sich zu fragen, weshalb, konnte Aritana nicht mehr länger ertragen. Es schmerzte zu sehr.

»Was erhoffst du dir davon?«, fragte sie.

»Tyron weiß mehr über Elaas und womöglich auch, ob er das Zeug dazu hätte, uns alle zu hintergehen. Vielleicht ist er inzwischen da und wartet auf uns. Wir sind jetzt schon länger nicht hingegangen.«

»Und wenn er da ist? Was dann?« Aritanas Stimme wurde etwas lauter, doch wer sollte sich beschweren? Es konnte sie schließlich niemand hören. Nicht einmal, wenn sie aus voller Kehle in der Gegend herumschrie. »Loras, selbst wenn er da wäre, er könnte uns nicht sehen. Er könnte uns nicht hören. Er hätte nicht die geringste Ahnung, dass wir da sind. Es macht keinen Sinn.« Aris Stimme senkte sich wieder ein wenig. Jedes Mal, wenn sie diesen Gedanken zuließ, musste sie mit den Tränen kämpfen. Diesen Gedanken, von dem sie wusste, dass er die Realität war, mit der sie sich abfinden musste. Nie mehr mit Tyron sprechen. Ihn nie mehr sehen. Ein weiterer Kampf mit bewaffneten Dämonen wäre einfacher, als ihr Schicksal zu akzeptieren.

»Woher willst du das wissen?« Loras fuhr sich mit der Hand durch das blonde Haar, als würde es ihm Energie senden, die er wohl genauso benötigte wie Aritana.

»Ich weiß es! Und du weißt es auch.«

Erst jetzt sah Loras zu ihr hin. Sein Blick wurde weicher. Er bemerkte wohl die Tränen in ihren Augen, die sie noch immer zu bezwingen versuchte.

Mit zur Seite geneigtem Kopf setzte er sich neben sie auf die Parkbank. Ohne zu zögern, legte er seine Hand auf ihre. Eine Geste, die sie immer wieder beruhigte, auch wenn sie nichts spüren konnte. Da war nichts. Seine Hand glitt einfach durch ihre hindurch. Doch wenn sie daran dachte, wie er zuvor ihre Hand gehalten hatte, wenn sie drohte in ein endloses schwarzes Loch zu fallen, wie am Tag der ersten Schlacht oder bei den Verhandlungen über ihre Zukunft, konnte sie für einen Moment die Wärme seiner Haut spüren. Sie genoss das Gefühl, welches diese einzige kleine Berührung in ihr auslöste. Sie hoffte, dass sie es niemals vergessen würde.

»Es tut mir leid.« Loras’ hellblaue Augen trafen ihren Blick. »Ich weiß, dass es nichts bringt. Selbst wenn ich herausfinden würde, wie das alles hatte passieren können, würde es nichts an den Tatsachen ändern.« Er sah zur Seite, in die Ferne. Seine Stimme begann zu zittern. »Es lässt mich einfach nicht los. Und ehrlich gesagt habe ich Angst davor, wohin meine Gedanken verschwinden werden, wenn ich aufhöre, mir Theorien einfallen zu lassen, und die Hoffnung, Tyron zu finden, aufgebe. Denn denke ich nicht an so etwas, denke ich daran, wie all diese Menschen leiden.« Loras' Stimme wurde brüchig, seine Augen glasig. Er nahm ebenfalls den Kampf mit den Tränen auf. Wieso versuchten sie noch immer, sich zusammenzureißen und stark zu bleiben? Es konnte doch niemand sehen. Diese Tränen waren nur für sie beide bestimmt, unsichtbar für alle anderen. Waren diese salzigen Tropfen bedeutungslos, weil sie nicht zu sehen waren?

Sind wir bedeutungslos, weil wir nicht zu sehen sind?

»Sie alle leiden und ich kann nichts dagegen unternehmen. Du leidest und ich kann nichts dagegen unternehmen. Und ich denke, dass auch Tyron leidet, wo immer er stecken mag. Ich kann nichts machen. Aber vielleicht ist es sinnlos, sich weiter damit zu beschäftigen. Vielleicht ist es an der Zeit, sich mit den Tatsachen abzufinden. Er ist weg. Genau wie wir.«

Sie hatte niemals geglaubt, dass es ihm in dieser Situation besser ginge als ihr, doch diese Worte aus seinem Mund zu hören, traf sie wie eine scharfe Klinge in ihr verstorbenes Herz. Loras behielt einen Funken Hoffnung, nicht weil er daran glaubte, sondern weil er ihn brauchte, diesen Funken. Er war alles, was seine kalte Seele wärmen konnte. Der letzte Faden, an dem er noch hing. Vielleicht behielt er ihn auch für Ari. Damit dieser Funken auch ihr ein wenig Licht in der Dunkelheit spenden konnte.

»Vielleicht sollten wir doch nochmal hingehen. Es schadet schließlich nicht und wenn Tyron da ist, wird er zwar wahrscheinlich nichts von unserer Anwesenheit merken, doch wir haben dann Gewissheit darüber, dass es ihm gut geht.«

»Bist du sicher?«, fragte Loras.

Aritana zwang sich zu einem Lächeln und stand mit nickendem Kopf langsam auf.

Die Straßen, welche sie durchqueren mussten, waren verlassen und vereist. Der Winter kam schneller als gewöhnlich und deutlich heftiger. Windböen, Schneeflocken so groß wie Tischtennisbälle und von Dächern fallende spitze Eiszapfen belasteten die Menschen hier täglich. Die wenigsten schafften es in die Arbeit, da kaum ein Auto mehr funktionierte. Und selbst wenn, war von den Straßen kaum mehr etwas übrig. Der Alltag war zu einer immer wiederkehrenden Schlacht geworden und nicht einmal die dicksten Winterjacken konnten genügend Schutz bieten. Lange war es her, seit der Winter Freude mit sich gebracht hatte. Alles, was für die Menschen an Normalität grenzte, war ihnen vor drei Monaten entrissen worden.

Die Tage vergingen langsamer und dauerten länger - zumindest fühlte es sich so an. Aufgrund der unaufhörlichen Wolkenschicht konnte man den Tag kaum mehr von der Nacht unterscheiden. Nur der weiße Schnee, wenn seine Menge auch erdrückend war, spendete einen Anblick, den man nicht gleich verabscheute. Das einzig Helle, was in dieser Welt verblieben war.

Innerhalb kürzester Zeit waren so viele globale Krisen entstanden, dass die Leute unmöglich alles verarbeiten konnten. Diejenigen, die noch draußen zu finden waren und sich nicht in ihren Häusern verbarrikadierten, funktionierten wie Roboter. Sie taten das Nötigste, schauten nicht nach links oder rechts, liefen direkte Wege und bauten Mauern um alle Gedanken herum, die sich mit dem befassten, was sie entweder nicht verkraften oder aber nicht verstehen konnten. Sie hatten die Unterwelt erlebt, ohne zu wissen, dass es womöglich noch immer eine Oberwelt gab.

Der Vernichtungsschlag allerdings blieb aus. Seit Monaten waren die Menschen aus aller Welt am Leiden, doch ihr Peiniger zeigte sich nicht. Was immer Luzifer plante, es schien zu dauern. Und mit jedem Tag wuchs die Sorge, dass er aus seiner Versenkung treten und alles Leben vernichten würde. Vielleicht hatte er das bei den Engeln bereits getan.

Aritana hatte nichts mehr erfahren, von allem, was oben passierte. Seit jenem Tag der Verhandlung und des Aufstiegs Luzifers hatten sie keinen Engel mehr zu Gesicht bekommen. Weder tot noch lebendig. Sie gingen davon aus, dass es kaum mehr Engel gab, da sie sich den Menschen nicht präsentierten, um ihnen einen letzten Hoffnungsschimmer zu geben. Natürlich stellte dies einen Regelverstoß dar, doch in ihrer Lage ... Wen scherten noch Regeln? Regeln hatten dieses Unglück in die Wege geleitet. Sie waren der Zündstoff des Unterganges. Die Menschen brauchten Hoffnung. Sie brauchten das Vertrauen in eine bessere Zukunft im Paradies. Selbst die noch so regelversessensten Engel sollten dies verstanden haben, doch es folgte kein Zeichen. Sie hatten gewartet und gewartet, doch nichts kam. Die Engel waren weg.

Nachdem sie ein wenig durch den Schnee gewandert waren, liefen sie an dem kleinen Café am Anfang der Straße vorbei. Kein Licht schien mehr darin. Diesem Laden war es wie vielen in dieser Umgebung ergangen. Er hatte der endlosen Abfolge von Krisen nicht standhalten können. Die Besucherzahlen fielen rapide, ständig kamen neue Schäden auf, während es ewig dauerte, bis sich jemand darum kümmern konnte, und so musste man ihn irgendwann aufgeben. Aritana wollte am liebsten wegsehen, doch es schien ihr unmöglich. Sie konnte nicht anders, als in den leeren, vermüllten Raum zu starren, der einst so voller Leben gewesen war. Sie dachte an den aromatisch-süßen Geruch von Zimtschnecken in der Theke, an lachende Gäste mit brummenden Mägen. An die Besitzer des Cafés, die einen beim Eintreten mit einer solchen Herzlichkeit empfingen, wie sie in der Oberwelt schon lange keiner mehr kannte.

An der Ecke zu ihrer wohl bekannten Seitenstraße erreichten sie endlich das Lagerhaus. Anders als der Rest der Welt hatte sich dieser Ort nicht verändert. Er war schon vorher leer, kaputt und dreckig gewesen. Hier hatte es nie wirklich Leben gegeben, und doch machte Aritanas Herz jedes Mal einen Sprung, wenn sie über die Türschwelle trat.

Ähnlich wie bei dem Café, wo sie sich nicht vom Hinsehen abhalten konnte, schaffte sie es hier nicht, sich selbst davon abzubringen, sich Hoffnungen zu machen. Der Wunsch, Tyron zu treffen, war so groß, dass die Sehnsucht nach dessen Erfüllung automatisch aufkam. Und infolgedessen die Enttäuschung.

Doch dieses Mal, so schien es, blieb Letztere aus.

In diesem eiskalten Lagerhaus, welches nie jemand betrat, da die meisten Fenster kaputt waren und ein Großteil der Türen fehlte, wodurch auch der Boden im Innenraum stellenweise von Schnee bedeckt war, vernahm Aritana plötzlich Geräusche. Loras musste sie auch gehört haben, so abrupt wie er stehenblieb und in die Richtung starrte, welche auch Aritana im Blick hatte.

Etwas war hier – oder jemand.

Tyron?

Kapitel 2

~ Elaas ~

Ruhig atmen. Tief ein und aus. Schritte zählen. Nicht nervös sein. Nicht auffällig. Einfach ruhig bleiben. Tief ein und aus. Es wird nichts passieren. Schritte zählen. Nichts wird passieren.

Mit jeder vorsichtigen Bewegung wiederholte Elaas diese Worte. Es lenkte ihn ab.

Das hier ist wichtig. Du tust das Richtige. Schritte zählen. Du schaffst das. Nichts wird dir passieren, wenn du einfach weiterläufst. Alles nach Plan.

Seine Schritte waren klein und langsam, doch er blieb nicht stehen. Sein Blick wich nicht nach links und rechts. Er war starr geradeaus gerichtet. Fokussiert auf sein Ziel.

Immer weiter. Immer weiter. Halte dich an den Plan und dir wird nichts passieren. Nichts wird passieren. So hat er es gesagt. Was er sagt, meint er auch so. Meistens jedenfalls. Nein. Ruhig atmen. Es wird funktionieren. Tief ein und aus.

Elaas näherte sich den lodernden Flammen der großen Schlucht. Um ihn herum waren hauptsächlich Frischlinge, kaum älter als er selbst, die meisten sogar jünger. Ob er noch immer ein Niemand war? Eine Existenz, von der keine Notiz genommen wurde? Oder hatte sich das Blatt inzwischen gewendet und er war Bestandteil unzähliger Geschichten und Gerüchte? Natürlich wusste er, worauf er hoffte, doch es gab keine Garantie.

Erst als er den Rand der Schlucht erreicht hatte – den wohl bestbesuchten Ort der Unterwelt –, tippte ihm jemand auf die Schulter.

»Elaas?«

Er drehte sich herum. Der Frischling, der vor ihm stand, war ihm völlig unbekannt. Vermutlich noch sehr jung. Die Quote der täglichen Neuzugänge stieg kontinuierlich an, seit Luzifer befreit worden war und fortan sein Werk an der Menschheit vollzog.

»Entschuldige, du musst mich wohl verwechseln.« Elaas drehte sich wieder weg, doch der Frischling gab sich nicht zufrieden.

»Auf keinen Fall. Hey! Hey! Leute, kommt!«

Panik schoss mit einem Mal durch seinen Körper. Er hatte nicht erwartet, so schnell entdeckt zu werden. Während die anderen Anwesenden ihre Blicke zu ihnen warfen, fing Elaas zu rennen an. Er konnte seine Beine nicht davon abhalten, konnte ihnen keine Befehle geben, nicht einmal die Richtung bestimmen. Sein Körper befolgte nur einen einzigen Befehl und der lautete: weg. Egal wohin, Hauptsache weg. Und wie zu erwarten, erweckte sein Verhalten Aufmerksamkeit. Es vergingen kaum Sekunden, da war bereits eine ganze Horde von Dämonen hinter ihm her. Eines hatte er ihnen allerdings voraus: Er kannte sich in den Höhlen aus, welche nicht weit entfernt waren und deren Richtung er nun einschlug.

Immer weiter. Einfach weiter.

Zum Glück war der Großteil aller Dämonen in der Mitte aktiv. Nur diejenigen, welche noch zu jung und schwach waren, um sich zwischen den Welten bewegen zu können, und vereinzelte andere verblieben in den Tiefen der Unterwelt. Dennoch waren es genug, um Elaas ins Schwitzen zu bringen.

Auf dem Weg in die Höhlen musste er zunächst einen verhältnismäßig großen Platz durchqueren. Der Großteil der dort anwesenden Dämonen begriff erst, was passierte, als Elaas bereits an ihnen vorbeigehechtet war, weshalb sie sich seiner Verfolgergruppe anschlossen, doch manche konnten die Situation deutlich schneller analysieren und stellten sich ihm in den Weg.

Als der erste plötzlich vor ihm erschien, schrak Elaas zurück und landete auf dem steinigen Untergrund. Er hatte sich zu sehr auf seine Verfolger konzentriert und dabei nicht bemerkt, was vor seiner Nase geschah. Die anderen kamen in einem rasanten Tempo näher und der Dämon vor ihm, diesmal kein Frischling, versperrte ihm nach wie vor den Weg. Mit einem gekonnten Tritt gegen das Schienbein und einer schnellen Rolle auf die linke Seite schaffte Elaas es, wieder aufzustehen und weiterzurennen, doch der Abstand zwischen ihm und seinen Verfolgern war deutlich verkürzt. Nur ein weiterer Fehltritt und sie hatten ihn.

Mithilfe einiger gewagter, teilweise nur knapp gelingender Ausweichbewegungen schaffte er es schließlich in die Umgebung, welche er besser kannte als jeden anderen Ort in allen Welten.

Zwischen den steinernen Mauern war es, wie immer, dunkel und für die Verhältnisse der Unterwelt auch recht kühl. Bloß vereinzelte Fackeln an den Wänden sorgten für ausreichend Licht und Wärme, sodass Elaas sich orientieren konnte. Er rannte und rannte, mit Dutzenden Dämonen im Schlepptau.

Immer weiter Nur nicht stehenbleiben.

Es war fast komisch, wie lebendig sich Elaas während dieser Jagd fühlte. Natürlich begleitet von Nervosität und Aufregung, doch er spürte förmlich, wie sein Kopf klarer wurde, und hätte er es nicht besser gewusst, hätte er schwören können, dass sein Herz wieder zu schlagen begann, wie es nur zu seinen Lebzeiten der Fall gewesen war. Er fühlte sich frei. Er fühlte sich wie ein Erdling. Und es fühlte sich verdammt gut an.

Im Zickzackkurs schaffte er es, außer Sichtweite zu geraten, schließlich kannte er in den vorderen Höhlenbereichen jede einzelne Ecke und Kurve nahezu auswendig. Das war seine Chance. Ein Schlenker nach rechts, in eine kleinere Höhle, und alle anderen liefen vorbei.

Doch zu seinem Unglück musste Elaas feststellen, dass er nicht allein an diesem Schutzort versteckt war.

»Ähm ...« Der Kleine vor ihm bekam kaum ein Wort heraus.

Da die anderen Dämonen teilweise noch an ihnen vorbeiliefen, zeigte Elaas dem Frischling mittels eines Handzeichens, er sollte leise sein, bis die Gefahr vorübergezogen war.

»Du bist neu hier, oder?« Mit einer einfachen Frage versuchte Elaas, den zwei Köpfe kleineren Mann – wenn man ihn so bezeichnen konnte – hinzuhalten. »Was treibst du hier allein?«

»Ich ... ich bin hier, weil... Hier lacht keiner über mich.«

Der Dämon machte einen freundlichen Eindruck. Er erinnerte Elaas an sich selbst.

»Neu sein ist nicht einfach. Du kannst mir glauben. Im Grunde bin ich selbst noch ein Frischling. Nun, wohl eher ein Flüchtling.«

»Du bist Elaas, oder? Der, der sich den Engeln angeschlossen hat?«

Nun hatte er immerhin eine Antwort auf die Frage, ob er und seine Geschichte bekannt waren. Wobei sich vermutlich jeder etwas anderes erzählte.

»Und wenn es so wäre?« Dieser verängstigte Frischling, welcher sich in einer Ecke in der Dunkelheit verkrochen hatte, sorgte nicht gerade für einen Angstanflug, aber er konnte seine Position verraten.

»Wenn dem so wäre, würde ich gerne wissen, warum. Jeder sagt etwas anderes.«

Sein Interesse an Elaas’ Motiven erschien erst einmal als ein gutes Zeichen. Vielleicht konnte der Kleine ihm noch nützlich werden. »Das wundert mich kaum. Hier unten zerreißen sie sich die Mäuler über alles und jeden, doch von Wahrheit fehlt zumeist jede Spur.«

»Und deswegen hast du dich den Engeln angeschlossen?«, fragte der Frischling. Sein helles braunes Haar fiel ihm in Locken über die Stirn und gab gerade so seine Augen frei, die Elaas neugierig musterten.

»Nein.« Elaas musste schmunzeln. »Weißt du, ich wurde gleich nach meiner Ankunft hier schikaniert. Ich wurde ausgelacht, mit Steinen beworfen, bespuckt. Und nur einer hat mir geholfen.«

»Tyron«, stellte der junge Dämon fest. »Weißt du, wo er ist?«

Elaas beschloss, die Frage zu ignorieren und sprach stattdessen aus, was ihm schon lange durch den Kopf ging. »Tyron hat mir gezeigt, dass ich die freie Wahl habe. Ich kann entscheiden, wer ich sein möchte. Das liegt allein in meiner Kraft. Und ich entschied mich, das Richtige zu tun. Die Oberwelt und ihre Bewohner sind auch nicht fehlerfrei, doch sie auszulöschen, würde das Gleichgewicht zerstören. Auf lange Sicht profitiert niemand davon.« Elaas suchte in dem Blick seines Gegenübers nach Anzeichen von Abscheu oder Verurteilung, doch er fand nichts. »Auch du hast die Wahl. Weißt du, wer du sein möchtest?«

»Ja, ich denke, das weiß ich.«

Ein Lächeln schlich sich auf Elaas’ Lippen. Dieser Dämon war nur ein Frischling, doch das war er selbst auch. Nur ein Frischling, der durch ein wenig Vertrauen von Tyron neue Ziele, neue Werte, im Grunde eine ganz neue Identität erhalten hatte. Seinem Gegenüber könnte es genauso ergehen. Und sie brauchten jeden, den sie bekommen konnten, auf ihrer Seite.

»Ich möchte ein Dämon sein, welcher sich nicht ständig in den Höhlen verstecken muss.« Die Miene des Kleinen verzog sich zu einer Fratze.

Alle Alarmglocken in Elaas’ Kopf setzten gleichzeitig ein.

»Er ist hier!«, schrie der Frischling aus voller Kehle, dass es an den steinernen Wänden bis in alle Ecken widerhallte.

Damit hatte Elaas nicht gerechnet. Sofort wollte er sich aus dem Staub machen, doch seine vorherigen Verfolger waren bereits in der Nähe. Ohne nachzudenken, schlug er den erstbesten Weg ein, der sich ihm bot, und wie könnte es anders sein, handelte es sich hierbei um eine Sackgasse. Er saß in der Falle.

Auf der Suche nach einem Ausweg sah er sich in der kleinen Höhle um, doch er konnte keinen finden. Durch den einzigen Ein- und Ausgang kam nun seine Horde an Verfolgern getrampelt, die sich vor ihm aufstellten. Das war der einzige große Nachteil der Höhlen: Es gab zwar viele Verstecke, allerdings auch viel zu viele Sackgassen.

»Wenn das nicht Elaas ist. Einst ein Niemand, ein Frischling, welcher in eine Schlucht gefallen war und es nicht alleine rausgeschafft hatte. Nun kennt jeder deinen Namen.« Ein unbekannter Dämon, den Elaas allerdings schon des Öfteren in der Unterwelt wahrgenommen hatte, löste sich von der Gruppe und ging ein paar Schritte auf ihn zu. Er war schon älter, doch fürchten brauchte sich Elaas vor ihm nicht. Jeder Dämon, der etwas zu sagen hatte, war im Moment abwesend, irgendwo in der Mitte beschäftigt. Demnach brauchte er ihm auch keiner Antwort zu würdigen.

»Du hast vielleicht Nerven, in unsere Welt zurückzukehren.«

In diesem Punkt stimmte Elaas dem Unbekannten zu, doch hier war er nun mal.

»Was sollen wir mit ihm machen, Arius? Ihn töten? Ihn zurück in das Torturengebiet schicken?« Die Fragen kamen von einem jüngeren Dämon, dessen Stimme irgendwo aus der Menge kam. Nur ein Echo aus dem Schatten.

»Verschwenden wir keine Zeit an so einen. Wir töten ihn und gut ist. Er ist unsere Mühe doch nicht wert«, rief ein anderer.

»Die dreckigen Flügelviecher sollen zusehen, wie wir ihm den Kopf abreißen.«

Die Vorschläge und Ideen bezüglich des Umganges mit Elaas häuften sich, bis die Stimmen einen einheitlichen, undeutlichen Klang einnahmen. Ruhig blieb Elaas auf seiner Stelle stehen und wartete darauf, dass die Horde sich einig wurde. Konnte ja nur Jahre dauern.

»Es liegt nicht an uns, diese Entscheidung zu treffen.« Die Stimme von Arius war lauter und kräftiger als die der anderen. Sie übertönte das Getuschel und sorgte dafür, dass alle still wurden und zuhörten, was der Alte zu sagen hatte. »Wir nehmen ihn gefangen. Adelphos und ein paar andere kommen morgen früh zurück. Sie sollen entscheiden, wie mit diesem Verräter umgegangen werden soll.«

Adelphos. Der Leiter des Rituals. Der Schöpfer des Untergangs.

Zwei Frischlinge traten hervor und packten Elaas an beiden Armen. Mitsamt der ganzen Eskorte wurde er in den Käfig gebracht, wo vor wenigen Monaten die Opfer des Rituals eingesperrt gewesen waren. Die Tür aus Stahl fiel vor seiner Nase ins Schloss, Sigillen wurden beschworen und die Dämonenbande machte einen Abgang. Nun war Elaas allein. Gefangen.

Alles lief nach Plan.

Kapitel 3

~ Aritana ~

»Tyron!« Aritana schrie durch das Lagerhaus, als wüsste sie nicht genau, dass keiner sie hören konnte. Allein die Tatsache, dass sie nicht, wie sonst, von erdrückender Stille begrüßt wurden, ließ sie hoffen. Und die Hoffnung ließ sie seinen Namen rufen.

»Tyron?« Mit Loras im Schlepptau durchquerte sie die Räume im Erdgeschoss. Der größte Bereich, wo sie Tyron einst kennengelernt hatte, war leer und auch in den wenigen kleinen Nebenräumen wurden sie nicht fündig. Als sie fertig waren, blieben sie stehen und verstummten. In dieser Stille hätte man das Fallen einer Feder hören können. Sie lauschten geduldig. So lange, bis das Geräusch wieder auftauchte. Leise, aber hörbar.

»Es kommt von oben!«, rief Loras und rannte voraus.

Wieso sollte Tyron hochlaufen? Bislang war ihr Treffpunkt immer im Erdgeschoss gewesen, doch das spielte keine Rolle. Aritana würde ohnehin jeden Raum absuchen, nur um ganz sicherzugehen.

Als sie die modrige alte und nun auch noch verschneite Treppe nach oben rannten – denn scheinbar konnten Engel nicht einmal in dieser geisterartigen Gestalt fliegen, was bedeutete, dass die Mythen der Menschen in dieser Hinsicht grundsätzlich falschlagen –, wurde das Geräusch lauter. Sie kamen näher.

Irritiert stellte die Gefallene fest, dass es nicht nach Tyron oder irgendeinem anderen menschenähnlichen Wesen klang. Es war ein hoher, gequälter Ton. Ein Fiepen. Sofort entstand aus der bedrückenden Erkenntnis eine Flutwelle der Enttäuschung. Es war wie jedes Mal, wenn sie herkamen. Je größer die Hoffnung, desto schlimmer der Schmerz, welcher in ihrer Seele brannte.

Doch die Frage blieb bestehen, was sich oben befand, wenn nicht Tyron. Aritanas Neugierde war geweckt, auch wenn sie nicht finden würde, was sie suchte. Was verbarg sich in diesem Stockwerk in der Kälte? Das Gute an ihrem Fall war, dass sie sich nun nicht mehr schämen musste, wenn ihre Wissbegierde geweckt wurde. Sie konnte ihr ohne schlechtes Gewissen nachgehen. Ein schwacher Trost.

»Sieh nur.« Loras blieb plötzlich vor einem Raum zu seiner Linken stehen und schaute hinein.

Aritana stellte sich neben ihn, um seiner Aufforderung nachzukommen. Ein Hund winselte leise in den durch das offene Fenster strömenden Wind. Ein ausgewachsener Labrador. Kein Halsband zu sehen. Das scheinbar herrenlose Tier lag auf einer zerrissenen alten Decke auf dem Boden. Einzelne Schneeflocken setzten sich auf sein von Natur aus überwiegend weißes Fell. Wären da nicht die hellbraunen Flecken, konnte man ihn fast mit einem Schneehaufen verwechseln, so ruhig und still lag er da.

Einen ähnlichen Hund hatte Aritana sich als Kind gewünscht. Es zerbrach ihr das Herz, den armen Kerl in dieser Kälte zu sehen. Allein. Ungeliebt. Sofort wollte sie zu ihm, ihn streicheln und wärmen, doch als sie sich neben dem Hund niederließ und ihre Hand auf sein verdrecktes Fell legte, glitt diese einfach hindurch.

Es schien nur eine Kleinigkeit zu sein. Nichts verglichen mit dem, was sonst in der Welt und bei Aritana und Loras los war. Etwas, woran man sich inzwischen gewöhnt haben sollte. Sie wusste schließlich, dass sie nichts anfassen und mit niemandem reden konnte, nicht einmal mit einem Hund, doch trotz dieses Wissens war keine Gewöhnung in Sicht. Aritana konnte sich nicht vorstellen, dass es je so sein könnte. Sie würde es niemals als normal empfinden, unsichtbar und bedeutungslos durch die Welt zu irren. Wie alles um sie herum den Bach runterging und wie sie unbeteiligt mitfloss, in Erwartung, dass bald ein großer Wasserfall direkt vor ihr auftauchen würde. Sie würde sich nicht wehren. Sie hatte keine Wahl. Sie würde dem Wasser folgen und mit ihm in die Tiefe stürzen.

Solche Gedanken waren keine Seltenheit mehr und sie konnten in noch viel dunklere Ecken geraten. Loras wusste davon nur zum Teil. Aritana glaubte zwar, dass auch er diese Gedanken in sich trug, doch anders als die Gefallene, welche sich mit glasigen Augen auf den Boden neben den Labrador legte, bewahrte ihr Freund stets ein tapferes Gesicht.

»Vielleicht sollten wir gehen«, schlug er nach ein paar Minuten der Stille vor.

Aritanas Herz verkrampfte sich bei dem Gedanken. Sie wollte den Hund nicht allein lassen, doch ihr blieb auf Dauer kaum eine andere Wahl.

Was soll ich tun?

Gerade als sie sich abwenden wollte, passierte es: Der Kopf des Labradors erhob sich und seine braunen Augen trafen ihre. Für einen Moment sah er sie direkt an. Dann ließ er seinen Kopf wieder auf den Boden fallen.

»Hast du das gesehen?«, fragte Aritana an Loras gerichtet. Mit offenem Mund starrte sie weiter auf das einsame Tier, das vor ihr lag. Ungläubig, was gerade geschehen war.

»Was meinst du?«

»Er hat mich gesehen! Er hat mich direkt angesehen!« Tränen der Freude bildeten sich in ihren Augen. Zum ersten Mal seit Monaten wurde sie wahrgenommen.

Loras sah sie mitleidig an. »Ari, das bildest du dir ein. Es tut mir leid, ich weiß, wie sehr du es dir wünschst, aber –«

»Nichts aber! Ich weiß, was ich gesehen habe!« Sie wandte sich wieder von Loras ab und konzentrierte sich auf den Hund vor ihr. »Komm schon, Kleiner, mach es nochmal, sieh mich an«, flüsterte sie, während sie sich weitere Tränen aus den Augen wischte.

»Wir sollten wirklich gehen.«

Sie traf seinen ausdruckslosen Blick und fand keinerlei Emotion. War ihm das Schicksal dieses Tieres so egal? War ihr beider Schicksal ihm so egal?

»Wir können ihn nicht zurücklassen.« Ihre Worte waren ein einziges Schluchzen, das sie nicht unterdrücken konnte.

»Wir können nichts für ihn tun.«

»Er wird sterben! Wir müssen etwas tun!«, schrie sie ein wenig zu laut. Nicht, dass sie jemanden hätte stören können, doch tief im Innersten wusste sie, dass Loras diesen harschen Umgangston nicht verdient hatte. Wissen und Fühlen waren allerdings zwei gänzlich verschiedene Dinge.

»Ich möchte auch nicht, dass er stirbt, doch mir fällt wirklich nicht ein, wie wir ihm helfen können.« Wie so oft bewahrte Loras die Ruhe.

Aritana beneidete ihn dafür fast so sehr, wie sie ihn dafür hasste. »Dann denk schärfer nach, uns muss etwas einfallen! Er hat mich gesehen, das war ein Zeichen! Es muss etwas geben, was wir tun können.«

»Aritana.«

Die Gelassenheit in Loras’ Stimme machte sie wahnsinnig. »Lass mich.«

»Ari, komm schon, wir sollten –«

»Nein!« Ihr Schrei wurde von dem Geräusch eines in Scherben brechenden Glases unterstrichen. Augenblicklich drehten sich beide Gefallenen um. Sogar der Hund schrak auf.

Das Fenster hinter ihnen – eines der wenigen, welches außer viel Dreck und Staub zuvor keine Makel aufgewiesen hatte, war in kleine Einzelteile zersprungen, die nun auf dem Holzboden verteilt lagen. Der kalte Wind zog in den Raum, sodass der Hund wieder zu winseln anfing. Diesmal lauter und gequälter als zuvor. Aufgrund des entstandenen Durchzugs wurde es im Bruchteil einer Sekunde gleich einige Grad kälter.

Aritanas Blick begegnete dem von Loras. Er hatte das gleiche fragende Gesicht aufgesetzt.

Ein Zeichen.

Es musste ein Zeichen sein.

Die meisten für Menschen ›unerklärlichen‹ Dinge waren für die Beobachter der Oberwelt nichts Besonderes, doch hin und wieder wussten auch die Engel nicht weiter. Unerklärliches fand seit dem Anbeginn der Zeit statt. Was, wenn sie die Erklärung hierfür waren? Sie ‒ die gefallenen Engel. Das Übernatürliche unter dem Radar.

Wenn es stimmte, wäre dies ein Hoffnungsschimmer in ihrer umgebenden Dunkelheit. Ein Weg, um mit der Außenwelt zu kommunizieren. Ein Weg hinaus aus diesem Elend.

»Ich glaube nicht, dass der Hund dich wirklich gesehen hat, aber ...« Loras fehlten offensichtlich die Worte, während er weiter auf das zerbrochene Fenster starrte.

»Ich weiß schon. Wir müssen los.«

Kapitel 4

~ Elaas ~

»Antworte!«

Nein danke.

»Bist du taub?!«

Schön wärs.

»Ich weiß, dass du mich hören kannst.«

Wieso fragst du dann, ob ich taub bin?

»Sieh dich an. Eingesperrt. Auf den endgültigen Tod wartend. Und in deinen letzten Minuten auch noch schweigend. Wie erbärmlich.«

Dein Atem stinkt bis hierher – darüber könnten wir reden.

»Jetzt bereust du wohl, was du getan hast.«

Oh, wenn du wüsstest, wie falsch du liegst.

Seit er gefangen genommen wurde, schlenderten Frischlinge, die von seiner Geschichte gehört hatten, an seinem Käfig vorbei. Manche hatten ihn bloß viel zu auffällig angestarrt, andere, wie dieser nette Genosse, fingen an, zu reden, zu fragen, zu spekulieren und zu beleidigen. Elaas könnte all das kaum weniger interessieren. Glaubten diese dämonischen Neulinge wirklich, er wäre in die Unterwelt gereist, wenn er noch immer auf der Flucht war? Hielten sie ihn für intelligenztechnisch so eingeschränkt? Er mochte es damals nicht geschafft haben, die Urdämonen mit dem Kristall auszutricksen, doch er war verdammt nah dran gewesen. Und er wollte endlich erfahren, woran der Plan gescheitert war.

»Wer sitzt da drin?«

Elaas saß zur Wand gedreht und konnte daher nicht sehen, wer sich genähert hatte und sich nun mit diesem neugierigen Frischling unterhielt. In dem Käfig seines Vorgängers, des Dämons, welcher dem mörderischen Ritual damals zum Opfer gefallen war, starrte er seit Stunden an die felsige Wand und konzentrierte sich auf die drückende Hitze, welche von den unzähligen Feuern ausging, die außerhalb dieses versteckten Raumes loderten. Er hatte kein Interesse, die Meute zu sehen, die ihn anstarrte wie ein Tier im Zoo. Mit ihnen zu sprechen, schien zwecklos. Alle redeten sie viel und hatten doch nichts zu sagen.

Diese neue Stimme war anders.

Elaas hob den Kopf an und wurde wachsam. Er kannte diese Stimme.

»So ein Frischling. Dieser Elaas, der sich gegen uns gewendet hat«, erklärte die Nervensäge unbeeindruckt, als steckte nicht viel mehr hinter der ganzen Geschichte.

»Mir ist dieser Frischling wohl bekannt. Lässt du mich kurz mit ihm alleine?«

Elaas lauschte den sich entfernenden Schritten, wartete, bis sie weit genug weg waren, um sich umzudrehen.

»Du kennst mich also?«, fragte er mit gerunzelter Stirn und gehobener Augenbraue. Die Stimme klang vertraut, das Gesicht jedoch weckte keine Erinnerungen. Sicher kein Frischling, so viel stand fest. Er trug keine schwarze Uniform, sondern normale, unauffällige Klamotten aus der Mitte. Mitsamt dem blonden, strubbeligen Haar, das ihm ins Gesicht fiel, hätte man ihn sofort für einen Menschen halten können, wenn da nicht seine pechschwarze Seele wäre.

»Wir haben ein paar Mal geredet«, erklärte der Dämon. Seine Miene war finster, doch seine Worte klangen hell und freundlich.

Aus irgendeinem Grund erwartete Elaas diesmal keine Beleidigungen, auch wenn das der Hauptgrund war, weshalb er Besuch erhielt. »Wann soll das gewesen sein?« Elaas stand nun auf, um auf einer Augenhöhe mit dem Fremden zu sein, der gar nicht so fremd zu sein schien.

»Als du in der Schlucht warst. Ich bin Pirok.«

Natürlich!

Tyron war damals der Einzige gewesen, der bereit war, ihm zu helfen, doch neben ihm gab es noch jemand, der sich anders verhielt. Jemand, der in der Nacht, während andere Partys gefeiert hatten, bei ihm gesessen und nette Gespräche mit ihm geführt hatte. Elaas hatte nie herausgefunden, wer dieser mysteriöse Dämon gewesen war. Bis jetzt.

»Das warst du«, murmelte Elaas in sich hinein. »Du hast mir von deinem Muttermal erzählt. Dass man dich als Frischling damit aufgezogen hat, weil es die Form eines Herzens zeigt. Ständig sagtest du mir, es sei nicht fair, was mir widerfahre, doch geholfen hast du mir nicht. Es war Tyron, der mich befreit hat. Wieso hast du nichts getan?« Diese Frage lag Elaas schon lange auf der Zunge. Nun konnte er sie endlich stellen. Er sah Pirok direkt an.

Dieser sah weg. Sein Blick schweifte auf den unebenen Boden, auf dem noch Spuren von dämonischem Blut zu finden waren.

»Tyron ist mutiger als ich. Das war er schon immer. Ich hörte, was die Dämonen über ihn sagten, nachdem sich das Gerücht um deine Rettung verbreitet hatte. Es war absehbar, dass sie es herausfinden und ihn dafür verabscheuen, und ich wollte nicht an seiner Stelle stehen.« Pirok scharrte mit dem Schuh auf dem Boden herum und atmete tief durch. »Es tut mir leid.«

»Bist du deshalb gekommen?« Elaas hegte keinen Groll gegen Pirok, eine ernst gemeinte Entschuldigung unter Dämonen war fast genauso selten wie echte Hilfeleistung, doch so, wie der Dämon auf seine Frage hin aufschaute, lag ihm noch mehr auf dem Herzen.

»Unter anderem, ja.« Seine schwarzen Augen begegneten denen von Elaas. Sie waren plötzlich fest entschlossen und neugierig. »Der andere Grund trägt einen Namen.«

Elaas konnte sich denken, was folgen würde.

»Tyron.«

Die Härchen auf Elaas’ Armen richteten sich automatisch auf. Wusste Pirok etwas? Wie nah hatten sich die beiden gestanden?

»Wir kamen fast zeitgleich hier an und waren seither befreundet.«

Eine gute Beziehung also, ‒ falls es stimmt, was er sagt.

»Viele hier sind auf der Suche nach ihm, weil sie ihn jagen. Ich suche nach ihm, um ihm zu helfen. Hast du auch nur die geringste Ahnung, wo er ist?«

Er weiß nichts.

»Tut mir leid, nein.«

»Und diese Engel, mit denen er zu tun hatte? Vielleicht wissen die, wo –«

»Auch von ihnen habe ich seit diesem Tag nichts mehr erfahren. Es tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen.«

Pirok biss sich leicht auf die Lippe und nahm einen tiefen Atemzug. Natürlich hätte Elaas ihm gerne mehr gesagt, doch das war leider nicht möglich. Noch nicht.

Pirok drehte sich zum Gehen um, als Elaas etwas einfiel.

»Warte, vielleicht kannst du mir allerdings helfen.«

»So gerne ich auch würde, ich kann dich nicht befreien. Ich habe nicht die nötige Kraft.«

»Darum geht es nicht. Ich brauche nur ein paar Informationen.«

Pirok kam ein paar Schritte zurück. Neugierde durchzog sein Gesicht, als Elaas sich etwas vorbeugte und seine Stimme senkte.

»Ich möchte alles erfahren, was du über den Stand der Dämonen weißt, die noch hier sind.«

Weitere Stunden vergingen. Sie fühlten sich länger an, wenn man nichts mit seiner Zeit anstellen konnte, als zu grübeln. Wenigstens eine Tätigkeit, die er über die Wochen hinweg perfektioniert hatte.

Pirok hatte sich als eine unerwartete Hilfe entpuppt. Elaas hatte nicht mit seinem Auftauchen gerechnet, doch einen guten Nutzen daraus ziehen können. Nun wusste er um die Einstellung der anderen Dämonen.

Viele der übrig gebliebenen in der Unterwelt waren ganz neue Frischlinge, denen der Wechsel zwischen den Welten noch nicht möglich war. Sie waren zu schwach. Alle anderen, die physisch imstande waren, konnten in die Mitte reisen. Etwas, was den jungen Dämonen sonst über einhundert Jahre vorenthalten wurde. Die Frischlinge in der Unterwelt waren größtenteils auf das getrimmt, was ihnen erzählt wurde. ›Luzifer, unser Held, hat es geschafft, wiederaufzuerstehen. Er gibt uns die Freiheit, die wir begehren, er schenkt uns alle Welten. Wer sich gegen ihn stellt, ist ein Verräter.‹ Sowas in der Art vermutlich.

Es gab nur wenige Frischlinge, deren Erinnerung an ihr früheres Leben und die Qualen aus dem Torturengebiet noch so präsent waren, dass sie auf diesen Blödsinn nicht reinfielen. Diese waren wütend auf die Dämonen und ihre Machenschaften. Sie vermissten ihre Lebzeit, doch diese Gefühle würden sich bald legen. Waren sie auch noch so stark, früher oder später fingen sie alle an, zu vergessen. Die älteren Dämonen, welche sich noch immer in der Unterwelt herumtrieben, waren schwieriger zu deuten. Sie versuchten, sich größtenteils herauszuhalten und nicht aufzufallen. Der einfache Grund: Sie alle waren sich der Sinnlosigkeit des Krieges bewusst. Sie mochten ihr Zuhause, die Unterwelt. Alles andere war ihnen zu hell, zu ruhig und zu fremd. Sie gehörten hierher und sahen daher keinen Nutzen in einem Krieg mit den Engeln, um einen Ort einzunehmen, der nicht für sie geschaffen war, den sie nicht besitzen wollten.

So schön es auch war, zu erfahren, dass nicht jeder Dämon hinter Luzifer stand, so war es doch nur eine äußerst geringe Anzahl. Ein Bruchteil. Außenseiter in einer Masse der Gleichheit. Dagegen anzukommen, würde kein Leichtes werden, doch es war nützlich, zu wissen, wo die Dämonen standen und aus welchen Gründen.

»Elaas, habe ich recht?«

Die kräftige, tiefe Stimme war, worauf er gewartet hatte. Er drehte sich wieder zum Gang herum, um den Urdämon ansehen zu können.

»Wir hatten wohl noch nicht das Vergnügen, uns kennenzulernen.« Der Dämon streckte ihm die Hand durch das Gitter, welches zwar stählern aussah, allerdings aus einem Material bestand, welches hundertmal robuster war. Exklusiv aus der Unterwelt.

Elaas ging einen Schritt auf ihn zu und schüttelte entschlossen seine Hand.

»Ich bin Ezmon.«

»Ich weiß. Ich hoffte, dich hier zu finden.«

Sie ließen einander los und traten jeweils einen Schritt zurück. Elaas hatte dieses Risiko auf sich genommen und sich nach allem, was passiert war, wieder in der Unterwelt blicken lassen – und das nur für den Dämon, der nun vor ihm stand. Einen Dämon, von dem er bereits einiges wusste, auch wenn sie einander nie begegnet waren. Tyrons Bezugsperson, als er ein Frischling war, sein engster Vertrauter und die beste Spur, die zu ihm führen könnte.

»Du hast dich absichtlich gefangen nehmen lassen«, stellte Ezmon korrekterweise fest. »Nur um mich zu treffen?«

Elaas nickte.

»Womit glaubst du, kann ein alter Dämon wie ich dir helfen?«

Es mochte stimmen, dass er alt war. Sehr alt sogar. Doch außer den Falten im Gesicht und dem gräulichen Haaransatz sah man ihm optisch nichts an.

Wenn man starb, alterte man zwar, allerdings mit jedem Jahr langsamer. Kinder veränderten sich optisch weiterhin in einem halbwegs normalen Tempo, doch sobald das Erwachsenenalter erreicht wurde, dauerte eine Veränderung viele Jahrzehnte. Ein schleppender, langatmiger Prozess, weshalb die meisten noch genauso aussahen wie an dem Tag, als sie gestorben waren. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Dämonen und Engeln.

»Ich brauche Antworten. Hast du welche für mich?«

Ezmons dunkle Augenbrauen schossen interessiert in die Höhe, doch seine Haltung blieb starr, wie man es von den Urdämonen kannte. »Das kommt ganz auf die Fragen an.«

»Die Dämonen haben damals einen falschen Kristall von uns erhalten. Ich möchte –«

»Du möchtest wissen, woher sie den echten Nubibus haben«, würgte Ezmon seine Worte ab.

Widerwillig nickte Elaas. »Und wie sie die Täuschung erkannt haben.« Eine der vielen Fragen, welche Elaas seit jenem Tag durch den Kopf schwirrten. Der Plan, den Kristall auszutauschen, war einfach gewesen, vielleicht zu einfach, doch damals erschien er effektiv. Keiner hatte etwas geahnt und doch wussten sie es. Wäre er gleich mit den anderen zurückgereist, säße er nun sicher wieder im Torturengebiet – oder schlimmer.

»Genau kann ich es nicht sagen. Es war Morphos, der uns über den Fehler aufgeklärt hat.«

Morphos. Ein alter Dämon. Ein bekannter Dämon. Doch Elaas war ihm nie begegnet und Tyron hatte nie von ihm erzählt. Was hatte er damit zu tun?

»Er erzählte uns von dir, wie du den falschen Stein an den Engel – Loras – gabst und halfst, den echten zu verstecken. Woher er all das wusste, kam nie heraus. Natürlich wurden einige Gerüchte verbreitet ...« Ezmon räusperte sich, trat einen Schritt näher und wurde nochmal leiser. »Aber wenn du mich fragst, dann gibt es keinen Dämon, der das hätte durchschauen können.«

»Du meinst also ...«

»Ein Engel hat euch verraten.«

Elaas blieb der Atem weg. Mit dieser Wendung hatte er nicht gerechnet – falls sie stimmte. Welcher Engel würde die Oberwelt verraten?

»Es muss dieser Botschafterengel ... Maarau gewesen sein. Ihm wurde der echte Kristall gegeben und er wusste um die Geschichte dazu.«

Ezmon sah bedrückt aus, als der Name Maarau fiel. Ob sie sich gekannt hatten?

»Das wird wohl kaum möglich sein.«

Elaas reagierte mit einem fragenden Gesichtsausdruck, den Ezmon zu verstehen wusste.

»Maarau ist tot.«

Ein Knall in Elaas' Kopf. Ein heller Ton hallte in seinem Ohr nach.

»Er war der gefallene Engel, welcher im Ritual geopfert wurde.«

Das erklärte zumindest, weshalb der Fall von Loras und Aritana zeitgleich mit der Ankunft Luzifers ablief. Erleichterung. Ein Teil von Elaas war ständig in Sorge, dass es einen von ihnen getroffen haben könnte. Wenn Maarau aber tot war, wer sonst hätte es gewesen sein können? Von ihrem Plan wussten sonst nur noch Aritana und Loras. Oder? Zu viele Unklarheiten. Elaas musste noch mehr erfahren. »Gab es sonst noch Opfer?«

»Einen Menschen, den Aaronen, Maarau und Norak.«

Norak war ein Dämon gewesen. Einer von denjenigen, die immer Steine auf ihn geworfen hatten, allerdings ein noch recht junger Dämon. Er war nie in die Mitte zurückgekehrt und würde das auch nie mehr können. »Und Tyron?« Mehr brauchte Elaas nicht zu sagen. Ezmon verstand die Frage, so, wie er den Blick fallen ließ.

»Ich weiß nicht, wo er ist.«

»Doch du weißt, wo er sein könnte.« Noch vor wenigen Monaten hätte Elaas sich mit jeder Aussage eines Urdämons zufriedengegeben. Er hätte nichts hinterfragt, nicht weiter nachgebohrt, aus Angst, respektlos zu wirken, doch die Zeiten hatten sich geändert. Er wusste, dass Ezmon unausgesprochene Gedanken hatte, und die würde er verraten.

»Nun, mein erster Gedanke ist, dass er in Bewegung bleibt. Andernfalls könnte er aufgespürt werden. Doch er steckt auch mitten in einer Identitätskrise. Er ist weder Erdling noch Dämon noch Engel. Wo würdest du hingehen, wenn du in einer solchen Krise stecken würdest?«

Elaas überlegte kurz, doch ihm fiel nichts ein. Wo würde er schon hingehen? In einen Wald? In einen Park? In die Berge? Ahnungslos zuckte er mit den Schultern.

»Exakt.«

Verwirrt zog Elaas die Augenbrauen hoch und wartete, bis Ezmon fortfuhr.

»Du weißt es nicht, weil du deine Vergangenheit nicht kennst. Du kennst keinen Ort, der dir etwas bedeutet hat, an welchem du dich wahrhaftig wie du selbst gefühlt hast. Tyron aber kann sich an seine Vergangenheit erinnern. Wo er sich versteckt hält? Ich denke, er ist, wo auch immer seine Erinnerungen ihn hinführen.«

Poetisch, aber wenig hilfreich. Da gab es doch sicher mehrere Orte. So viele Orte – doch Elaas kannte nur einen einzigen. »Der Friedhof!« Dort wurde seine Tochter begraben. Dort hatte er seine Erinnerungen zurückerlangt. Dort hatte er Aritana geküsst.

»Falsch.«

Irritiert riss Elaas seine schwarzen Augen auf.

»Zu eindeutig. Jeder Dämon würde ihn dort zuallererst suchen. Vermutlich bewachen sie diesen Friedhof. Wenn du ihn finden willst, musst du tiefer graben.«

Elaas wollte noch mehr in Erfahrung bringen, doch die Geräusche, die sich näherten, lenkten ihn ab. Es waren die Urdämonen aus der Mitte. Sie kamen zurück.

»Hör zu.« Ezmon riss Elaas aus seinen Gedanken, zurück in das Hier und Jetzt. »Ich kann dich vielleicht befreien, aber dafür brauche ich Hilfe. Weißt du, wo sich Rakaan aufhält?«

»Danke, doch ich komme schon zurecht.« Elaas versuchte möglichst selbstsicher zu klingen, während er bereits die Stimmen der Urdämonen an den Wänden widerhallen hörte. »Du solltest jetzt gehen, bevor sie dich bei mir sehen.«

Ezmon zog die Augenbrauen zusammen und hielt einen Moment inne, bevor er innerhalb von Sekunden verschwand, gerade rechtzeitig, bevor seine Brüder und Schwestern zu Elaas stießen.

Die Dämonenschar blieb vor dem Frischling stehen.

Eine Frau trat weiter vor als alle anderen und sah ihn spielerisch und kalt zugleich an. »Elaas, Elaas. Lässt dich einfach so wieder hier blicken, als wäre nichts gewesen. Was machen wir jetzt bloß mit einem Verräter wie dir?« Yanella war ihr Name. Eine Dämonin mit wild gelockten feuerroten Haaren. Geschätzt wie gefürchtet von jedem unter ihr stehenden Dämon. Selbst Ezmon war, verglichen mit ihr, ein Kleinkind. Sie reckte das Kinn nach oben und strich sich ihr feuerrotes Haar aus dem Gesicht. Dann verschwanden ihre Hände hinter ihrem Rücken.

»Ich habe wenig Ansprüche, doch zu einem Gläschen Wein sag ich nicht nein.« Mittels Humor versuchte Elaas seine Anspannung zu verbergen. Die Dämonen kamen zu früh zurück. Er brauchte mehr Zeit. Nur etwas mehr Zeit und ein Fünkchen Glück vielleicht. Zu viel verlangt?

»Meine Intention war es, dich zu retten. Zurück in das Torturengebiet, bis dir deine Flausen ausgetrieben wurden und du dich erinnerst, wer du wirklich bist und was in dir steckt, sodass du weiterhin ein Teil unserer Gemeinschaft sein kannst.«

Elaas schwieg. Er konnte kaum zuhören, da er mit Sekundenzählen beschäftigt war.

Wieso hängt nirgends eine Uhr?

»Doch nun frage ich mich, ob ich einen Clown unter unseresgleichen gebrauchen kann oder ob du nur Platzverschwendung darstellst.«

Für ihren scharfen Ton war sie berüchtigt. Nun verstand Elaas, wieso. Mit jedem ihrer Worte schaffte sie es, ihm eine Gänsehaut zu bereiten.

»Und bedenke, es ist eine gewisse Kunst, selbst in der Unendlichkeit Platzverschwendung zu sein.«

Zwei Urdämonen, welche Elaas nicht bekannt waren, traten nach vorne. Sie wollten ihn holen, ihn töten. Humor war vielleicht nicht der richtige Weg gewesen.

Zitternd sah Elaas zu, wie einer der beiden Urdämonen anfing, leise Sätze zu murmeln. Einen Spruch, der den Käfig öffnen würde. Elaas musste schwer schlucken.

Dann ein Knall.

Lauter als die Schreie im Torturengebiet. Plötzlich und geheimnisvoll.

Und ein Licht, heller als es in der Oberwelt je sein könnte, strahlte von der Ecke aus zu ihnen rüber. Elaas musste seine Augen verdecken, um nicht zu erblinden, bis es wieder dunkler wurde.

Dann sah er sich um.

Alle Urdämonen, die sich bei ihm befanden, waren wie eingefroren. Bewegungsunfähig und stumm standen sie da. Nicht einmal ihre schwarzen Augen konnten sie durch den Raum schweifen lassen. Doch Elaas wusste, dass sie alles sehen konnten. So sahen sie auch, wie eine dunkle, verhüllte Gestalt mit langsamen Schritten aus dem zuvor so hellen Licht zu ihnen trat.

»Wurde aber auch Zeit, dass du aufkreuzt.«

Kapitel 5

~ Aritana ~

»Sollen wir das wirklich tun? Eine Familie terrorisieren?« Loras’ besorgter Blick wanderte zu Aritana.

»Hast du eine bessere Idee?«

»Nicht wirklich.«

»Dann haben wir keine Wahl.«

Aritana stand mit Loras in dem Zimmer zweier Schwestern. Mit den Füßen auf den Boden tippend. Wartend.

Durch einen glücklichen Zufall hatten sie den heruntergekommenen Laden der Mutter gefunden, in dem ein ganz besonderes Brett ausgestellt war. Es war ein verrückter Einfall, den beide zeitgleich hatten, doch irgendetwas mussten sie probieren. Stunden hatten sie damit verbracht, die Mutter in diesem einsamen Laden zu beobachten, wie sie in einem Schaukelstuhl sitzend, völlig in ihrer Lektüre versank. Der Wind pfiff bedrohlich, peitschte an die Hauswand und ließ die Flammen der weit heruntergebrannten Kerzen, die überall zu finden waren, flackern, bis einige ausgingen. Der ursprüngliche Plan war gewesen, zu warten, bis die Frau ein Verkaufsbuch herausholte, um einsehen zu können, wer sich ein solches Ouija-Brett zugelegt hatte, doch da kam ihre Tochter herein und verlangte von ihrer Mutter, nachhause zu kommen. Solange das kaputte Fenster im Laden nicht repariert werde, sei es dort zu kalt, wie sie erklärte, und mit Kundschaft sei ohnehin nicht zu rechnen. Da hatte das Mädchen nicht unrecht.