Bevor sich unsere Wege trennen - Toshikazu Kawaguchi - E-Book

Bevor sich unsere Wege trennen E-Book

Toshikazu Kawaguchi

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Beschreibung

Die Fortsetzung des Welt-Bestsellers Bevor der Kaffee kalt wird mit vier berührenden Geschichten aus dem magischen Café. Im Stil von Das Café am Rande der Welt erzählt der Dramatiker Toshikazu Kawaguchi in Bevor es für uns zu spät ist vier mitreißende "Kurzgeschichten" von Menschen, die in die Vergangenheit gereist sind. Ihre Motive waren unterschiedlich, doch die gelernte Lektion dieselbe: Egal ob Versöhnung, Vergebung oder neue Hoffnung - das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden. Vier Erzählungen über den Sinn des Lebens und die Aussöhnung mit der Vergangenheit  Wieder wird man in den besonderen Sessel hineinversetzt, der einen in die Vergangenheit reisen lässt. In dem Café Funiculi Funicula, benannt nach einem neapolitanischen Volkslied, wird ein Menschheitstraum wahr: Nicht nur in die Vergangenheit zu reisen, sondern auch die vergangenen Situationen zu verändern, Dinge, die du bereust, wieder gut zu machen. Die magische Fortsetzung des TikTok-Phänomens Before the coffee gets cold Der neue Teil der magischen Cafè-Reihe Bevor der Kaffee kalt wird bringt die Leser*innen zurück nach Japan, in das ungewöhnliche Cafè in Tokio. Wir begegnen dieses Mal vier Menschen und ihren berührenden Schicksalen: - Dem Mann, der noch etwas Wichtiges zu sagen hat. - Der Frau, die sich nicht von ihrem Hund verabschieden konnte. - Der Hochzeitsplanerin, die keine Gelegenheit mehr dazu hatte, auf einen Heiratsantrag zu reagieren. - Der Tochter, die den Kontakt zu ihrem Vater verlor.

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Toshikazu Kawaguchi

Bevor sich unsere Wege trennen

Aus dem Englischen übersetzt von Friedrich Pflüger

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Die Fortsetzung des Weltbestsellers Bevor der Kaffee kalt wird mit vier weiteren Geschichten aus dem magischen Café.

Wiederum wird die Leserin/der Leser in den besonderen Sessel hineinversetzt, der einen in die Vergangenheit reisen lässt. In dem Café »Funiculi Funicula«, benannt nach einem neapolitanischen Volkslied, wird ein Menschheitstraum wahr: Nicht nur in die Vergangenheit zu reisen, sondern auch die vergangene Situationen zu verändern, Dinge, die du bereust, wieder gut zu machen.

Im Stil von Das Café am Rande der Welt erzählt der Dramatiker Toshikazu Kawaguchi auch in Bevor es für uns zu spät ist vier mitreißende Geschichten von Menschen, die in die Vergangenheit gereist sind. Ihre Motive waren unterschiedlich, doch die gelernte Lektion dieselbe: Egal ob Versöhnung, Vergebung oder neue Hoffnung - das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.

 

Der zweite Teil der magischen Cafè-Reihe Bevor der Kaffee kalt wird bringt die Leser*innen zurück nach Japan, in das ungewöhnliche Cafè in Tokio. Wir begegnen dieses Mal vier Menschen und ihren berührenden Schicksalen:

Dem Mann, der noch etwas Wichtiges zu sagen hat.

Der Frau, die sich nicht von ihrem Hund verabschieden konnte.

Der Hochzeitsplanerin, die keine Gelegenheit mehr dazu hatte, auf einen Heiratsantrag zu reagieren.

Der Tochter, die den Kontakt zu ihrem Vater verlor.

 

Von Toshikazu Kawaguchi ist bereits erschienen:

Wenn der Kaffee kalt wird

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Motto

Namenszuordnung

Prolog

Der Ehemann

DasLebewohl

Der Antrag

Die Tochter

Anmerkung des Verfassers

If you could go back, who would you want to meet?

Prolog

Es gibt da eine merkwürdige moderne Legende über einen besonderen Stuhl in einem Café1 einer ganz bestimmten Stadt.

Wenn man auf diesem Platz nimmt, so heißt es, dann versetzt er einen zurück in die gewünschte Zeit.

 

Die Regeln sind allerdings extrem lästig und ein fürchterliches Ärgernis.

Man kann in der Vergangenheit nur jemanden treffen, der das Café schon einmal besucht hat.

Was man tut, während man dort ist, wird die Gegenwart nicht verändern.

Auf dem Stuhl, der einen in die Vergangenheit bringt, sitzt bereits ein Gast. Das bedeutet, man muss warten, bis der Stuhl wieder frei ist.

Wenn man am Ziel angekommen ist, darf man nicht vom Stuhl aufstehen.

Die Reise beginnt mit dem Eingießen des Kaffees und muss zu Ende sein, bevor der Kaffee kalt ist.

Ach, und das ist noch nicht einmal alles an lästigen Regeln.

Dennoch gibt es Menschen, die das Gerücht von diesem Café hören und es aufsuchen.

Das Café heißt Funiculi Funicula.

Dieses Buch erzählt die Geschichte von vier herzerwärmenden Wundern, die sich in diesem ziemlich seltsamen Café ereignet haben.

I

Der Ehemann

Man kann also nichts tun, um die Gegenwart zu verändern?«

Monji Kadokura neigte neugierig seinen Kopf mit dem grau melierten Haar und streifte dabei ein Blatt einer Kirschblüte, das zu Boden flatterte. Unter dem fahlen sepiafarbenen Licht der Schirmlampen – der einzigen Beleuchtung im Café – hielt er das kleine Buch mit seinen Notizen so dicht vor die zusammengekniffenen Augen, dass sein Gesicht fast die Seiten berührte.

»Und was bedeutet das genau?«

»Nun, vielleicht kann ich das so erklären …«

Die Antwort auf Kadokuras Frage kam von Nagare Tokita, einem gewaltigen, fast zwei Meter großen Mann mit langen, schmalen Augen. Er war der Eigentümer des Cafés und trug stets eine weiße Küchenschürze.

»Nehmen wir zum Beispiel diese Registrierkasse. Sie werden in ganz Japan schwerlich eine ältere finden. Man hat mir gesagt, diese seien sehr selten. Sie wiegt übrigens schon leer vierzig Kilogramm, damit sie nicht so leicht gestohlen wird. Sagen wir aber, sie würde eines Tages gestohlen werden.«

Nagare schlug mit der Hand auf die Kasse am Tresen.

»Wenn das geschieht, würde man natürlich gerne in die Vergangenheit reisen, die Kasse irgendwo verstecken oder jemanden als Wache aufstellen, damit nicht jemand ins Café kommt und sie stiehlt, nicht wahr?«

»Sicher, das klingt vernünftig.« Kadokura nickte.

»Aber sehen Sie, das kann nicht geschehen. Sosehr man auch versucht, den Diebstahl der Kasse zu verhindern, würde der Dieb doch ins Café kommen und sie stehlen – und wäre sie noch so gut versteckt.«

»Donnerwetter, das ist wirklich erstaunlich. Aber lässt sich das wissenschaftlich erklären? Mich würde der Kausalzusammenhang sehr interessieren – wenn Sie verstehen, was ich meine. Vielleicht so eine Art Schmetterlingseffekt?« Kadokura blickte aufgeregt zu Nagare auf.

»Schmetterlingseffekt?«

Jetzt war es Nagare, der verwirrt den Kopf zur Seite neigte.

»Eine Theorie, die der Meteorologe Edward Lorenz 1972 in einem Vortrag bei der American Association for the Advancement of Science postulierte. Es gibt ein japanisches Sprichwort, das in etwa dasselbe besagt: Wenn der Wind weht, floriert das Geschäft der Küfer.«

»Oh, äh, okay.«

»Die Vorstellung allerdings, dass sich die Gegenwart nicht ändert – das ist kein Effekt. Eher eine Korrektur, finden Sie nicht? Und wenn ja, dann würde das den Schmetterlingseffekt ausschließen. Das wird immer erstaunlicher«, murmelte er begeistert und kritzelte etwas in sein Notizbuch.

»Also, offen gesagt war die einzige Erklärung, die wir bekommen haben, weil das eben die Regel ist, stimmt’s, Kazu?« Nagare sah Kazu Tokita, die neben ihm stand, erwartungsvoll an.

»Ja, richtig«, antwortete Kazu, ohne sich die Mühe zu machen aufzublicken.

Kazu war Nagares Cousine und Bedienung im Café. Sie trug eine weiße Bluse, eine schwarze Weste und eine Kellnerschürze. Sie war hübsch, mit heller Haut und schmalen mandelförmigen Augen, aber ohne weitere auffällige Merkmale. Blickte man sie an und schloss dann die Augen, dann war es schwierig, ihr Gesicht zu beschreiben. Selbst Kadokura musste Nagares Blick folgen, um sich zu vergewissern, dass eine weitere Person zugegen war. Sie warf nur einen schwachen Schatten und hinterließ keinen bleibenden Eindruck.

Ihr Gesichtsausdruck blieb unbestimmt, während sie ein Glas polierte.

Fumiko Kiyokawa schaltete sich in das Gespräch ein. »Aber Professor Kadokura, wen wollten Sie im Café denn treffen?«

»Bitte lassen Sie den Professor weg, Ms. Kiyokawa. Ich bin aus der Wissenschaft raus.« Er lächelte verlegen und kratzte sich am Kopf.

Fumiko hatte im Café bereits eine Rückkehr in die Vergangenheit erlebt: Sie hatte einen Geliebten getroffen, von dem sie sich getrennt hatte. Jetzt war sie Stammgast und besuchte das Café nach der Arbeit fast täglich.

»Oh, Sie beide kennen sich?«, fragte Nagare.

»Professor Kadokura hielt an der Universität meine Archäologievorlesung. Er ist aber nicht nur Archäologieprofessor. Er hat als Abenteurer die ganze Welt bereist. Deshalb konnte man in seinen Kursen unwahrscheinlich viel erfahren! Ich fand sie äußerst nützlich«, antwortete Fumiko.

»Sie sind möglicherweise die Einzige, die das sagt. Und außerdem muss ich sagen, Sie waren eine ausgezeichnete Studentin, immer die Semesterbeste.«

»Bitte loben Sie mich nicht zu sehr … Ich hatte nur keine Lust, gegen jemanden den Kürzeren zu ziehen.« Fumiko wedelte bescheiden mit der Hand.

Obwohl das der Wahrheit entsprach, hatte sich Fumiko schon während der Highschool sechs Sprachen selbst beigebracht und die Universität als Jahrgangsbeste abgeschlossen. Und obwohl Kadokura nicht mehr unterrichtete, war ihm ihre Klugheit im Gedächtnis geblieben. Dass sie schlicht nicht gerne verlor, war einfach nicht wahr.

»Professor, Sie haben noch nicht geantwortet.«

»Ach so, natürlich, Sie wollen meine Geschichte hören, richtig? Nun ja, also …« Kadokura wandte den Blick von Fumiko, die neben ihm an der Bar saß, und starrte auf seine gefalteten Hände. »Ich möchte meine Frau treffen … Mich einfach noch einmal mit ihr unterhalten«, sagte er leise.

»Mit Ihrer Frau? Sie wollen damit doch nicht sagen, dass sie …« Fumiko brauchte die Frage nicht zu beenden. Ihre Erregung verriet Kadokura, was sie meinte.

»Oh nein, sie ist noch am Leben.«

Fumikos Züge entspannten sich wieder. Sein Gesicht blieb dagegen ernst.

Fumiko und Nagare spürten, dass etwas nicht stimmte, und warteten mit angehaltenem Atem auf seine nächsten Worte.

»Sie lebt, aber ihr Gehirn hat durch einen Unfall Schaden genommen, und sie liegt seit zweieinhalb Jahren im Wachkoma. Solche Patienten leben normalerweise höchstens noch drei bis fünf Jahre. Man hat mir gesagt, dass sie, auch angesichts ihres Alters, bald sterben könnte.«

»Das tut mir leid. Hatten Sie denn gehofft, in der Vergangenheit den Unfall Ihrer Frau zu verhindern? Falls Sie das vorhatten, tut es mir wirklich leid, aber wie bereits gesagt …«

Kadokura schüttelte den Kopf und antwortete: »Nein, das ist mir klar. Auch wenn etwas Wunschdenken dabei ist, zugegeben, aber um bei der Wahrheit zu bleiben …« Er kratzte sich über der Augenbraue. »Sie haben da wirklich mein Interesse geweckt«, meinte er und lachte nervös.

»Wovon sprechen Sie?«, fragte Fumiko verwundert.

»Ich meine die Vorstellung, dass man die Gegenwart nicht verändern kann, obwohl man in die Vergangenheit reist – das ist doch wirklich faszinierend, oder?«

Seine Augen leuchteten wie bei einem Kind, aber dann verfinsterte sich sein Blick wieder. »Das muss jetzt ziemlich unangebracht geklungen haben, wo meine Frau doch im Koma liegt.«

»Oh nein, überhaupt nicht.« Fumiko brachte aber nur ein verlegenes Lächeln zustande. In Wirklichkeit hatte sie tatsächlich gedacht: Wie unangebracht.

»Dieser Persönlichkeitszug hat meiner Frau viel Kummer gemacht. Ich liebe die Archäologie schon seit meiner Jugend und habe mich zeit meines Lebens nur diesem Interesse gewidmet. Ich habe die Welt bereist und war oft monatelang fort. Dabei hat sich meine Frau nie beklagt. Sie hat unseren Haushalt geführt und unsere Kinder großgezogen. Dann haben diese eines nach dem anderen das Nest verlassen, und plötzlich waren es dann nur noch wir zwei. Trotzdem ließ ich meine Frau auch weiterhin allein und reiste um die Welt. Aber als ich eines Tages nach Hause zurückkehrte, erwartete mich meine Frau – im Wachkoma.«

Kadokura zog ein kleines Foto aus seinem Notizbuch. Es zeigte ein junges Paar. Nagare und Fumiko erkannten sofort Kadokura und seine Frau. Als sie länger hinsahen, wurde ihnen klar, dass im Hintergrund eine große Standuhr mit Pendel – genau wie die drei hier im Café – zu sehen war.

»Das Foto von uns beiden wurde hier im Café gemacht, ich denke vor vierundzwanzig, vielleicht fünfundzwanzig Jahren. Von Sofortbildkameras haben Sie bestimmt schon gehört, oder?«

»Sie meinen eine Instax?«, fragte Fumiko, anstatt zu antworten.

»So nennt man sie heutzutage, ja. Diese Kameras, bei denen das Bild sofort erscheint, waren damals sehr in Mode. Die Dame, die damals das Café betrieb, besaß auch eine. Sie machte das Foto von uns beiden, als eine Erinnerung für uns, wie sie meinte.«

»Das war meine Mutter. Mum hatte immer den neuesten angesagten Schnickschnack. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie von einer Erinnerung gesprochen hat, aber ich wette, sie wollte vor allem damit angeben«, meinte Nagare abfällig und lächelte dabei schief.

»Meine Frau sagte, ich solle es immer bei mir tragen. Sie meinte, es wäre so etwas wie ein Schutzamulett. Die Vorstellung, ein Foto könne als Talisman wirken, hat natürlich keine wissenschaftliche Basis«, sagte Kadokura, während er mit dem Foto herumwedelte.

»Wollen Sie an den Tag zurückreisen, an dem das Bild aufgenommen wurde?«

»Nein. Ich bin seit diesem Tag nicht mehr in diesem Café gewesen, aber ich glaube, meine Frau kam ab und zu her, um sich mit unseren Kindern zu treffen. Wenn das möglich ist, würde ich gerne zu einem Zeitpunkt etwa zwei oder drei Jahre vor ihrem verhängnisvollen Unfall zurückkehren.«

»Da dann …«, erwiderte Nagare und blickte kurz hinüber zu der Frau im weißen Kleid mit dem langen schwarzen Haar und der blassen, fast durchscheinend wirkenden Haut, die in der hintersten Ecke des Cafés saß. Dort las sie in aller Stille ein Buch.

»Haben Sie noch andere Fragen?«

»Mal sehen.« Kadokura steckte das Foto wieder in sein Notizbuch und schlug die Seite auf, auf der er zuvor die Regeln notiert hatte. Wieder beugte er sich ganz dicht über die Seite.

»Ich glaube, es hat mit dieser Regel zu tun, dass sich die Gegenwart nicht verändert, über die wir gerade gesprochen haben, aber …«

»Aber was?«

»Wie können die von jemandem in der Zukunft geäußerten Worte bei den besuchten Personen im Gedächtnis bleiben?«

»Hä? Also, das ist, äh …« Nagare verstand nicht ganz, was Kadokura meinte. Er zog die Augenbrauen zusammen und neigte den Kopf zur Seite. »Was meinen Sie damit?«

»Entschuldigung, ich habe das nicht gut erklärt.« Kadokura kratzte sich an der Stirn. »So wie ich es verstehe, gibt es da eine Kraft, die wir hier Regeln nennen, die dafür sorgt, dass sich die Gegenwart nicht ändert. Ich möchte nun gerne wissen, ob sich diese Regel vielleicht nicht nur auf die Gegenwart auswirkt, sondern auch auf die Erinnerung.«

Über Nagares Kopf schwebte immer noch ein großes Fragezeichen.

»In anderen Worten, wenn man den Leuten sagen würde, dass die Kasse gestohlen wird, dann möchte ich wissen, ob ihre Erinnerung dann durch die Regel ausgelöscht oder verändert wird – oder eben nicht.«

»Ah, okay, jetzt verstehe ich«, sagte Nagare und verschränkte die Arme.

»Und? Was würde geschehen?«, schaltete sich Fumiko anstelle von Kadokura ein.

»Nun, lassen Sie mich nachdenken.« Nagare kam nicht gleich auf die Antwort. Das lag daran, dass seine Gedanken wanderten, angefangen mit, darüber habe ich noch nie nachgedacht, und weiter zu: Wichtiger noch, was hat Kadokura vor? Warum beschäftigt ihn das? Soweit er wusste, hatte sich niemand sonst je um so etwas gekümmert.

Fumiko schlug sich auf die Seite von Kadokura und starrte Nagare so eindringlich ins Gesicht, als beschäftige sie ebenfalls diese Frage.

Fumiko war einmal in die Vergangenheit zurückgekehrt, um den Freund zu treffen, von dem sie sich in diesem Café getrennt hatte. Nun galt in diesem Café auch die Regel, dass Menschen, die einmal in die Vergangenheit gereist waren, dies nicht noch einmal tun konnten. Aber trotzdem war Fumiko hier und setzte Nagare zu, als wäre sie Kadokuras Sidekick.

Zwischen seinen Augenbrauen tauchten neue Falten auf, und Nagare wischte sich Schweiß von der Stirn und zog seine langen, schmalen Augen noch mehr zusammen. »Hm, da muss ich nachdenken«, stöhnte er.

»Erinnerungen sind von der Regel nicht betroffen.«

Diese entschiedene Klarstellung äußerte aber nicht Nagare, sondern Kazu, die neben ihm stand. Sie hatte die Gläser inzwischen alle abgewischt und faltete nun Papierservietten. Und fuhr ohne Pause und mit durchdringend klarer Stimme fort.

»Es gibt Fälle, in denen die Menschen die Wahrheit kennen, sich bei der Unterhaltung mit anderen allerdings verhalten, als wüssten sie sie nicht. Sie erfahren möglicherweise, dass jemand die Kasse stehlen wird. Sie wissen vielleicht, dass jemand sie stehlen wird, aber trotzdem werden sie etwas anderes vorgeben, wenn sie diesen Tag angehen. Auf diese Weise greift die Regel ein. Sie wirkt durch Vorspiegelung. Trotzdem verändert sich nicht die Erinnerung der Menschen. Es gibt keinen Fall, in dem eine Person das Erlebte vergisst. Ganz im Gegenteil: Weiß eine Person, dass jemand die Kasse stehlen wird, dann sorgt sich diese Person alle Tage, bis der Diebstahl stattfindet. Wie die Person allerdings diese Information wahrnimmt und damit lebt, liegt an ihr. Die Erinnerung und die Gefühle, die sich daraus ableiten, gehören einzig dieser Person, denn sie liegen außerhalb des Wirkungsbereichs der Regel.«

Als Kadokura Kazus Erläuterung vernahm, hellte sich seine Miene merklich auf. Er erhob sich.

»Wenn das der Fall ist, dann bin ich wirklich froh. Es nimmt mir eine große Sorge. Nun möchte ich gerne eine Bitte äußern. Könnte ich zurückkehren in die Zeit bevor meine Frau ins Koma fiel?« Dann machte er eine tiefe Verbeugung.

»Wie Sie wünschen«, antwortete Kazu kühl.

Fumiko blickte Kazu an und klatschte laut Applaus, während Nagare fassungslos dreinblickte. Dies war keine neue Regel, sondern eine Tatsache. Sie verbarg sich im Schatten der zweiten Regel und war erst durch Kadokuras Nachfrage ans Licht gekommen. Wenn man in die Vergangenheit zurückkehrt, wird sich die Gegenwart nicht ändern, ganz egal, was man zu diesem Zweck unternimmt. Es gab allerdings eine Einschränkung: Die Regel verfügte über alle nötigen Mittel, um die Veränderung der Gegenwart zu verhindern, aber in die Erinnerung der Menschen griff sie nicht ein.

Anstatt sich auf die Regel zu konzentrieren, derzufolge sich die Gegenwart nicht ändert, war Kadokura an ihrer Wirkung auf das Gedächtnis interessiert. Das könnte eine wichtige Überlegung sein.

Auf diesen Einblick in die bedeutsamen Auswirkungen der Regel hin zog Nagare seine langen, schmalen Augen noch dichter zusammen und blickte zur Decke hinauf.

»Was aber die anderen Regeln betrifft …«, sagte Kazu und setzte ihre Erklärung fort. Aber die anderen Regeln schienen Kadokura längst nicht so wichtig zu sein. Was die Einschränkung betraf, dass man sich in der Vergangenheit nicht vom Stuhl erheben durfte und dass die Zeit begrenzt war, äußerte er nur: »Selbstverständlich.«

Als Kazu allerdings auf die Frau im weißen Kleid zu sprechen kam und erwähnte, sie sei ein Geist, und man würde verflucht, wenn man versuchte, sie mit Gewalt zu bewegen, da verschlang er diese Information mit Augen, die vor kindlicher Begeisterung nur so glühten.

»Na, ich glaube trotzdem nicht, dass sie ein Geist ist. Allerdings muss ich zugeben, dass mich Flüche faszinieren. In der Archäologie werden eine Menge unheimlicher Geschichten verbreitet, als handele es sich um Tatsachen. Und ich habe viele Bücher über das Übernatürliche gelesen. Was all diesen abging, war wissenschaftliche Stringenz. Mir ist auch noch nie jemand begegnet, der verflucht war. Eigentlich würde ich ganz gern einmal erleben, wie sich so etwas anfühlt.«

»Was?«, kreischte Fumiko. »Sind Sie bei Sinnen?«

»Ja natürlich. Ich würde das wirklich gerne ausprobieren. Liebe Ms. Kiyokawa, hatten Sie nicht vorher erwähnt, Sie seien von ihr verflucht worden? Nun bin ich wirklich neugierig – wie hat sich das angefühlt? Vielleicht würde ich ja ebenfalls verflucht werden, wenn ich versuchte, sie mit Gewalt zu bewegen?«

Nagare und Fumiko, die beide nicht wussten, was sie von Kadokuras Benehmen halten sollten, blickten sich an und zuckten mit den Schultern. Gleichzeitig dachte Nagare: Er erinnert mich an Mama.

Nagares Mutter war ebenfalls ein freier, von unstillbarer Wanderlust heimgesuchter Geist. Es gab sogar Zeiten, da nannte sie sich selbst eine Abenteurerin. Sie verfolgte ihre Interessen mit großem Heißhunger und hatte daher für ihre Familie nur wenig übrig. Sie verspürte keinerlei Bindung. Das hatte zur Folge gehabt, dass sie und sein Vater sich schon vor Nagares Geburt hatten scheiden lassen.

Kaum war er geboren, überließ sie ihn ihrer jüngeren Schwester, Kazus Mutter, zur Pflege und verschwand nach Übersee. Es hieß, sie sei in Hokkaido, aber da sie sich nach Lust und Laune treiben ließ, ohne je Kontaktadressen zu hinterlassen, war auch das nicht sicher.

Mrs. Kadokura musste zweifellos das Gleiche ertragen.

Wenn er sich Kadokura so ansah, der ebenso überspannt wie seine Mutter wirkte, dann taten ihm dessen Kinder unwillkürlich ein wenig leid.

»Na ja, Sie könnten sich das Erlebnis wahrscheinlich schon verschaffen, verflucht zu werden, aber ich kann nur davon abraten«, stellte Nagare kühl fest.

Kadokura blieb unbeirrt. »Trotzdem, wenn es möglich wäre …«, meinte er beschwörend und mit auf unerträgliche Weise entschlossenem Blick.

Oh nein. Er lässt sich nicht davon abbringen. Ganz egal was ich sage, er wird sich nicht umstimmen lassen.

Nagare seufzte in Gedanken. »Aber nur dieses eine Mal, okay?«

»Vielen Dank!«

So bizarr ihm die Situation auch vorkam – Nagare führte Kadokura widerstrebend nach hinten zu der Frau im weißen Kleid. Kadokura zog nervös ein Taschentuch aus der Tasche. Er stand nun neben der Frau und wischte sich den Schweiß von Stirn und Händen.

»Entschuldigung, dürfte ich bitte?«

Kadokura blickte der Frau im weißen Kleid ins Gesicht. Sie las ungerührt weiter in ihrem Buch, ohne in irgendeiner Weise zu reagieren. Heute las sie einen Roman mit dem Titel Der Hund, der eine Katze sein wollte, und die Katze, die ein Hund sein wollte.

»Ach? Ist sie wirklich …«, murmelte Kadokura und starrte der Frau ins Gesicht.

»Ist etwas?«

»Äh, nein. Alles in Ordnung. Dann ist es also okay, wenn ich sie zum Aufstehen nötige?«

»Ja.«

»Also gut, dann werde ich sie mal verscheuchen.«

Kadokura holte tief Luft und trat zu der Frau im weißen Kleid.

»Entschuldigen Sie, gnädige Frau. Könnten Sie bitte den Stuhl frei machen?«, sagte er und schüttelte sie an der Schulter.

Als die Frau wieder nicht reagierte, blickte er sich Hilfe suchend nach Nagare um.

»Versuchen Sie’s etwas energischer.«

»Äh, okay.«

In einem plötzlichen Ausbruch von Entschlossenheit packte Kadokura die Frau an der Schulter, zog kräftig daran und sagte: »Entschuldigung! Bitte stehen Sie auf.«

In diesem Augenblick riss die Frau im weißen Kleid die Augen auf und sah ihn wütend an.

»Ugh.«

Sofort gaben Kadokuras Knie nach. Die Lampen im Café flackerten wie Kerzen, und aus dem Nichts war im ganzen Café eine gespenstische Stimme wie die eines klagenden Geistes zu hören. Das blasse Gesicht der Frau hatte sich verändert. Sie beugte sich über den Tisch und funkelte Kadokura mit entsetzlichen runden Augen an.

»Aha, so ist also ein Fluch! Mein Körper ist furchtbar schwer und … argh … schmerzen tut er auch. Es kommt mir vor, als würde mir jemand die Knochen verdrehen. So fühlt sich also ein Fluch an! Ich erlebe das zum ersten Mal! Ich fühle mich so schwer, dass ich mich nicht mehr wie gewünscht bewegen kann. Es ist, als läge ich unter einer Decke aus Blei. Ooh, dieses Gewicht!«

Kadokura kroch mit einem freudigen Gesichtsausdruck über den Boden.

»Ist das genug?«, fragte Nagare.

Neben ihm stand Kazu mit einem silbernen Kessel in der Hand.

Kadokura keuchte: »Nein, noch ein bisschen, bitte. Ich erlebe gerade, wie es ist, verflucht zu sein. So eine wertvolle Erfahrung erlebt man ja nicht alle Tage …«

»Wenn Sie das sagen.« Nagare seufzte tief.

Von ihrem Platz an der Theke blickte Fumiko auf den herumkriechenden Kadokura hinunter und kicherte.

»Uh!«

Es dauerte nicht lange, da lag Kadokura mit ausgestreckten Armen und Beinen flach am Boden. Seltsam schabende Geräusche aus seiner Kehle ließen darauf schließen, dass ihm das Atmen Schwierigkeiten machte. Offenbar war er nicht mehr in der Lage zu sprechen.

»Kazu«, sagte Nagare warnend; er hielt es für gefährlich, noch länger zu warten.

Kazu trat an die Frau mit dem weißen Kleid heran, die weiter das Gesicht verzog und Kadokura mit wild zerzaustem Haar anstarrte. »Wie wär’s mit einer frischen Tasse Kaffee«, bot sie leise an.

Die Frau im weißen Kleid, die eben noch im Begriff schien, über den Tisch zu klettern und Kadokura anzugreifen, antwortete höflich: »Ja bitte!«, und nahm wieder auf ihrem Stuhl Platz.

Gleichzeitig beruhigte sich die Beleuchtung im Café, und das geisterhafte Stöhnen verstummte.

»Hui.«

Jetzt wo der Fluch aufgehoben war, konnte Kadokura wieder atmen. Er keuchte heftig, hob aber den Kopf und strahlte mit kindlicher Begeisterung.

Die Frau im weißen Kleid nippte an ihrem Kaffee und las schweigend in ihrem Buch.

»Soso. Das ist also ein Fluch. Wirklich interessant.«

Kadokura rappelte sich flink auf und nahm wieder an der Theke Platz. Er schlug sogleich sein Notizbuch auf und kritzelte mit erstaunlicher Geschwindigkeit etwas hinein.

Nagare war sprachlos, während Fumiko belustigt kicherte wie eine Unbeteiligte.

Nur Kazu blieb völlig gelassen, als wäre nichts geschehen.

Kadokura war noch in seine Notizen vertieft, als Fumiko plötzlich ausrief: »Oh, Nagare, das hatte ich ja ganz vergessen, wie geht’s der kleinen Miki? Ich wollte doch einen Blick auf sie werfen.«

Miki war die neugeborene Tochter von Nagare und seiner Frau Kei Tokita.

»Was redest du da? Du hast sie doch erst gestern gesehen.«

»Ja, ich weiß, aber …«

»Wie oft musst du sie denn noch anschauen?«

»Spielt das eine Rolle? Sie ist so süß! Ich könnte sie den ganzen Tag ansehen, ohne dass mir langweilig wird.«

»Das ist aber schon ein bisschen seltsam.«

Trotz seiner Worte verriet das Strahlen seiner langen, mandelförmigen Augen, dass er sich freute.

»Schläft sie gerade?«

»Im Hinterzimmer.«

»Kann ich sie sehen?«

»Natürlich.«

»Vielen Dank.«