Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
"Das eine Auge des Fotografen schaut weit geöffnet durch den Sucher, das andere, geschlossene, blickt in die eigene Seele." (Henri Cartier-Bresson)
In diesem Buch behandelt der Autor ("Zen oder der Weg des Fotografen") und Fotograf David Ulrich in 55 inspirierenden Essays Themen rund um die Fotografie - darunter Achtsamkeit, persönliches Wachstum, Kreativität und die Entwicklung eines persönlichen und sozialen Bewusstseins.
Ganz gleich, ob Sie besser fotografieren, die Welt um sich herum besser "sehen", Ihr volles Potenzial ausschöpfen oder Ihren persönlichen Ausdruck verfeinern möchten - dieses Buch wird Ihnen ein wertvoller Wegweiser voller Inspiration sein.
Sie werden lernen
Sie können dieses reich bebilderte Buch kapitelweise lesen oder sich an den Stellen, an denen es Sie anspricht, nach Ihren eigenen Interessen vertiefen. Wie auch immer Sie das Buch lesen, durch die vielen Übungen und Einblicke in die Arbeitsweise bekannter Fotografinnen und Fotografen werden Sie lernen, Ihre Auseinandersetzung mit der Welt zu vertiefen und durch den Akt des Fotografierens in sich selbst eine reiche Quelle der Kreativität zu entdecken.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 299
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
David Ulrich ist aktiver Fotograf und Autor, dessen Arbeiten in zahlreichen Büchern und Zeitschriften veröffentlicht wurden, darunter Aperture, Parabola, Mānoa, und in den Veröffentlichungen des Sierra Club. Ulrichs Fotografien wurden international in über 75 Einzel- und Gruppenausstellungen in Museen, Galerien und Universitäten gezeigt und sind in vielen öffentlichen Einrichtungen und privaten Sammlungen zu sehen. Derzeit ist er Ko-Direktor der Pacific New Media Foundation in Honolulu, Hawaii, und Fakultätsmitglied an der Chaminade University. Zuvor lehrte er an der University of Hawai‘i Mānoa und war Professor und Vorsitzender des Fachbereichs Kunst am Cornish College of the Arts in Seattle sowie außerordentlicher Professor und Vorsitzender des Fachbereichs Fotografie am The Art Institute of Boston (jetzt Lesley University College of Art and Design). Er ist beratender Redakteur der Zeitschrift Parabola und schreibt regelmäßig Beiträge.
David Ulrich ist der Autor des Bestsellers Zen – der Weg des Fotografen (dpunkt.verlag 2018). Er ist auch der Autor von The Widening Stream: the Seven Stages of Creativity und Co-Autor von Through Our Eyes: A Photographic View of Hong Kong by Its Youth. Sein jüngster Fotoband, Oceano: An Elegy for the Earth, wurde 2022 von George F. Thompson Publishing in Zusammenarbeit mit dem Center for the Study of Place veröffentlicht. Besuchen Sie seine Website unter www.creativeguide.com.
Copyright und Urheberrechte:
Die durch die dpunkt.verlag GmbH vertriebenen digitalen Inhalte sind urheberrechtlich geschützt. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten. Es werden keine Urheber-, Nutzungs- und sonstigen Schutzrechte an den Inhalten auf den Nutzer übertragen. Der Nutzer ist nur berechtigt, den abgerufenen Inhalt zu eigenen Zwecken zu nutzen. Er ist nicht berechtigt, den Inhalt im Internet, in Intranets, in Extranets oder sonst wie Dritten zur Verwertung zur Verfügung zu stellen. Eine öffentliche Wiedergabe oder sonstige Weiterveröffentlichung und eine gewerbliche Vervielfältigung der Inhalte wird ausdrücklich ausgeschlossen. Der Nutzer darf Urheberrechtsvermerke, Markenzeichen und andere Rechtsvorbehalte im abgerufenen Inhalt nicht entfernen.
David Ulrich
Ein Wegweiser zu Achtsamkeit, Kreativität und persönlichem Ausdruck
David Ulrich
Übersetzung & Lektorat: Boris Karnikowski
Lektoratsassistenz: Anja Ehrlich
Copy-Editing: Friederike Daenecke, Zülpich
Satz: inpunkt[w]o; Wilnsdorf, www.inpunktwo.de
Herstellung: Stefanie Weidner
Umschlaggestaltung: Eva Hepper, Silke Braun
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN:
978-3-86490-974-0
978-3-98890-068-5
ePub
978-3-98890-069-2
mobi
978-3-98890-070-8
1. Auflage 2023
Translation Copyright für die deutschsprachige Ausgabe © 2023 dpunkt.verlag GmbH
Wieblinger Weg 17
69123 Heidelberg
Authorized translation of the English The Mindful Photographer © 2023 by David Ulrich, ISBN 9781681988412. This translation is published and sold by permission of Rocky Nook, Inc., the owner of all rights to publish and sell the same.
Hinweis:
Dieses Buch wurde mit mineralölfreien Farben auf FSC®-zertifiziertem Papier aus nachhaltiger Waldwirtschaft gedruckt. Der Umwelt zuliebe verzichten wir zusätzlich auf die Einschweißfolie. Hergestellt in Deutschland.
Schreiben Sie uns:
Falls Sie Anregungen, Wünsche und Kommentare haben, lassen Sie es uns wissen: [email protected].
Die vorliegende Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung der Texte und Abbildungen, auch auszugsweise, ist ohne die schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und daher strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.
Es wird darauf hingewiesen, dass die im Buch verwendeten Soft- und Hardware-Bezeichnungen sowie Markennamen und Produktbezeichnungen der jeweiligen Firmen im Allgemeinen warenzeichen-, marken- oder patentrechtlichem Schutz unterliegen.
Alle Angaben und Programme in diesem Buch wurden mit größter Sorgfalt kontrolliert. Weder Autor noch Verlag noch Übersetzer können jedoch für Schäden haftbar gemacht werden, die in Zusammenhang mit der Verwendung dieses Buches stehen.
5 4 3 2 1 0
Einführung
1Suchen Sie Resonanz
2Arbeiten mit der Kamera
3Meiden Sie das Malerische
Ehrliche Bilder
Bilder, die die Stigmatisierung beenden
Bilder mit einem Zweck
4Bilder handeln nicht von Bildern
5Visuelles Lernen
6Zum ersten Mal sehen – das Anfängerauge
7Die Kamera in Ihrer Hand
8Mit dem Körper sehen
9Das sind nur die Hormone
10Aufmerksamkeit und Ablenkung
11Die Pommes bleiben!
12Gut werden, ganz werden
13Publikum
14Im Fluss der Zeit
15Fang die Welle, nicht das Plätschern
16Von Zeit und Licht
Licht der Emergenz
Liebendes Licht
Das Licht der Erleuchtung
Licht, das tötet
Licht, das regeneriert
Licht von innen
Transzendentes Licht
17Im Raum
18Finden Sie Ihr Mojo
19Fluss des Bewusstseins, Strom der Bilder
20Warum Selfies?
21Wann Sie die Kamera zur Seite legen sollten
22Der achtsame Blick
23Kreative Zeit
24Die Dunkelheit anerkennen
25Die Kraft der Metapher
26Das innere Terrain kartieren
27Was hilft?
28Analysieren Sie Ihre Bilder
29Sichten, bearbeiten und verfeinern
30Sequenzieren
31Experimentieren Sie
32Werden Sie die Kamera
33Musik der Sphären
34Die Kunst der Innensicht
3550:50
36Kreativer Geist und Nicht-Wissen
37Vertrauen Sie auf Ihren Prozess
38Digital leben
39Stehlen wie ein Künstler
40»Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lässt«
41Seien Sie sparsam mit Ironie
42Umarmen Sie das Paradoxe
43Wissen, wann man zärtlich ist, wann man knurrt, wann man schreit und wann man flüstert
44»Schärfe ist ein bürgerliches Konzept«
45Lernen Sie, die Fragen zu lieben
46Die Weisheit des Zufalls
47Hellwach in der Welt
48Das grausame Strahlen dessen, was ist
49Hoffnung und Verzweiflung
50Gefährten auf dem Weg
51Kohärenz und Präsenz
52Ganzheitlichkeit und Ordnung
53Kreative Intensität
54Die Flut der Bilder
55Die Macht der Kunst
Danksagungen
Ich habe mich schon als Kind in die Fotografie verliebt. Zu Weihnachten bekam ich eine Kodak Brownie Starmatic, und von da an entwickelte ich eine Faszination für alles Sichtbare. Das Sehen zu lernen wurde erst zu meiner Leidenschaft, dann zu meiner Lebensaufgabe, und ich habe es nie bereut.
Für mich ist die Fotografie vieles: ein Mittel, um intensiver mit der Welt zu interagieren, und ein Weg, auf dem ich wachse und mich verändere. Sie fordert mich heraus, nach mehr Ganzheit und Achtsamkeit zu streben; sie ist ein Katalysator für meinen kreativen Ausdruck; sie verhilft mir zu mehr Einsicht und fördert mein Verständnis. Fotografie kann eine innere Praxis sein, die es einem ermöglicht, die Welt um sich herum umfassender wahrzunehmen und auf dieser Grundlage Fragen, Beobachtungen und Entdeckungen mit anderen zu teilen. Fotografie ist ein Weg des Lichts und eine Art, zu leben.
Was könnte schöner sein als das Medium Licht? Und was könnte verführerischer und überzeugender sein als dieser Apparat in unseren Händen, der eine Metapher für unser eigenes Gehirn und Nervensystem ist und es erweitert? Fügen wir unsere Augen, unseren Verstand und unser Herz hinzu, und wir erhalten eine mächtige Mischung namens »Fotografie«. Kein Wunder, dass sie so beliebt ist.
Fast jeder hat eine Kamera und macht Fotos – viele Fotos. Und viele Menschen nutzen häufig – oder immer – visuelle Kommunikation: in sozialen Medien, auf Websites, in gedruckter Form und in persönlichen Mitteilungen. Jetzt, da die breite Öffentlichkeit die Fotografie für sich entdeckt hat und Smartphones vor allem wegen ihrer immer leistungsfähigeren Kameras beworben und verkauft werden, stellt sich die Frage, wo und wie man lernen kann, gute Fotos zu machen und effektiv mit Bildern zu kommunizieren. Wie kann man ganz praktisch lernen, welches kommunikative Potenzial in der Fotografie steckt, und wie kann man sein eigenes künstlerisches Potenzial erkunden?
Als Fotodozent muss ich sagen: Das Geschäft boomt. Ich unterrichte an mehr Orten als je zuvor: an Universitäten, ich gebe Workshops in der Erwachsenenbildung, in museumseigenen Schulen, ich arbeite mit Kindern, ich gebe Kurse offline und online. Es ist nicht leicht, mit der Nachfrage Schritt zu halten. Aber wie heißt es so schön: Als Lehrer lernt man oft am meisten. Durch meine Lehrtätigkeit habe ich viel über Fotografie, Kultur und Menschen gelernt – mehr, als ich mir je hätte erhoffen können. Ich fühle mich gesegnet und privilegiert.
Schreiben hilft mir, meine Erkenntnisse und Einsichten zu ordnen und auszudrücken. Das ist auch meine persönliche Motivation für dieses Buch. Mein vorheriges Buch, Zen – der Weg des Fotografen (das ebenfalls im dpunkt.verlag erschienen ist), hilft Ihnen in sechs Lektionen, die Fotografie für Ihren kreativen Ausdruck, Ihr inneres Wachstum und das Erwachen Ihrer natürlichen Weisheit zu nutzen. Beim Schreiben empfand ich es als Herausforderung, die Tiefe und Breite meiner Werkzeuge und Beobachtungen in die Struktur von sechs Lektionen zu bringen. Ich spürte, dass das nächste Buchprojekt sich bereits am Horizont abzeichnete.
Das vorliegende Buch vertieft die Inhalte von Zen – der Weg des Fotografen und bietet einen tieferen Einblick in mein hart erarbeitetes Wissen und meine Arbeitsmethoden, die ich auf die eine oder andere Weise an meine Studierenden weitergebe.
Ende der 1960er-Jahre wurde einer meiner wichtigsten Lehrer, der Fotograf und MIT-Professor Minor White, für ein akademisches Experiment engagiert. Man wollte herausfinden, ob die Beschäftigung mit Kunst und Fotografie die typischen Nutzer der linken Gehirnhälfte – Wissenschaftler, Ingenieure und andere – zu besseren Arbeitern, Denkern und Bürgern machen würde. Das Experiment war ein voller Erfolg, muss aber für unsere Zeit neu aufgelegt werden, um in diesen unruhigen, wechselhaften Zeiten so viele Menschen wie möglich zu erreichen.
Zu meinen Kursen kommen Menschen aus allen sozialen Schichten, unterschiedlichen Alters, mit verschiedenen kulturellen Hintergründen, mit den unterschiedlichsten Interessen und Berufen. Viele haben eine Leidenschaft für die Fotografie, aber die meisten haben kein Interesse daran, professionell zu fotografieren. Was sie aber wollen, ist, ihre Kreativität freizusetzen. Sie alle haben eine Kamera: Manche besitzen hochwertige Spiegelreflexkameras, andere benutzen ihre Handykameras. Allen gemeinsam ist, dass sie auf der Suche nach etwas sind, das über das bloße Fotografieren »besserer« Bilder hinausgeht.
Am ersten Tag erklärt jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin, warum er bzw. sie an dem Kurs teilnimmt. Das ist für mich immer sehr berührend. Manche erkennen, dass sie die Freude, die Erfüllung und das Gefühl von Freiheit in der aktiven Auseinandersetzung mit ihrer Kreativität verloren haben oder dass diese in ihrem hektischen Leben und angesichts ihrer vielfältigen Verpflichtungen versiegt ist. Andere haben das Gefühl, dass etwas in ihrem Leben fehlt: ein Gefühl des Staunens und des achtsamen Respekts für die Welt um sie herum. Sie sind abgestumpft und zynisch geworden. Wieder andere fühlen sich innerlich zerbrochen und hoffen, dass sie durch den Kontakt mit den kreativen Künsten wieder bewusster und ganz werden.
Selbsterkenntnis ist ein oft genanntes Ziel, ebenso wie eine tiefere Auseinandersetzung mit der Welt durch »responsives« Sehen. Das Besondere an der Fotografie ist, dass sie gleichzeitig den Blick nach innen und den Blick nach außen fordert. Indem sie auf das Sehen und das Im-Augenblick-Sein vertraut, ist die Fotografie eine starke Metapher dafür, wie wir unser Leben leben können. Indem sie von uns eine kreative Antwort auf den vor uns liegenden Augenblick verlangt, bietet sie uns zugleich einen Weg, unser Leben in Fülle, Vernunft, Güte und Verantwortung zu führen.
Dieses Buch ist eine Meditation über die vielen Vorteile, die eine aktive Beschäftigung mit der Fotografie mit sich bringt. Es besteht aus 55 kurzen Essays, sodass Sie an jeder beliebigen Stelle in das Buch eintauchen und das lesen können, was Ihr Interesse weckt oder Ihnen gefällt. Oder Sie lesen es einfach von vorn nach hinten. Sie werden feststellen, dass die Essays einer inhärenten Struktur folgen, vom Leichten zum Schweren, vom Selbst zum Anderen, vom Blick nach innen zum Engagement mit der Außenwelt. Jeder Essay ist in sich abgeschlossen, steht aber in Beziehung zu den anderen Texten des Buches und baut auf ihnen auf, während meine Gedanken und unser Dialog sich vertiefen. Viele der Texte enthalten Übungen und Arbeitsmethoden, die Ihnen beim Fotografieren und Ausleben Ihrer Kreativität helfen sollen.
Jedem Essay ist ein Bild beigefügt. Manchmal ist das Bild ein wörtlicher Ausdruck des Inhalts, manchmal ist es eine Metapher oder eine Verstärkung eines Gedankens, der mit der linearen Rationalität von Worten nicht gut ausgedrückt werden kann. Die Bildsprache bietet oft mehr Nuancen, mehr Präzision und kann Teile des Gehirns, der Gefühle und des Körpers auf eine Weise stimulieren, wie es Worte nicht können.
Ich bin der festen Überzeugung, dass jede Kunstform, ja, jede Tätigkeit, wenn sie mit Sorgfalt und Achtsamkeit ausgeübt wird, zu einer inneren Praxis werden und so zu einem tieferen Bewusstsein und einem erfüllten Dasein führen kann. Die gegensätzlichen Fließrichtungen der fotografischen Wahrnehmung, bei der das eine Auge nach innen und das andere nach außen schaut, sind eine ideale Grundlage, um die Auseinandersetzung mit der Welt und den Mitmenschen zu vertiefen, die Selbstwahrnehmung zu verbessern und eine eigene, unverwechselbare Ausdrucksweise zu finden.
Ich möchte Sie einladen, das Fotografieren als eine Form des Wissenserwerbs zu betrachten. Indem Sie durch den Sucher blicken, lernen Sie Ihre eigene Sichtweise, Ihre eigene Stimme kennen. Indem Sie sich mit Ihrem Motiv beschäftigen, lernen Sie, in das Herz einer Szene, einer Person, eines Ereignisses oder eines Zustands der Welt einzutauchen. Die Aufmerksamkeit, die Sie Ihrem Thema widmen, hat Macht und Kraft und kann als Werkzeug oder Waffe im Dienste anderer eingesetzt werden. Sie können sie zur Versöhnung oder zum Protest einsetzen, um der Empörung, die Sie angesichts bestimmter Aspekte Ihres Motivs empfinden, Raum zu geben.
Ich möchte Sie ermutigen, ein visuelles Tagebuch zu führen und jeden Tag oder fast jeden Tag zu fotografieren. Fotografieren Sie das, was Ihr Herz und Ihren Geist berührt, oder die Eindrücke, die tief in Ihrem Körper eine Reaktion hervorrufen. Bleiben Sie am Ball. Finden Sie Ihre Stimme, Ihre Vision. Die Motive und Fotos, die in Ihnen eine tiefe Resonanz auslösen, sind Ihre eigenen, einzigartigen Spiegelungen Ihres Wesens. Der Fotograf Frederick Sommer sagte: »Wir würden nie etwas bemerken, wenn wir nicht ein großes Stück davon in uns trügen.«
Spüren Sie Ihre innersten Gedanken auf und halten Sie an ihnen fest – in ihnen liegt Ihre ganz individuelle Identität. Und finden Sie die Knotenpunkte des Lebens, an denen sich die verschiedenen Stränge unserer menschlichen Existenz mit den sozialen, politischen und ökologischen Kräften überschneiden, mit denen wir uns bei dem Versuch konfrontiert sehen, auf diesem doch recht kleinen Planeten zusammenzuleben.
Betrachten Sie das Fotografieren als eine innere Praxis. Natalie Goldberg spricht in ihrem ausgezeichneten Buch über das Schreiben, Writing Down the Bones (das die Inspiration für dieses Buch war, deutsche Übersetzung: Schreiben in Cafés), von einer »Praxis des Schreibens«, bei der wir uns mehr öffnen und unserer eigenen Stimme und unserem Schaffensprozess vertrauen müssen. Sie erzählt von ihrem Zen-Studium und der Sitzmeditation mit Dainin Katagiri Roshi in Minneapolis, der einmal zu ihr sagte: »Warum machen Sie das Schreiben nicht zu Ihrer Praxis? Wenn Sie tief genug in das Schreiben eintauchen, wird es Sie überallhin führen.«
Was ich mit diesem Buch vorschlage, ist eine Form, mit der Kamera zu arbeiten, bei der man lernt, der eigenen Erfahrung und der Wahrhaftigkeit der eigenen Wahrnehmung zu vertrauen. Ich möchte, dass Sie sich bemühen, Ihr Bewusstsein zu erweitern, indem Sie dieses Buch aktiv lesen – und dabei alles im Laufe Ihres eigenen Lernprozesses überprüfen. Experimentieren Sie; versuchen Sie zu untersuchen, zu erforschen und zu testen, was Sehen bewirken kann. Mit der Kamera zu arbeiten ist ein Weg, durch direkte Erfahrung etwas über uns selbst und die Welt zu lernen. Es ist ein Weg, Ihre kreativen Fähigkeiten zu entwickeln und Ihre Aufmerksamkeit zu schulen.
Deshalb verwende ich das Wort »bewusster« im Titel dieses Buches, im Sinne von »sich einer Sache bewusst sein« und »sein Bewusstsein auf den gegenwärtigen Augenblick richten«. Die Welt braucht unsere Aufmerksamkeit, jetzt mehr denn je. Unsere Mitmenschen brauchen unsere aufrichtige Fürsorge und Einsicht. Und wir selbst brauchen unseren tiefen Blick nach innen – einen Blick, der sieht, der akzeptieren kann und der letztlich zur Heilung beitragen und uns zur Ganzheit führen kann. Fotografie und Kreativität können dabei eine zentrale Rolle spielen.
Für die Leserinnen und Leser, die mein Buch Zen – der Weg des Fotografen noch nicht gelesen haben, oder für diejenigen, die eine Zusammenfassung der Erkenntnisse dieses Buches wünschen, wiederhole ich nun die sieben Prinzipien des Arbeitens mit der Kamera, die ich in meinen Kursen an meine Studentinnen und Studenten weitergebe. Diese Prinzipien sind ein Destillat aus 40 Jahren Lehrtätigkeit und haben sich im Laufe der Zeit bewährt. Sie beziehen sich auf das Erlernen des Mediums Fotografie und auf die Entwicklung des Bewusstseins des Menschen hinter der Kamera. Ich bin der festen Überzeugung, dass sich diese Prinzipien auch auf andere Medien und Tätigkeiten übertragen lassen. Wenn man lernt, eine Sache gut zu machen, begreift man gleichzeitig die Grundlagen des Lernens, die sich auf alles andere anwenden lassen: Kochen, zwischenmenschliche Beziehungen, alle Formen des kreativen Ausdrucks, Innovation in der Wirtschaft oder in anderen Berufen. Ein Künstler des Lebens zu werden ist ein Ziel, das unserer Menschlichkeit würdig ist.
1.
Fotografieren Sie jeden oder fast jeden Tag. Fotografieren Sie alles, was Ihnen auffällt. Bearbeiten und bewerten Sie Ihre Wahrnehmungen nicht – noch nicht. Fotografieren Sie frei im breiten Spektrum Ihrer Reaktionen auf die Welt: Liebe, Schönheit, Empörung, Demütigung, Sympathie, Resonanz, Zustimmung, Kritik und Satire. Humor und Polemik sind erlaubt.
Führen Sie ein visuelles Tagebuch, in dem Sie täglich Ihre Gedanken, Erkenntnisse und Wahrnehmungen in Bildern festhalten. Wenn Sie analog fotografieren, fertigen Sie Kontaktabzüge an und bewahren Sie diese an einem sicheren Ort auf. Wenn Sie mit digitalen Medien arbeiten, verwenden Sie Dateibrowser wie Bridge, die Ihre Bilder als Thumbnails anzeigen, sodass Sie die Entwicklung Ihrer Ideen über mehrere Bilder hinweg verfolgen können.
2.
Machen Sie noch mehr Fotos. Sie müssen wirklich dranbleiben. Bringen Sie sich auf Betriebstemperatur. Die meisten Fotografen sind nicht sehr gut im »Aufwärmen«. Es ist eine Form von Arroganz zu glauben, dass man starke oder aufschlussreiche Ergebnisse erzielt, wenn man drei oder vier Fotos macht, sobald man vor Ort ist, und dann weiterzieht. Bleiben Sie bei einem Thema oder an einem Ort. Wärmen Sie sich auf, indem Sie frei fotografieren. Machen Sie sich keine Gedanken über die Ergebnisse. Tanzen Sie mit der Szene und mit dem Motiv. Legen Sie die Scheu ab, wild, spontan und kindlich zu sein. Seien Sie beharrlich und engagiert. Bleiben Sie lange genug vor Ort, um sich mit dem Motiv zu synchronisieren.
Ein Sportler oder Musiker würde nie ein Rennen oder ein Konzert beginnen, bevor er sich nicht aufgewärmt hat – warum sollte für Künstler und Fotografen anderes gelten? Mein erster Fotolehrer sagte einmal zu mir: »Nachdem du das Bild gemacht hast, das du machen wolltest, ist es an der Zeit, das Motiv wirklich zu erforschen.«
Bleiben Sie in Bewegung. Machen Sie Fotos als eine Art Vorspiel, bis Sie frei und mit dosierter Hingabe fotografieren können. Haben Sie keine Angst, die Kontrolle zu verlieren, aber bleiben Sie aufmerksam. Verlieren Sie sich, aber bleiben Sie zentriert.
Betrachten Sie Ihre Arbeit sorgfältig auf einem Kontaktbogen oder in einem Fotobrowser wie Bridge. Achten Sie auf durchgehende Themen und wiederkehrende Formen/Gestalten/Farbbeziehungen. Welche Bilder wirken authentisch, als wären es Ihre eigenen? Welche Bilder stechen hervor und ziehen immer wieder Ihre Aufmerksamkeit auf sich? Schauen Sie sich Ihre Bilder nach einiger Zeit noch einmal an. Die Zeit ist der beste Bildredakteur, denn mit etwas Abstand treten Ihre subjektiven Empfindungen im Moment der Aufnahme in den Hintergrund.
3.
Seien Sie präsent. Bringen Sie Ihren Geist zur Ruhe. Denken Sie nicht zu viel nach. Unser Denken ist zu langsam, um den Moment zu erfassen. Aber nutzen Sie Ihren Verstand, um sich auf den Moment zu konzentrieren. Bereiten Sie sich vor und überlegen Sie im Voraus, was Sie zeigen wollen. In diesem Moment stecken all Ihre Gedanken und Erfahrungen. Bewahren Sie sich Strenge und Leichtigkeit, bleiben Sie im Körper verwurzelt, mit Ihren Gefühlen verbunden und nutzen Sie die gerichtete Aufmerksamkeit Ihres Geistes.
Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit über den lärmenden Verstand hinaus dorthin, wo Ihre Intuition zu Hause ist, wo Ihre natürliche Weisheit aus der Tiefe Ihres Geistes, aus dem Unbewussten, hervorbrechen und sich in den äußeren Umständen widerspiegeln kann. Und vor allem: Vergessen Sie das Gestern und das Morgen.
4.
Beobachten Sie. Seien Sie aufmerksam. Wenn der Geist ruhig ist, schafft das Raum für ein Sehen, das klar und im Augenblick verankert ist. Schauen Sie. Lernen Sie. Lassen Sie die Nuancen sprechen. Die Bedeutung eines Motivs liegt oft sowohl im Ganzen wie auch in seinen Details. Fühlen Sie sich ein. Leonardo da Vinci nutzte seine Skizzenbücher, um die Anatomie und den Zustand des Menschen zu studieren, vor allem aber, um sich in sein Motiv einzufühlen. Einfühlungsvermögen schafft eine unsichtbare und unauslöschliche Verbindung zwischen dem geistigen Auge und dem Wesen und Charakter des Motivs.
Alle Fotografien bestehen aus Zeit und Licht, und in ihnen geht es um etwas, nicht nur darum, ein »gutes« Foto zu machen. Überlegen Sie, wie Sie die fünf visuellen Elemente der Fotografie bei der Bildgestaltung einsetzen, um sich auf Ihre Beobachtungen zu konzentrieren. Betrachten Sie jedes dieser Elemente für sich und wie es mit den anderen in einem Bild zusammenwirkt:
Bildausschnitt
Moment
Licht
Einsatz von Farbe und Tonalität
Darstellung des Motivs
Eine Beschreibung dieser Elemente finden Sie in Lektion 1: Beobachtung in meinem Buch
Zen – der Weg des Fotografen
(ISBN 978-3-86490-613-8, dpunkt.verlag).
5.
Beherrschen Sie Ihre Kamera, Ihr Material und Ihre Werkzeuge. Im Idealfall sollte Ihre Kamera eine nahtlose Erweiterung Ihres Auges, Ihrer Hand und Ihres Gehirns sein. Lernen Sie zu sehen, wie eine Kamera sieht. Es gibt einen großen Unterschied zwischen der dreidimensionalen Welt, wie sie sich unserer menschlichen Wahrnehmung in all ihren Farben und Tonwerten präsentiert, und dem zweidimensionalen Bild, das durch das Objektiv und den Sensor mit seinen RGB-Farbwerten und seinem begrenzten Dynamikumfang erzeugt wird.
Der Fotograf Garry Winogrand hat einmal gesagt: »Ich fotografiere, um herauszufinden, wie etwas als Fotografie aussieht.« Ein guter Rat und ein Grund mehr, regelmäßig und viel zu fotografieren.
Solange Sie nicht wissen, wie Ihre Kamera funktioniert, solange Sie das Belichtungsdreieck aus Blende, Verschlusszeit und ISO-Wert nicht beherrschen und solange Sie die Ausdrucksmöglichkeiten Ihrer Software oder Dunkelkammer nicht kennen, können Sie nicht frei mit dem Medium arbeiten und unbeschwert Ihrer Wahrnehmung folgen. Es gibt viele ausgezeichnete Bücher und Lehrvideos über die technischen Aspekte der Fotografie. Scheuen Sie sich nicht, das Handwerkszeug zu erlernen.
6.
Arbeiten Sie an Projekten, nicht nur an einzelnen Bildern. Um sich voll und ganz auf den kreativen Prozess einlassen zu können, brauchen Sie eine Richtung und ein klares Ziel, etwas, das Sie nach draußen zieht. Was treibt Ihre Leidenschaft und Ihr Engagement an? Was können nur Sie aufgrund Ihres speziellen Hintergrunds und Ihrer Lebensumstände sehen, und worüber können nur Sie sprechen, aber niemand sonst?
Die stärksten und aufschlussreichsten Bilder entstehen nur durch die kontinuierliche Arbeit an Projekten, bei denen Sie sich über einen längeren Zeitraum mit einem Thema auseinandersetzen, Erfahrungen und Beobachtungen sammeln und Ihr Motiv genau kennenlernen. Definieren Sie Ihre eigenen Projekte auf der Grundlage dessen, wo Sie die meiste Energie spüren, wo Sie Dringlichkeit und Notwendigkeit empfinden. Der Maler Wassily Kandinsky bezeichnete seine bedeutendsten Werke als »aus innerer Notwendigkeit« entstanden.
7.
Schauen und lernen Sie. Studieren Sie die Fotografien anderer. Wir sind Teil eines jungen Mediums mit einer reichen und glorreichen Geschichte, die von vielen talentierten Künstlern geprägt wurde. Und wenn wir zurückblicken, entdecken wir immer wieder neue Stimmen, die einst an den Rand gedrängt wurden und deren Arbeiten glücklicherweise nicht länger ungesehen und unerkannt bleiben. Suchen Sie nach Künstlern und Künstlerinnen, mit deren Werk Sie sich identifizieren können. Studieren Sie sie. Lesen Sie über ihr Leben und ihr Werk. Fotobücher gibt es in Hülle und Fülle: Monografien, Sammlungen und Biografien. Lernen Sie die Arbeiten anderer kennen, die Sie inspirieren und lehren können. In den folgenden Essays nenne ich viele berühmte Bilder sowie Künstler und Künstlerinnen aus der Geschichte der Fotografie. Schlagen Sie sie online nach, um das hier Gelesene zu ergänzen. Jeder Fotograf baut auf früheren Entdeckungen auf, um seinen eigenen Weg des Sehens zu finden.
Vermeiden Sie Klischees und abgedroschene Themen. Akzeptieren Sie sie als ersten Schritt im Lernprozess. Haben Sie keine Angst vor ihnen, sie sind unvermeidlich. Aber lernen Sie, überstrapazierte Metaphern und Konventionen als solche zu erkennen. Arbeiten Sie sich durch sie hindurch, um etwas Einzigartiges, Eigenes zu finden.
Jeder Mensch ist kreativ. Jeder sieht die Welt auf seine Weise. Und jeder kann lernen, mit einer Kamera umzugehen. Ich wünsche Ihnen den Reichtum kreativen Ausdrucks und die Kraft, die in einer tiefen Auseinandersetzung mit der Welt liegt. Kreativität kann dazu beitragen, uns zu vervollständigen, und die Praxis des Fotografierens kann ein Spiegel der Welt sein und darin die Form Ihres Engagements offenbaren – Ihre Leidenschaft, Ihre Freude und manchmal auch Ihre schmerzerfüllten Beobachtungen.
Stellen Sie Fragen. Seien Sie frei in Ihren Erkundungen. Lassen Sie sich auf die Fragen und den Zustand des Nichtwissens ein. Die Früchte Ihrer Entdeckung werden umso reichhaltiger ausfallen. Ihre Suche nach Bildern ist nichts anderes als eine Suche nach sich selbst und ein Streben, das Leben zu verstehen und die anderen durch direkte Wahrnehmung im Hier und Jetzt kennenzulernen. Diese Suche selbst belebt unser Herz und unseren Verstand und wird uns mit der Zeit Klarheit bringen.
Seien Sie geduldig und lernen Sie zu sehen, wie Sie sehen. Für viele Fotografen und Fotobegeisterte kann die Arbeit mit der Kamera zu einer Lebenseinstellung werden.
Im Jahr 1975 war ich einer der leitenden Assistenten des Fotografen Minor White. Er war Ende Sechzig und sehr beschäftigt: Er arbeitete als Fotograf, reiste um die Welt, um Workshops zu geben, und schrieb ein Buch, in dem er seine Erkenntnisse aus 40 Jahren Lehrtätigkeit als Fotografiedozent zusammenfasste. Ich war jung und stark und außerdem Schriftsteller. Ich glaube, er mochte mich, weil ich ihm sowohl bei der Fotografie und den Strapazen des beruflichen Reisens wie auch als Lektor für seine Texte helfen konnte. Über den Sommer machten wir Pläne, im Dezember nach Puerto Rico zu reisen, wo Minor an einem Fotoprojekt arbeitete.
Ohne Titel, Akron, Ohio,David Ulrich
Im Frühherbst gab Minor Workshops in London und Arizona, die ihn sehr forderten. Er beschloss, in Cleveland (dem Heimatort meiner Familie) einen Zwischenstopp einzulegen, um Nicholas Hlobeczy und mich auf seinem Rückweg nach Boston zu besuchen. Nick war einer von Minors ersten Schülern und einer meiner wichtigsten Lehrer für Fotografie. Wir standen uns sehr nahe. Minor kam am Freitagabend an, und wir alle verbrachten ein bewegendes und energiegeladenes Wochenende in Nicks Haus.
Am Freitagabend tranken wir viel, sahen uns Fotos an und führten tiefgründige Gespräche. Damals war es üblich, viel zu trinken, besonders unter Künstlern und Fotografen. Ich war nie gut darin, aber ich machte mit. Irgendwann im Laufe des Abends geschahen zwei bedeutende Dinge. Das erste von beiden war eine Einsicht: Als ich dort saß, das jüngste Mitglied dieser Dreiergruppe, sah ich Minor und Nick an. Ich empfand tiefe Liebe für die beiden, wir waren Freunde und zugleich hatten sie einen väterlichen Einfluss auf mich. Es war das erste Mal, dass wir drei uns allein in einem Raum befanden, ohne andere Workshop- oder Kursteilnehmer.
Die Erkenntnis traf mich mit voller Wucht: Wir waren Großvater, Vater und Sohn, Teil einer ununterbrochenen familiären Linie, die bis in die Anfänge der Fotografie zurückreichte und Alfred Stieglitz sowie Edward Weston einschloss (beide waren Minors Lehrer) und die sich bis zum gegenwärtigen Moment in Nicks Wohnzimmer erstreckte. Ich hatte das Gefühl, Teil einer spirituellen und künstlerischen Familie zu sein – mit einem Erbe, das zu bewahren eines Tages meine Aufgabe sein würde. Diese Erfahrung flößte mir Demut ein.
Das zweite Ereignis dieses Abends war nicht weniger bedeutsam. Minor hatte Nick im Laufe der Jahre viele Fotos geschenkt – vielleicht 20 oder 30 –, die meisten von ihnen unsigniert. Aus heiterem Himmel bestand Minor nun darauf, dass Nick alle diese Bilder aus ihren Rahmen nahm, damit er sie signieren konnte. Zu diesem Zeitpunkt war Minor bereits ein berühmter Fotograf und besaß großen Einfluss in der Fotografie. Indem er die Abzüge signierte, steigerte er ihren Wert, und später konnte sich Nick mit dem Erlös aus dem Verkauf einiger dieser sowie anderer Fotos von Edward Weston und Ansel Adams zumindest teilweise zur Ruhe setzen. Dass Minor dies voraussah, war bemerkenswert.
Am darauffolgenden Samstagmorgen herrschte reges Treiben. Freunde und Mitarbeiter kamen vorbei, um Minor zu sehen, ihn zu begrüßen und vielleicht an der ein oder anderen seiner Weisheiten teilzuhaben. Er hielt Hof, aber er bewahrte Haltung. Trotzdem war leicht zu erkennen, dass er erschöpft war. Nach dem Mittagessen bat er mich unerwartet, ein Nickerchen mit ihm zu machen. Wie allgemein bekannt war, liebte Minor Männer, und er wusste, dass ich heterosexuell bin. Er brauchte etwas, ich wusste nicht was, und weil ich ihn liebte, kam ich ihm gerne entgegen. Mit Ende Sechzig und aufgrund eines Herzleidens lebte Minor, soweit ich wusste, zölibatär. Ich machte mir keine Sorgen über mögliche sexuelle Annäherungsversuche. Ich wusste, dass er sich um mich sorgte und mir immer Respekt entgegenbrachte. Er hätte mich nicht in die Enge getrieben oder in eine kompromittierende Situation gebracht. Also verabschiedeten wir uns von den anderen und gingen ins Schlafzimmer.
In diesem Moment war er wie ein Kind und musste gehalten werden. Es fühlte sich an wie ein Notfall, sogar ein verzweifelter Notfall. Ich bemerkte das und versuchte, ihn zu trösten, so gut ich konnte. Er schlief kurz ein. Und dann stieß er, immer noch schlafend, einen unheimlichen Schrei aus, ein Kreischen, fast wie ein letzter Atemzug. Ich werde diesen unheimlichen, herzzerreißenden Laut nie vergessen. Er hat mich bis ins Mark erschüttert.
Nach unserem Mittagsschlaf servierte uns Nicks Frau Jean einen Kuchen zum Kaffee, eines der zuckerhaltigsten und üppigsten Gebäcke, die ich je gegessen habe. Minor liebte Süßes und wusste, dass er die Finger davon lassen sollte – aber er tat es nicht, wieder fast wie ein Kind.
Am späten Nachmittag wollte er vor die Tür und bat mich, mit ihm einen Ausflug zu machen. Wir fuhren ziellos durch die Landschaft von Ohio. Er schien auf der Suche nach etwas zu sein. Schließlich sah er einen Park mit einem runden Springbrunnen. Er bat mich, anzuhalten. Wir gingen zum Brunnen, der wie ein Mittelpunkt in dieser manikürten Umgebung wirkte. Wir setzten uns auf eine weiße Steinbank am Rande des Brunnens.
Er sagte mir eines, und nur eines: »Suche Resonanz in deinem Leben und deiner Arbeit. Du wirst nicht enttäuscht werden.« Ich verinnerlichte das Gesagte, aber es klang auf beängstigende Weise, als sollten es seine letzten Worte sein. Alles an diesem Wochenende fühlte sich so an. Danach kehrten wir zu Nicks Haus zurück. Es gab keine tiefgründigen Gespräche mehr, jedenfalls nicht mit mir.
Am Montagmorgen flog Minor zurück nach Boston und kam gegen Mittag am Flughafen an. Fast unmittelbar nach seiner Ankunft erlitt er einen schweren Herzinfarkt, an dem er fast gestorben wäre. Im Massachusetts General Hospital lag er wochen- oder monatelang im Koma, ich weiß nicht mehr genau, wie lange. Er erwachte aus dem Koma und lebte noch weitere acht Monate – aber er war nie mehr derselbe.
Suche nach Resonanz. Ich habe jahrzehntelang mit der Bedeutung dieses Satzes gehadert. Ich habe ihn folgendermaßen verstanden und sehe ihn nun als zuverlässigen Rat in vielen Bereichen meines Lebens und meiner Arbeit, einschließlich der Art und Weise, wie ich Freundschaften und Beziehungen gestalte, wie ich mein Berufsleben verbringe und wie ich als Künstler arbeite. Für mich ist Resonanz der Grundstein für unsere Arbeit als Fotografen und Fotografinnen.
Ich sehe das so: Es gibt verschiedene Formen der Anziehung – zu Menschen, zu Motiven für unsere Kamera, zu Büchern und Einflüssen, zu den Bedingungen unseres Lebens, sogar zu den Dingen, mit denen wir uns umgeben. Es gibt die Anziehungskraft der Lust, die die niedrigste ist, die primitivste Form der Bindung. Es gibt die Anziehungskraft von Gleichheit/Abneigung und Freundschaft oder Sympathie für Lebensinteressen. Und schließlich gibt es die Anziehungskraft der Resonanz, bei der wir nach Menschen, Dingen, Einflüssen und Themen suchen, die mit unserem eigenen Wesen verwandt sind. Wenn wir mit jemandem oder etwas in unserem tiefsten Herzen eins sind, entsteht ein Band, eine kraftvolle Form der Verbindung, die unser Wesen nährt und uns hilft, unseren Lebensweg zu gestalten. Diese Art von Verbindung ist ein Katalysator für unser Wachstum, spiegelt die Konturen unserer inneren Landschaft nach außen und regt unsere Kreativität zutiefst an. Als Fotografinnen und Fotografen sehen wir, was wir sind, und suchen jenseits von Vorlieben und Abneigungen nach Szenen und Bildern, die unseren Leidenschaften, Verpflichtungen und ureigensten Interessen entsprechen.
In den Büchern Carlos Castanedas, die in den 1970er-Jahren sehr beliebt waren, berät der Yacqui-Schamane Don Juan den Autor bei seinen Lebensentscheidungen. »Hat dieser Weg ein Herz? Wenn ja, ist der Weg gut; wenn nicht, ist er nutzlos … Einer ist wie eine freudige Reise; solange du ihm folgst, bist du eins mit ihm. Der andere wird dich dein Leben verfluchen lassen. Das eine macht dich stark, das andere schwächt dich. Für mich gibt es nur das Reisen auf Wegen, die ein Herz haben, auf jedem Weg, der ein Herz haben kann, und die einzige lohnende Herausforderung ist es, solche Wege in ihrer ganzen Länge zu beschreiten – und dann reise ich schauend, atemlos schauend.«
Welche Themen lassen Ihr Herz höherschlagen, wenn Sie hinter der Kamera stehen? Wann geben sich Menschen und Szenen wirklich zu erkennen? Können Sie über die Momente der leichten Anziehung hinaus warten und weiterarbeiten? Warten Sie, bis Sie eine Szene oder einen Moment finden, in dem Sie auf den Auslöser drücken müssen, der Resonanz hat, der für Sie ein lebensverändernder Moment ist, wenn Sie eine innere Aufladung spüren und wissen, dass dies der Moment ist, den Sie gesucht haben.
Um klar und kraftvoll schreiben zu lernen, sollte die Hand auf dem Papier immer in Bewegung sein, rät Natalie Goldberg in ihrem Buch Schreiben in Cafés. Auch für Fotografen ist es wichtig, beim Sehen und Skizzieren von Ideen aktiv zu bleiben. Als ich beruflich fotografierte, benutzte ich meistens eine große 5 × 7-Zoll-Fachkamera auf einem Stativ und arbeitete mit Planfilm. Im besten Fall konnte ich 10 Filmhalter mitnehmen, konnte also 20 Aufnahmen pro Arbeitstag machen. Ich musste meine Ideen in meinem Kopf skizzieren, mit meinen Augen und meinem Gehirn, indem ich eine Hand um mein Auge legte, um ein Bild zu visualisieren. Dabei sehnte ich mich oft nach einer leichteren Kamera, mit der ich experimentieren und skizzieren könnte, etwas, das mir helfen würde, das zu aktivieren, was Goldberg den »wilden Geist« nennt.
Waikiki Beach, Honolulu, Hawaii,David Ulrich
Unabhängig von der Art der Kamera, die Sie verwenden – die tägliche Arbeit an Ihrer Art zu sehen ist die Grundlage und Praxis Ihres Handwerks. Musiker haben ihre Tonleitern, Sportler ihre Übungen. Bildende Künstler führen oft Skizzenbücher, in denen sie flüchtige Eindrücke, aufkeimende Ideen und zufällige Beobachtungen festhalten. Ob mit einer hochwertigen digitalen Spiegelreflexkamera, einer analogen Filmkamera, einem Spielzeugobjektiv aus Plastik oder einem Mittelformatboliden – auch Sie haben immer ein Skizzenbuch dabei. Man nennt es auch »Handy«. Benutzen Sie es täglich. Wenn Sie etwas sehen, das Sie in irgendeiner Weise beeindruckt, ziehen Sie Ihre Immer-dabei-Kamera aus der Tasche und machen Sie ein Foto. Und belassen Sie es nicht bei einem Bild. Erforschen Sie das Motiv. Wir müssen ständig lernen zu sehen, wie eine Kamera sieht, und die ständige Aktivität des Skizzierens mit dem Handy wird Ihr Gehirn füttern und Ihr Auge trainieren.
Ich schätze die hervorragende Kamera meines Handys sehr. Sie hilft mir, kreatives Momentum zu entwickeln, mich auf meine Umgebung einzustellen, aufmerksamer für andere zu sein und sensibler für meine eigenen, oft unbewussten Reaktionen auf die Dinge um mich herum. Sie ist wie ein Schmiermittel für mein Herz und meinen Verstand; sie hält meine Kreativität auf Trab und »stählt« meine Aufmerksamkeit (anstatt sie zu stehlen).
Oft entstehen neue Ideen ganz kraftvoll und unmittelbar aus dem Fluss des Sehens mit meinem iPhone. Durch mein ständiges Experimentieren und visuelles Erforschen finde ich einzigartige Wege, mit Farbe und Form umzugehen. Meine digitalen Skizzen haben eine Leichtigkeit, die ich bei meinen »ernsteren« Arbeiten oft vermisse. Ich liebe die Art und Weise, wie dies mein Auge beflügelt, ganz zu schweigen davon, dass es einfach Spaß macht.