Beziehungskompetenz in sozialen Organisationen - Katharina Ludewig - E-Book

Beziehungskompetenz in sozialen Organisationen E-Book

Katharina Ludewig

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Beschreibung

Menschen in psychosozialen Arbeitsfeldern beginnen ihren Berufsweg mit hohen Ansprüchen an sich selbst, schätzen ihre Arbeit als notwendig und sinnvoll ein und zeigen großes Engagement. Trotzdem sind sie vergleichsweise häufig krank. Studien zufolge ist in Sozialberufen eine außergewöhnlich hohe Mobbing- und Burnout-Quote zu verzeichnen, mit der Folge einer steigenden Zahl von Arbeitsausfällen. Was also brauchen Sozialarbeiter, um ein gelingendes Berufsleben zu führen und nicht auszubrennen? Kann die Förderung von Beziehungskompetenz zur Verbesserung ihrer Arbeitssituation beitragen? Katharina Ludewig benennt Konfliktquellen, untersucht das interaktive Zusammenspiel verschiedener Einflussgrößen und schlägt den Bogen zu einem grundsätzlichen Dilemma von sozialen Organisationen: Hierarchie und Wirtschaftlichkeit versus Mitarbeiterorientierung. Lösungswege und innovative Konzepte werden erörtert und hinsichtlich ihrer Praxistauglichkeit diskutiert, vor allem die Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg. Gleichzeitig benennt die Autorin den Widerspruch zwischen realen Möglichkeiten und theoretischem Anspruch. Die Mut machende Botschaft dieses Buches: Es gibt Wege hin zu einer transparenten und beziehungsfördernden Führungskultur – zugunsten der Arbeitszufriedenheit, der psychosozialen Gesundheit und des beruflichen Engagements professioneller Helfer.

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WISSENSCHAFTLICHE BEITRÄGEAUS DEM TECTUM VERLAG

Reihe Sozialwissenschaften

WISSENSCHAFTLICHE BEITRÄGEAUS DEM TECTUM VERLAG

Reihe Sozialwissenschaften

Band 82

Katharina Ludewig

Beziehungskompetenz in sozialen Organisationen

Gewaltfreie Kommunikation als Methode für die professionelle Interaktion

Tectum Verlag

Katharina Ludewig

Beziehungskompetenz in sozialen Organisationen. Gewaltfreie

Kommunikation als Methode für die professionelle Interaktion

Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag:

Reihe: Sozialwissenschaften; Bd. 82

© Tectum – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2017

ePub: 978-3-8288-6918-9

ISSN: 1861-8049

(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Werk unter der ISBN 978-3-8288-4080-5 im Tectum Verlag erschienen.)

Besuchen Sie uns im Internet 

www.tectum-verlag.de

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind

im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Vorwort von Prof. Dr. Heiko Kleve

Formale Organisationen und soziale Interaktionsbeziehungen haben als soziale Systeme, als Systeme also, die durch Kommunikation entstehen und sich durch Kommunikation erhalten, viele Gemeinsamkeiten – zumindest könnten wir genau dies glauben. Denn es geht schließlich sowohl in Organisationen als auch in Interaktionsbeziehungen um Soziales, um die Gegenseitigkeit zwischen Menschen, um persönliche Kontakte, um Austauschbeziehungen. Das Buch von Katharina Ludewig zeigt, dass dies zwar einerseits zutrifft, dass sich aber andererseits zwischen den organisatorischen Strukturen, etwa in Krankenhäusern oder sozialarbeiterischen Trägern, und den Beziehungen zwischen den Mitarbeitenden dieser Organisationen zahlreiche Spannungsfelder zeigen. Die Frage ist, ob diese Spannungen akzeptiert werden müssen oder ob sie veränderbar sind. Katharina Ludewig plädiert für Veränderung.

Organisationen sind formale soziale Gebilde, die unterschiedliche Arbeitsabläufe und die dazu gehörigen Entscheidungen in eine rationale Ordnung zu bringen versuchen. Menschliche Akteure verbinden sich in Organisationen in arbeitsteiliger Weise. In Organisationen kann etwas realisiert werden, was keinem einzelnen Menschen je gelingen kann: zugleich, mithin zeitlich parallel ganz Unterschiedliches auf ein gemeinsames Ziel hin orientiert zu verrichten. Unsere moderne Gesellschaft ist ein Sozialsystem, das seine große Komplexität sowie die Bewältigung dieser Komplexität der sozialen Erfindung der Organisation verdankt. Damit ist unser gesamtes Leben von der Mitgliedschaft und der Kundschaft hinsichtlich von Organisationen geprägt. Ohne die Leistungen der Organisationen könnten wir unsere bio-psycho-sozialen Bedürfnisse nicht befriedigen.

Augenscheinlich ist daher die enorme Wichtigkeit von Organisationen. Nur wie geht es uns innerhalb von Organisationen als Mitglieder, als Arbeits- und Fachkräfte, die ein Großteil ihres Lebens in diesen formalen Gebilden verbringen, ihre persönliche Energie, ihre körperliche, psychische und soziale Kraft Organisationen und deren Abläufen zur Verfügung stellen? Katharina Ludewig bietet hier zunächst eine ernüchternde Antwort: Die sozialen Interaktionsbeziehungen in Organisationen gelingen oft nicht in für die Mitglieder, für die arbeitenden Menschen befriedigender Weise. Diese Beziehungen sind häufig belastend, krank machend, lähmend, verletzend, also nicht so, wie es eigentlich dem Zweck der Organisationen, etwa eines psychiatrischen Krankenhauses oder einer sozialarbeiterischen Einrichtung, entsprechen würde.

Wie die Autorin zeigt, muss dieser Zustand jedoch nicht akzeptiert werden. Es ist möglich, etwa durch Nutzung unterschiedlicher beziehungsfördernder Kommunikationsstrategien Organisationen so zu wandeln, dass deren formale Struktur und die dadurch gerahmten Interaktionsbeziehungen zum Zweck, zum Sinn, zu den Zielen der Organisation passen. Das vorliegende Buch lässt sich daher auch lesen als ein Beitrag zur gelingenden Initiierung und Gestaltung sinnstiftender und die arbeitenden Menschen befriedigenden Organisationskulturen. Welche Möglichkeiten dabei organisationsstrukturell und methodisch in Organisationen erprobt und bestenfalls erfolgreich realisiert werden können, offenbart die Lektüre dieser innovativen Arbeit.

 

Prof. Dr. Heiko Kleve, im Herbst 2016

Inhaltsverzeichnis

Vorwort von Prof. Dr. Heiko Kleve

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung

1.1 Relevanz der Thematik und Problemstellung

1.2 Grundthese und Ziele der Arbeit

1.3 Vorgehensweise

1.4 Kapitelübersicht

2. Theoretische Positionen zum Verständnis von Beziehung und Kommunikation

2.1 Zum Wesen von Beziehungen

2.2 Kooperation versus Konkurrenz – der Einfluss des Menschenbildes auf die Beziehungsgestaltung

2.3 Kooperation und Beziehung als Grundbedürfnis des Menschen

2.4 Gelingende Kommunikation als relationales Paradigma

2.4.1 Der Zusammenhang zwischen Beziehung und Kommunikation

2.4.2 Ausgewählte theoretische Grundannahmen zur Kommunikation

2.4.2.1 Wahrnehmen und Verstehen

2.4.2.2 Der Dialog als Form der Kommunikation

2.4.2.3 Kommunikation als Form der Symbolischen Interaktion

2.4.3 Relationale Kommunikation nach Friederike Rothe

2.4.4 Der intersubjektive Prozess der Anerkennung als Ausdruck relationaler Bezogenheit

2.5 Zusammenfassung und Schlussfolgerung

3. Die Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg

3.1 Definition und Ziele der GFK

3.2 Theoretischer Hintergrund der GFK

3.3 Die GFK als Form der relationalen Kommunikation

3.4 Die GFK als Form der bedürfnisorientierten Kommunikation

3.5 Das Konzept der GFK

3.5.1 Trennen von Beobachtung und Bewertung

3.5.2 Gefühle wahrnehmen und ausdrücken

3.5.3 Bedürfnisse wahrnehmen und ausdrücken

3.5.4 Äußern einer konkreten Bitte

3.5.5 Empathie

3.6 Kritische Würdigung der GFK

4. Beziehungskompetenz in sozialen Organisationen

4.1 Zum Wesen von Organisationen

4.1.1 Die soziale Organisation als Beziehungsnetz

4.1.2 Besonderheiten von Arbeitsbeziehungen in sozialen Organisationen

4.1.3 Zur Relevanz der Qualität von Arbeitsbeziehungen für die Arbeitszufriedenheit

4.2 Zum Kompetenzbegriff

4.3 Schlüsselkompetenzen Sozialer Arbeit

4.3.1 Soziale Kompetenz als Oberbegriff

4.3.2 Kritische Perspektive

4.4 Professionelle Beziehungskompetenz als Schlüsselkompetenz Sozialer Arbeit

4.4.1 Kommunikative Kompetenz

4.4.2 Personale Kompetenz

4.4.3 Berufsethische Kompetenz

4.5 Zusammenfassung und Schlussfolgerung: Vorschlag einer Definition für Beziehungskompetenz

5. Ausgewählte Aspekte des Konfliktgeschehens in sozialen Organisationen

5.1 Theoretische Positionierung zum Verständnis der Konfliktentwicklung

5.2 Konfliktquellen in sozialen Organisationen

5.3 Bedürfnisbedrohung als Kern von sozialen Konflikten

5.4 Kommunikationsstörung und Konflikt

5.4.1 Lebensentfremdende Kommunikation aus der Perspektive der GFK

5.4.2 Diagnosen und moralische Urteile – lebensentfremdende Kommunikation in der Sozialen Arbeit

5.5 Gestörte Arbeitsbeziehungen als psychosoziale Belastung

5.5.1 Zur Situation

5.5.2 Burnout und Mobbing – Bedingungsfaktoren und Folgen gestörter Arbeitsbeziehungen

5.5.2.1 Burnout

5.5.2.2 Mobbing

5.5.3 Zusammenhang zwischen Gesundheit, psychosozialer Belastung, Beziehungsgestaltung und Arbeits(un)zufriedenheit

5.6 Zusammenfassung und Schlussfolgerung

6. Auswirkungen bürokratischer Strukturen auf Arbeitsweise und Beziehungsgestaltung am Beispiel der stationären Psychiatrie – Reflexionen aus meinem Praktikum

6.1 Die Psychiatrie als totale Institution

6.1.1 Praxisbeobachtungen: Fünf Hypothesen zur Wirkung von sozialer Distanz

6.1.2 Auswertung

6.2 Zusammenfassung und Schlussfolgerung

7. Vom Dilemma der Organisationen

7.1 Zwischen den Stühlen – soziale Organisationen zwischen Wirtschaftlichkeit und Mitarbeiterorientierung

7.2 Soziale Organisationen zwischen bürokratischer Struktur und dialogischer Beziehungsgestaltung

7.3 Begründete Skepsis? Überlegungen zur Veränderungswilligkeit von Organisationen aus systemtheoretischer Sicht

7.4 Verhaltensintervention versus Verhältnisintervention – zwei Sichtweisen

7.5 Zusammenfassung und Schlussfolgerung

8. Förderung von Beziehungskompetenz in einer lernenden Organisation

8.1 Das Konzept der Lernenden Organisation nach Peter M. Senge

8.2 Organisations- und Personalentwicklung und betriebliche Gesundheitsförderung als Instrumente einer lernenden Organisation

8.3 Gedanken zu Rosenbergs Konzept der Lebensbereichernden Organisation

8.4 Gleichwürdigkeit als Beziehungsgrundlage oder: Ist Hierarchie die Antithese des Dialogs?

8.5 Einflussmöglichkeiten des Einzelnen – Soziale Arbeit in der Psychiatrie als ‚Störfaktor‘?

8.6 Beziehungskompetenzentwicklung als Aufgabe der Personalentwicklung und der betrieblichen Gesundheitsförderung

8.7 Zusammenfassung und Schlussfolgerung

9. Das Potenzial der GFK zur Erweiterung von Beziehungskompetenz

9.1 Die Relevanz der GFK in sozialen Organisationen als Interventionsmethode

9.1.1 Verbreitung

9.1.2 Methodentauglichkeit

9.1.2.1 Wissenschaftlichkeit

9.1.2.2 Wirksamkeit

9.2 Einsatzmöglichkeiten und Ziele der GFK in sozialen Organisationen

9.2.1 Die GFK als Methode in klassischen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit

9.2.2 Die GFK als Methode im Rahmen der Organisations- und Personalentwicklung und der betrieblichen Gesundheitsförderung

9.2.3 Selbstfürsorge als Strategie zur Burnout-Prävention

9.2.4 Bedürfnisorientierte Mediation und GFK als Strategien zur Prävention und Intervention gegen Mobbing und Gewalt

9.2.4.1 Grenzen der Bedürfnisorientierten Mediation und der GFK bei Mobbing

9.2.4.2 Bedürfnisorientierte Mediation und GFK als Strategien zur Gewaltprävention in der Akutpsychiatrie

9.3 Zusammenfassung und Schlussfolgerung

10. Abschließende Betrachtungen und Ausblick

10.1 Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse

10.2 Ausblick

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Die zwei mal vier Schritte der GFK

Abbildung 2: Schlüsselkompetenzen Sozialer Arbeit

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Beispiele für den Unterschied zwischen Wolfs- und Giraffensprache

Tabelle 2: Stressreaktionen und Konfliktverhalten

Tabelle 3: Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen in Berufsgruppen des Dienstleistungssektors

Tabelle 4: Pychosoziale Belastungsfaktoren für Sozialberufe

Tabelle 5: Gesundheitliche Beeinträchtigungen durch psychosoziale Belastungsfaktoren am Arbeitsplatz

Tabelle 6: Gesundheitliche Beeinträchtigungen durch Arbeitsunzufriedenheit

Tabelle 7: Auswirkungen bestimmter arbeitsbezogener Beziehungsaspekte auf die Arbeitszufriedenheit

Tabelle 8: Soziale und personale Ressourcen als Voraussetzungen für gelingende Arbeitsbeziehungen

Tabelle 9: Ziele der GFK-Trainings in sozialen Organisationen

Abkürzungsverzeichnis

AmBerCo e. V. Ambulante Beratung und Coaching e. V.

ArbSchG Arbeitsschutzgesetz

Barmer GEK Krankenkasse der gesetzlichen Krankenversicherung (Zusammenschluss von Barmer und Gmünder Ersatzkasse)

BAuA Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin

BbgPsychKG Brandenburgisches Psychisch-Kranken-Gesetz

BGB Bürgerliches Gesetzbuch

BGH Bundesgerichtshof

BKK Betriebskrankenkasse

BPtK Bundespsychotherapeutenkammer

CNVC Center for Nonviolent Communication

DACH e. V. Dachverband der GFK für den deutschsprachigen Raum

DBSH Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e. V.

DGB Deutscher Gewerkschaftsbund

DGSv Deutsche Gesellschaft für Supervision e. V.

DIMDI Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information

DSM-V Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen), fünfte Aufl. – herausgegeben von der American Psychiatric Association (APA)

DVSG Deutsche Vereinigung für Sozialarbeit im Gesundheitswesen e. V.

GFK Gewaltfreie Kommunikation

GG Grundgesetz

HTA Health Technology Assessment

IFSW International Federation of Social Workers

IPS Inventar zur Persönlichkeitsdiagnostik

LAG Landesarbeitsgericht

Psych-PV Psychiatrie-Personalverordnung (Verordnung über Maßstäbe und Grundsätze für den Personalbedarf in der stationären Psychiatrie)

SGB Sozialgesetzbuch

WHO World Health Organization

WIdO Wissenschaftliches Institut der AOK

ZKS Zentralstelle für Klinische Sozialarbeit

1. Einleitung

1.1 Relevanz der Thematik und Problemstellung

Wie häufig im Leben sind es verstörende Erlebnisse, die Anlass geben, sich einem Thema intensiv zu widmen. In diesem Fall war es ein Praktikum im Rahmen meines Studiums der Sozialen Arbeit; es fand in einer psychiatrischen Klinik statt. Um einen möglichst umfassenden Eindruck von dem Arbeitsfeld der Klinischen Sozialarbeit zu bekommen, arbeitete ich in diesen vier Monaten auf der Entgiftungsstation, auf der akutpsychiatrischen Station sowie in der dazu gehörenden psychiatrischen Tagesklinik. Verstörend war diese Zeit für mich deshalb, weil sie mein bisheriges Bild von Klinischer Sozialarbeit über den Haufen warf; verstörend auch, weil ich mich in den Teams der Entgiftungsstation und der Akutpsychiatrie über die meiste Zeit fremd und deplatziert fühlte. Jeden Morgen ging ich mit einem unguten Gefühl zur Arbeit. Anfangs dachte ich, dieses Fremdheitsgefühl würde sich schon legen und ich müsste mit der neuen Situation nur erst einmal mal vertraut werden. Schon bald aber hatte ich den Eindruck von Dauerspannung zwischen den Mitarbeitern. Offen geäußerte gegenseitige Anerkennung und Ermutigung erlebte ich nur selten. Überhaupt sprach man kaum über sich selbst, z. B. über das, was einen gerade bewegte. Stattdessen füllte in den Frühstückspausen häufig beklemmendes, beredtes Schweigen den Raum oder aber es wurde in abwertender, oft zynischer Weise über abwesende Kollegen und Klienten1 gewitzelt. Ein die Klienten reglementierender, vornehmlich auf Belohnung und Strafe basierender therapeutischer Ansatz (die Tagesklinik ausgenommen), gekoppelt mit einem diagnostizierenden Sprachstil sowie mehrfach beobachtete Gewalthandlungen gegen Klienten (Fixierung und Zwangsmedikation) taten ihr Übriges, um mir am Ende meines Praktikums sicher zu sein, dass ich perspektivisch nicht im stationären Bereich der Psychiatrie arbeiten wollen würde.

Aus meiner dem Sozialarbeiterstudium vorausgehenden langjährigen Tätigkeit als Gärtnerin kannte ich hauptsächlich das Gefühl der körperlichen Erschöpfung nach einem langen Arbeitstag, welches jedoch zumeist mit einem Gefühl der Zufriedenheit verknüpft war. Diese Art der seelischen Erschöpfung während meines Psychiatriepraktikums, die mit Ängsten und mit Frustration gekoppelt war, kannte ich bis dahin nicht. Meine Beobachtungen aus dieser Zeit habe ich in meinem Praktikumsbericht (Ludewig 2008) festgehalten, ihre Reflexion und Analyse sind Teil dieser Arbeit. Damals kam ich zu dem Schluss, dass das, was ich dort als mögliche Zeichen von Dauerüberlastung und gestörter Kommunikation wahrnahm, (variiert) in jedem Bereich der Sozialen Arbeit auftreten kann.

Diese Praktikumszeit vermittelte mir einen Einblick in die Problematik, die Jörg Fengler in seinem Buch Helfen macht müde (1994) beschreibt. Dort heißt es u. a., dass „Burnout […] neben drei anderen Gründen (niedriges Gehalt, wenig geeignete Arbeitsangebote und wenig Aufstiegschancen) der wichtigste Anlaß [ist], nach dem Studium der Sozialarbeit den Beruf nicht zu ergreifen oder wieder zu verlassen“ (ebd., 128). Daraus ergeben sich für mich zwei Fragen:

(1) Was brauchen wir als Sozialarbeiter, um auf lange Sicht ein gelungenes, erfülltes Berufsleben führen zu können?

(2) Was können wir selbst dafür tun, um nicht ‚auszubrennen‘ oder uns über kurz oder lang als ‚Rad im Getriebe‘, als ‚Erfüllungsgehilfen‘ für die Ziele offizieller Kostenträger oder politischer Gremien zu erleben?

Dahinter steht auch mein persönliches Interesse an der Frage, welche Kriterien für mich als Sozialarbeiterin wesentlich sind, damit ich meinen Beruf engagiert und mit Freude ausüben kann.

 

Nun liegt die oben skizzierte Problematik zum Teil im Profil des Helferberufes selbst. Professionelle Helfertätigkeit in sozialen Organisationen sei „eine Tätigkeit […], die ein hohes Maß an kognitiver, emotionaler und sozialer Kompetenz erfordert“, betonen Albrecht Marquard und seine Mitarbeiter (1993, 289). Insoweit ist es wohl eine realistische Einschätzung, wenn Fengler (vgl. 1994, 33) meint, dass gewisse berufliche Belastungen in Helferberufen naturgegeben bzw. unvermeidbar seien. Durchaus „[hinterlassen] Klienten Spuren an ihren Helfern […]: einerseits Befriedigung, Sinnerfüllung und Lebensbejahung, andererseits Erschöpfung und Beschädigung […]“ (ebd., 11). Keineswegs seien es jedoch nur die Klienten, die, wie er betont, Spuren hinterließen: „Auch im Kontakt mit […] den Kollegen und der Institution trägt der Helfer leicht Blessuren davon […]“ (ebd.). So führt Fengler (vgl. ebd., 82 f.) eine Studie an, derzufolge die starken Belastungen nicht bei der Ausübung berufsspezifischer Techniken wie Diagnostik und Therapie auftreten, sondern „im Bereich der Beziehungsgestaltung mit Klienten, Kollegen, Team und Vorgesetzten“ (ebd., 83). Gleichzeitig kann jedoch der Kontakt mit Kollegen und Vorgesetzten auch Quelle der Ermutigung, der Unterstützung und der Inspiration sein.

Die von mir in den Teams der Sucht- und akutpsychiatrischen Station wahrgenommene Stimmung einer allgemeinen Erschöpfung, Resignation, Ratlosigkeit und emotionalen Abstumpfung verstehe ich vornehmlich als einen Hinweis auf die gesundheitspolitische Aktualität der Problematik psychosozialer Fehlbelastung in helfenden Berufen. Dabei scheinen gestörte Arbeitsbeziehungen als Belastungsfaktor eine herausragende Rolle zu spielen. Wer „jemals durch die Hölle anhaltender Teamkonflikte gegangen“ sei, kenne „die grausame Vielfalt der Auswirkungen“, betont Friedemann Schulz von Thun (2001b, 119). Die Tatsache, dass Studien zufolge in Sozialberufen bundesweit die mit Abstand höchste Mobbing- und Burnout-Quote zu verzeichnen ist (s. dazu Kap. 5.5.1, 5.5.2.1, 5.5.2.2), verdeutlicht, dass hier dringender Handlungsbedarf besteht.

Diese Situation muss im Zusammenhang mit den immer komplexer werdenden gesellschaftspolitischen, wirtschaftlichen und ökologischen Veränderungen gesehen werden, denn mit diesen verändern sich auch die Kontexte, in denen soziale Organisationen fungieren (vgl. Aderhold et al. 2009, 23 ff.). Für sozialarbeiterische Praxisfelder münden sie in der paradoxen Situation, dass die Träger sozialer Einrichtungen bei steigendem Bedarf aufseiten der Klienten aus wirtschaftlichen Gründen radikale Einsparungen auf personeller und finanzieller Ebene vornehmen müssen (vgl. Morgenroth 2008, 25). Somit beinhaltet dieser Veränderungsdruck nicht nur viel Konfliktpotenzial; auch eine fachgerechte Erfüllung der unterschiedlichen Mandate von Sozialarbeitern entwickelt sich zunehmend zu einer Herausforderung (s. dazu Kap. 5.2).

1.2 Grundthese und Ziele der Arbeit

Mit Hilarion G. Petzold (vgl. 1998, 293) gehe ich zunächst davon aus, dass gute zwischenmenschliche Beziehungen am Arbeitsplatz eine Grundvoraussetzung sind für eine kreative und kooperative Zusammenarbeit, für unsere Arbeitszufriedenheit und damit auch für unser Lebensgefühl und für unsere seelische und körperliche Gesundheit. Wenn wir nun nach Ansatzpunkten für die Gestaltung einer Arbeitssituation suchen, in der sich eine „fundierte Kollegialität“, wie Petzold (vgl. ebd.) es nennt, entfalten kann, müssen wir nach den Einflussfaktoren auf personaler, interpersonaler, organisationaler und gesellschaftlicher Ebene fragen, die förderlich bzw. hinderlich auf die Gestaltung befriedigender Arbeitsbeziehungen wirken.

 

Meine 1. Leitfrage ist also die Frage nach dem Bedingungsgefüge für gelingende bzw. gestörte Arbeitsbeziehungen in sozialen Organisationen. Ziel ist es, wesentliche zuträgliche bzw. hinderliche Aspekte auf o. g. Ebenen für die berufliche Beziehungsgestaltung in sozialen Organisationen herauszuarbeiten und sichtbar zu machen.

Daran schließt meine 2. Leitfrage an, deren Ziel es ist, zu ergründen, inwieweit es möglich ist, durch entsprechende Interventionen bzw. durch die Implementierung innovativer Konzepte und Methoden eine soziale Organisation und die in ihr arbeitenden Menschen zu Lernprozessen anzuregen, die die Entwicklung einer lebensdienlichen Beziehungs- und Führungskultur ermöglichen.

Mit der 3. Leitfrage thematisiere ich (unter Berücksichtigung der Ergebnisse der 1. und 2. Leitfrage) zum einen, welchen Stellenwert Beziehungskompetenz – und damit die Förderung derselben – für die Entwicklung einer sozialen Organisation als Gesamtsystem hat. Damit verknüpft ist die Frage, in welcher Weise das gezielte Angebot entsprechender Methoden Menschen in sozialen Berufen darin unterstützen kann, mit den vielfältigen Anforderungen im Berufsalltag unter Beachtung der eigenen Grenzen und Bedürfnisse konstruktiv und flexibel umzugehen, eine gelingende berufliche Zusammenarbeit zu gestalten sowie ihr fachliches Kompetenzprofil im Sinne einer gelingenden Beziehungsarbeit mit Klienten zu differenzieren und zu festigen. Hier stütze ich mich auf die Aussage von Karoline I. Bitschnau (vgl. 2008, 11), derzufolge Zukunftsforscher prognostizieren, dass für eine lebensdienliche Weiterentwicklung unserer Gesellschaft – und damit auch sozialer Organisationen – zukünftig die weichen Faktoren (wie z. B. Kreativität, Verantwortungsgefühl, Integrität, Herzlichkeit, Offenheit, Konfliktfähigkeit, Motivation und die Bereitschaft, sich für eine Sache einzusetzen) „mehr und besser genutzt werden“ (ebd.) müssen.

In diesem Zusammenhang stelle ich in meiner Arbeit die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) von Marshall B. Rosenberg (z. B. 2004a) als eine Methode vor, die im beschriebenen Sinne auf personaler und interpersonaler Ebene ansetzt. Dieser bedürfnisorientierte und auf Gleichwürdigkeit beruhende Ansatz von Rosenberg ist aber auch deshalb von Interesse, weil er Möglichkeiten aufzeigt, wie wir innerhalb von (organisationalen) Strukturen lebensbehindernde Regeln verändern und unsere zwischenmenschlichen Beziehungen sowie unsere Entscheidungsfindungen so gestalten können, dass die Bedürfnisse aller Beteiligten berücksichtigt werden. Mit der Anwendung der GFK wird angestrebt, unsere zwischenmenschliche Kommunikation zu verbessern und auch in problematischen Situationen bzw. in Konflikten mit unserem Gegenüber im Kontakt zu bleiben, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen, die alle Konfliktbeteiligten befriedigt.

 

Vor diesem Hintergrund stelle ich folgende Grundthese auf:

Eine Implementierung der GFK in die Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen sozialer Organisationen erhält und fördert die Beziehungskompetenz ihrer Mitglieder. Dadurch ist eine nachhaltige Verbesserung ihrer beruflichen Zusammenarbeit, ihrer Fähigkeit zur Konfliktbewältigung, ihrer Arbeitszufriedenheit sowie ihrer psychosozialen Gesundheit zu erwarten.

Die Prüfung der Richtigkeit dieser These erfordert eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den vielfältigen Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen und organisationalen Rahmenbedingungen, sozialem Umfeld, Verhalten und personalen Eigenschaften bzw. Grundhaltungen. Wenngleich die vorliegende Arbeit der Komplexität dieser Wirkzusammenhänge nicht gerecht werden kann, mögen die hier enthaltenen Überlegungen zu Lösungsansätzen doch Impulse für die Fortführung fruchtbarer Diskurse im Sinne der beiden eingangs gestellten Fragen geben.

1.3 Vorgehensweise

Diese Arbeit gliedert sich in drei Teile: Der erste Teil (Kap. 2 bis 4) beinhaltet zunächst eine theoretische Grundlegung für das hier postulierte Verständnis von Beziehung, Kommunikation sowie von professioneller Beziehungskompetenz. Darauf aufbauend folgt im Praxisteil (Kap. 5 und 6) eine phänomenologische Betrachtung gestörter Arbeitsbeziehungen (vornehmlich Kap. 6.1.1) sowie eine (literaturgestützte) Interpretation derselben hinsichtlich der Folgen und Ursachen. Im dritten Teil (Kap. 7 bis 9) wird eine Verbindung zwischen den ersten beiden Teilen, also zwischen Theorie und Praxis hergestellt. Aus phänomenologischer Beobachtung und literaturgestützter Argumentation werden – im Sinne der Beantwortung meiner These – Schlüsse für die Praxis gezogen und Ideen für mögliche Handlungsoptionen bzw. Lösungen entwickelt. Somit sind meine Erörterungen zunächst deduktiver Natur. Im 6. Kapitel wird der Weg zurück vollzogen, indem ich vom Besonderen (Praxisreflexionen) ausgehe und nach dem Allgemeingültigen frage.

Im Sinne eines postmodernen Verständnisses der Sozialen Arbeit als transdisziplinärer Wissenschaft (z. B. Kleve 2000) beziehe ich in den argumentativen Aufbau meiner Arbeit Perspektiven aus verschiedenen angrenzenden Wissenschaften mit ein, so z. B. aus den Bereichen der Konflikt-, Stress- und Emotionsforschung, der (Entwicklungs-)Psychologie, der Pädagogik, der Arbeitspsychologie, der Soziologie, der Neurobiologie und den Gesundheitswissenschaften. Zugunsten einer besseren Lesbarkeit verwende ich grammatisch nur das maskuline Genus, unabhängig vom tatsächlichen Geschlecht der im Blickfeld stehenden Personen.

1.4 Kapitelübersicht

Im Sinne einer Einführung zum Thema Beziehungskompetenz gibt das 2. Kapitel zunächst einen Einblick in die grundlegende Bedeutung von (gelingenden) Beziehungen für unsere menschliche Existenz. In diesem Kontext werden u. a. aus neurobiologischer und kommunikationstheoretischer Sicht Bedingungen für gelingende Beziehungen erörtert. Thematisiert wird zudem der Einfluss unseres Menschenbildes und der Einfluss der Art unserer Kommunikation auf unsere Beziehungen sowie die Schwierigkeit, eine Balance zwischen den einander gegenüberstehenden Grundbedürfnissen Zugehörigkeit/Anerkennung einerseits und Autonomie/Selbstbehauptung andererseits zu finden. Das Gelingen dieser Balance – als zentrale Voraussetzung für Beziehungskompetenz – wird mit dem Relationalitäts-Paradigma von Friederike Rothe (2006) veranschaulicht.

Im 3. Kapitel steht das Modell der Gewaltfreien Kommunikation von Marshall B. Rosenberg (z. B. 2004a) mit seiner Entstehungsgeschichte, seinen Inhalten, seinen Zielen und seinem theoretischen Hintergrund im Zentrum. Zudem werden die vier Schritte des Sprachkonzeptes von Rosenberg erläutert. In Kapitel 3.3 setze ich die GFK mit dem Relationalitäts-Paradigma von Rothe (2006) in Beziehung. Eine kritische Würdigung der GFK schließt dieses Kapitel ab.

Das 4. Kapitel stellt den Bezugsrahmen zur beruflichen Relevanz von Beziehungskompetenz her. Zunächst werden Einblicke in bestimmte Wesensmerkmale von (sozialen) Organisationen gegeben. In Orientierung an Friedrich Glasl (vgl. 2005, 7 ff.) gehören alle Einrichtungen des Sozial- und Gesundheitswesens zu sozialen Organisationen. Insofern beziehe ich in die Bearbeitung meines Themas professionelle Helfer aus angrenzenden Fachgebieten (z. B. aus Gesundheitsberufen) mit ein. Thematisiert werden im Weiteren bestimmte Charakteristika von Arbeitsbeziehungen, der Zusammenhang zwischen der Qualität von Arbeitsbeziehungen und Arbeits(un)zufriedenheit sowie zentrale Aspekte des Kompetenzprofils Sozialer Arbeit. Es wird eine begriffliche Differenzierung für professionelle Beziehungskompetenz (a) als Schlüsselkompetenz Sozialer Arbeit und (b) als Wirkfaktor für die Qualität (inter-)kollegialer Beziehungen vorgenommen. Ein eigener Definitionsvorschlag für professionelle Beziehungskompetenz am Ende des 4. Kapitels bildet den Abschluss des theoretischen Teils.

Im 5. Kapitel widme ich mich hauptsächlich der Frage nach den Ursachen und den (gesundheitlichen) Folgen des Konfliktgeschehens und psychosozialer Fehlbelastung in helfenden Berufen. In diesem Kontext werden die Phänomene Burnout und Mobbing als Bedingungsfaktoren für und als Folgen von gestörten Arbeitsbeziehungen diskutiert. Gefragt wird zudem nach möglichen Ursachen für das erhöhte Konflikt-, Mobbing- und Burnout-Geschehen speziell in der Sozialen Arbeit. Dem geht eine Erörterung des Konfliktbegriffs aus neurobiologischer, stress- und kommunikationstheoretischer Perspektive sowie aus der Perspektive der GFK voraus. Thematisiert werden im Weiteren die Bedeutung der Sprache als beziehungsgestaltendes Element in der sozialarbeiterischen Praxis sowie die Wechselwirkungen zwischen psychosozialer Belastung, Beziehungsgestaltung, Gesundheit und Arbeits(un)zufriedenheit.

Im Mittelpunkt des Praxisteils der Arbeit steht das 6. Kapitel. Auch hier wird auf die Alltagspraxis der Sozialarbeit Bezug genommen – exemplarisch am Beispiel der Klinischen Sozialarbeit, die ein eigenständiger Fachbereich der Sozialarbeit ist (Wendt 2002) und als Überbegriff gesundheitsbezogener Sozialarbeit gilt. Untersucht wird die verhaltensbeeinträchtigende Wirkung struktureller Defizite (insbesondere der sozialen Distanz zwischen den Hierarchiestufen) in der stationären Psychiatrie. Anhand einer Analyse meiner Praxisbeobachtungen (Ludewig 2008) werden verschiedene sich daraus ergebende Konfliktfelder herausgearbeitet und Hypothesen gebildet. Hier muss hinzugefügt werden, dass die Psychiatrie nach den Kriterien von Glasl (vgl. 2005, 7 ff.) zwar eine soziale Organisation ist, m. E. stellt sie als „totale Institution“ (Goffman 1973) jedoch eine Sonderform dar und ist mit den Zielsetzungen anderer sozialer Organisationen (wie z. B. mit Wohlfahrtsverbänden; s. Kap. 4.1) nur punktuell zu vergleichen. In diesem Zusammenhang wird auch ein kritischer Blick auf die Funktion der Psychiatrie als totale Institution im gesellschaftlichen Kontext geworfen.

Nach erfolgter Problemfokussierung im 5. und 6. Kapitel wird im 7. Kapitel (u. a. mit Blick auf meine These) die Frage nach der Wirksamkeit von Interventionen in sozialen Organisationen bzw. die Frage des Gelingens der Implementierung von innovativen Methoden kritisch diskutiert. Erörtert werden u. a. einige Kontextbedingungen, die angestrebte Veränderungen begünstigen bzw. verhindern können. Eines der Kernthemen ist das Postulat der Beharrungsfähigkeit bzw. der Nichtsteuerbarkeit von Organisationen aus systemtheoretischer Sicht (s. Kap. 7.3).

Im 8. Kapitel werden mögliche Lösungswege für die zuvor diskutierte Problematik erörtert. Dargelegt werden wesentliche Kerninhalte des Konzeptes der Lernenden Organisation von Peter M. Senge (1998) und darauf aufbauend der Konzepte der Organisations- und Personalentwicklung sowie der betrieblichen Gesundheitsförderung, die einen Rahmen für den Einsatz innovativer Methoden wie z. B. der GFK bilden. Als handlungsleitende Vision im Sinne der GFK stelle ich einige zentrale Kriterien des Konzeptes der Lebensbereichernden Organisation von Rosenberg (2004b) vor, um im Anschluss auf mein Praxisbeispiel einzugehen und Anknüpfungspunkte an diese Vision im psychiatrischen Kontext zu suchen. In Kapitel 8.6 wird u. a. die Struktur von Konzepten zur Förderung von Beziehungskompetenz skizziert. Zudem werden einige entsprechende Interventionsmöglichkeiten auf der Einstellungs- und Verhaltensebene sowie relevante Studienergebnisse erörtert.

Das 9. Kapitel schließlich fragt konkret nach den Einsatzmöglichkeiten der GFK als Interventionsmethode. Nach erfolgter Prüfung ihrer Methodentauglichkeit (u. a. anhand der Ergebnisse von drei empirischen Untersuchungen) geht es um verschiedene Varianten, die GFK in soziale Organisationen zu implementieren, sowie um Anwendungsmöglichkeiten in sozialarbeiterischen Arbeitsfeldern. Zudem werden drei konkrete Vorschläge skizziert, wie die GFK als Strategie (a) zur seelischen Stabilisierung, (b) zur Konfliktbewältigung in Mobbing-Situationen und (c) zur Gewaltreduktion in der Akutpsychiatrie genutzt werden könnte. In Kapitel 9.3 nehme ich unter Einbeziehung der zuvor erarbeiteten Erkenntnisse zu meiner Grundthese Stellung.

Den Abschluss bildet das 10. Kapitel mit einer Schlussbetrachtung und mit einem Ausblick. Dabei werden die drei o. g. Leitfragen noch einmal aufgegriffen, die wichtigsten Erkenntnisse und Ergebnisse zusammengefasst und in Bezug auf mein Thema reflektierend erörtert. Die Ergebnisse dieser drei Leitfragen werden zueinander in Beziehung gesetzt, womit u. a. die Komplexität der Thematik gelingende Arbeitsbeziehungen in sozialen Organisationen verdeutlicht werden soll. Ziel dieser Arbeit ist es nicht, abschließende Antworten auf diese Fragen zu finden. Zwar werden aus den Ergebnissen Rückschlüsse für nötige Konsequenzen auf den verschiedenen benannten Ebenen gezogen, Grenzen benannt sowie mögliche Handlungsoptionen aufgezeigt. Vielmehr soll dieses abschließende Kapitel jedoch Impulse für weiterführende Diskurse geben und auf in Praxis und Forschung zu bearbeitende Problemfelder verweisen – im Sinne einer nachhaltigen Verbesserung der Arbeitssituation von Menschen in psychosozialen Arbeitsfeldern. Diesbezüglich gehe ich an dieser Stelle auch noch einmal auf mein Praxisbeispiel – mein Praktikum in einer psychiatrischen Klinik – ein.

1Wenn ich im Kontext der Psychiatrie von Klienten spreche, dann spreche ich aus der Perspektive des Sozialarbeiters eingedenk der Tatsache, dass Ärzte und Pflegepersonal dieselben Menschen als Patienten bezeichnen. Diese Unterscheidung unterstreicht, dass Sozialarbeiter, die im Gesundheitswesen tätig sind, mit ihrem Handlungsauftrag einen anderen Blick auf die ihnen anvertrauten Menschen haben sollen und dürfen.

2. Theoretische Positionen zum Verständnis von Beziehung und Kommunikation

Ein erster Bezug der Sozialarbeit zu meinem Thema ergibt sich bereits aus einem Kernelement dieser Profession, denn: Soziale Arbeit IST Beziehungsarbeit. Diese Aussage findet ihre Differenzierung in der Definition für professionelle Soziale Arbeit des internationalen Sozialarbeiterverbandes (vgl. IFSW 2005), nach welcher sich „[p]rofessionelle Soziale Arbeit in ihren verschiedenen Formen […] an die vielfältigen und komplexen Beziehungen zwischen Menschen und ihrer Umwelt [richtet]“. Neben der Förderung des sozialen Wandels zielt Soziale Arbeit darauf ab, mit einer Vielfalt an Methoden „Menschen zu befähigen, ihre gesamten Möglichkeiten zu entwickeln, ihr Leben zu bereichern und Dysfunktionen vorzubeugen“ (Bernler & Johnsson 1993, 32). In diesem Sinne ist psychosoziale Arbeit2 ein zentraler Aspekt der Sozialarbeit (vgl. ebd.), deren integrative Ausrichtung sich an der Beziehung zwischen Mensch und Umwelt in Form einer Austauschbeziehung verdeutlicht (vgl. Preis 2006, 61; Berufsethische Prinzipien des DBSH 1997). In Fachkreisen wird mitunter sogar die Meinung vertreten, Beziehungsarbeit als Methode sei vorrangig bzw. „fast wichtiger als die sozialarbeiterischen Handlungsarten […]“3 (Herwig Lempp 2002, 42).

Obschon die renommierte Sozialpädagogin und Forscherin Maja Heiner (1944 –2013) in erster Linie an einen professionellen Kontakt zwischen Sozialarbeiter und Klient denkt, wenn sie in dem „Aufbau von vertrauensvollen Beziehungen […] das wichtigste Erfolgskriterium“ (2004, 140) sieht, lege ich meiner Arbeit das Postulat zugrunde, dass dieses Kriterium ebenso für die Zusammenarbeit zwischen professionellen Helfern in sozialen Organisationen zutrifft.

Als theoretische Grundlegung für mein Thema wird in diesem Kapitel zunächst die Frage nach dem Einfluss des Menschenbildes auf die Art unserer Beziehungsgestaltung, die Bedeutung von gelingenden Beziehungen und von Kooperation für die menschliche Existenz (2.1 – 2.3) sowie die Frage nach den Bedingungen für eine gelingende Beziehungsgestaltung aus kommunikationstheoretischer Sicht diskutiert (2.4.1 –2.4.2). Diese Bedingungen konkretisieren sich in dem Relationalitäts-Paradigma, das die Kommunikationswissenschaftlerin Friederike Rothe (2006) als Voraussetzung für eine gelingende Kommunikation – und damit auch für gelingende Beziehung – postuliert. Dieses Paradigma, das in den Kapiteln 2.4.3 und 2.4.4 erörtert wird, stellt eine weitere zentrale Basis für mein Verständnis von gelingender Beziehung und somit für meine These dar.

2.1 Zum Wesen von Beziehungen

„Unsere Welt ist eingebettet in den Kosmos als ein unendliches Geflecht von Beziehungen – wir leben in einem universellen Beziehungstanz.“

Wolf Ritscher (2007, 17)

Wenn wir danach fragen, was unter dem Begriff Beziehung zu verstehen ist, zeigt sich, dass allein schon die Vielfalt von Beziehungsarten (wie z. B. Arbeits-, Freundschafts-, Liebes- oder Verwandtschaftsbeziehungen) keine einheitliche Definition zulässt. So existiert laut Gerold Mikula (1993, 304) in der Beziehungsforschung bislang „kein allgemein akzeptierter Katalog von Merkmalen oder Variablen für die Beschreibung von Beziehungen“. Ganz allgemein wird unter Beziehung jedoch ein ganz formales Konzept verstanden, mit dem die Verbindungen zwischen verschiedenen Elementen eines Systems oder zwischen Systemen gemeint sind (vgl. Ritscher 2007, 33). Die beiden Pioniere der Psychosomatischen Medizin Thure von Uexküll und Wolfgang Wesiack (2003, 38) entwerfen ein Bild aus „Fäden von Nachrichtennetzen […], die lebende Systeme mit anderen Systemen und ihrer Umgebung verknüpfen“. So stellt der Mensch als Teil eines Systems selbst ein komplexes System dar, welches „aus einer Vielfalt unterschiedlicher Bezüge und Wechselwirkungen“ (Wehmeier 2001, 131) besteht.

Die Gründe für das Fehlen einer eindeutigen Definition sieht Robert A. Hinde (1993, 8), ein bedeutender Pionier der psychologischen Beziehungsforschung, in der Komplexität der „Phänomene zwischenmenschlicher Beziehungen – mit all ihrer Vielfalt, ihren mannigfaltig interagierenden Variablen, den Schwierigkeiten ihrer Beschreibung und Messung […]“.4

Beziehungen unterscheiden sich u. a. hinsichtlich der Interessen und Ziele der Beteiligten, ihres Systemkontextes (Mikro-, Meso-, Makroebene), ihres sozial-emotionalen Klimas sowie hinsichtlich der Rollen und Zuständigkeiten der jeweiligen Beziehungspartner (vgl. Kaiser 2000, 136). Überdies werden Beziehungen durch bestimmte Muster geprägt (vgl. Ritscher 2007, 34). Unter dem Einfluss der Erkenntnisse der Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick, Janet H. Beavin und Don D. Jackson (vgl. 1990, 68 ff.) unterscheidet die Kommunikationsforschung heute zwischen symmetrischen, komplementären und reziproken Beziehungen (vgl. dazu auch Delhees 1994, 316 f.).

Die Frage, wie Beziehungssysteme im Zwischenmenschlichen mit ihren „Hervorlockungen und Blockierungen“ funktionieren, ist laut dem Psychologen und Kommunikationsforscher Friedemann Schulz von Thun (vgl. 2001b, 247) noch weitgehend unerforscht. Nach seiner Auffassung seien „hier Energieströme und Resonanzphänomene wirksam“, die mit bisherigen kommunikationswissenschaftlichen Modellen nicht erklärbar seien (vgl. ebd.). Einigkeit besteht immerhin in der Erkenntnis, dass „Beziehungen […] Prozesscharakter [haben]“ (Wehmeier 2001, 50). Beziehungen verlaufen dynamisch und „jede Interaktion innerhalb einer Beziehung kann den weiteren Verlauf der Beziehung beeinflussen“ (Hinde 1993, 10). Umgekehrt stehe jede Interaktion unter dem Einfluss des Charakters der Beziehung, in die sie eingebettet ist (vgl. ebd.).

Der Psychologe und Organisationsberater Peter Kaiser (2000) versucht, Beziehung zu definieren, indem er zwischen Interaktion und Beziehung einen Zusammenhang herstellt. Demnach besteht eine Beziehung aus einer „Reihe einzelner Interaktionen zwischen einander bekannten Personen, zwischen Personen und Systemen sowie zwischen Systemen oder Subsystemen“ (ebd., 135), wobei jede Interaktion geprägt ist durch ihren Beziehungskontext und „sowohl von vorangegangenen als auch künftig erwarteten Interaktionen beeinflußt [wird]“ (ebd.). Diese Interaktionen bzw. inhaltlichen Botschaften sind für den Psychologen und Sozialwissenschaftler Wolf Ritscher (vgl. 2007, 33) das Medium, durch das Beziehungen hergestellt, entwickelt, erhalten oder auch zerstört werden. Beziehungen sind demnach eingebettet in eine soziale Komplexität, die in verschiedene wechselseitig aufeinander einwirkende Ebenen gegliedert ist. So beeinflusst z. B. das Wesen einer Gruppe den zwischenmenschlichen Umgang der Gruppenmitglieder und umgekehrt. In gleicher Weise existiert eine wechselseitige Beeinflussung von Gruppe und Gesellschaft (vgl. Hinde 1993, 10). Beziehung ist also nach den Worten des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber (1992, 19 f.) Gegenseitigkeit:

„Mein Du wirkt an mir, wie ich an ihm wirke. […] Wie werden wir von Kindern, wie von Tieren erzogen! Unerforschlich einbegriffen leben wir in der strömenden All-Gegenseitigkeit.“

2.2 Kooperation versus Konkurrenz – der Einfluss des Menschenbildes5 auf die Beziehungsgestaltung

„Wir glauben, unser Denken sei realistisch, wenn es von Mitgefühl befreit ist, von der Fähigkeit Schmerz zu teilen, Leid zu verstehen, und vom Gefühl der Verbundenheit mit allen Lebewesen. Denken wir aber ohne Mitgefühl, dann leben wir in einer Scheinwelt aus Abstraktionen, die Kampf und Konkurrenz zu den Triebkräften unserer Existenz machen.“

Arno Gruen (2013, 11)

Im Hinblick auf mein Thema – Beziehungskompetenz – widme ich mich nun dem Aspekt, der nach der Ansicht des Neurobiologen und Psychotherapeuten Joachim Bauer (2008) unser Menschenbild und damit auch die Gestaltung unserer Arbeitsbeziehungen am tiefgreifendsten beeinflusst: der – in unserer Gesellschaft kontrovers diskutierten – Frage, ob wir von Natur aus „auf Kampf oder auf Menschlichkeit ausgerichtete Wesen seien“ (ebd., 9). Diese Frage, ob Konkurrenz oder Kooperation die Existenz der Menschheit ermöglicht, stellt Joachim Bauer in seinem Buch Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren (2008) in den Mittelpunkt der Diskussion.6 Jede dieser beiden entgegengesetzten Grundhaltungen habe Auswirkungen auf verschiedenste gesellschaftliche Lebensbereiche und somit auch auf das menschliche Miteinander am Arbeitsplatz. So werde sich z. B. die Überzeugung eines Vorgesetzten, dass Menschen grundsätzlich auf ihren eigenen Vorteil bedacht seien, auf dessen gesamten Verhaltens- und Führungsstil am Arbeitsplatz auswirken (vgl. J. Bauer 2008, 12 f.).

Wie der Titel seines Buches bereits vermuten lässt, vertritt Joachim Bauer die These, dass „[d]as Streben des Menschen nach Zuwendung und Kooperation“ (ebd., 223) die Grundlage der menschlichen Existenz darstellt. Im Gegensatz dazu steht das Konzept des britischen Naturforschers Charles Darwin (1809 – 1882) vom „Kampf als Grundprinzip der Natur“ (J. Bauer 2008, 100), das damals den Grundstein für ein vor allem in westlichen Ländern verbreitetes anthropologisches Modell legte, wonach der Mensch von Natur aus auf den Kampf ums Überleben programmiert sei und jegliches Handeln, selbst das Kooperieren, auf selbstsüchtigen Motiven basiere (vgl. ebd., 19 f.). Dieses Menschenbild stützend trat 1976 der britische Soziobiologe Richard Dawkins mit der Auffassung an die Öffentlichkeit, dass das sogenannte ‚egoistische Gen‘ „Antriebsfeder allen Lebens auf dieser Erde sei […]“(ebd., 19). Ziel sei es, „sich selbst maximal zu vermehren und gegen die Konkurrenz anderer Gene durchzusetzen“ (ebd.). Dawkins habe mit seiner Theorie gerade im Bereich der Soziobiologie eine hohe positive Resonanz erfahren (vgl. ebd.). Das auf dem Denken Darwins fußende Menschenbild und die daraus folgenden Strategien hätten, so Joachim Bauer, „nicht zuletzt durch den Einfluss der Soziobiologie – keineswegs abgedankt, im Gegenteil“ (ebd., 201). Solche Konzepte, die „[a]uf Wettstreit der angeblich Tüchtigsten, auf Auslese und Neoliberalismus“ (ebd., 203) orientiert sind, „sind neuerdings wieder en vogue“ (ebd.). Kritisch fragt hier der deutsch-schweizerische Schriftsteller und Psychoanalytiker Arno Gruen (2013, 12):

„Wie können wir vor diesem Hintergrund überhaupt die Fragen über unser Überleben […], über Gewalt und Frieden klären, wenn die Annahme unsere Sicht verdunkelt, nur Kampf und Konkurrenz seien die Triebkräfte unserer Existenz?“

Joachim Bauer (vgl. 2008, 154 ff./224) setzt Dawkins Idee vom ‚egoistischen Gen‘ seine Auffassung entgegen, dass in den Genen primär das biologische Prinzip der molekularen Kooperation und Kommunikation verankert sei und belegt dies mit empirischen Forschungsergebnissen. Er kommt zu dem Schluss, dass nicht Konkurrenz, sondern schon immer Kooperation7 die Existenz der Menschheit gesichert hätte. Alle Systemforscher seien sich heute darin einig, dass sich die Entwicklung einfacher Systeme zu komplexen biologischen Strukturen nicht mit dem Prinzip des Verdrängungskampfes und der Auslese erklären ließe, sondern dass sie „in zentraler Weise Kooperation voraus[setzt]“ (ebd., 224).8 Das Erfolgsgeheimnis der Evolution sei nicht Konkurrenz, sondern Kooperation, welche „als zentrales Element einer gesellschaftlichen Wertordnung veranker[t]“ (ebd., 204 f.) werden müsse. In zahlreichen Experimenten hätte man nachweisen können, dass Menschen „in Alltagssituationen tatsächlich kooperieren“ (ebd., 185; kursiv i. O.). Joachim Bauer resümiert: Der Mensch ist „nicht für gesellschaftliche Modelle ‚gemacht‘, in denen Kampf und Auslese vorherrschen“ (ebd., 204; kursiv i. O.). Vielmehr seien Menschen Wesen, deren „zentrale Motivationen auf Zuwendung und gelingende mitmenschliche Beziehungen gerichtet sind“ (ebd., 9).9 Denn, so legt der Autor dar, das Gehirn reagiere auf gelungenes Miteinander, indem es Botenstoffe ausschütte, die wesentlich seien für positive Gefühle und für die Gesundheit (vgl. ebd., 30 ff.). Nicht zuletzt sei das Modell des zweckrationalen Entscheiders10 schon „vor allem deshalb falsch, weil es den im Menschen verankerten Wunsch, vertrauensvoll zu agieren und gute Beziehungen zu gestalten, außer Acht lässt“ (ebd., 191). Gestützt werden die Erkenntnisse des Autors durch prominente Vertreter aus anderen Fachgebieten, wie u. a. aus der Naturforschung, der Sozialwissenschaft, der Psychologie und der Organisationspsychologie. Exemplarisch seien hier der amerikanische Psychologe Carl Rogers (z. B. 1994), der Züricher Psychoanalytiker Arno Gruen (z. B. 2002) oder auch der südafrikanische Paläoanthropologe Phillip Tobias (s. in Mayer-Rönne 2006, 107) genannt. Tobias (vgl. ebd.) widerlegte die Theorie, dass die Menschheit schon immer Konflikte hauptsächlich gewaltsam gelöst hätte. Nach seiner Überzeugung überlebte die Menschheit nur, weil die Mitglieder eines Stammes kooperativ zusammengearbeitet und auf die Bedürfnisse aller geachtet hätten (vgl. ebd.). Laut der Wirtschaftspsychologin Erika Spieß (vgl. 1996, 166) konnte zudem in Studien belegt werden, dass sich in Organisationen im Rahmen eines kooperativen Arbeitsprozesses die Fähigkeiten der einzelnen Mitarbeiter nicht lediglich addieren, sondern dass sie sich im Sinne eines Synergieeffektes um ein Vielfaches erhöhen können (vgl. dazu auch Schrader 2008, 187; Petzold 1998, 295 ff.; Graeff 1996, 122 f.). So besteht für den Neurobiologen und Hirnforscher Gerald Hüther (2007b, 61)

„[d]ie große Aufgabe der Biologie im 21. Jahrhundert […] darin […], der so ausgiebig erforschten auseinander treibenden Kraft der Konkurrenz eine komplementäre, für den Zusammenhalt alles Lebendigen verantwortliche Kraft gegenüberzustellen und mit allen Mitteln ihrer wissenschaftlichen Kunst zu erforschen“.

 

2.3 Kooperation und Beziehung als Grundbedürfnis des Menschen

„Der Mensch hat in einer fruchtbaren Atmosphäre die Freiheit, jede Richtung zu wählen; tatsächlich wählt er jedoch die konstruktive.“

Peter F. Schmid (1989, 102)

Dass Beziehungen für Menschen als soziale Wesen ein Grundbedürfnis darstellen, wurde inzwischen durch viele empirische Studien und vor allem durch neuere Untersuchungen in der Neurobiologie belegt (vgl. Bauer 2010, 12 ff.). Der amerikanische Psychologe und Mitbegründer der Humanistischen Psychologie Abraham H. Maslow (1908 – 1970) ist davon überzeugt, dass soziale Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Liebe, Kommunikation, Kontakt, Geborgenheit, Achtung und Vertrauen sowie Aufmerksamkeit gegenüber der eigenen Person existenzieller Natur seien, deren Nichtbefriedigung krankmachende Folgen haben könne (vgl. Maslow 2008, 62 ff.). Menschen, die aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden und denen somit der soziale Resonanzraum fehlt, könnten im Extremfall sogar daran sterben, konstatiert Bauer (vgl. 2006, 105). Verantwortlich für dieses Geschehen sei das System der Spiegelneurone, das zur neurobiologischen Grundausstattung gehöre (vgl. ebd., 119). Diese „Spiegelneurone stellen einen gemeinsamen sozialen Resonanzraum bereit […]“, sie bieten „einen überindividuellen, intuitiv verfügbaren, gemeinsamen Verständigungsraum“ (ebd., 106). Seit ihrer Entdeckung im Jahr 1995 wird in Spiegelneuronen die biologische Ursache für die Fähigkeit der Empathie und Imitation vermutet: Man nimmt an, dass das, was Individuen tun bzw. empfinden, bei den beobachtenden Individuen eine spiegelnde Aktivierung ihrer neuronalen Systeme auslöst – „so, als würden sie selbst das Gleiche empfinden oder die gleiche Handlung ausführen […]“ (ebd.). Dieses Phänomen wird als neurobiologische Resonanz bezeichnet (vgl. ebd., 23).11 Bleiben diese Signale der spiegelnden Resonanz aus, wird unser Gefühl der Zugehörigkeit und der sozialen Identität infrage gestellt, „das Individuum bewegt sich plötzlich in einer Art luftleeren Raum“ (ebd., 107).12 Bauer schlussfolgert daraus, „dass der Empfang einer Mindestdosis von verstehender Resonanz ein elementares biologisches Bedürfnis“ (ebd.) darstellt, ohne das kein gesundes Selbstwertgefühl entwickelt werden könne.13 Dass Menschen einander als Personen wahrnehmen, sei aus neurobiologischer Sicht „[e]rste Voraussetzung für Beziehung“ (ders. 2008, 193). Anerkennung, Vertrauen und Zugewandtheit ist für Joachim Bauer „der neurobiologische Treibstoff der Motivationssysteme“ (ebd., 192; kursiv i. O.). Entsprechend sei „Nichtbeachtung […] ein Motivationskiller und Ausgangspunkt für aggressive Impulse“ (ebd., 193). Aus dieser Perspektive stünden Aggressionen im Dienste sozialer Beziehungen, denn sie würden dann auftreten, wenn wir unsere Beziehungen als bedroht empfinden, sie fehlen oder nicht gelingen (vgl. ebd., 75 ff.).14 Folgende fünf Kriterien hält der Autor (vgl. ebd., 192) für das Gelingen von zwischenmenschlichen Beziehungen für entscheidend:

(1) Sehen und Gesehenwerden,

(2) gemeinsame Aufmerksamkeit gegenüber etwas Drittem,

(3) emotionale Resonanz,

(4) gemeinsames Handeln und

(5) wechselseitiges Verstehen von Motivation und Absicht.

Der dauerhafte Ausfall nur einer dieser fünf Kriterien könne Beziehungen – ob am Arbeitsplatz oder im privaten Umfeld – zum Scheitern bringen (vgl. ebd., 192 f.; s. dazu die Kap. 5.5.2.1 und 5.5.2.2).

Wie erklärt sich nun dieses Bedürfnis nach Beziehung und Kooperation? Hüther (vgl. 2007a) beantwortet diese Frage auf einem im Jahr 2007 in Heidelberg gehaltenen Vortrag folgendermaßen: Im Menschen seien zwei wesentliche miteinander konkurrierende Grundbedürfnisse – Verbundenheit bzw. Zuwendung sowie Wachstum bzw. Autonomie – bereits vorgeburtlich angelegt, denn das seien die Grunderfahrungen, die der Embryo bereits im Mutterleib mache. Mit dieser Erwartungshaltung trete der Mensch dann in die Welt (vgl. ebd., Audiovortrag, Kap. 4, ab Min. 0:03). Demnach könne sich das menschliche Gehirn nur in sozialen Gemeinschaften entwickeln (vgl. ebd., ab Min. 2:25). In seinem Vortrag entwickelt Hüther (vgl. ebd., ab Min. 0:55) ein Bild von „individualisierten Gemeinschaften“, in denen beide Bereiche gleichermaßen erfüllt seien: mit andern Menschen verbunden sein und sich gleichzeitig frei entfalten können. Dieses Bild deckt sich mit der These von Joachim Bauer (vgl. 2008, 205), wonach eine auf Kooperation basierende Werteordnung die Freiheit des Einzelnen wahre und zudem Kreativität, professionelle Kompetenz und Bildung fördere. Für Bauer sind die bereits im Mutterleib auf Kooperation und Zuwendung angelegten Grundtendenzen verantwortlich dafür, dass Menschen, wenn sie die Wahl haben, „kooperatives Vorgehen einzelkämpferischen Strategien vor[ziehen]“ (ebd., 191).

Der dänische Familientherapeut Jesper Juul (vgl. 1997, 93) schlussfolgert, es sei ein Mythos des vergangenen Jahrhunderts zu glauben, das Bedürfnis des Individuums, seine Integrität zu wahren und zu entwickeln, sei nicht mit dem gesellschaftlichen Bedürfnis nach Organisation und Entwicklung vereinbar. Genau das Gegenteil sei der Fall. In der Pflege der Integrität und Autonomie des Einzelnen sieht Juul die Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung von Gemeinschaften: „Es gibt kein kollektives Wohlbefinden, wenn es sich nicht auf individuelles Wohlbefinden gründen kann“ (ebd.).

2.4 Gelingende Kommunikation als relationales Paradigma

Der Begriff gelingende Kommunikation geht zurück auf die Theorie des Kommunikativen Handelns des Philosophen und Soziologen Jürgen Habermas (1981), in welcher er postuliert, dass es bestimmte Bedingungen für die „ideale Sprechsituation“ gebe. Dazu gehört u. a., dass sie symmetrisch sein muss. Das heißt, sie darf weder durch Herrschaft noch durch interne Zwänge, wie z. B. durch Angst, behindert werden. Um Konsens zu erreichen, müsse in der Diskussion zudem eine Chancengleichheit für beide Kommunikationspartner bestehen. Auch setze die „Herbeiführung eines Einverständnisses“ Verständigung voraus. Für Habermas basiert Verständigung auf einem intersubjektiven Prozess15 des Bemühens um wechselseitiges Verstehen, auf gegenseitigem Vertrauen sowie auf geteiltem Wissen (vgl. Frindte 2001, 52; Delhees 1994, 45).16

Die Theorie von Habermas (1981) wird in der Kommunikationswissenschaft konträr diskutiert; so ist – in Abgrenzung zu dieser Theorie – nach dem systemtheoretischen Verständnis des Soziologen Niklas Luhmann (vgl. u. a. 1988) identisches Sinnverstehen als Ideal einer „gelingenden Kommunikation“ nicht möglich. Denn das, was nach außen sichtbar wird, sei immer nur eine Reduktion dessen, was an Reflexion, Wissen und Ideen im psychischen System des Menschen vorhanden ist, jedoch unzugänglich bleibt: „Systeme [können] nur ein Selbstverständnis [entwickeln], nie aber ein Fremdverständnis […], ganz gleich, wie sie sich bemühen“ (Faßler 1997, 66). Auch Heinz J. Kersting (vgl. 1991, 109) bezweifelt, dass wir einander wirklichverstehen können, doch dank unserer Sprachfähigkeit seien wir „nicht total abgeschlossene Systeme“ (ebd.) und könnten uns immerhin auf einen gemeinsamen Sinn verständigen bzw. einen solchen konstruieren, der wiederum die Grundlage für gemeinsames Handeln bilde.

Das Entstehen dieses konsensuellen Bereiches erklären die chilenischen Neurobiologen Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela (z. B. 2009) mit ihrem Konzept derstrukturellen Kopplung. Danach bilden Kommunizierende als lebende psychische Systeme ein nur für sie typisches Kommunikationsmuster. Erreichen die wechselseitigen Beeinflussungen eine Stabilität im Sinne einer Passung, können sich die Interagierenden gegenseitig zu Strukturveränderungen und damit zur Entwicklung anregen (vgl. Kleve 2003b, 144; Bardmann et al. 1992, 42; Hollstein-Brinkmann 1993, 48). Dennoch ist es nach dieser Theorie niemals möglich, ein anderes System so zu erfassen, wie es ist. In jedem Annäherungsprozess bleibe offenbar ein Teil, der durch Verstehen nicht erfasst werden könne (vgl. Kersting 1991, 109; Kleve 2003a, 74 ff.; Vogel 1996, 169; Seethaler 1998, 75).

Die Bedingungen für das Herstellen dieses konsensuellen Bereiches im Sinne gelingender Kommunikation sollen Thema dieses Kapitels sein, wobei ich mich ausschließlich auf die kommunikationstheoretischen Positionen konzentriere, die für das Verständnis des Zusammenhangs zwischen Kommunikation – als „wichtigste Form sozialer Interaktion“ (Ries 1998, 446) – und Beziehungsgestaltung hilfreich sind. In diesem Sinne ist Kommunikation ein zentrales Thema der Sozialpsychologie.

2.4.1 Der Zusammenhang zwischen Beziehung und Kommunikation

Die Etymologie des Wortes Kommunikation weist bereits auf den engen Zusammenhang zwischen Kommunikation und Beziehung hin: Das lateinische Wort communicatio wird übersetzt mit Mitteilung, Verbindung, Verständigung. Hier zeigt sich der „soziale Charakter“ von Kommunikation (vgl. Delhees 1994, 13): Menschen treten zu anderen Menschen in Beziehung.

Der Sozialwissenschaftler Heiko Kleve (2003a, 89) formuliert noch konsequenter, „daß sich soziale Systeme aus Kommunikation und nur aus Kommunikation konstituieren […]“ und für Rothe (vgl. 2006, 15) sind die Begriffe interpersonale Kommunikation und sozial tautologisch. Letztlich sei „Kommunikation […] der Lebensnerv jeder Beziehung“, betonen Roger Fisher & Scott Brown (1992, 129), zwei Vertreter des Harvard-Konzeptes. Hierbei ist für Rothe (2006) der Begriff Beziehung weiter gefasst als die räumlich-zeitliche Dimension der Face-to-Face-Kommunikation. Denn Beziehung meine immer „das Gesamt der Kommunikation“ (ebd., 16) zwischen Menschen im Rahmen einer bestimmten Zeit und einer bestimmten Qualität. Den Begriff Begegnung hingegen setzt Rothe mit Face-to-Face-Kommunikation gleich (vgl. ebd.).

Durch Kommunikation werden Beziehungen in und zwischen sozialen Systemen definiert bzw. ausgehandelt. Dabei trägt jeder Kommunikationsvorgang zur Entstehung von Interaktionsmustern bei, die den weiteren Verlauf der Beziehung bestimmen (vgl. Wiemann & Giles 1996, 360; Frindte 2001, 143). Mit Fisher & Scott (1992, 105) kann also festgehalten werden, dass die Qualität unserer Kommunikation „ein Indikator für den Zustand der Beziehung“ ist. Durch die Art unserer Kommunikation können wir Beziehungen vertiefen oder auch zerstören. Die Frage nach dem Bedingungsgefüge für gelingende Arbeitsbeziehungen in Teams ist also immer auch verbunden mit der Frage nach gelingender Kommunikation.

Ausgehend von dem Erkenntnisinteresse meiner Arbeit, wie wir effektiv auf eine positive Veränderung des Arbeitsklimas in sozialen Organisationen einwirken können, greife ich im Folgenden einige kommunikationstheoretische Aspekte auf, die zum einen für eine verständigungsorientierte Kommunikation – als Grundvoraussetzung für funktionierende Beziehungen in Teams – und zum anderen als theoretische Grundlegung für das Modell der Gewaltfreien Kommunikation (Rosenberg 2004a) von Bedeutung sind.

2.4.2 Ausgewählte theoretische Grundannahmen zur Kommunikation

„Sobald ein Mensch auf diese Erde kommt, ist Kommunikation der größte Einzelfaktor, der darüber entscheidet, welche Art von Beziehungen er mit anderen eingeht und was ihm widerfährt.“

Virginia Satir (in Cole & Steinweg-Fleckner 2003, 7)

Um es gleich vorwegzunehmen: Kommunikation bezieht sich auf ein breites Spektrum von Phänomenen; sie ist also – mit den Worten des Schriftstellers Theodor Fontane (2011) – „ein weites Feld“.17 Unmöglich kann in diesem Rahmen die Fülle der (durchaus interessanten und auch wichtigen) Aspekte der Kommunikation im Detail reflektiert werden. Definitionsversuche für Kommunikation gibt es viele18, was darauf hindeutet, dass nicht klar ist, was Kommunikation eigentlich ist, sonst würden die Ansichten verschiedener Kommunikationstheoretiker nicht so weit auseinanderdriften (vgl. dazu u. a. Endruweit 1989, 343). Rothe (2006) resümiert, dass das Phänomen der Kommunikation bislang nicht hinreichend erforscht sei, vielmehr gebe es „eine ganze Reihe von multidisziplinär verankerten und terminologisch heterogen formulierten Theoriefragmenten […], die kaum kompatibel zu sein scheinen“ (ebd., 2).

Übereinstimmung in der Fachwelt besteht immerhin in der Erkenntnis, dass Kommunikation ein sozialer Prozess ist, in welchem Zeichen aller Art zum Zweck der Informationsvermittlung zwischen Systemen ausgetauscht werden (vgl. Ries 1998, 446; Ellgring 1987, 196 f.). Auch sind sich die Experten der relevanten Professionen darüber einig, dass Kommunikation unsere menschliche Existenz grundlegend prägt. So wäre bspw. aus der Sicht von Kleve (2003a, 75) ohne kommunikatives Verhalten „[d]ie Evolution sozialer Wesen, wie etwa des Menschen […] undenkbar […]“. Die Einschätzungen der Kommunikationstheoretiker divergieren hauptsächlich bezüglich der Frage, ob Kommunikation als linearer oder als zirkulärer Prozess verstanden werden sollte.

Im Kontext meines Themas konzentriere ich mich auf das systemische Verständnis von Kommunikation, nach welchem im Verlauf eines zirkulären Prozesses Sender und Empfänger voneinander abhängige, sich gegenseitig beeinflussende Teile des gemeinsamen (Kommunikations-)Systems bilden.19 Kommunikation ist demnach keine lineare Kausalkette von Ursache und Wirkung, sondern ein System mit Rückkopplung. Es gibt somit keinen eindeutigen Anfang und kein eindeutiges Ende. Vielmehr erfolgt die „Interpunktion der Ereignisfolgen“ (Watzlawick et al. 1990, 57) aus der subjektiven Sicht der Gesprächspartner. In einer ständigen Abfolge von Botschaften, Reizen und Reaktionen ist jeder der Beteiligten in gleicher Weise Sender wie Empfänger von Signalen. Eine „säuberliche Trennung von Reiz und Reaktion (Täter und Opfer, Subjekt und Objekt)“ (Neuberger 2002, 627) ist demzufolge nicht möglich. Dabei kann Kommunikation als reziproker Prozess nur im Gesamtzusammenhang der begleitenden und gleichzeitig ablaufenden Prozesse (wie z. B. auch die Botschaften auf nonverbaler Ebene) verstanden werden. Diese Perspektive grenzt sich ab von einer traditionellen, der monadischen Sichtweise verhafteten Psychologie, indem sie sich „mit den Beziehungen zwischen und nicht der Natur von Entitäten befaßt“ (Watzlawick et al. 1990, 23; kursiv i. O.). Es interessiert stets, wie Menschen ihre Kommunikation zueinander gestalten, nicht weshalb sie dies tun, denn das Wie ihrer Kommunikation bilde die Regeln des Umgangs miteinander und definiere die Beziehung (vgl. dazu das 2. Axiom von Watzlawick et al. 1990, 53 ff.).20 In einem zirkulären Kommunikationsprozess geht es also um die Interaktionen, die in bestimmte Kontexte der Umwelt eingebunden sind. Sowohl diese Interaktionen als auch die aktuelle soziale Situation haben nach dieser Theorie Einfluss auf das Verhalten der Akteure (vgl. ebd., 22 ff.). Kommunikation und Interaktion dienen der Herstellung und Aufrechterhaltung von sozialen Systemen, gleichzeitig regeln sie das Verhältnis der Systeme und Subsysteme zueinander (vgl. ebd., 114 ff.). Durch das Erkennen der wechselseitigen zirkulären Beeinflussung der Kommunikationspartner können laut dem Sozialwissenschaftler Ulrich Pfeifer-Schaupp (vgl. 2002, 21 f.) wirkungsvolle Impulse zur Veränderung von verfestigten Kommunikationsmustern entstehen: weg von den Charaktereigenschaften des Einzelnen hin zur Suche nach dem vorherrschenden Kommunikationsmuster zwischen den Beteiligten (vgl. u. a. auch Wiemann & Giles 1996, 333; Wellhöfer 1988, 94; Esser 2000a, 258 f.; Biesenkamp & Buck 2006, 13).

In den nächsten drei Kapiteln (2.4.2.1 – 2.4.2.3) erörtere ich drei kommunikationstheoretische Positionen, deren Inhalte m. E. für eine gelingende Beziehungsgestaltung einen zentralen Stellenwert haben und die eine weitere Grundlage für das Verständnis der GFK bilden.

2.4.2.1 Wahrnehmen und Verstehen

Nach der Einschätzung von Rothe (vgl. 2006, 15/100) findet zwischenmenschliche Kommunikation bereits dann statt, wenn ein Mensch wahrnimmt, dass seine Wahrnehmung von der anderen Person wiederum wahrgenommen wird. Das heißt, wir treten in das Wahrnehmungsfeld des anderen ein.21 Von unserer Wahrnehmung hängt allerdings entscheidend ab, wie wir miteinander kommunizieren. Ausschlaggebend ist hier das konstruktivistische Postulat, dass unsere Wahrnehmung nie die objektive Realität widerspiegelt, sondern dass die sogenannte Wirklichkeit „gleichbedeutend ist mit unserem subjektiven Erleben der Existenz, daß Wirklichkeit die Struktur ist, die wir der Welt auferlegen“ (Watzlawick et al. 1990, 249; vgl. dazu auch Hollstein-Brinkmann 1993, 30; Kleve 1999, 104; Bardmann et al. 1992, 11 f.; Pallasch & Petersen 2005, 47).22 Dabei sind uns eher jene Informationen zugänglich, die wir aufgrund unserer verinnerlichten sozialen Konzepte erkennen können und die für uns Sinn ergeben (vgl. Kleve 2003b, 196 f.). Je nachdem, welche Kriterien ein Beobachter seiner Auswahl von Informationen zugrunde legt, aus welcher Perspektive, mit welchen Bewertungen und mit welchem Ziel er einen Sachverhalt betrachtet, wird er ‚seine‘ Wirklichkeit beschreiben (vgl. Simon 2002, 140).23 Unsere Wahrnehmung ist also immer selektiv und somit eine Reduktion von Wirklichkeit. Unsere Art zu kommunizieren wird jedoch nicht nur beeinflusst von unseren Wertvorstellungen, Denkmustern und Überzeugungen, sondern auch von der aktuellen Situation und dem Beziehungsgefüge, in dem wir leben. Persönliche Erfahrungen bieten hier oft die Grundlage für die Entwicklung bestimmter Einstellungen oder auch Vorurteile und Stereotype, die dann unsere Personenwahrnehmung beeinflussen. Wir schreiben also Menschen bestimmte Eigenschaften aufgrund unserer impliziten Persönlichkeitstheorien zu (vgl. Sawizki 1995, 54 f.; auch Dechmann & Ryffel 2001, 33 f.; Wellhöfer 1988, 104/114 ff.).24 In diesem Sinne beschreibt Wolfgang Frindte (2001, 17) Kommunikation als „ein[en] soziale[n] Prozess, in dessen Verlauf sich die beteiligten Personen wechselseitig zur Konstruktion von Wirklichkeit anregen“.

Dieser Ansatz ist für das Verständnis der GFK von zentraler Bedeutung, denn von dem Postulat ausgehend, dass „Objektivität eine Illusion bleiben muss“ (Kleve 1999, 103), betont auch Rosenberg (vgl. Rosenberg & Seils 2004, 61 ff.), dass die Einteilung in richtig und falsch, gut und böse allein auf Konzepten gesellschaftlicher Normen bzw. Strukturen und subjektiver Bewertung basiere. Ein wesentliches Medium, „über das Konstruktion von Wirklichkeit geschieht […]“ (Beer 2003, 61), ist die Sprache. Sie suggeriert, wir würden, wenn wir miteinander sprechen, das Gleiche meinen. Doch selbst, wenn wir dieselben Worte verwenden, können sie in jeweils völlig unterschiedlichen Bedeutungszusammenhängen stehen. Da wir, wie bereits oben erwähnt, immer nur das verstehen können, was unser System zulässt, ist es dann schon nicht mehr das, was gesendet wurde (vgl. Kleve 2003b, 40). Aus diesem Verständnis heraus stimme ich Kleve zu, wenn er schreibt, dass es „[g]enau genommen […] in der Kommunikation niemals zu einem wirklichen Konsens kommen [kann]“ (ebd.). In diesem Zusammenhang weist Rosenberg (vgl. Rosenberg & Seils 2004, 45) in Anlehnung an den polnischen Sprachforscher Alfred Korzybski (1879 – 1950) darauf hin, dass Worte für die Beschreibung der Realität stets nur Synonyme seien und sie diese als solche nie wiedergeben könnten. Erinnert sei an dieser Stelle an den in der konstruktivistischen Literatur viel zitierten Satz von Alfred H. S. Korzybski (1933), der sinngemäß lautet: „Die Landkarte (Sprache) ist nicht das Land (Wirklichkeit). Werden Landkarte und Land verwechselt, kann das zu fehlerhaften Schlussfolgerungen führen.“25

Für Frindte (vgl. 2001, 57) ist der soziale und psychische Prozess des Verstehens abhängig von der Passfähigkeit der jeweiligen Konstruktionen der Kommunizierenden. Konstruktionen könnten auch passen, wenn wir unterschiedlicher Auffassung sind. Verstehen sei also „kein Durchschauen von Wesenheiten […], auch nicht die Vorhersage und das Erklären psychischer Hintergründlichkeiten […]. Verstanden haben wir jemanden oder etwas, wenn es uns gelingt, mit diesem ins Verhältnis zu treten, was wiederum nur heißt, uns zu etwas absichtsvoll und zielgerichtet zu verhalten“ (ebd., 53; kursiv durch K. L.). Letztlich gehe es darum, Anschluss an die Art des Umgangs anderer Menschen mit sich selbst und der Umwelt zu erlangen (vgl. ebd., 53 ff.; vgl. auch Faßler 1997, 88). In diesem Sinne bezeichnet Thomas Altmann (vgl. 2010, 19) Verständigung als den Versuch, die unterschiedlichen Landkarten zumindest teilweise in Übereinstimmung zu bringen (vgl. auch Birkenbihl 2002, 1).

Peter Jensen (2003, 74) fragt nun, wie Kommunikation „trotz des eingelagerten Missverstehens funktionieren“ könne. Unter Bezug auf den amerikanischen Psychotherapeuten und Entwickler der „Lösungsorientierten Kurzzeittherapie“ Steve de Shazer (1940 – 2005) meint Jensen, obgleich man „dem Missverständnis nicht entrinnen“ (ebd.) könne, sei die Bereitschaft der Kommunikationspartner entscheidend, einander verstehen zu wollen. Es bedürfe einer wohlwollenden Haltung, einer Bereitschaft des „Für-wahr-Haltens“ als ein Band in der Kommunikation. So könne auch ein Missverstehen oder Dissens als Antrieb gesehen werden, die Kommunikation fortzusetzen und die Annäherung zu suchen (vgl. ebd.; vgl. auch Frindte 2001, 57). Aus dieser Perspektive ist für den Mediator und Organisationsberater Rudi Ballreich (vgl. 2006a, 3 f.) Verstehen ein Prozess, der sich im Laufe bestimmter Entwicklungsphasen immer mehr entfaltet. Phasen der Anpassung und des Streits könnten in diesem Prozess notwendig sein, um sich in einem nächsten Schritt auf der Basis der gegenseitigen Akzeptanz über tieferliegende Themen auszutauschen. Dieser Prozess unterstütze dabei, dass sich Perspektiven weiten und eigenverantwortliche Entscheidungen sowie verbindliche Abmachungen getroffen werden könnten. In diesem Sinne bezeichnet Jensen (2003, 75) Verstehen als eine „wesentliche professionelle Kompetenz in der Sozialen Arbeit“. Ihre gesellschaftspolitische Funktion, Hilfe zu leisten und auf Inklusion hinzuwirken (vgl. ebd.) ist demnach untrennbar verbunden mit der Fähigkeit des Verstehens, vornehmlich, wenn Sozialarbeiter versuchen, sich den individuellen Wirklichkeiten ihrer Klienten anzunähern und sie bei der Suche nach (für sie passenden) Lösungen zu unterstützen (vgl. auch Kleve 2003a, 76 ff.).

Im folgenden Kapitel widme ich mich dem Dialog als einer Sonderform der Kommunikation, die ein tieferes Verstehen fördert.

2.4.2.2 Der Dialog als Form der Kommunikation

Während es in der Kommunikation in übergeordnetem Sinne um wechselseitige Informationsübermittlung geht, die zwischen sozialen Organismen in vielfältiger Form stattfindet (vgl. Delhees 1994, 11), kommt dem Dialog (als einer Unterform der Kommunikation) eine andere Bedeutung zu. Im Alltagsgebrauch wird Dialog verstanden als ein „anspruchsvoller Prozess der Verständigung“ (Sandkühler 1999, 255 f.). Der Dialog unterliegt als „komplexe sprachliche Handlung […]“ (Widulle 2005, 15) bestimmten sozialen Regeln (z. B. Abbau von Machtgefällen und Abhängigkeiten). Er bedarf elementarer Dialogfähigkeiten (u. a. Zuhören, Respektieren und Artikulieren) sowie eines Mindestmaßes an inhaltlicher Kohärenz und Kooperation. Ein Dialog hat einen Anfang und ein Ende. Er dient im Prozess des reflexiven Austauschs von Informationen, Wissen und Meinungen der Koordination und Initiierung gemeinsamen Handelns (vgl. ebd., 15 f.). Während in einem gemeinsamen Denkvorgang in einer Gruppe „ein Strom von Sinn“ (Kuhn-Friedrich 2007, 205) entstehe, könnten sich neue Inhalte entwickeln, die allen gemeinsam sind (vgl. Bohm 2008, 27).

Für den griechischen Philosophen Sokrates bedeutet Dialog eine Einheit wechselseitiger Rede zwischen zwei Individuen oder Gruppierungen, um im Austausch verschiedener Erfahrungen, Wahrnehmungen bzw. Meinungen neue Erkenntnisse zu gewinnen. Der Fokus des philosophischen Dialogs als Methode (Mäeutik) liegt auf der Erörterung von These und Antithese, um im Sinne der klassischen Dialektik zu neuen Erkenntnissen zu gelangen (vgl. ebd.; auch Pech 2007, 204 f.).

Einen anderen Schwerpunkt setzt Buber (1992) in seiner Dialogphilosophie, in der das Dialogische Prinzip als Oberbegriff für seine Philosophie des Zwischenmenschlichen gilt. Im Zentrum steht hier weniger der Austausch von Sachpositionen, sondern das, was zwischen zwei Menschen in der Begegnung geschieht. Ein Dialog entstehe, wenn das Ich einem Du – von Wesen zu Wesen – begegne: „Die Sphäre des Zwischenmenschlichen ist die des Einander-gegenüber; ihre Entfaltung nennen wir das Dialogische“ (ebd., 276). Damit sich in der dialogischen Begegnung der Raum bzw. das Kraftfeld des ‚Zwischen‘ entfalten könne, seien drei dialogische Prinzipien Voraussetzung, die zusammenwirken müssen:

1. Prinzip: Die am Dialog Beteilten sind selbstständig und präsent in ihrem Ausdruck und begegnen einander jenseits eines Machtgefälles in voller Gegenseitigkeit.

2. Prinzip: Die Gesprächspartner bemühen sich um einen authentischen Ausdruck ihres Denkens, Fühlens und Wollens auf der Grundlage einer möglichst ungetrübten Selbstwahrnehmung (ausführlicher dazu in Ballreich & Glasl 2007, 160).

3. Prinzip: Einfühlsame Wahrnehmung und Akzeptanz der Andersheit und der Sichtweisen des Gegenübers bei gleichzeitiger Zentrierung im eigenen Wesen ermöglicht, dass die Beziehungskraft im Dia-Logos wirken kann (vgl. Buber 1992; Ballreich 2006a, 2 f.; Schmid 1989, 105 f.).

Laut dem amerikanischen Organisationsentwickler Peter Michael Senge (vgl. 1998, 19/301 f.) bauen konstruktive Arbeitsbeziehungen in Teams vor allem auf dieser dialogischen Qualität auf. Insofern betrachtet Senge (vgl. ebd., 33 f./290 ff.) den Dialog als einen zentralen Bestandteil des Team-Lernens (s. Kap. 8.1). Zwischen 1992 und 1994 wurde am amerikanischen Massachusetts Institute of Technology (MIT) der Dialog in Gruppen zu einer Methode weiterentwickelt, die in Organisationen angewendet werden kann. Darauf aufbauend identifiziert Senge (vgl. ebd.) in Anlehnung an Bohm den Dialog sowie die qualifizierte Diskussion als die beiden wichtigsten Diskursformen in Teams. Beide Formen seien für den Erfolg von Organisationen und für eine kontinuierliche Entwicklung von Teams wichtig und müssten zueinander in einem ausgewogenen Verhältnis stehen. Während es im Dialog um ein komplexes und vertiefendes Verstehen von Vieldeutigem und Widersprüchlichem gehe und niemand versuche zu gewinnen, werde in der Diskussion (zumeist) angestrebt, über den Austausch von unterschiedlichen Ansichten zu einer „nützliche[n] Analyse der Gesamtsituation“ (ebd., 300) zu gelangen, um so auf der Handlungsebene Entscheidungen treffen zu können (vgl. ebd., 300 f.; s. auch Kap. 8.1).

2.4.2.3 Kommunikation als Form der Symbolischen Interaktion

„Die letzte der menschlichen Freiheiten besteht in der Wahl der Einstellung zu den Dingen.“

Viktor Frankl (in Rust 2009, 49)

Eine weitere wesentliche Grundlage für das hier postulierte Verständnis von Kommunikation ist die soziologisch-sozialpsychologische Kommunikations- und Entwicklungstheorie des Symbolischen Interaktionismus. Sie befasst sich mit der Analyse menschlichen Handelns27 auf der Grundlage der Bedeutungsgebung für die jeweilige Situation. Als einer ihrer wichtigsten Begründer gilt der amerikanische Sozialpsychologe George Herbert Mead (1863 – 1931). Eine seiner zentralen Thesen besagt, dass menschliches Verhalten und Bewusstsein sich nur in einem Wechselspiel zwischen Gesellschaft und Individuum (Interaktion) entwickeln könne. Das Potenzial für die Selbstentfaltung des Menschen liege in einer Gemeinschaft handelnder und kommunizierender Menschen. Wiederum könne ohne Interaktion bzw. Kommunikation keine Gesellschaft existieren. Mit der Theorie des Symbolischen Interaktionismus wird u. a. versucht, aus der Beschaffenheit von Kommunikationsprozessen die Entstehung von gesellschaftlichen Strukturen zu erklären (vgl. Mead & Morris 2010; vgl. auch Frindte 2001, 27 f.). Der Begriff Symbolischer Interaktionismus wurde von Meads Schüler, dem amerikanischen Soziologen Herbert Blumer (1900 – 1987) geprägt. Symbolisch bezieht sich auf die Bedeutungen der sprachlichen Symbole, deren Universalität die Grundlage für die Verständigung im menschlichen Zusammenleben bildet. Postuliert wird, dass kommunikative Handlungen, Situationen oder Beziehungen Symbolcharakter haben, deren Bedeutung von allen Mitgliedern einer Gruppe bzw. der Gesellschaft in gleicher Weise interpretiert wird. Bedeutungen sind demnach zu verstehen als „individuell übereinstimmende Wirklichkeitskonstruktionen, die zum kulturellen Hintergrund unserer Kommunikation gehören“ (Frindte 2001, 146). Dabei ist das wichtigste Medium dieser Interaktion die Sprache. Die gemeinsam geteilte Interpretation von sprachlichen Symbolen ruft bestimmte Reaktionen hervor, sie vermittelt soziale Standards und beeinflusst somit das individuelle und das gemeinschaftliche Verhalten (vgl. Retter 2002, 27 ff.).28 Die Orientierung des Menschen in der Gesellschaft beruht also auf gemeinsamen Bedeutungszuschreibungen