Biest - Ane Riel - E-Book

Biest E-Book

Ane Riel

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Besondere Autor*innen, besondere Geschichten: btb SELECTION – Ausgezeichnet. Ungewöhnlich. Erstklassig.

Unten am Fluss versteckt sich ein Biest. Flüsternd erzählt es einer Krähe von dem Mädchen, das aufgehört hat zu atmen, obwohl es doch nur mit ihr kuscheln wollte. Das Biest heißt Leon und niemand weiß, woher Leon seine übermenschlichen Kräfte hat. Seine Mutter und sein bester Freund Mirko wissen aber, wie schwer es ihm fällt, sie zu kontrollieren. Die Geschichte, die dazu geführt hat, dass sich Leon jetzt am Fluss verstecken muss, handelt von Einsamkeit und Verzweiflung, von wilder Liebe und davon, wie in einer einzigen Nacht alles schiefgehen kann. Es ist die Nacht, die Mirko und Leon für den Rest ihres Lebens aneinander bindet.

"Biest" ist tragisch, aufregend, warmherzig und humorvoll. Eine modernes Märchen über das Anderssein und die Geschichte einer schicksalhaften Freundschaft.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 646

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

Unten am Fluss versteckt sich ein Biest. Flüsternd erzählt es einer Krähe von dem Mädchen, das aufgehört hat zu atmen, obwohl es doch nur mit ihr kuscheln wollte. Das Biest heißt Leon und niemand weiß, woher Leon seine übermenschlichen Kräfte hat. Seine Mutter und sein bester Freund Mirko wissen aber, wie schwer es ihm fällt, sie zu kontrollieren. Die Geschichte, die dazu geführt hat, dass sich Leon jetzt am Fluss verstecken muss, handelt von Einsamkeit und Verzweiflung, von wilder Liebe und davon, wie in einer einzigen Nacht alles schiefgehen kann. Es ist die Nacht, die Mirko und Leon für den Rest ihres Lebens aneinander bindet.

Biest ist tragisch, aufregend, warmherzig und humorvoll. Ein modernes Märchen über das Anderssein und die Geschichte einer schicksalhaften Freundschaft.

Zur Autorin

Ane Riel, Studium der Kunstgeschichte, wurde 1971 in Aarhus geboren. Ihr Debütroman Blutwurst und Zimtschnecken wurde als bester dänischer Krimiroman des Jahres ausgezeichnet. Für Harz hat sie gleich alle vier wichtigen skandinavischen Krimipreise bekommen: den dänischen, norwegischen, schwedischen Krimipreis sowie den Preis für den besten Kriminalroman Skandinaviens insgesamt.

ANE RIEL

BIEST

Roman

Aus dem Dänischen von Julia Gschwilm

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Bæst« bei Lindhardt og Ringhof, Kopenhagen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2022

Copyright © Ane Riel, 2019

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Published by agreement with Copenhagen Literary Agency ApS, Copenhagen.

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © Arcange Images/ Susanna Patras

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

cb · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-26401-7V002www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Für Alex

AM FLUSS

Es ist schon ein bisschen ärgerlich, dass ich sie immer totmache. Sie sind ja auch wirklich nicht gefährlich. Es ist nur so schön, sie zu streicheln. Und sie sind klein genug für die Hosentasche. Magst du Mäuse auch gern?

Du frisst sie wahrscheinlich.

Stell dir vor, so klein zu sein, dass du in ein Loch in der Erde flitzen und darin verschwinden kannst. Das würd ich auch gern können, nur so ab und zu. Ich falle den Leuten immer auf, weil ich so groß bin. »Schau dir den da an«, sagen sie und zeigen auf mich. Es ist zwar gut, groß zu sein, wenn man Bauholz schleppen oder Kornsäcke verladen soll, aber nicht, wenn man die Anweisung bekommen hat, sich zu verstecken. Jetzt gerade wär ich lieber eine Maus als ein Mensch.

Erinnerst du dich an Mirko, der letztes Mal mit mir zusammen war? Auf den warte ich. Er war’s auch, der gesagt hat, ich soll weglaufen und mich hier am Fluss verstecken, wenn auf dem Hof was schiefgeht. Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass was schiefgeht, wo doch zwei Wochen lang alles gut gegangen ist. Aber dann hab ich ein bisschen zu fest zugedrückt. Ich hab es nicht mit Absicht gemacht.

Es war nur, weil sie geschrien hat. Das Mädchen.

Ansonsten war sie so nett zu mir. Ich glaub wirklich, sie mochte mich. Es war auch schön, sie anzufassen, ganz unglaublich weich. Wenn sie in meiner Tasche Platz gehabt hätte, hätte ich sie wohl mitgenommen.

Mirko ist der netteste Mensch, den ich kenne. Wenn man so will, auch der einzige. Er ist jedenfalls der Einzige, der mich richtig kennt. Wenn ich Mirko jemals was Schlimmes antun würde, hätte ich keine Ahnung, was ich danach machen sollte. Wahrscheinlich würde ich sterben.

Vielleicht würde ich so ähnlich werden wie dieser junge Mann mit den eingefallenen Wangen und den vorstehenden Augen, den wir mal getroffen haben. Den werde ich nie vergessen. Das war auf einer der kleinen Straßen im Süden, glaub ich. Auf jeden Fall war es unerträglich heiß, und das schon lange, denn das ganze Tal war von Norden bis Süden staubtrocken.

Mirko und ich hatten uns unter einen Baum in den Schatten gestellt, als wir den Mann kommen sahen. Er zog die Beine ganz seltsam über den Kies und ging beim Gehen fast in die Knie. »Schau dir den da an«, hab ich zu Mirko gesagt. »Der fällt ja gleich um.«

»Da hast du recht«, sagte Mirko, und dann hat er dem Mann zugerufen: »Hallo, Kamerad, du musst dich ausruhen. Setz dich hier in den Schatten und trink ein bisschen Wasser.«

Der Mann blieb stehen, aber egal, wie sehr Mirko ihn lockte, er wollte sich weder in den Schatten setzen noch etwas zu trinken haben. Er hatte seine Verlobte bei einem Brand verloren, erzählte er. Und es war alles seine Schuld! Er hat beim Sprechen gepfiffen. Wie ein müder, alter Esel. Er sah auch aus wie ein müder, alter Esel.

Der Typ hat nicht verraten, was er getan hatte – ärgerlicherweise, denn ich hätte es schon gern gewusst. Aber er hat erzählt, dass er weiter der Sonne entgegengehen wollte, bis die Hitze das Leben aus ihm herausquälen würde. Stell dir vor, das hat er gesagt. Ich weiß nicht, ob es ihm gelungen ist, auf diese Art zu sterben, aber schön sah es nicht aus. Seine Augen standen so weit aus seinem Kopf hervor, dass sie ihm fast voraus waren.

Als er weiter die Landstraße entlangstolperte, dachte ich mehrere Male, er würde hinfallen, aber das ist nicht passiert. Mirko sagte, wir sollten ihn gehen lassen. Es sieht Mirko ansonsten gar nicht ähnlich, jemanden so leiden zu lassen.

Wir saßen lange da und haben dem Mann nachgeschaut, bis er nur noch ein zitterndes schwarzes Insekt war, das im Licht verschwand.

»Wollte er wirklich sterben, weil er nicht ohne seine Verlobte leben konnte?«, hab ich Mirko hinterher gefragt. »Die muss aber echt nett gewesen sein.«

»Es ging bestimmt eher darum, dass er nicht mit der Schuld leben konnte«, hat Mirko geantwortet, und dann wollte er nicht mehr weiter darüber reden. Er war für den Rest des Tages merkwürdig still.

Ich will nicht von der Sonne verbrannt werden. Es muss bessere Arten geben zu sterben, wenn man wirklich will. Man könnte sich zum Beispiel in einem Fluss ertränken. Wenn ich jetzt hier an der tiefsten Stelle hineinspringen würde, wär ich wohl in einer Sekunde tot. Es ist momentan massenhaft Wasser im Fluss, viel mehr als beim letzten Mal, als wir hier waren. Ich wette, die Strömung würde mich zur Biegung an der großen Trauerweide spülen, wo ich an den Wurzeln hängen bleiben würde, die aus dem Wasser ragen. Dort würde man mich dann finden, und ich wäre genauso tot wie der Vogel, nach dem Mirko mich benannt hat.

Er ist nicht nur tot, sagt er. Er ist ausgestorben. Ich bin nicht ganz sicher, wie lange man tot sein muss, bis man ausgestorben ist, aber wenn ich nun erst nach einer Woche gefunden würde?

Dronte heißt er. Mirko nennt mich jetzt Dodo. Das ist nur ein anderer Name für den gleichen Vogel, sagt er, und er ist leichter zu sagen, wenn man mich ruft. Das macht er dauernd. Ich selbst bin überhaupt nicht leicht, im Gegenteil, ich bin von Natur aus eher schwer. Ein bisschen schwierig, sagt Mirko.

Und manchmal verdammt beschwerlich.

Zum Glück hat er schon lange aufgehört, mich Leon zu nennen! So hieß ich, als ich klein war. Wenn es dunkel ist und ich noch nicht ganz eingeschlafen bin, kann ich manchmal meine Mutter rufen hören: Leon, nein, das darfst du nicht! Nein, Leon, nein! So was hat sie gesagt. Das mochte ich nicht.

Sie hat auch manchmal geschrien.

Das ist jetzt lange her, und ich kann mich kaum daran erinnern. Ich weiß auch gar nicht richtig, ob ich das will.

Wann Mirko wohl auftaucht? Er hat mir versprochen zu kommen. Und ich hab ihm versprochen, mich hinter diesem Gebüsch zu verstecken, wo man mich nur von der Flussseite aus sehen kann – zum Beispiel, wenn man eine Krähe ist, die da hinten auf einem Ast sitzt und alles im Auge behält. Ich wünschte, du würdest näher rankommen, sodass ich dich besser sehen kann. Du bist zwischen all den Schatten fast versteckt.

Ich tu dir nichts.

Stell dir vor, wenn Mirko findet, dass ich nach der Sache mit dem Mädchen so beschwerlich geworden bin, dass er gar nicht kommt. Ich glaube, dann müsste ich mich ertränken. Aber erst mal warte ich einfach. Ich sitze gern da und schaue auf den Fluss hinaus, wenn er in der Sonne glitzert, so wie jetzt. Das ist so eine schöne Zeit am Tag, auch wenn es verdammt heiß ist.

Ich glaube, ich zieh mir mein Hemd erst mal nicht wieder an. Ich hab es einfach nicht geschafft reinzuschlüpfen, als ich weggerannt bin. Das musste alles so schnell gehen.

Du, wenn man sich wirklich ertränken will, ist es sicher ein Vorteil, nicht schwimmen zu können. Ich kann es nicht, also hab ich da wohl Glück. Mirko hat allerdings mal versucht, es mir beizubringen, als wir ganz bis zur Küste gereist waren, um Tintenfische zu putzen.

»Du musst dich nur richtig bewegen«, hat er immer wieder gesagt, und mir dabei gezeigt, wie ich mit den Beinen strampeln und gleichzeitig die Arme bewegen sollte. »Komm schon, Dodo, es ist ganz einfach. Wenn die Tintenfische das können, kannst du es auch.«

Die haben ja verdammt noch mal nur Arme, an die sie denken müssen!

Da konnte ich echt darauf verzichten, also bin ich einfach im knietiefen Wasser stehen geblieben und hab Mirko angestarrt, bis er schließlich aufgab.

Mann, du hättest wirklich diese Tänzerin sehen sollen, die wir uns letztens in einem der Orte angeschaut haben. Der Wahnsinn, wie die alles auf einmal bewegen konnte! Mirko hat erzählt, sie konnte noch viel mehr als das! Das hat er jedenfalls gesagt, nachdem er mit ihr oben in einem Zimmer im ersten Stock war. Um zu reden.

Während sie das gemacht haben, bin ich in der Gasse hinter dem Haus herumgelaufen und hab nach Mäusen gesucht. Ja, wie gesagt mag ich Mäuse sehr gern, warme Mäuse mit weichem Fell. Die müssen da oben lange geredet haben, denn ich hab es in der Zeit geschafft, tatsächlich drei Mäuse zu fangen. Zwei sind sofort gestorben, also hab ich sie wieder weggeschmissen, aber die dritte hab ich in der Hosentasche mitgenommen. Es war eine hübsche Maus, das konnte ich fühlen, wenn ich sie in der Tasche gestreichelt hab. Dann ist sie auch gestorben.

Ich hab sie weggeworfen, bevor Mirko was gemerkt hat. Er mochte Fell nie ganz so gern wie ich, aber er mochte es wirklich gern, mit dieser Tänzerin zu reden. Hinterher hab ich aus ihm rausgekriegt, dass sie da oben hinter den Vorhängen über Vögel und Bienen und Blumen geredet haben. Was glaubst du, wie ich mich da geärgert hab, dass ich nicht dabei war!

Bienen haben auch eine Art Fell, hast du daran schon mal gedacht? Ich hab einmal versucht, eine zu streicheln, die auf einer Sonnenblume saß. Da hat sie mich gestochen, und dann ist sie gestorben. Ganz von allein. Bum! Mitten auf der Sonnenblume. Es war nicht meine Schuld.

Ich möchte mal wissen, wie es ist zu sterben.

Ich würde nicht gern in der Dunkelheit in einer Hosentasche sterben. Oder im Heu, in einer Scheune liegend und schreiend. Und eigentlich auch nicht in der Hitze auf einer Landstraße. Aber vielleicht ist es nicht so schlimm, auf einer großen gelben Sonnenblume zu sterben. Oder in einem Fluss, der in der Nachmittagssonne glitzert.

Oh, das erinnert mich daran, dass ich ein Geschenk für dich habe! Ich hab es hier in der Hosentasche … Schau, es ist ein Herz! Von dem jungen Mädchen. Sie hatte es an einer Kette um den Hals, aber die Kette ist kaputtgegangen, als ich sie angefasst hab. So ähnlich wie der Hals. Schau mal, wie es glänzt, das klitzekleine Herz. Mirko hat mal gesagt, dass ihr Krähen glänzende Dinge mögt, deshalb dachte ich, du solltest es kriegen. Du brauchst mir nichts dafür zu geben, wenn du nur versprichst hierzubleiben, bis Mirko kommt. Ich werf es dir rüber … Siehst du’s? Ich glaube, es ist im Gras unter deinem Ast gelandet.

Wenn du dich nur trauen würdest, zu mir rüberzufliegen, sodass ich dich anfassen könnte. Und wenn du nur sprechen könntest. Dann könntest du mir erzählen, wie es ist zu fliegen. Die Hummel kann eigentlich gar nicht fliegen, weißt du das? Aber sie macht es trotzdem. Und Tiere können nicht sprechen.

Vielleicht könntest du es trotzdem machen?

Dann würdest du anständig sprechen, glaube ich. Bei den Kerlen, mit denen wir zusammenarbeiten, ist das anders. Tagelöhner haben immer ein so grobes Mundwerk, aber Mirko und ich nicht. Wir sollen anständig sprechen, sagt Mirko. Ich geb mir auch wirklich große Mühe, wenn ich endlich einmal reden darf. Wie jetzt. Ich darf gern mit Tieren reden, sagt Mirko. Dabei kann nichts passieren. Und mit Mirko natürlich. Ansonsten soll ich am besten den Mund halten.

Dann denke ich stattdessen nach. Es gibt vieles, worüber man nachdenken kann, wenn man mal darüber nachdenkt. Ich würde zum Beispiel sehr gern wissen, wie die Hummel fliegen kann, wo doch ihre Flügel im Verhältnis zu ihrem Rest so klitzeklein sind. Und warum Damen nie buschige Augenbrauen haben.

Nicht, dass es mich klug macht, so viel nachzudenken. Es macht mich nur voller Gedanken. Und Fragen! Mirko hat mir gesagt, ich soll niemanden irgendwas fragen, wenn wir bei der Arbeit sind. »Dodo, hör mal zu«, sagt er. »Über all das, worüber du dir so Gedanken machst, können wir reden, wenn wir allein sind. Dann kriegen wir keinen Ärger.«

Aber es kann lange dauern, bis wir allein sind, denn normalerweise arbeiten wir den ganzen Tag in irgendeiner Schicht mit einer Menge anderer Männer, und hinterher essen und schlafen wir auch mit ihnen zusammen. Und das fast immer in einer Art Baracke, wo alle hören können, was man sagt. Also sage ich nichts anderes als ja oder nein oder jawohl und bitte sehr und Entschuldigung, während ich vor lauter Fragen und Gedanken, die ich nicht vergessen will, ganz wirr im Kopf werde. Ich hatte schon immer so verdammte Angst, Dinge zu vergessen, an die ich mich gerne erinnern will, auch wenn Mirko behauptet, es wäre viel schlimmer, sich an Dinge zu erinnern, die man gern vergessen will.

Wenn wir dann endlich allein sind, kann ich mich nicht entscheiden, was ich als Erstes sagen soll, besonders dann nicht, wenn ich im selben Augenblick etwas Neues sehe, über das ich auch gern reden will, und das tue ich ständig. Dann ist es, als würde mein Kopf zu kochen anfangen und als würden alle Gedanken in einem großen, warmen Fluss zusammenfließen, der von innen drückt. Manchmal muss ich dann weinen. Und wenn ich wieder aufhöre, ist der Fluss ausgetrocknet, und die Gedanken liegen im Sand und zappeln wie kleine, dumme Fische, die es nicht wert sind, dass man sie aufsammelt. Oder nach ihnen fragt.

Aber meistens frag ich dann trotzdem.

Es ist anstrengend, wenn es einem so geht. Ich werd nicht leicht müde, auch wenn sie mich immer für die schwersten Arbeiten einsetzen, aber es ist der Wahnsinn, wie müde ich vom Denken werden kann. Mirko ist viel besser darin. Er sagt auch, mit Eindrücken ist es wie mit dem Essen. Wenn man das Essen runterschlingt, merkt man gar nicht, wie es schmeckt, aber wenn man es langsam und lange kaut, dann versteht man, was man eigentlich im Mund hat. Dann wird man nicht nur satt, sondern auch klüger.

»Kau das jetzt mal ein bisschen durch«, sagt er immer. »Ich hab nichts dagegen, dass du mir Fragen stellst, Dodo. Aber du musst den Gedanken Zeit geben, zu wachsen und an ihren Platz zu fallen, bevor du fragst. Dann wirst du merken, dass du auf vieles die Antwort schon kennst. Und wenn nicht, kann es durchaus sein, dass die Frage, die du stellst, klüger ist als die Antwort, die du bekommst.«

Ich versuche zu tun, was Mirko sagt, aber oft frage ich trotzdem, ohne vorher besonders lange nachzudenken. Meistens antwortet er mir, und jedes Mal finde ich, dass die Antwort klüger klingt als die Frage. Aber manchmal antwortet er mir auch nicht. Dann schaut er mich stattdessen mit seinen sehr blauen Augen an, die sagen: Kauen, Dodo. Kauen! Und das versuche ich dann.

Jetzt bin ich draufgekommen, dass die Hummel wohl besonders schnell mit ihren klitzekleinen Flügeln schlägt. Aber ich versteh immer noch nicht, warum Damen nie buschige Augenbrauen haben!

Darauf muss ich noch ein bisschen mehr herumkauen.

Von Damen versteht Mirko auch viel mehr als ich. Und von jungen Mädchen. Nehmen wir nur mal das, was vor ein paar Wochen auf dem Hof passiert ist, auf dem wir zurzeit arbeiten. Da kam dieses Mädchen in den Stall und hat Mirko gefragt, ob er nicht Lust hätte, einen Abendspaziergang zu machen. »Wir könnten eine kleine Runde runter zum Fluss drehen«, sagte sie.

Ich glaub nicht, dass sie bemerkt hat, dass ich gar nicht so weit weg saß und das Ganze hören konnte. Oder vielleicht war es ihr auch egal. Mirko hat später gesagt, sie sei so eine, die tut, was ihr passt – und das sei gefährlich. Daran hätte ich wohl heute denken sollen. Dass sie gefährlich ist.

Na ja, ich konnte jedenfalls sehen, dass Mirko gut nachgedacht hat, bevor er dem Mädchen schließlich antwortete. »Hören Sie, wozu ich Lust habe, ist so gesehen zweitrangig«, sagte er. »Ihr Vater ist mein Arbeitgeber, und wenn ich zu Ihrem Vorschlag Ja sagen würde, könnte das unüberschaubare Probleme schaffen. Mein Freund und ich wollen nur ungern vor die Tür gesetzt werden oder noch Schlimmeres erleben. Das verstehen Sie doch sicher? Allein, dass Sie hier stehen und mit mir reden, könnte schon ein Problem sein. Was, wenn einer Ihrer Brüder gehört hätte, was Sie gerade vorgeschlagen haben?«

Das hat er gesagt. Er ist immer sehr höflich zu allen.

»Es ist doch unglaublich«, sagte das Mädchen da. Sie klang wie ein kleines, heiseres Tier. »Warum soll man sich nicht ein bisschen amüsieren, wenn sich die Gelegenheit bietet? Ich werde noch wahnsinnig von diesem Leben hier. Ich bin kein Kind mehr, und trotzdem darf ich nichts! Nicht einmal ohne Aufsicht weggehen. Es ist verdammt noch mal so, als würde man im Gefängnis sitzen. Ich langweile mich zu Tode!«

Zum Schluss hat sie fast gefaucht.

Dann hat sie sich umgedreht und ist aus dem Stall marschiert, mit den Händen in den Hüften und hocherhobenem Kopf. Ihr Mund war zu einem kleinen roten Kranz geworden, das konnte ich sehen. Er sah schön weich aus, der Mund. Ihre Brüste sahen auch rund und weich aus, wie sie da in ihrem Ausschnitt auf und ab gehüpft sind, als sie ging. Das hab ich schon bemerkt. Mirko hat mir mal erzählt, dass solche Damenbrüste voller Milch sein können, aber darüber sollte ich nicht zu viel nachdenken.

Ich kann dir sagen, es ist wirklich schwer, an etwas nicht zu denken, an das man nicht zu viel denken soll! Ganz besonders, wenn es weich und wogend ist und voller Milch sein kann. Dadurch sind Damen ja fast so was wie Kühe, abgesehen davon, dass sie das Ganze nicht zwischen den Beinen baumeln haben.

Als ich Mirko hinterher gefragt hab, warum er Nein zu dem Vorschlag gesagt hat, mit diesem Mädchen eine Runde zum Fluss zu drehen, sagte er etwas sehr Merkwürdiges. »Das war gar nicht das, was sie wollte, Dodo. Sie wollte mit mir eine Runde ins Heu. Und dazu habe ich Nein gesagt.«

Da hab ich ernsthaft begriffen, dass Damen eine ganz andere Sprache sprechen als Männer. Entweder das, oder sie sind nur dümmer als Männer, wenn sie nicht sagen können, was sie wollen. Sie hätte doch auch einfach sagen können, dass sie eine Runde ins Heu wollte.

Nein, daran will ich jetzt nicht denken. Ich will an was anderes denken, bis Mirko kommt. Ich will an Mirko und mich denken.

Ich kenne ihn, so lange ich mich erinnern kann, und er kennt mich ein bisschen länger, sagt er. Er ist wohl fast wie ein großer Bruder, auch wenn ich ganz schön viel größer bin als er. Mirko sagt, ich bin nie richtig erwachsen geworden. Ich bin nur gewachsen.

Einmal haben wir auch so getan, als wäre ich sein kleiner Bruder. Das ist schon lange her. Als ich ihm über den Kopf gewachsen bin und ihm auch sonst gar nicht ähnlich sah, haben wir mich zu einem Vetter umgemodelt. Das ging eine Zeitlang gut, bis jemand etwas über unsere Familie wissen wollte. Dann wurde ich stattdessen ein Kamerad. Das will ich auch gern sein. Mirkos Kamerad.

Mir ist aufgefallen, dass ich niemandem richtig ähnlich sehe. Nur, wenn jemand sehr groß und stark ist, sehe ich ihm vielleicht ein bisschen ähnlich, aber auch dann kommt es mir so vor, als wäre ich immer noch größer und stärker. Ich hab wirklich überall viele harte Beulen. Muskeln. Es ist am besten, wir verbergen sie, so gut wir können, sagt Mirko. Deshalb muss ich allein baden und immer ein Hemd anhaben, auch wenn es sehr heiß ist. Die Leute können schon ein bisschen erschrecken, wenn ich kein Hemd anhabe, und es gibt keinen Grund, jemanden zu erschrecken.

Wir wollen auch vermeiden, dass sie sich zu sehr wundern. Ich bin so einer, über den die Leute sich wundern. Ich wundere mich auch manchmal ein bisschen über mich selbst. Ich versteh nicht, warum ich all diese Beulen bekommen hab? Am allerliebsten würde ich einfach Mirko ähnlich sehen, sodass ich wieder sein kleiner Bruder werden könnte. Wenn ich das erwähne, sagt Mirko jedes Mal dasselbe: »Wir finden wohl nie heraus, warum du so stark geworden bist, Dodo, also lass uns jetzt nicht mehr daran denken. Manche Dinge muss man einfach akzeptieren.«

Ich bin froh, dass du nicht erschrocken und weggeflogen bist, obwohl ich hier mit bloßem Oberkörper sitze. Es ist angenehm, die Luft auf der Haut zu spüren, und weil jetzt keine Menschen hier sind, die mich sehen können, macht es nichts.

Ich wünschte, ich wäre nicht so stark.

Na ja, Mirko hat mir mal von einem Comic erzählt, das er vor langer Zeit gelesen hat. Da war ein Typ in diesem Comic, der noch stärker war als ich – und dann konnte er auch noch fliegen! Das würd ich gern können. Aber den Mann gibt es gar nicht, sagt Mirko. Er ist nur einer, den jemand erfunden hat.

Glaubst du, auch ich bin einer, den jemand erfunden hat?

Aber wer?

Mirko war in Amerika, als er über den Mann gelesen hat. Er sagt, er hat viel gelesen, als er dort war. Alle möglichen Geschichten. An viele davon kann er sich noch erinnern, und wenn ich Glück hab, erzählt er mir eine, wenn wir allein sind. Ab und zu leiht er sich auch ein Buch von einer der Damen, die er so gern besucht. Oder wir finden eines, das wir wieder weglegen, wenn wir damit fertig sind. Ich mag am liebsten die mit Bildern drin. Und die, die gut ausgehen.

Einmal haben wir eins gefunden, das von einem Mann handelte, der von klitzekleinen Menschen gefesselt wurde. Ich hab ehrlich gesagt zuerst gedacht, dass der Mann riesengroß war und die anderen so wie Mirko. Aber Mirko hat mir versichert, dass die Liliputaner – so hießen sie – ganz winzig klein waren, und der Mann normal. Ich wäre wohl trotzdem lieber ein Liliputaner gewesen, denn die waren ja mehrere von derselben Art. Es kann ja nicht schön sein, normal zu sein, wenn man der Einzige ist, der normal ist.

Die allermerkwürdigste Geschichte war aber trotz allem die, die von einem Mann an einem Kreuz handelte. Also so eine Art Vogelscheuche. Er ist gestorben … aber dann war er trotzdem nicht tot. Was meinst du? Ja, das war wohl als gutes Ende gemeint, aber ich fand ehrlich gesagt, es war etwas seltsam. Tja, er konnte auch auf dem Wasser gehen, dieser Mann. Das weiß ich aber zufällig, dass man das nicht kann!

Zur Sicherheit habe ich hinterher untersucht, ob eine der Mäuse, die ich aus Versehen zu hart angefasst hatte, vielleicht wieder aufleben könnte. Konnte sie aber nicht. Ich hatte sie in eine kleine Zigarrenschachtel gelegt, damit kein Tier kommen und sie fressen würde. Da lag sie und wurde kleiner und kleiner und sah immer toter aus, bis sie vollkommen ausgestorben sein musste.

Ich glaube nicht an diese Vogelscheuche.

Nein, da glaube ich schon eher an diesen Typen, der fliegen konnte.

Stell dir vor, dass ich einmal kleiner als Mirko gewesen bin. So klitzeklein, dass ich in meiner Mutter sein konnte. Ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern, und Mirko will nicht darüber sprechen.

Ich weiß nur, dass er ein mittelgroßer Junge war, als ich geboren wurde, und dass wir nahe beieinander gewohnt haben, irgendwo in diesem riesengroßen Tal. Er hat vergessen, wo es war, sagt er. Jetzt wohnen wir überall im Tal.

Horch! Da kommt jemand. Das muss er sein.

MIRKO

Es war nicht der größte Ort des Tales, aber er war doch groß genug, um sich eines kleineren Bahnhofs rühmen zu können. Und nicht weit vom Bahnhof entfernt, ganz im Nordwesten, lag eine Schule für die Kinder des Ortes und des Hinterlands.

Mirko gehörte zu letzteren.

Die Schule war in einer längst stillgelegten Meierei eingerichtet, die immer noch schwach nach saurer Milch roch. Die kleinen Fenster hatten Aussicht auf die nächsten Weinberge und das Gebirge im Nordwesten. Den Bahnhof konnte man vom Klassenzimmer aus nicht sehen, aber die Gleise verliefen am Grundstück der Schule entlang. Eine trostlose Hecke aus ausgemusterten Weinstöcken markierte die Grenze und fungierte, zumindest symbolisch, als Schutz für die Kinder. Wenn der Zug draußen vorbeifuhr, stand der Unterricht einen Augenblick still, während die Mauern leicht bebten und die alten Milchkannen, die zusammengepfercht in einem Hinterzimmer standen, metallisch klirrten. Sie wurden manchmal als Reservestühle verwendet, wenn alle da waren, aber das passierte eigentlich nie. Es gab immer ein paar von den Höfen, die wegblieben.

Dadum dadum. Mirko mochte das Geräusch des Zuges. Es klang wie ein Herzschlag. Ein starkes Herz. Trotzdem war er sich nicht sicher, ob es ihm gefallen würde, mit dem Zug zu fahren.

Man unterrichtete mehrere Altersgruppen zur selben Zeit, verteilte jedoch die Jungen und die Mädchen jeweils auf ein eigenes, dröhnendes Zimmer. Den großen Durchgang zwischen den Zimmern verschloss man mit einem Tuch, das zwar die Sicht abschirmte, aber nicht die Geräusche. Jeder Versuch der Geschlechtertrennung war schließlich in dem Moment hinfällig, als die Schulglocke klingelte, die Schüler hinaus in die Sonne stürmten und sich instinktiv mit den Gleichaltrigen zusammenfanden.

Abgesehen von denen, die niemanden suchten.

»Du sprichst nicht viel, Mirko.« Seine Lehrerin sagte das zu ihm, als er nach der letzten Stunde das Klassenzimmer verließ. »Aber deine Antworten sind immer fehlerfrei. Ich hab das Gefühl, du hörst besser zu als die meisten. Hab ich nicht recht?«

Mirko nickte.

Die Lehrerin lispelte. Alth die meithten.

Er war immer der Letzte, der ging. Die anderen rannten. Für Mirko gab es nichts zum Hinterherrennen, und niemand rannte Mirko hinterher. Es rief ihm höchstens hin und wieder jemand etwas zu. In der Regel ging es dabei um seine Ohren.

An diesem Morgen hatte er getan, was er immer tat, wenn er aufstand und in die Schule musste. Er hatte zuerst seinem Vater beim Melken geholfen, sich dann gewaschen und in Ruhe seinen Brei gegessen, während sein großer Bruder eine doppelte Portion in der Hälfte der Zeit verschlang. Und während der Bruder auf seinem lärmenden Fahrrad verschwunden war, sodass der Staub um ihn herumwirbelte, hatte Mirko sich in der Küche von seiner Mutter verabschiedet, seinem Vater auf dem Feld zugewunken und war still und leise den Feldweg in Richtung Stadt entlanggelaufen. Er machte sich weder etwas aus Radfahren noch aus Lärm, und auch nicht besonders viel aus der Schule. Aber er wollte gern etwas über andere Dinge lernen als Kühe, an den drei Tagen, an denen er die Möglichkeit dazu hatte.

Mirko war elfeinhalb und nicht besonders groß für sein Alter. Aber er hatte eine Ruhe im Blick, die die Lehrer dazu veranlasste, ihn in den Raum mit den größeren Jungen zu stecken. In dieser Hinsicht mogelte er. Aber auch nur in dieser Hinsicht.

Jetzt schlenderte er ruhig nach Hause. Er ging durch die gewundenen Gassen des Ortes, wo die zahnlosen Großmütter im Schatten der Hausmauern auf ihren Schemeln saßen und alles kommentierten, was ihnen zu Gesicht kam. »Da ist der süße Junge«, rief eine, als Mirko vorbeikam. »Er ist sicher in der Schule gewesen«, ertönte es schrill von einer anderen ein paar Meter weiter. »Er hat schöne Augen«, rief eine dritte. »Und Ohren wie mein verstorbener Ehemann.«

Dann lachten sie herzlich mit ihrem freundlichen Zahnfleisch und ihren kleinen, funkelnden Augen. Mirko war sich nie ganz sicher, ob sie wollten, dass er sie hörte. Aber er konnte sie gut leiden.

Er überquerte den Marktplatz, auf dem ein paar große Jungen Boccia spielten, und ging die Straße nach Osten weiter. Ein kleines Stück außerhalb des Ortes kam er an der Kirche vorbei, die hinter einigen zerzausten Oleanderbüschen und einer seit Jahren leer stehenden alten Hütte auf ihrem kleinen Hügel stand und leuchtete. Auf der anderen Seite des Hügels lag der Kirchhof mit seinen grauen Steinen. »Grüß deine Mutter«, rief plötzlich jemand, und Mirko nickte erschrocken, ohne den Pfarrer zu sehen, dessen Stimme er jedoch erkannte.

Er überquerte die Steinbrücke, die an der Stelle, an der der Fluss am schmalsten war, einen weichen Bogen über das Wasser schlug. Und wie immer ließ er seine Hand über die groben Steine der niedrigen Mauer gleiten, die den Weg vom Wasser trennte. Ein Junge aus dem Ort war einmal ertrunken, nachdem er von der Mauer gefallen war. Er war übermütig gewesen, sagte man. Er wollte vor den anderen Kindern damit angeben, dass er auf der Mauer lief. Es war nicht weit hinunter zum Wasser und nicht weit von der Mitte des Flusses bis zum seichten Ufer, aber der Junge konnte nicht schwimmen. Er war von der Strömung erfasst und später weiter im Süden tot aufgefunden worden. Kurz danach hatte Mirkos Vater Mirko das Schwimmen beigebracht und ihm befohlen, niemals übermütig zu sein oder an Stellen zu gehen, an die er nicht gehen durfte. Mirko hatte sich nie auf die Mauer gewagt.

Auf der anderen Seite der Brücke hätte er auf dem Weg bleiben können, der ihn zwischen den Feldern nach Hause führen würde. Doch stattdessen bog er in Richtung Norden ab und folgte einem schmalen Pfad, der sich zuerst um einen Weinberg wand und danach in einem kleineren Waldstück verschwand. Dort drinnen hinter den Bäumen traf er auf den Fluss. Da lag auch eine Lichtung, auf der sich die Tagelöhner manchmal niederließen oder jemand zum Fischen kam.

An diesem Tag war niemand dort, und Mirko setzte sich am Ufer ins Gras. Das braune Wasser bewegte sich unter dem flimmernden Schatten der Bäume ruhig gen Süden. Weiter nördlich schoben sich Nebenflüsse aus den Bergen und glitten durch Felder und Wälder, um sich dem Hauptstrom anzuschließen. Wie Arterien zur Aorta, hatte seine Lehrerin gesagt. Oder besser gesagt, sie hatte ihnen ein Bild vom Inneren des Körpers gezeigt und es mit ihrem großen Tal verglichen. Die Blutadern hängen zusammen, wie die Flüsse zusammenhängen, sagte sie. Und das Herz lag offenbar oben im Norden, hatte Mirko gedacht.

Wenn von Zeit zu Zeit Holz auf dem Fluss zum Sägewerk transportiert wurde, war die Luft an dieser Stelle von Rufen erfüllt. Aber an diesem Tag gab es keine anderen Geräusche als das Summen der Insekten und das Rascheln der Vögel im Laub. Das Wasser stand ziemlich hoch. Das war gut. Wenn der Sommer sehr trocken war, kroch der Fluss in der Mitte seines Bettes zusammen, sodass verlassene Fische auf den Sandbänken lagen und nach Luft schnappten. Mirko konnte den Anblick nicht ertragen. Er versuchte immer zu helfen, doch wenn er wieder hinkam, lagen dort neue Fische und starben. Es war, wie es sein sollte, hatte sein Vater gesagt. Die Natur war hart, aber fair. Sein Vater hatte einmal eine hungrige Bärenmutter mit zwei Jungen ganz unten im Flussbett gesehen. Sie waren von den Bergen hinunter ins Tal gezogen, um Nahrung zu finden, und an diesem Tag hielten sie ein prächtiges Gelage auf Kosten der Fische, hatte der Vater erzählt.

Mirko hatte noch nie einen Bären gesehen und auch noch nie ein Gelage erlebt. Seine Eltern waren keine Menschen, die feierten. Aber sie dankten Gott immer für die kleinen Freuden, und von denen gab es Unmengen, trotz allem. Mirko war eine von ihnen.

Als er wieder aus dem Schatten der Bäume trat, wurde er von der Sonne fast geblendet. Bald kreuzte er die Hauptstraße und bog auf einen kleinen Kiesweg ein, der ihn zwischen die Felder führte. Einmal blieb er stehen, um eine Kuh zu betrachten, die sich von ihrer Herde abgesondert hatte. Ihre Artgenossen hatten unter ein paar Zypressen Schatten gefunden, standen da und glotzten in dieselbe Richtung. Aber diese Kuh trotzte der Hitze und hatte sich mitten in die sengende Sonne gestellt, weit weg von Wasser und Schatten, mit dem Rücken zu ihnen.

Sie wandte den Kopf und sah Mirko mit einem dunklen Blick an, den er nicht deuten konnte. Kaute. Dachte nach, vielleicht. Dann hob sie den Schwanz und verrichtete ihre dampfende Notdurft wie eine Art Gruß. Ein Schwarm von Fliegen tauchte aus dem Nichts auf und nahm den Kuhfladen wie ein falscher Schatten ein. Als die Kuh einen Schritt nach vorn und zwei zurück machte, erhoben sie sich für einen Moment, nur um gleich danach den gelobten Kot zurückzuerobern. Ihr Summen vermischte sich mit dem Gesang der Zikaden und dem Kauen des Tieres und hin und wieder dem Schrei eines Raubvogels. Mirko kannte die Kuh gut, hielt sich immer abseits. Er hatte nie herausgefunden, ob sie scheu oder verwegen war. Vielleicht konnte man beides zugleich sein.

Zu Hause auf dem Hof war sein Vater gerade dabei, die Pferde vor den Wagen zu spannen.

»Na, Mirko, hast du heute was gelernt in der Schule?«

So fragte er immer.

»Ja«, antwortete Mirko wie üblich. »Wo willst du hin?«

»Ich hab in der Stadt was zu erledigen, aber zuerst muss ich rüber zum Nachbarhof. Du kannst mitkommen, wenn du willst?«

»Zu dem großen? Von den Zwillingen?«

»Nein, zu dem kleinen. Von der Witwe.«

Nicht, dass Mirko besonderes Interesse daran gehabt hätte, den Nachbarhof zu besuchen, aber nachdem er keine anderen Pläne für den Nachmittag hatte, wollte er gern mit seinem Vater fahren. Von der Witwe hatte er bisher nur gehört. Ihr Mann war ein paar Jahre zuvor gestorben, und die Kinder waren weggegangen – bis auf die eine Tochter, die inzwischen sicher erwachsen war.

Er saß auf der Ladefläche des Pferdewagens, während sie auf der schmalen Reifenspur entlangzuckelten, die sich zwischen den Feldern dahinschlängelte und beim Nachbarhof endete. Die mächtigen Hufe des Pferdes wirbelten den Staub auf, sodass der Wagen einen trockenen Nebel hinter sich herzog.

Sie wohnten in der südöstlichen Ecke des lang gestreckten Tales, ganz außen am Rand, wo die Landschaft allmählich hügeliger wurde, bevor sie sich ganz den Bergen ergab. So war der Nachbarhof von ihrem Hof aus nicht zu sehen, wegen eines Hügels mit ein paar struppigen Bäumen, die in einer Gruppe dicht zusammenstanden, als beratschlagten sie über die Grenze. Gerade, weil Mirko ihn von seinem eigenen Heim aus nicht sehen konnte, war dieser Hof ihm immer sehr weit entfernt vorgekommen.

Die Sonne brannte, das Holz knarrte, die Hufschläge fielen dumpf und stetig, und Mirko verfiel in eine behaglich schaukelnde Schläfrigkeit. Derweil saß sein Vater ruhig auf dem Bock des Wagens; seine Hände ruhten in seinem Schoß, und er ließ das Pferd sein Tempo wählen. Die beiden waren vor langer Zeit eine Partnerschaft eingegangen, bei der es keinen Anlass zum Kampf gab. Er machte dem Pferd keinen Druck, und das Pferd tat im Gegenzug, was von ihm verlangt wurde. In vielerlei Hinsicht waren sie sich ähnlich.

Mirko zog es vor, mit dem Rücken zu seinem Vater auf der Ladefläche zu sitzen. Er mochte es, auf das zurückzuschauen, was sie passiert hatten und nun hinter sich ließen. Es war, als führe man aus einem Bild, das sich ihm willig öffnete und größer und größer wurde. Es gab ihm die Zeit, die Details zu betrachten, und die Ruhe, sie wieder loszulassen, wenn sie schließlich in der Unschärfe verschwanden. Blickte er dagegen in Fahrtrichtung, fühlte er sich, als würde er von Eindrücken angegriffen, die zu beiden Seiten vorbeisausten, bevor er sie einfangen und verdauen konnte. Das eine Mal, als er versucht hatte, in einem Automobil zu sitzen, war ihm schwindlig geworden, und hinterher fühlte er sich, als hätte jemand Essen in ihn hineingepresst, ohne dass er die Zeit und die Erlaubnis bekommen hätte, es vorher zu kauen.

Jetzt sagte sein Vater auf dem Kutschbock etwas, und Mirko drehte sich um, um nach vorn zu sehen. Hinter der nächsten Kurve tauchte der Nachbarhof in der Landschaft auf. Zuerst das Haupthaus, das quer stand und blass leuchtete wie eine müde alte Sau, die sich zufällig zwischen ein paar Zypressen geworfen hatte. Hinter dem Haus konnte man einige andere Gebäude erahnen, und als Hintergrund des Ganzen erhoben sich die Berge in einer Reihe gegen einen tiefblauen Himmel wie Könige. Wie mit einem Axthieb geschlagen öffnete sich in der Ferne eine schmale Schlucht in die Berge und bildete eine merkwürdige Spalte über dem Dach des Hofes.

Mirko war zwar als kleines Kind ein paarmal mit bei den Nachbarn gewesen, aber nichts an dem Hof weckte irgendwelche Erinnerungen in ihm. Mit seinen hellen Steinen und seinem ockerfarbenen Ziegeldach sah er aus wie jeder andere Hof in der Gegend.

Sie folgten der Reifenspur links vom Haupthaus auf den Hofplatz, der verlassen dalag. Nur ein paar verwirrte Hühner pickten in dem gelben Gras zwischen dem Kies. Vom Stall her hörte man ein Blöken. Dann ein Muhen. Mirkos Vater sprang vom Bock, während Mirko still und aufmerksam auf der Ladefläche sitzen blieb. Das Pferd ließ den Kopf ein paar Zoll sinken, und der eine der großen Hinterhufe fiel in Ruheposition nach vorn. In der Ferne schlug die Kirchenglocke ihre Uhrzeit. Man konnte sie nicht immer hören. Die Richtung des Geräuschs wurde vom Wind bestimmt, und dessen Richtung von Gott. Jedenfalls laut Mirkos Mutter, die in dieser Richtung sehr bestimmt war. Wenn man die Uhr hören konnte, wollte Gott, dass man aufmerksam war.

Mirkos Vater nahm seine Schirmmütze ab und wischte sich mit dem Hemdsärmel über die Stirn, bevor er sich kurz orientierte und dann zur Küchentür hinüberging. Er hatte die Schirmmütze in der Hand und schlug sie beim Gehen lautlos gegen seinen Schenkel. Mirko konnte ihn leise pfeifen hören, auf eine Art, die verriet, dass er sich auf etwas anderes als die Melodie konzentrierte. Sein Vater war erst in der Mitte des Platzes angekommen, als die Witwe wie ein gebeugter Schatten aus der Küche kam.

Erst, als sie vor ihm stand, richtete sie sich ein wenig mehr auf, während sie gleichzeitig die Hände vom Rücken nach vorn bewegte, sodass sie sich zu Fäusten geballt in ihre Flanken bohrten. Ihr schwarzes Leinenkleid war so abgewetzt, dass es eher grau war. Das Haar war streng zurückgekämmt und unter einem Kopftuch versteckt, das ebenfalls einmal schwarz gewesen war. Nur ein Streifen weißen Haars war darunter zu sehen. Weder Farbe noch Flüssigkeit waren in ihr, konstatierte Mirko von seinem Aussichtsposten. Sie war verwelkt.

Die alte Dame, die vielleicht gar nicht ganz so alt war, wie sie den Eindruck machte, kniff vor Mirkos Vater die Augen zusammen und machte einen Laut, der klang, als käme er von einem Tier. Einem Vogel vielleicht.

Mirkos Vater antwortete mit einem höflichen »Guten Tag«. Und da die Witwe nichts mehr sagte, sondern ihn nur durch zwei kleine Schlitze in ihrem zerfurchten Gesicht anstarrte, sprach er weiter. Mirko konnte sehen, wie sich sein Rücken bewegte, und hörte seine gutmütige Stimme irgendetwas über ein paar Kühe erklären, die von einer fernen Weide hierhergebracht werden sollten. Etwas über einen Feldweg und einen Vorschlag. Ja, es war nur ein Vorschlag, aber er hoffte, sie könnte interessiert sein. Es wäre eine solche Hilfe für ihn, wenn er seine Kühe nicht mehr so einen großen Umweg treiben müsste. Er redete und redete, während die Witwe nur starrte und starrte, bis seine Stimme anfing zu klingen wie sein nervöses Pfeifen. Es dauerte ein wenig, bis Mirkos Vater schließlich begriff, dass die Witwe nicht mehr hören konnte, geschweige denn auch nur die Hälfte von dem verstehen, was er zu ihr sagte.

Das Nächste, was passierte, war nichts, was man unmittelbar als bedeutungsvoll ansehen würde. Nichtsdestoweniger sollte es Mirkos Leben für alle Ewigkeit verändern und ihn aller möglicher Dinge schuldig machen.

Unter anderem des Mordes. Oder eines ähnlichen Vergehens.

Aus dem Stall kam nun die Tochter zu ihnen herüber, ihr langes Haar wogte über die Schultern. Mirko hatte noch nie eine Frau langes, offenes Haar tragen sehen. Bis zu diesem Augenblick hatte er noch nie eine Frau richtig angeschaut. Oder angestarrt, besser gesagt, denn er konnte den Blick nicht von ihr abwenden.

Ihr blaues Kleid war zwar zerschlissen wie das der Mutter, dennoch wirkte es nicht so. Es erinnerte eher an die Haut einer saftigen Traube, einer staubigen blau-lilafarbenen Traube. Und über das Kleid floss das Haar wie weiches rotgoldenes Harz. Mirko hatte schon rothaarige Mädchen gesehen, ohne etwas anderes an ihnen wahrzunehmen, als dass sie sich von der dunkelhaarigen Mehrheit unterschieden, aber dieses Mal betrachtete er jedes Detail. Das Haar hatte eine Glut, die es im Sonnenschein sonderbar strahlen ließ, aber es war nicht nur das Haar. Auch ihr Gesicht war leuchtend und voller Leben. Die Sonne hatte Sommersprossen über ihre Nase gestreut und Wärme in ihre Wangen gepflanzt, während der Schatten dort feine weiße Streifen gezogen hatte, wo sie im Licht die Augen zusammenkniff. Mirko schien es, als sähe er einen grünen Schimmer in ihren Augen, und er bemerkte, dass die Lippen rot strahlten, ohne so auszusehen, als habe sie etwas draufgeschmiert wie einige der Damen unten im Ort. Es war, als hätten all die Farben, die die Mutter verloren hatte, bei der Tochter einen Platz gefunden.

Sie sagte etwas zu Mirkos Vater, der sich mit einer kleinen, überraschten Bewegung zu ihr umwandte. Er grüßte freundlich und zog dann mit seinen breiten Händen leicht an seinen breiten Lederhosenträgern, während die Schirmmütze am kleinen Finger baumelte.

Sie trafen eine Absprache.

Irgendetwas über Kühe und Feldwege. Mirkos Vater sagte, er sei äußerst dankbar. Dass er den Weg auf jeden Fall gepflegt halten würde. Dass sie immer seinen großen Stier für ihre Färsen benutzen dürften. Und er sagte, er könne sich vorstellen, dass sie in erster Linie eine helfende Hand brauchten. Dass er wünsche, er könne zum Dank seine eigene Arbeitskraft anbieten, aber dass er selbst so viel zu tun habe, dass er unmöglich noch mehr schaffe. Dafür wolle er einen seiner Söhne dazu bringen, bei ihnen mit Hand anzulegen. Seine beiden Töchter seien inzwischen ausgezogen, aber es seien ja noch zwei Söhne da. Der ältere von ihnen sei groß und stark. Ihn könne er bestimmt ein paarmal die Woche herüberschicken, auch wenn er schon eine Arbeit in der Stadt habe, um die er sich kümmern müsse. In der Schmiede.

Plötzlich wandte Mirkos Vater sich zum Wagen um. Er sah aus, als wäre ihm etwas eingefallen.

Ja, unser Mirko könnte vielleicht auch helfen, sagte er. Zu Hause ging ihm Mirko bereits bei den meisten Dingen zur Hand. Er war noch nicht so groß und stark, aber er war ein guter Junge. Ein flinker Bursche. Ging fleißig jeden zweiten Tag zur Schule. Er redete vielleicht nicht so viel, aber ein guter Junge, das war er in jedem Fall. Tüchtig mit den Tieren war er auch. Mirkos Vater bewegte sich in Richtung Wagen, während er sprach, und stand bald neben ihm, die Hand auf der Ladefläche. Jedes Mal, wenn er etwas gesagt hatte, klopfte er leicht auf die Bretter, als würde das seine Aussage untermauern. Ein guter Junge, das war er. Bum!

Mirko selbst hörte kaum zu. Er sah nur die Frau mit dem rotgoldenen Haar. Und sie sah ihn. Sie hatte ihn oben auf der Ladefläche bemerkt, und jetzt lächelte sie ihm zu, mit grünen Augen und weißen Zähnen und kleinen Vertiefungen in den Wangen. Mirko erwiderte das Lächeln mit offenem Mund in einem errötenden Gesicht.

Ein Stück entfernt stand die Witwe mit scheelem Blick wie eine einsame Krähe.

Mirkos Vater erwähnte nichts von dem Besuch, als sie hinterher in den Ort fuhren, um ein paar Einkäufe zu erledigen. Erst als sie zurück auf dem Hof waren und das Pferd abgespannt hatten, kam er darauf zu sprechen.

»Hör mal, Mirko, es war hoffentlich in Ordnung, dass ich dieser Danica deine Hilfe angeboten habe?« Er sah Mirko über den Rücken des Pferdes hinweg an.

Mirko spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg, und er beeilte sich, auf den Striegel hinunterzublicken, den er in der Hand hatte.

»Jaja, ist gut«, sagte er. »Ich werd ihr helfen.«

Er kostete den Namen, ohne ihn laut zu sagen. Danica.

Sein Vater tätschelte das Pferd und ließ es in seine Box gehen. »Das ist schön, Mirko. Aber lass uns erst einmal sehen, ob es dein Bruder nicht zunächst allein schaffen kann, jedenfalls eine Weile. Dann kannst du vielleicht später übernehmen.« Er schloss die Tür zur Box. »Bis dahin haben wir hier wahrhaft reichlich Arbeit für dich.«

*

Mirkos großer Bruder half eineinhalb Jahre lang bei Danica, die sich anfühlten wie ein halbes Jahrhundert. In der ganzen Zeit kümmerte sich Mirko weiterhin um die Schule und um seine Pflichten, sodass niemand eine Veränderung bemerkte. Nur war er nicht mehr unten am Fluss oder draußen bei den Kühen wie früher, wenn er frei hatte. Das kontrollierte niemand, und deshalb ahnte auch niemand, dass er in aller Heimlichkeit begonnen hatte, dem Nachbarhof Besuche abzustatten.

Anfangs spähte er von ihrem eigenen südlichsten Feld hinüber, wo er sich am Grenzstein versteckte. Von dort aus konnte er den müden Dachfirst des Nachbarhofs sehen, sonst aber nur einen Teil der großen Weide, die sich bis zu ihren Feldern hinauf erstreckte. Als er es eines Tages satthatte, die bunt gemischte Tierherde zu betrachten, wagte er sich an der Weide entlang hinunter. Eines der Pferde folgte ihm neugierig auf der anderen Seite des Zaunes, bis es nicht mehr weiterkam. Mirko kroch noch ein Stück, um über das Luzernenfeld des Nachbarn zu spähen, doch abgesehen von einer Gruppe Elstern war nichts zu sehen.

Am nächsten Tag verhielt es sich anders. Als er wieder dort hinunterging, erblickte er die Tochter, und sein Schrecken, sie zu sehen, war so groß, dass er augenblicklich in die Knie sank. Sie schaute in die andere Richtung und entdeckte ihn nicht. In regelmäßigen Abständen beugte sie sich hinunter, und er sah das rote Haar in den Luzernen verschwinden, bis es kurz darauf wieder auftauchte. Einmal zeigte sich die Mutter wie eine schwarze Gestalt in der Ferne. Sie schrie etwas, heiser und unverständlich, wieder und wieder, und die Tochter ging ruhig zurück zum Hof. Danica. Vielleicht hatte die Mutter Danica gerufen. Die Alte war offenbar ziemlich taub, aber Mirko war sich nicht sicher, wie viel sie sehen konnte. Deshalb hatte er sich dicht auf den Boden gepresst, als sie in seine Richtung blickte.

An einem sehr frühen Morgen, noch vor der Morgendämmerung, beschloss er, östlich um den Pferch herumzugehen und dem wilden, hügeligen Gelände entlang der Berge zu folgen. Auf diese Weise konnte er bis zur Rückseite von Danicas Hof gelangen, indem er sich im Schutz von Hügeln und Sträuchern bewegte. Besonders ein Gebüsch eignete sich hervorragend als diskreter Aussichtsposten, da es an einer kleinen Anhöhe wuchs, die er leicht erreichte, ohne vom Hof aus gesehen zu werden. Hier konnte er bequem auf dem Bauch liegen und den Hof beobachten, gut geschützt von einer Myrte mit dichten Zweigen und einem kleinen Granatapfelbaum, die sich über seinem Rücken ineinanderflochten.

Von diesem Gestrüpp aus hatte er Aussicht auf den Giebel eines Schuppens und die lange Rückseite des Stallgebäudes – und auf ein kleines Plumpsklo zwischen den beiden Gebäuden, dessen Tür offen stand. Zwischen dem Klohäuschen und dem Stall konnte er ein wenig vom Hofplatz sehen, und dahinter etwas vom Haupthaus, das sich undeutlich gegen die graublaue Dunkelheit des Morgens abzeichnete. Ein Stück weiter bemerkte er einen kleinen Anbau, fast ganz hinten am Ende des Stalles. Es sah aus, als wäre ein kräftiger Riegel vor der Tür, daher nahm Mirko an, dass er als Tierbox benutzt wurde, wenn auch die Platzierung ein wenig drollig wirkte. Es gab dort auch ein Fenster.

Noch weitaus ungewöhnlicher war jedoch die nächstgelegene Ecke des Stallgebäudes, die nicht aus hellem Stein gebaut war wie der Rest des Stalles, sondern stattdessen dunkel und gewölbt wirkte. Es sah fast so aus, als wäre ein gewaltiger Tierfuß auf dem Weg durch die Mauer in Richtung Berge. Die abgerundete Ecke wurde noch mystischer, als sie zu strahlen begann, während Mirko sie betrachtete. Die Sonne war noch nicht ganz über die Berge hinter ihm heraufgekrochen, aber die schmale Schlucht, die sie durchschnitt, ließ, wie eine angelehnte Tür, einen kleinen Vorboten des Lichts ins Tal hinunter, und diese frühen Strahlen waren es, die nun die Ecke erleuchteten.

Es muss Bronze sein, dachte Mirko. Er konnte es sich nicht anders erklären, als dass es eine alte Kirchenglocke war, die man in die Stallwand eingemauert hatte. Und sie war groß. Augenscheinlich groß genug, dass er Platz in ihr gefunden hätte. Er musste zurück und melken, doch die glänzende Ecke erfüllte ihn den ganzen restlichen Tag mit Bewunderung.

Als er ein paar Tage später zurückkam, nahmen jedoch andere Dinge seine Gedanken in Anspruch, denn diesmal war er nicht allein hinter dem Stall. Jetzt saß Danica dort unten, genau neben der Glocke, und sonnte sich im frühen Morgenlicht.

Sie sah ihn nicht.

Mirko beobachtete sie von seinem Versteck auf dem Hügel aus, während sie die Berge und die aufgehende Sonne betrachtete. Es bestand kein Risiko, dass sie ihn entdecken würde, und trotzdem hielt er den Atem an. Sie hatte nur ein Nachthemd an. Und sie hatte nackte Füße, die sich im Gras aneinander rieben.

Ein trockener Ruf vom Hofplatz her ließ sie mit einem Ruck aufstehen. Im Vorbeigehen legte sie flüchtig eine Hand auf die Glocke, als sie in Richtung des Geräuschs um die Ecke bog.

Bald fand er heraus, dass der Platz auf der Rückseite des Stallgebäudes genau neben der Glocke ein Ort war, an dem Danica sich in der Morgendämmerung gern aufhielt. Sie war immer allein, ohne die Mutter, und Mirko stellte sich vor, dass er der Einzige war, der überhaupt wusste, dass sie dorthin kam. Er konnte nicht anders, als sich zu fühlen, als hätte sie ein Geheimnis mit ihm geteilt.

Sie setzte sich immer auf einen niedrigen Schemel, der an der Mauer stand. Ab und zu sang sie, und Mirko versuchte fieberhaft, die Töne zwischen dem Geraschel und Gekrabbel aufzufangen, das im Gestrüpp und im hohen Gras herrschte, wenn die Natur erwachte.

Ab und zu las sie in einem Buch, und Mirko wünschte, er könnte sehen, was es für eines war.

Ab und zu schloss sie die Augen. Wahrscheinlich. Auch das war aus der Entfernung schwer zu sehen.

Und ab und zu lehnte sie den Kopf nach hinten an die Mauer und führte ihre Hand unter ihr Nachthemd.

Mirko war sich nicht sicher, was sie mit dieser Hand machte, aber er war sich fast sicher, dass sie es genoss. Und er war sich ganz sicher, es würde seiner Mutter nicht gefallen, dass er es sah.

Manchmal sah er, wie sein großer Bruder Danica auf dem Feld und unten beim Hof half, und in diesen Momenten verspürte er eine seltsame Wut auf ihn. Das erschreckte ihn. Er mochte seinen Bruder ja wirklich, auch wenn er sich mit der Zeit ziemlich verändert hatte. Es kam Mirko so vor, als wäre sein Bruder in Gedanken meistens woanders. Oft war er mürrisch und unnahbar und brauste bei jeder Kleinigkeit auf. Aber dann, aus heiterem Himmel, konnte er wieder ausgelassen und albern sein, mit seiner neuen, tiefen Stimme und seinem unbeholfenen, großen Körper. Sein Bruder war dabei, erwachsen zu werden, das konnte sich Mirko schon ausrechnen, aber er war auch der Ansicht, dass es vernünftigere Arten geben musste, erwachsen zu werden.

Offenbar bemerkte sein Bruder die Kirchenglocke in Danicas Stallmauer gar nicht. Die wenigen Male, als Mirko ihn auf dem Weg zum Klohäuschen daran vorbeigehen sah, warf er nicht einmal einen Blick zu der runden Ecke hinüber. Sein Bruder sah nichts. Oder vielleicht sah er auch etwas, das Mirko nicht sehen konnte. Mirko wunderte sich, aber er war in erster Linie erleichtert über das mangelnde Interesse seines Bruders an dem Ort und der Glocke. Es war Danicas besonderer Platz, und in gewisser Weise auch Mirkos.

*

Endlich war Mirko an der Reihe! Seinem Bruder war in Verbindung mit der Schmiede ein Zimmer angeboten worden, aber nur unter der Bedingung, dass er die ganze Zeit dort war und seinen Teil der Verantwortung übernahm. Das wollte er liebend gern, und am selben Abend vertraute er Mirko an, weshalb. Es ging in erster Linie um die Tochter des Schmieds und ihr weißes Hinterteil, das er nun schon zwei Jahre lang heimlich berühren durfte. »Sag nichts zu Vater und Mutter«, sagte sein Bruder. »Besonders nicht zu Mutter!«

»Ich sag nichts«, flüsterte Mirko vom anderen Bett im Zimmer aus, während er einen hektischen Augenblick lang versuchte, sich Danicas weißes Hinterteil in der Dunkelheit vorzustellen. Und dann ihre Kartoffelpflanzen und ihre Luzernen und ihre Tiere und ihren Pflug, Dinge, mit denen er um Gottes willen gut zurechtkommen musste, wenn er es denn versuchen durfte. Und dann wieder ihr weißes Hinterteil.

Er war so angespannt bis in jede seiner Zellen, dass er in dieser Nacht überhaupt nicht schlief. Vom Bett des Bruders drangen wohlbekannte Geräusche zu ihm herüber. Dann ein Stöhnen. Und dann ein Schnarchen.

Mirko fand sich zeitig am Hof ein und ging nicht nach Hause, bevor Danica es ihm sagte. Er selbst sagte nichts, nicht einen Ton. Er konnte nicht, nicht einmal, als sie ihn etwas fragte. Er spürte nur die Antwort in seinen Wangen brennen.

Danica tat, als sei nichts. Sie behandelte Mirko freundlich und herzlich, lobte ihn sogar, weil er sich so gut um die Tiere kümmerte. Er bringe mindestens genauso viel Nutzen wie sein großer Bruder, sagte sie eines Tages, aber das solle er dem Bruder besser nicht verraten. Dabei zwinkerte sie Mirko zu, und einen Augenblick lang konnte er weder sprechen noch sich von der Stelle rühren. So stand er da, völlig unbeweglich, während er sah, wie sie den Stall verließ und draußen im Licht des Hofplatzes verschwand, das Haar wie funkelndes Feuer am Rücken. Ein Windstoß hob es an, und das Feuer loderte auf. Dann war sie fort. Zurück blieb ein Huhn, das herumlief und verdutzt aussah.

Eines Nachts träumte er von Danica. Sie lächelten sich draußen auf dem Feld an. Sprachen miteinander, so richtig, wie Erwachsene. Lachten zusammen. Er war derjenige, der sie zum Lachen brachte. Morgens blieb er mucksmäuschenstill im Bett liegen und versuchte, zurück in den Traum zu finden, doch ohne Erfolg. Mehrere Tage blieb ein Gefühl von Wärme in ihm. Aber nur so lange, bis er wieder von ihr träumte. Diesmal saß er auf ihrem Klo und war völlig nackt. Die Tür war weg, und oben auf dem Hügel lagen sein Bruder und Danica und lachten über ihn. An diesem Morgen stand er auf und ging in die Schule mit einem Gefühl im Körper, das so unangenehm war, dass er eine Frage falsch beantwortete, weil er dem Rechenlehrer gar nicht zugehört hatte. Die anderen amüsierten sich halblaut, als er ihm eine willkürliche Zahl hinwarf, während sein Lehrer ihn verblüfft ansah.

Das Gefühl verschwand Gott sei Dank am folgenden Tag, als Danica herauskam und ihn anlächelte, ganz wie immer. »Du erscheinst genauso verlässlich, wie die Sonne jeden Morgen aufgeht«, sagte sie.

Mirko wurde rot. Eigentlich war er schon eine Stunde vorher hinter dem Gestrüpp erschienen und hatte sie dabei beobachtet, wie sie den Sonnenaufgang betrachtete und diese Sache mit der Hand unter dem Nachthemd machte.

Er zuckte leicht zusammen, als sie nun die Arme hob, um ihr Haar im Nacken mit einen Stück Schnur zu bändigen. Hinterher hing das Haar an ihrem Rücken hinunter wie der Schwanz eines Fuchses. Dick, dicht und rot. Sie machte eine Kopfbewegung, die es zum Flattern brachte. Und dann zwinkerte sie ihm wieder zu.

Am Morgen darauf wachte er in einem feuchten Bett auf. Er konnte sich nicht erinnern, was er geträumt hatte. Vielleicht irgendetwas vom Pinkeln. Dann und wann machte er die Wäsche für seine Mutter; an diesem Tag tat er es.

Die Monate vergingen, und Mirko fand sich verlässlich bei Danica ein, manchmal auch ohne ihr Wissen. Er fühlte sich wie ein Fisch an einer Angelschnur. Er spürte den Haken, sobald er die Augen aufschlug, und kurz darauf wurde die Schnur eingezogen, bis er unter der Myrte und dem Granatapfelbaum lag und nach Luft schnappte. Er konnte es weder erklären noch verstehen. Wenn er versuchte, die Logik anzuwenden, auf die er sich sonst zu stützen pflegte, lief er gegen eine Mauer. Etwas sagte ihm, dass es dumm war, das alles. Saudumm. Aber er konnte nicht anders.

Vom Gebüsch aus hatte er begonnen, ihren Körper zu erforschen. Nur ganz vorsichtig. Er hatte Danica nie auch nur annähernd berührt – wenn man von den Malen absah, als sie ihn berührt hatte: Wenn sie ihm eine Hand auf die Schulter gelegt oder nach seinem Arm gegriffen hatte. Oder ihm flüchtig übers Haar strich, sodass er spürte, wie sich seine Haare an allen anderen Stellen als dem Kopf in eiskalten, heißen Schauern aufrichteten.

Mirko stellte sich vor, wie glatt ihr Haar sich in seiner Handfläche anfühlen musste. Wie weich ihr Hals sein musste. Sehr langsam näherte er sich in Gedanken ihren Brüsten, doch er wagte gar nicht daran zu denken, sie zu berühren, nicht einmal außen auf dem Kleid. Er wollte sie nur so gern sehen, erst einmal am liebsten aus der Entfernung. Sie wirkten so klein und fein im Verhältnis zu dem, was er von zu Hause kannte. Seine Mutter hatte viel schwerere. Die der Mutter saßen auch ein gutes Stück tiefer; er war nicht umhingekommen, das zu bemerken, selbst wenn sie immer hinter mehreren Schichten Stoff verborgen waren. Die seiner Schwestern waren ein bisschen kleiner – zumindest, soweit er sie aus der Zeit in Erinnerung hatte, bevor sie zu Hause ausgezogen waren –, aber ansonsten eher so wie die der Mutter und ebenfalls gut versteckt.

Danicas waren gleich hinter dem Stoff ihres Kleides, und manchmal wirkte es fast, als bohrten sie sich hindurch. Dann wusste er nicht, wo er hinsehen sollte, weder im Traum noch in der Wirklichkeit. Sie starrten ihn an. Was weiter unten war, davon hatte er kaum eine Ahnung. Er errötete unvermittelt, wenn seine Gedanken dorthin wanderten, und beeilte sich, sie in andere Richtungen zu lenken.

Bald begann eine ganz bestimmte Fantasie, ihn regelmäßig in Beschlag zu nehmen. Er stellte sich vor, dass Danica ihn oben auf dem Hügel entdeckte, wenn sie morgens neben der Glocke saß. Dass sie seinen Blick einfing und langsam ihr Kleid auszog, sodass er sehen durfte, was sich darunter verbarg.

Selbstverständlich würde das nie geschehen, das wusste er wohl. Trotzdem fand er es schön, daran zu denken, als etwas, das geschehen könnte. Er mochte es, Danica zu kennen und an sie zu denken. Auch nur als jemand, mit dem er sich unterhalten konnte, wenn er eines Tages mutig genug sein würde zu sprechen.

Mirko war weiterhin fleißig in der Schule, wie es von ihm erwartet wurde. In den Pausen, wenn er für sich saß und den anderen zusah, dachte er oft, es wäre besser, er würde sich für ein Mädchen in seinem Alter interessieren. Zwar wäre die Chance nicht groß, dass sein Interesse erwidert würde, denn es gab eigentlich niemanden, der sich wirklich für Mirko interessierte. Aber trotzdem. Es wäre wohl natürlicher.