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Nur Alma kennt die Wahrheit über Otto. Leider erinnert sie sich nicht mehr daran - ein skurriler Roman mit viel schwarzem Humor und subtiler Spannung.
Seit dem Tod ihres Mannes lebt Alma allein in ihrem Haus am Ende der Sackgasse eines kleinen dänischen Dorfes. Ihr Gedächtnis lässt sie immer häufiger im Stich, die Gicht plagt sie, sie ist taub, auch die Beine wollen nicht mehr so recht. Doch Abend für Abend zieht sie gewissenhaft ihre gute alte Bornholmer Standuhr auf. Sie weiß: Wenn sie die Uhr eines Abends nicht mehr aufzieht, wird sie am nächsten Morgen auch nicht mehr aufwachen. Bis eines Tages ein Junge mit seinem Hund am Haus vorbeigeht und eine unerwartete Freundschaft beginnt. Der Junge haucht ihr neues Leben ein, Erinnerungen an ihren Mann, den Uhrmacher Otto, kommen ihr in den Sinn: von einem gemeinsamen Tanzabend etwa, aber auch von einem Unglück in seiner Werkstatt, seinem Jähzorn in der Zeit danach. Nur Alma kennt die Wahrheit darüber, was wirklich mit ihm geschehen ist. Leider erinnert sie sich nicht mehr daran...
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Seitenzahl: 308
Seit dem Tod ihres Mannes lebt Alma allein in ihrem Haus am Ende der Sackgasse eines kleinen dänischen Dorfes. Ihr Gedächtnis lässt sie immer häufiger im Stich, die Gicht plagt sie, sie ist taub, auch die Beine wollen nicht mehr so recht. Doch Abend für Abend zieht sie gewissenhaft ihre gute alte Bornholmer Standuhr auf. Sie weiß: Wenn sie die Uhr eines Abends nicht mehr aufzieht, wird sie am nächsten Morgen auch nicht mehr aufwachen. Bis eines Tages ein Junge mit seinem Hund am Haus vorbeigeht und eine unerwartete Freundschaft beginnt. Der Junge haucht ihr neues Leben ein, Erinnerungen an ihren Mann, den Uhrmacher Otto, kommen ihr in den Sinn: von einem gemeinsamen Tanzabend etwa, aber auch von einem Unglück in seiner Werkstatt, seinem Jähzorn in der Zeit danach. Nur Alma kennt die Wahrheit darüber, was wirklich mit ihm geschehen ist. Leider erinnert sie sich nicht mehr daran …
ANERIEL, Studium der Kunstgeschichte, wurde 1971 in Aarhus geboren. Ihr Debütroman »Blutwurst und Zimtschnecken« wurde als bester dänischer Krimiroman des Jahres ausgezeichnet. Für ihren zweiten Roman »Harz« hat sie gleich alle vier wichtigen skandinavischen Krimipreise bekommen: den dänischen, norwegischen, schwedischen Krimipreis sowie den Preis für den besten Kriminalroman Skandinaviens insgesamt.
Ane Riel
Roman
Aus dem Dänischen von Julia Gschwilm
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Urværk« bei Lindhardt og Ringhof, Kopenhagen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2024
btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München
Copyright © Ane Riel, 2021
Published by agreement with Copenhagen Literary Agency ApS, Copenhagen
Covergestaltung: semper smile nach einem Entwurf von François-Xavier Delarue
Covermotiv: ©Arcangel/Sally Mundy; Getty Images/Mehmet Şeşen
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
cb · Herstellung: sc
ISBN 978-3-641-32026-3V001
www.btb-verlag.de
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Sie ging. Alma konnte den ruhigen Takt der Bornholmer Uhr nicht mehr hören, aber sie konnte ihn noch immer im Herzen spüren. Etwas in ihr sagte, dass sie zusammenhingen, die beiden. Die alte Standuhr und ihr Herz. Sollte sie eines Abends vergessen, die Bornholmerin aufzuziehen, würde ihr Herz zusammen mit ihr stehen bleiben. Das war kein Gedanke, der ihr Angst machte. Es war einfach eine Gewissheit, an die sie sich gewöhnt hatte. Sie hatte sich seit dem vergangenen Winter an so vieles gewöhnen müssen. In erster Linie daran, allein zu sein. Aber auch das ging, bis auf Weiteres.
Die Standuhr im Wohnzimmer aufzuziehen war das Letzte, das Alma tat, bevor sie sich schlafen legte. Zuerst machte sie sich fertig für die Nacht und streifte sich mit Mühe ihr Nachthemd über, während sie auf dem Bett saß. Wenn sie dann das Schlafzimmer verließ und in den Flur hinaustrat, musste sie sich an den Wänden abstützen. Das Haus, in dem sie wohnte, war nicht groß, und trotzdem gab es Abende, an denen der Flur sehr lang erschien und das Wohnzimmer nur wie ein schwaches Licht am Ende des Tunnels. Nichtsdestotrotz schätzte Alma ihre abendliche Routine. Allein schon ein Ziel zu haben war angenehm. Dass es für sie etwas zu tun gab. Jemanden, der auf sie wartete.
Auch wenn es nicht weit bis zur Uhr war, musste sie immer aufpassen, dass sie nicht hinfiel. Ihre Beine waren nicht mehr das, was sie einmal gewesen waren, ihr Rücken auch nicht, er krümmte sich mehr, als ihr lieb war. Morgens war es am schlimmsten. Offenbar richtete der Tag sie teilweise auf, bevor die Nacht sie wieder zusammenknautschte.
Im Wohnzimmer konnte Alma sich auf die Möbel stützen. Sobald sie die Flurwand losgelassen hatte, stand ein Esstischstuhl bereit, um mit seinem kräftigen Rücken ihre rechte Hand zu ergreifen. Vier vorsichtige Schritte später packte eine schwere Kommode ihre linke. Die Möbel erwarteten sie mit ihrem sicheren Stand. Und am Ende eines persischen Läufers, an der hintersten Wand des Wohnzimmers, wartete die alte Bornholmer Uhr.
Der Aufziehschlüssel hing an einem roten Faden an dem Schlüssel, der im Schloss des Uhrenkastens steckte. Sie waren wichtig, diese Schlüssel.
Schlüssel waren Eingänge. Und Ausgänge.
Die beiden Aufziehlöcher waren übereinander im Ziffernblatt platziert, und um heranzukommen, musste Alma zuerst den Glasdeckel öffnen, der davorsaß. Noch reichte sie gerade so dort hinauf, aber viel krummer durfte ihr Rücken dann auch nicht mehr werden. Sie stützte sich gern mit ihrer freien Hand am Uhrenkasten ab, wenn sie den Deckel vor dem Ziffernblatt öffnete, und vor allem, wenn sie danach den Aufziehschlüssel in das erste Loch steckte und zu drehen begann.
Früher war er derjenige gewesen, der das getan hatte. Jahrein, jahraus, jeden Abend zum exakt gleichen Zeitpunkt.
»Vierzehn«, sagte er jedes Mal, wenn er mit einem Loch fertig war.
Er zählte immer die Umdrehungen, und es waren immer vierzehn.
Alma machte sich nicht die Mühe zu zählen. Sie drehte einfach, bis es nicht weiter ging.
Wenn sie fertig war, öffnete sie die Holztür zum rechten Uhrenkasten. Sie klemmte ein wenig, und es gab eigentlich keinen Grund, sie zu öffnen. Trotzdem musste Alma sich vergewissern, dass die Gewichte nun auch ganz nach oben gezogen waren, wo sie sein sollten, und dass das Pendel zuverlässig unter ihnen hin- und herschwang.
Es ging trotz allem um ihr Leben.
Aber es war nicht nur das. Sie musste auch sichergehen, dass auf dem Boden des Kastens eine alte Zigarrenkiste lag, und darauf noch ein weiterer Schlüssel: ein kleiner flacher Schlüssel zu einem stabilen Vorhängeschloss. Ein unschuldiges Stück Metall, hätte man meinen können, und doch befiel Alma jedes Mal ein kurzes Unbehagen, wenn sie den Schlüssel dort in der Dunkelheit liegen sah. Es konnte passieren, dass sie einen Augenblick innehielt und ihn anstarrte, aber sie ließ ihn immer liegen.
Danach drückte sie die Holztür des Uhrenkastens mit beiden Händen zu, drehte den Schlüssel im Schloss um und hängte den Aufziehschlüssel zurück an seinen Platz. Abend für Abend zog sie nun dieselbe Schlussfolgerung, die sie freundlich der Bornholmer Uhr und dem Rest des Wohnzimmers mitteilte: »Ja, das war also dieser Tag.«
Alma konnte kaum noch hören, was sie selbst sagte, aber wenigstens konnte sie sehen. Weder der eine noch der andere Star hatte es geschafft, sich in ihren Augen niederzulassen. Nicht eine einzige Brille hatte sie ihr langes Leben hindurch gebraucht.
»Sie haben Adleraugen, Frau Sørensen«, hatte einmal jemand gesagt, und der Adler hatte offenbar die Stare all die Jahre über ferngehalten. Sie wusste nicht mehr, wie viele es waren.
Die Jahre flossen ineinander. Ohne jemanden, mit dem sie sie zählen konnten, waren sie nichts anderes als Zeit, die verging und gleichzeitig nicht vom Fleck kam.
***
Ja, sehen konnte Alma noch immer. Ab und zu konnte sie sich auch erinnern. Sie erinnerte sich daran, dass sie einmal auf einer Düne gesessen und auf einen Punkt am Horizont gezeigt hatte. Einen Punkt, der ein Fischkutter war. Das Mädchen hatte den Punkt nicht entdecken können.
Um sie herum waren Strandhafer und Sand und das brausende Geräusch des Meeres, das von den Schreien der Möwen und spielenden Kinder durchbrochen wurde. Von Zeit zu Zeit strich ein lauer Wind über die Gräser, die sich unter ihm wegduckten, während Haarsträhnen ihre Sicht störten und fliegende Sandkörner ihr in die Fußgelenke zwickten.
Die Beine des Mädchens waren sonnengebräunt und seidenglatt, genau wie die Füße. Die Zehennägel rot, der Lack schon etwas abgeplatzt; an den kleinen Zehen war nur noch ein winziger Fleck übrig. Die Zehen gruben sich mit weichen Bewegungen in den warmen Sand, als versuchten sie ihn festzuhalten. Und obwohl der Sand viel zu fein war, um festgehalten zu werden, fuhren die Zehen geduldig mit ihren Versuchen fort. Sie hatten alle Zeit der Welt.
Almas Füße waren auch da. Sie waren älter und blasser, aber nicht alt, nicht hässlich. Nur erwachsen. Die weißen Spanne verschwanden unter den Riemen eines Sandalenpaars, und auf der anderen Seite des Leders guckten die Zehen hervor. Ihre eigenen Zehen. Zehn kleine wippende Stücke gepflegtes Perlmutt in der Sommersonne.
Sie sprachen über den Lack. Das Mädchen wünschte sich nächstes Mal Perlmuttlack auf den Nägeln. Wie der, den Alma hatte. »Perlmutter«, sagte sie mit ihrer perlenden, hellen Stimme. Und »Mutter«.
Alma sagte zu dem Mädchen, dass sie ein schickes kleines Fräulein werden würde.
Sie wünschte, sie könnte den Kopf drehen und das Gesicht des Kindes sehen, seinen Körper. Das ganze Kind. Aber der Augenblick in den Dünen war ein Film, oder das Bruchstück eines Films, den Alma nicht steuern konnte. Er spielte sich selbst ab wie ein wiederkehrender Albtraum, aber ohne den Alb auf der Brust. Eigentlich sogar ganz ohne Brust, und, was das Schlimmste war, ohne Gesicht. Ein abgeschnittenes Glück, aufgenommen in fernen Zeiten, irgendwo zwischen Himmel und Strandhafer.
Nur mit nackten Zehen.
Es gab eine Zeile aus einem Lied, die ab und zu aus dem Nichts in Almas Gedanken auftauchte. Der Wind hat mir mein Haar verweht. Das hatte einmal jemand für sie gesungen, und sie hatte gelacht, weil es so albern war. Ein ganz verkehrter Text zu einer bekannten Melodie. Sie konnte sich noch an den Melodiefetzen erinnern, aber es gelang ihr nie, sich den richtigen Text ins Gedächtnis zu rufen, nur diese dumme Zeile mit dem Haar.
Sie begriff, dass es lustig war, aber nicht mehr, warum. Etwas fehlte, ein Körper, ein Zusammenhang. Der Ernst, aus dem der Humor gewachsen war.
Alles war aus etwas gewachsen, auch Alma. In einem Rahmen auf dem Sekretär standen sie wie zwei kleine farblose Gestalten und verblassten in ihren Sonntagskleidern. Ihre Eltern. Viel zu fein, um für Zeit und Ewigkeit auf Papier festgehalten zu werden. Je mehr der Kontrast zwischen dem Schwarz und dem Weiß seine Kraft verlor, desto mehr verschwanden sie allmählich, Hand in Hand, in einem grauen Nebel. Nein, auch ihre Eltern waren nicht unsterblich, weder im Leben noch im Tod. Aber sie lächelten bis zuletzt.
Wenn Alma sich selbst im Spiegel betrachtete, entdeckte sie manchmal alle beide. Sie hatte Lachfältchen im Überfluss. Die hatte auch die Mutter im Rahmen gehabt, bevor der Nebel und die Zeit sie geglättet hatten. Sie sahen aus, als wären sie oft benutzt worden, Almas Lachfältchen, besonders an den Augen, und allein ihr Anblick brachte sie manchmal dazu, ihrem eigenen steinalten Spiegelbild zuzulächeln. Sie erinnerten sie daran, dass sie gelacht hatte.
Lächeln bedeutet nicht immer Freude, das wusste sie wohl. Lächeln bedeutet auch Trauer, Trost. Aber es ist doch ein Lächeln, dachte sie, und in jedem Lächeln wohnt eine Wärme. Ein kleines Glück, etwas, das ist oder war oder kommen wird.
Es lag eine Sicherheit darin zu wissen, dass man gelächelt hatte.
Trotz allem.
Die Erinnerungen an das Mädchen kamen in der Regel in Form von Blitzlichtern – mit dem Kind, aber gleichzeitig ohne das Kind: ein Blitzlicht von dem großen Bauch, von einem Kinderwagen im Garten im Schatten einer Apfelrose, von einer Torte mit sechs Kerzen, einem kleinen Fahrrad. Die beiden Polizisten in der Tür und ihre traurigen, betretenen Blicke. Es tat ihnen leid.
Überfahren. Sie erinnerte sich an das Wort »zerquetscht«.
Hinuntergelassen. Der kleine Sarg.
Dann verschwanden die Bilder wieder, so wie ein Traum verschwindet, wenn man sich im Bett bewegt. Nur ein Gefühl blieb für einen Moment hängen, ein dünner Schleier von Trauer oder Freude, vielleicht beide Gefühle gleichzeitig.
Ja, Alma hatte einmal eine Tochter gehabt. Und viele, viele Jahre hatte sie keine gehabt.
In der ersten Zeit nach dem Unglück konnte sie sich die klare Stimme des Mädchens leicht in Erinnerung rufen. Aber mit den Jahren war sie dünn geworden, fast unhörbar, als befände sie sich in einem weit entfernten Zimmer, und der Abstand zu diesem Zimmer wurde immer größer. Das Gesicht, das lebendige wie das zerquetschte, wollte sich einfach nicht mehr herbeirufen lassen, sondern versteckte sich sanft und schonend irgendwo in der Dunkelheit in ihr. Nur die Zehen ragten ins Licht und ließen sich sehen, weich und sorglos mit ihrem schönen roten Lack. Oder den Resten davon.
Es gab keine Fotos. Alma hatte gesucht und gesucht, all die Jahre hindurch an sie gedacht. Es hatte einmal ein Album gegeben, das wusste sie, aber er wollte nicht sagen, wo es war. Es war um ihretwillen, hatte er gesagt. Damit sie nicht in der Trauer hängen blieb, das sei nicht gesund. Und dann, eines Tages, erklärte er, dass die Bilder im Feuer verloren gegangen waren. Es hatte ein paar Jahre zuvor einen Brand gegeben, in ihrem alten Zuhause. Sie erinnerte sich an den Ruß und das Wasser. Meine Güte, es war so viel Wasser gewesen.
»All die schönen Dinge«, hatte er geflüstert. »All die schönen Dinge.« Er hatte geweint, wie sie ihn zuvor nur einmal hatte weinen sehen.
Das Schlimmste war, dass der Name fort war. Nicht einmal in ihren klarsten Momenten konnte sich Alma an den Namen ihrer Tochter erinnern.
Er stand auf dem Stein, natürlich. In grauer Vorzeit hatten sie den Stein gemeinsam gefunden, Hand in Hand. Jetzt wusste sie nicht einmal, wo sie den Friedhof finden sollte.
***
Nachdem sie die Bornholmer Uhr aufgezogen hatte, legte Alma immer eine Hand auf den Uhrenkasten und blieb eine Weile so stehen.
Ihr Handrücken war ein stiller Wirrwarr aus Knochen, Sehnen und blaugrünen Adern, die übereinanderkrochen wie freigelegte Wurzeln eines alten Baums. Die Haut nur eine durchscheinende Membran, die sich eng und müde über das Ganze legte, mit kleinen Falten, wo zu viel davon da war.
Die Uhr war von einer anderen Art Ruhe geprägt. Der Kasten war elfenbeinfarben, mit einfachen, vergoldeten Verzierungen, und auch wenn das Holz noch älter war als Almas Hand, war es von der Zeit nur durch diskrete Abblätterungen und kaum sichtbare Kratzer gezeichnet.
Es war alles in allem eine hübsche kleine Bornholmerin mit einer schlanken, sich leicht neigenden Figur. Oben saß ein runder Kopf, der von goldenen Girlanden umkränzt und mit einer Leier gekrönt war. Eine milde Majestät, hatte Alma oft von ihrer Uhr gedacht. Sie war schon immer der Meinung gewesen, dass sie einen gewissen feierlichen Ernst ausstrahlte. Und trotzdem war es, als lächelte das Ziffernblatt mit all seinen Falten aus römischen Zahlen den beiden Zeigern ein wenig zu, die mit sorgfältig getaktetem Eifer darüberkrochen.
Es war wirklich Leben in der alten Standuhr, aber das Leben ihrer Fassade speiste sich aus ihrem dunklen Inneren heraus, durch das bedächtige Schwingen des Pendels aufrechterhalten, das wiederum vom Aufziehen abhängig war. Und damit von Almas Willen.
Ohneeinander lebten sie nicht.
Die Bornholmer war eine Empire-Uhr von der Art, die man eine Frau nannte. Früher einmal hatten sie auch einen Mann gehabt, der eckiger gewesen war. Und ein Fräulein. Beide waren verloren gegangen.
Alma verließ die Frau nie, bevor sie ihr nicht leicht das Holz getätschelt und das Ziffernblatt angelächelt hatte.
»Dann mal gute Nacht«, pflegte sie als Letztes zu sagen.
Dann wandte sie sich vorsichtig von der Uhr ab, ließ sich von der Kommode ergreifen, und anschließend von der Stuhllehne. Der weiche Läufer trug sie das letzte Stück durchs Wohnzimmer.
Ja, es war eine feine alte Dame, und sie funktionierte noch immer.
Und endlich ging Alma zu Bett.
Ihr altes Baumwollnachthemd war mit der Zeit zu groß geworden, aber sie fand es immer noch gemütlicher als die meiste andere Kleidung. Es gab Tage, an denen sie es gar nicht auszog. Auch die Pantoffeln hielten noch. Jeden Abend stellte sie sie neben ihr Bett. Und jeden Morgen warteten sie auf sie, flauschig und hellbraun, wie zwei treue Hunde.
Wenn es eines Tages Zeit wurde, still einzuschlafen, würde Alma zu Bett gehen, ohne vorher die Bornholmer Uhr aufzuziehen.
»Verdammte Axt. Die waren aber alt, die hier gewohnt haben.«
Das waren die ersten Worte des Kunden, als er in die Diele trat. Er hatte seine Arbeitskleidung an: einen schmutzigen Overall über einem verwaschenen T-Shirt und dazu kräftige Schnürschuhe, die er eigentlich hätte ausziehen sollen. Stattdessen begnügte er sich damit, die Sohlen kurz über die Matte zu streifen. Er brachte einen scheußlichen Geruch nach Achselschweiß und Schmieröl mit sich herein.
Der Händedruck war fest, reichlich fest. Dafür flackerte der Blick unruhig über den Konsoltisch, die Lampe, den Teppich, die Garderobe und die Tapete, als versuchte er alle Details auf einmal zu registrieren.
Das Einzige, was er nicht registrierte, war offenbar der Immobilienmakler.
»Guten Tag.« Der Makler nickte dem Profil des Kunden freundlich zu und zog seine Hand zurück. »Ja, das ist richtig. Hier hat zuletzt ein älteres Ehepaar gewohnt, und sie hatten das Haus seinerzeit von einem älteren Herrn übernommen. Das hat die Einrichtung natürlich in gewisser Weise geprägt.«
Er lächelte so loyal er konnte, während er das sagte. Loyal dem Haus und seinen früheren Bewohnern gegenüber, aber auch die gute Beobachtungsgabe des Kunden anerkennend.
»Das muss man sagen«, murmelte der Mann. Er ignorierte die Tür nach vorn, die der Makler für ihn geöffnet hatte, und trat nach links in die Küche.
Der Linoleumboden knarzte unter dem großen Kerl, besonders, als er am Herd stehen blieb. Es war ein ziemlich alter Herd, sicher genauso alt wie der Kühlschrank, der danebenstand.
Der Kunde drehte sich um und schien sich zu bemühen, in einer ächzenden Bewegung den ganzen Raum in Augenschein zu nehmen: die dunkelbraunen Schubladen und Schranktüren mit verzierten Porzellangriffen, die hellgraue Laminattischplatte, das Tellerregal und die blauen Wandfliesen mit stilisiertem Blumenmuster. Nein, eine zeitgemäße Küche war es nun nicht gerade, aber sie hatte doch eine ziemlich gute Größe.
»Ja, sie hat eine ziemlich gute Größe«, sagte der Makler.
Es gab sogar zwei Küchenfenster mit Aussicht auf den Vorgarten und die bescheidene Villenstraße. Oder das Ende davon. Man konnte wohl nicht damit rechnen, dass dort draußen besonders viel passierte.
Der Makler warf einen raschen Blick über das Spülbecken hinaus auf das Auto des Kunden. Es war mit großen Aufklebern zugepflastert und hatte hinten Flügel anmontiert; so wie es dort in der Stille geparkt stand, halb verdeckt durch einen Rhododendron, sah es aus wie von einem anderen Planeten. Alice Cooper Tour ’88, las er an der Seite. Live in was auch immer. Er hatte keine Ahnung, wer die Dame war.
»Mit einem solchen Raum hat man viele Möglichkeiten«, fuhr er fort und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder ins Hausinnere. »Aber vor allem herrscht hier eine gute Atmosphäre, finde ich.«
Als Nächstes setzte er an, von dem Essplatz am anderen Fenster zu sprechen. Wer träumte nicht von so einer gemütlichen Ecke mit Sitzbank und Morgensonne? Darauf musste er den Kunden hinweisen. Dann konnten sie hinterher in die Waschküche weitergehen.
Der Makler bewegte sich in professionellem Tempo zur Essecke hinüber, doch als er sich umwandte, um sie lobend hervorzuheben, war der Kunde zwischenzeitlich durch die Tür ins Wohnzimmer verschwunden.
Er schien es eilig zu haben.
Sie hatten den Termin auch sehr spontan gemacht. Der Mann war in sein Büro gekommen und hatte das Haus sofort sehen wollen, weil es billig war. Der Makler war selbst nur ein einziges Mal dort gewesen, nachdem er den Fall vom Anwalt übernommen hatte. Um den Wert der Immobilie zu schätzen und die Putzkolonne zu instruieren, natürlich, aber vielleicht nicht zuletzt auch, um seine Neugier zu stillen. Dieses Haus war schließlich immer wieder Gesprächsthema gewesen. Oder die Leute, besser gesagt. Das Ehepaar. Man redete ja.
»Ja, und das hier ist das Wohnzimmer«, sagte er zum Rücken des Kunden, als könnte der Mann sich das nicht selbst ausrechnen. »Ein hübsches kleines Eckzimmer mit prächtiger Aussicht.«
Sogar von hinten konnte er die Missbilligung deutlich spüren, an der Art, wie der Typ den Kopf etwas zurückwarf und sich schwer machte. Er hatte die Hände in die Seiten gestemmt und sah nicht aus, als hätte er die Absicht weiterzugehen. Groß, breit und muskulös war er. Mit einer Tätowierung an einem Unterarm.
Es war in jeglicher Hinsicht ein völlig falscher Kunde.
»Das Inventar kann übernommen werden, wenn Interesse besteht?«
»Na, danke auch«, kam es prompt zurück. »Mit solchem Kram will heute garantiert keiner mehr wohnen. Allein die Gardinen … schauen Sie sich diese Arschbacken an!«
Der Immobilienmakler warf einen pflichtschuldigen Blick auf die Wohnzimmergardinen. Es gab zwei Fenster, die zum Garten und zu den Feldern im Westen hinauswiesen, und ein kleineres im Giebel nach Süden. Alle waren mit halb transparenten Spitzengardinen versehen, die mit Schnüren gerafft waren, sodass sie in Wölbungen hingen und aussahen wie blasse Quallen. Nun ja, oder Arschbacken.
Er musste an seine Großmutter denken.
Dann dachte er an die Dame, die hier gewohnt hatte.
»Übrigens, die Einfahrt da draußen«, fuhr der Kunde fort. »Die ist auch nichts. Ich brauche eine ordentliche Garage.«
»Tja, aber für einen so niedrigen Preis kann man ja überlegen …«
Der Kunde hörte nicht zu, und nun unterbrach er den Makler.
»Aber die alte Uhr da drüben ist gar nicht so schlecht. Geht die?«
Er deutete auf die Standuhr an der hinteren Wand des Wohnzimmers neben dem südwärts gewandten Fenster. Im Gegenlicht war es schwer, das Ziffernblatt zu sehen, aber es klang, als würde sie laufen.
»Ich glaube schon. Falls Sie interessiert sind, kann ich vielleicht …«
»Nein, nein, vergessen Sie’s, ich will sie nicht haben.« Der Kunde grinste. Offenbar war es ein Witz gewesen.
Der Makler kramte ein Lächeln hervor, von dem er nicht einmal wusste, dass er es besaß. Es war jedoch verschwendet, weil der Mann schon auf dem Weg in die entgegengesetzte Richtung war. Er hatte genug vom Wohnzimmer gesehen und ging nun im Flur auf die anderen Zimmer zu.
Der Immobilienmakler blieb einen Moment stehen und dachte, dass er darauf bestehen sollte, dem Kunden die Sitzgruppe in der Nische zu zeigen, es war eine ganz wunderbare Ecke. Dort lag auch die Tür zu Terrasse und Garten. Ja, und natürlich zum Geräteschuppen, den sollten sie wohl auch noch besichtigen. Aber ehrlich gesagt hatte er keine besondere Lust, dem Kerl hier mehr als das unbedingt Notwendige zu zeigen. Vermutlich wäre es für beide nur Zeitverschwendung.
Der Kunde blieb im Flur stehen, als er die Tür zur Linken erreichte. Er warf nur einen raschen Blick in den Raum, der wie ein etwas enges Arbeitszimmer eingerichtet war. Dann ging er weiter zum Schlafzimmer am Ende des Ganges.
Der Makler folgte ihm in gewissem Abstand.
»Ich kann Ihnen die Verkaufsinformationen mitgeben, dann können Sie es sich überlegen«, piepste er hinter dem Rücken des Mannes. »Ja, das Haus liegt ja ganz ungestört am Ende einer Sackgasse. Es ist wirklich eine einzigartige Lage. Und aus dem Wohnzimmer und den beiden anderen Räumen hat man eine fantastische Sicht auf die Kornfelder.«
Der Kunde sagte nichts.
Der Makler gab nicht auf.
»Und … äh … Sie haben sie vorhin nicht gesehen, aber hinter der Küche gibt es noch eine Waschküche. Von dort aus tritt man buchstäblich direkt in die Natur hinaus, denn hier hinten liegt ein kleiner Wald … oder vielleicht kein Wald … aber so ein Fleckchen Erde, das noch wild wachsen durfte.«
Keine Reaktion.
»Man sieht hier also ganz sicher das ein oder andere Reh direkt vom Fenster aus.« Der Makler biss sich auf die Lippe. Er sollte nicht alle üblichen Floskeln abspulen, doch der Kunde verunsicherte ihn mit seinem Schweigen. Und jetzt zwang es ihn, im selben Stil weiterzumachen.
»Vielleicht haben Sie gesehen, dass es drüben an der Ecke einen Lebensmittelladen gibt?«
»Ja, das hab ich«, antwortete der Kunde sofort, jedoch noch immer, ohne sich umzuwenden. »Und soweit ich es beurteilen konnte, liegt er nur einen Steinwurf von hier entfernt?«
Der Kerl grinste. Er hatte sich in die Tür zum Schlafzimmer gestellt und füllte sie beinahe aus. Seine großen Hände ragten über seinen Kopf und hielten sich oben am Türrahmen fest. Da stand er und betrachtete das Zimmer, während er in der Türöffnung vor und zurück schaukelte, als würde ihn jemand anschubsen.
Der Makler wünschte, der Mann würde zumindest die Arme herunternehmen. In dem engen Flur roch es auf einmal schrecklich nach Achselschweiß. Aber ihm war auch, als strömte noch immer ein schwacher Geruch nach Zigarillos aus dem Arbeitszimmer. Dabei hatten die Putzfrauen wirklich ihr Bestes getan, um ihn wegzubringen, hatten sie gesagt. Sie hatten es dort drinnen auch wirklich schön gemacht, das war sicher nicht ganz leicht gewesen.
Er nahm sich zusammen. Jetzt musste er diese Sache auf eine vernünftige Art zu Ende bringen.
»Das ist übrigens ein ausgezeichneter Lebensmittelladen dort vorne. Viele Leute machen sogar einen Umweg, um da einzukaufen. Aber ansonsten hat in Gadeby auch ein großer Supermarkt aufgemacht. Ich weiß ja nicht, wie gut Sie die Gegend kennen, aber Gadeby ist der nächste größere Ort. Da gibt es alles, was man braucht. Auch eine sehr gute Schule, falls Sie …«
Der Makler zögerte. Sie waren wohl ungefähr im gleichen Alter. Der Mann musste also mindestens dreißig sein, aber er wirkte nicht wie jemandes Vater, eigentlich auch nicht wie jemandes Ehemann.
»Ja, danke, hören Sie einfach auf«, unterbrach ihn der Kunde, während er zurück in den Flur trat. »Dann ist das Badezimmer wohl hier drüben?« Er öffnete selbst die Tür.
Hellbraune Fliesen mit dunkelbraunen Verzierungen vom Boden bis zur Decke, eingemauerte Badewanne und Duschnische, originale Toilette und muschelförmiges Waschbecken. Geblümter Duschvorhang … Seifenschale, Zahnputzbecher. Blumenmuster aller Art. Der Makler sagte lieber nichts mehr.
Der Kerl blieb in der Türöffnung stehen, stöhnte und zog den Kopf zurück. »Vergessen Sie Ihre Verkaufsinformationen einfach. Ich schaue mich nach etwas anderem um.«
Er meinte es wahrscheinlich nicht unfreundlich, das war einfach seine Art. Und jetzt wollte er weiter. Der Makler musste sich gegen einen Zierteller an der Wand lehnen, als der Kunde sich vorbeidrängte.
Ihm fiel plötzlich auf, dass sie noch keinerlei Blickkontakt gehabt hatten.
Erst als der Makler sich umwandte, um sich zu vergewissern, dass der Teller keinen Schaden genommen hatte, suchte jemand seinen Blick. Eine üppig gelockte Dame, die ihn durch einen Wirrwarr von Mustern diskret anlächelte. Unverkennbar ein Bjørn-Wiinblad-Teller. Der Makler erwiderte das Lächeln, dankbar für die schwarz-weiße Freundlichkeit.
Es wäre wohl am besten, das Haus ausräumen zu lassen, dachte er, als er wenige Minuten später die Haustür hinter sich zuzog. Er blieb kurz auf der Türschwelle stehen. In seinem Rücken trat der Kunde aufs Gas und verschwand mit quietschenden Reifen in der Mittagssonne.
Der Mann hatte ja recht. Niemand wollte an einem Ort wohnen, an dem derart die Zeit stehen geblieben war.
Das ärgerte ihn ein bisschen, denn er mochte das Haus so, wie es war. Seine liebe Großmutter hatte genauso gewohnt, mit Arschbackengardinen und Standuhr und alldem. Und mit einem Türklopfer aus dunklem Messing an der Haustür. Genau wie diesem hier.
Der Makler lächelte dem grimmigen kleinen Löwenkopf vor sich zu. Der Löwe hielt den Ring im Maul, mit dem man klopfen sollte. Plötzlich packte ihn eine unbändige Lust, den Ring zu nehmen und ein paarmal damit anzuklopfen. Der Ring leistete unerwarteten Widerstand, als würde der Löwe aus Trotz die Zähne zusammenbeißen.
Vielleicht gab es nicht so viele, die hier angeklopft hatten. Neben dem Briefkasten links von der Tür stand ein Topf mit einem ausgemergelten Buchsbaum, der jetzt endlich wieder Wasser bekommen hatte. Hoffentlich würde er sich erholen. Der Rasen konnte ebenfalls eine liebevolle Hand gebrauchen. Und dann war da noch die enorme Hecke zum Nachbargrundstück. Um all das mussten sie sich kümmern.
Bevor er sich ins Auto setzte, rückte der Makler das Zu-verkaufen-Schild ein wenig gerade, das er vorher an einem verwachsenen Zwergflieder angebracht hatte. Zumindest die Büsche im Vorgarten sahen aus, als ginge es ihnen gut, sie blühten sogar üppig jetzt im Juni. Er betrachtete einen beeindruckenden rosa Perlmuttstrauch, den ein Schwarm kleiner Vögel mit all seinem geschäftigen Treiben und Zwitschern eingenommen hatte. Dort herrschte ein Leben ohnegleichen.
Dann warf er einen letzten Blick auf das Haus.
»Die armen Leute«, murmelte er.
Es war schwer, nicht an sie zu denken, wenn man dort drinnen herumging. Besonders an die Frau.
Es war in jeglicher Hinsicht ein klarer Morgen.
Alma stand an dem großen Fenster im Wohnzimmer und konnte mit ihren Adleraugen weit über die hügeligen braunen Felder hinaussehen. Ein Schwarm Saatkrähen hatte sich ein Stück weiter in einer Baumgruppe niedergelassen. Sie stellte sich ihr Lärmen vor, auch das des Traktors, der sich über das hinterste Feld hinaufbewegte. Selbst aus dieser Entfernung erkannte sie den Bauern an der Art, wie er sich auf dem Sitz zusammenkrümmte. Wie ein verschrecktes Tier.
Mads Frederiksen.
Massey Ferguson hatten sie ihn genannt.
Ja, heute erinnerte sie sich.
Er hatte nie eine Frau gehabt. Nur seine Mutter, und die hatte er inzwischen nicht mehr. Der Hund war auch weg. Wenigstens hatte er noch den alten Traktor.
Alma stützte sich mit einer Hand auf den runden Esstisch, und als sie sich umwandte, strich sie aus alter Gewohnheit den Tischläufer glatt, auch wenn es gar nichts glatt zu streichen gab. Sie betrachtete die Blumenmotive darauf und erinnerte sich für einen Moment, dass sie selbst sie in längst vergangenen Zeiten gestickt hatte … oder eine ihrer Schwestern. Die älteste? Jetzt kam sie doch in Zweifel. Aber schön war der Läufer. Und fort waren sie alle. Die vier Stühle standen adrett um den kleinen Tisch, ganz bis zur Tischkante daruntergeschoben, abgesehen von dem, auf den sie sich immer stützte, wenn sie vorbeiwollte. Sie hatten allerdings nur zwei der Stühle benutzt, während sie hier gewohnt hatten. Es waren gar nicht so viele Jahre eines langen Lebens gewesen; trotzdem fühlte es sich manchmal an wie viele.
Alles aus Mahagoni. Auch die kleine Anrichte, die sich an die Wand zum Arbeitszimmer nebenan drängte. Sie musste daran denken, Staub zu wischen.
Das Licht war gnadenlos.
»Jaja«, sagte sie zu sich selbst, als sie die Stuhllehne losließ und sich auf die Küchentür zubewegte. »Das schaffen wir schon.«
Jetzt brauchte sie ihren Kaffee.
Der erste Kaffee des Tages war himmlisch, da waren sie sich einig gewesen, auch wenn er nicht an einen Himmel glaubte.
»Dieser Kaffeeersatz, den wir während des Krieges bekommen haben. Kannst du dich an den erinnern?«, hatte er ab und zu gefragt. »Dieser Muckefuck.«
»Uh ja, der war widerlich«, hatte sie geantwortet. »Er hat überhaupt nicht geschmeckt wie der Richtige.«
So hatten sie gemütlich miteinander über Schreckliches und Wunderbares geplaudert, während sie ihren Kaffee genossen.
Manchmal tat sie so, als wäre er noch immer da.
Der Richtige.
In den ersten Jahren im Haus tranken sie ihren Morgenkaffee nebeneinander auf der Küchenbank in der Küche, jeder mit seinem Kreuzworträtsel. Oder vielleicht saß er ihr gegenüber auf dem Stuhl. Zum Frühstücken wechselten sie dann an den Esstisch im Wohnzimmer. Dort tauschten sie die Kreuzworträtsel, sodass sie sie jeweils füreinander fertig machen konnten.
Jetzt hielt sich Alma an die Küche. Ohne Kreuzworträtsel. Das ergab keinen Sinn mehr. Es gab ebenso wenig einen Grund dafür, etwas anzufangen, wie etwas fertig zu machen.
Hin und wieder kam es vor, dass sie seinen Namen vergaß. Und ihren eigenen auch, wenn man es genau nahm. Es half ihr nicht sonderlich, dass beide Namen auf dem Messingschild neben der Eingangstür zu lesen waren: Uhrmacher Otto Sørensen & Frau Alma Rosalinde Sørensen.
Das Türschild hatten sie mitgenommen, als sie von Gadeby nach Solum gezogen waren. Vom Stadtleben in die Stille. Das Geschäft hatte am einen Ende der Hauptstraße gelegen, einer von Gadebys besten Adressen. Die Leute waren von nah und fern gekommen, um sich die schönen Uhren des alten Uhrmachers anzusehen oder sich eine von ihm reparieren zu lassen. Ja, er hatte wirklich einen Namen gehabt, auch wenn sie ihn nun allmählich vergaß. Otto und sie hatten gleich neben dem Geschäft gewohnt, bis der Großteil des Anwesens niederbrannte.
Das Feuer nahm ihnen den ganzen Laden und ein Stück ihrer Wohnung. Also zogen sie mit dem, was noch übrig war, nach Solum.
Das Haus war billig gewesen. Es stand auch schon seit Monaten zum Verkauf, nachdem der alte Eigentümer ins Pflegeheim gekommen war. Das wollten sie nicht, davon konnte keine Rede sein. Sie waren zwar schon älter, aber sie konnten sich noch wunderbar um sich selbst kümmern. Und auch um ein kleines Haus. Otto hatte es gekauft, bevor sie überhaupt darüber nachdenken konnte.
Alma erinnerte sich heute ganz deutlich an ihn. Seine markante Kieferpartie, die ihm ein beinahe viereckiges Gesicht verlieh. Die nicht zu bändigenden Locken und die ernsten graugrünen Augen, die plötzlich aufflackern konnten, wenn er eifrig wurde. Oder wütend. Seine Flanellhemden und die Hosenträger und die bauschigen Hosen, die zu weit oben am Bauch saßen. Er war etwas zu dick gewesen. Und zum Schluss etwas zu krank. Krank in gewisser Hinsicht jedenfalls. Vielleicht auch nur krank im Kopf.
Sie wollten keine Hilfe. Die Kommune hatte sich ihnen in regelmäßigen Abständen angeboten, wahrscheinlich nur, weil sie alt waren. Aber er wollte nichts in Anspruch nehmen, also würde sie das auch nicht tun. Das letzte Mal, dass die Kommune geschrieben hatte, war um Weihnachten herum gewesen. Da hatte Alma freundlich zurückgeschrieben und für sie beide dankend abgelehnt. Normalerweise war er derjenige gewesen, der schrieb.
Die Kommune wusste nichts. Man konnte Almas Brief auch nicht ansehen, dass sie nicht mehr hören konnte. Höchstens, dass ihre Hand ein wenig zitterte. Damals war sie zum letzten Mal beim Briefkasten an der Ecke. Es war dunkel gewesen, und es hatte Schnee gelegen, und sie hatte glücklicherweise auf dem Weg niemanden getroffen. War auch nicht hingefallen, obwohl es nicht ganz einfach war, das Gleichgewicht zu halten. Wenn sie wollte, dann wollte sie. Aber sie wollte nicht noch einmal dorthin, auch wenn der Schnee schon längst weg war. Sie wollte überhaupt nicht mehr hinaus, traute sich nicht.
Also blieb Alma, wo sie war.
Ein Telefon hatten sie nie im Haus gehabt, obschon inzwischen vermutlich alle anderen eines besaßen. Damals gab es nur das im Laden. Wen sollten sie auch anrufen?, hatte er gesagt, als sie hierhergezogen waren und mit dem Laden Schluss gewesen war. Das Geld konnten sie sich genauso gut sparen. Das galt auch für die Zeitung.
All das war passiert, nachdem er begonnen hatte, sich zu verändern.
Alma schob sich auf die Küchenbank und schenkte sich Kaffee in die Porzellantasse, die auf dem Tisch bereitstand. Daneben stand eine kleine Schüssel mit Zuckerwürfeln, die sie nie anrührte. Er hatte immer Zucker genommen. Ihr Blick streifte einen der Zettel, die sie an der Wachsdecke festgeklebt hatte:
Ab und zu wirst du verwirrt. Das geht vorbei. Tu nichts, wenn du verwirrt bist und dich an nichts erinnern kannst. Warte einfach, bis es überstanden ist. Aber denk daran, die Uhr aufzuziehen, bevor du ins Bett gehst (die Standuhr im Wohnzimmer).
Der Text war mit einer zierlichen, leicht zittrigen Schreibschrift geschrieben.
Er half, dieser Zettel. Es gab zwar Tage, an denen sie dasaß und ihn anstarrte und überlegte, wer ihn geschrieben hatte – und für wen er war. Aber lesen konnte sie dann glücklicherweise noch.
Irgendwann ging es vorbei. Und dann zog sie die Standuhr auf.
Jetzt blieb Almas Blick an etwas draußen auf der Straße hängen. An dem kleinen Jungen, der sich näherte. Inzwischen ging er jeden Vormittag mit seinem Hund hier vorbei. Sie kamen die Straße herauf, liefen an ihrem Vorgarten und dem kleinen Wendeplatz vorbei und schlugen dann den Pfad ein, der um die Hausecke und dann weiter zwischen die Felder führte. Ansonsten passierte es eher selten, dass jemand diesen Pfad benutzte. Es passierte überhaupt selten, dass jemand ganz bis zum Wendeplatz kam. Sie stellte die Tasse ab und rückte etwas näher ans Fenster.
Irgendetwas war an diesem Jungen.
Er war nicht groß. So ein kleiner Steppke war man wohl mit um die fünf Jahre, dachte sie. Sechs vielleicht. Sieben? Inzwischen war es schwierig für sie, solche Dinge zu schätzen; es gab nur kleine Kinder und große Kinder, und viele Jahre lang hatte es überhaupt keine Kinder gegeben. Jedenfalls nicht vor ihrem Fenster. Vielleicht war er ein Enkel oder Urenkel, der irgendwo zu Besuch war. Aber es war auch durchaus möglich, dass er in der Nähe wohnte, so oft, wie sie ihn sah.
Für sie war es nur völlig unvorstellbar, dass so ein munterer kleiner Knirps an einen so stillen Fleck wie Solum gehören sollte.
Ein Dorf konnte man es kaum nennen. Solum war nur eine Ansammlung von Häusern an einer kleineren Landstraße, auf der nicht sonderlich viel Verkehr herrschte, nachdem man in der Nähe eine große Straße gebaut hatte. Ja, dann waren da noch ein paar kleine Straßen, die die Häuser dahinter miteinander verbanden, darunter einige Abzweigungen, die in einer Sackgasse endeten. Und am Ende einer dieser Sackgassen saß Alma mit ihren Adleraugen und sah niemanden.
Doch, den Jungen, der nicht richtig dazugehörte.
Vielleicht war sie diejenige, die nicht mehr dazugehörte, dachte Alma an diesem klaren Tag. Die Jungen ersetzten die Alten, die in den Schatten ihrer selbst verschwanden, bis sie ganz fort waren. Vielleicht wurden sie vergessen, noch bevor sie fort waren. Das war der Lauf, den es nahm. In den Nebel hinein.
Aber Alma konnte nicht vergessen sein, solange eine Kiste draußen auf der Schwelle vor der Eingangstür stand. Sie war sich nicht ganz sicher, was genau vereinbart worden war. Ihr Mann hatte das seinerzeit mit dem Kaufmann arrangiert. Es gab niemanden, der je Geld einforderte. Zumindest nicht, dass sie wüsste. Na ja, sie sollte vielleicht die Briefe lesen.