Bilder aus England und Schottland - Theodor Fontane - E-Book

Bilder aus England und Schottland E-Book

Theodor Fontane

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Beschreibung

Fast vier Jahre hat Theodor Fontane in England verbracht, es waren seine Lehr- und Wanderjahre. In dieser Zeit entstand eine Fülle von Reisetexten – Reportagen, Berichte, Porträts und Essays –, die zum Besten gehören, was von Deutschen über England und Schottland geschrieben wurde. Das überwältigende London – damals die größte Stadt der Welt – oder den romantischen Zauber der schottischen Landschaft fasst Fontane in Sätze, die seine Leser noch heute einladen mitzureisen – und ihnen die Augen öffnen. Dieses Buch im handlichen Format trifft eine feine Auswahl aus Fontanes Reisebüchern »Ein Sommer in London«, »Aus England« und »Jenseit des Tweed«, die zeigt, wie lebendig und aktuell Fontanes Beobachtungen nach wie vor sind. Ein Reisebegleiter von damals für heute.

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Seitenzahl: 178

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Theodor Fontane

Bilder aus England und Schottland

Ausgewählt und mit einer Nachbemerkung von Jürgen Hosemann

FISCHER E-Books

Inhalt

LondonVon Gravesend bis LondonEine Fahrt im PferdeomnibusStraßen, Häuser, Brücken und PalästeDer TowerVon Hyde Park Corner bis London BridgeZahlen beweisenDer Fremde in LondonEnglandEngland und die EngländerBrightonOxfordManchesterLiverpoolChesterSchottlandVon London bis EdinburghErster Gang durch EdinburghHolyrood PalaceEdinburgh CastleSpukhäuserStirling CastleEin Sonntag in PerthInvernessDer Kaledonische KanalObanRückkehr nach EdinburghLochleven CastleMelrose AbbeyDie Bewohner des schottischen HochlandsNachbemerkung
London

Von Gravesend bis London

Das ist die englische Küste! Durch den Morgennebel schimmern die Türme von Yarmouth. Ein gut Stück Weges noch in der Richtung nach Süden, und die Themsemündung liegt vor uns. Da ist sie: Sheerness mit seinen Baken und Tonnen taucht auf. Nun aber ist es, als wüchsen dem Dämpfer die Flügel, immer rascher schlägt er mit seinen Schaufeln die hochaufspritzende Flut, und die prächtige Bucht durchfliegend, von der man nicht weiß, ob sie ein breiter Strom oder ein schmales Meer ist, trägt er uns jetzt, an Gravesend vorbei, in den eigentlichen Themsestrom hinein.

Alles Große wirkt in die Ferne: wir fühlen ein Gewitter, lange bevor es über uns ist; große Männer haben ihre Vorläufer, so auch große Städte. Gravesend ist ein solcher Herold, es ruft uns zu: »London kommt!«, und unruhig, erwartungsvoll schweifen unsere Blicke die Themse hinauf. Des Dämpfers Kiel durchschneidet pfeilschnell die Flut, aber wir verwünschen den saumseligen Kapitän: unsere Sehnsucht fliegt schneller als sein Schiff – das ist sein Verbrechen. Und doch lebt London schon rings um uns her. Gravesend liegt nicht im Bann von London, aber doch in seinem Zauberbann. Noch fünf Meilen haben wir bis zur alten City, noch an großen volkreichen Städten müssen wir vorbei, und doch sind wir bereits mitten im Getriebe der Riesenstadt. Greenwich, Woolwich und Gravesend gelten noch als besondere Städte, und doch sind sie’s nicht mehr; die Äcker und Wiesen, die zwischen ihnen und London liegen, sind nur erweiterte Hyde Parks. Von Smithfield nach Paddington, quer durch die Stadt hindurch, ist eine schlimmere Reise wie von London Bridge bis Gravesend; nicht mehr Mile End ist die längste Straße Londons, sondern der prächtige Themsestrom selbst: statt der cabs und Omnibusse befahren ihn Hunderte von Böten und Dämpfern, Greenwich und Woolwich sind Anhaltspunkte, und Gravesend ist letzte Station.

Der Zauber Londons ist – seine Massenhaftigkeit. Wenn Neapel durch seinen Golf und Himmel, Moskau durch seine funkelnden Kuppeln, Rom durch seine Erinnerungen, Venedig durch den Zauber seiner meerentstiegenen Schönheit wirkt, so ist es beim Anblick Londons das Gefühl des Unendlichen, was uns überwältigt – dasselbe Gefühl, was uns beim ersten Anschauen des Meeres durchschauert. Die überschwengliche Fülle, die unerschöpfliche Masse – das ist die eigentliche Wesenheit, der Charakter Londons. Dieser tritt einem überall entgegen. Ob man von der Paulskirche oder der Greenwicher Sternwarte herab seinen Blick auf dies Häusermeer richtet – ob man die Citystraßen durchwandert und, von der Menschenwoge halb mit fortgerissen, den Gedanken nicht unterdrücken kann, jedes Haus sei wohl ein Theater, das eben jetzt seine Zuhörerschwärme wieder ins Freie strömt –, überall ist es die Zahl, die Menge, die uns Staunen abzwingt.

Überall! Aber nirgends so wie auf der großen Fahrstraße Londons – der Themse. Versuche ich, ein Bild dieses Treibens zu geben. Gravesend liegt hinter uns, noch sehen wir das Schimmern seiner hellen Häuser, und schon taucht Woolwich, die Arsenalstadt, vor unsern Blicken auf. Rechts und links liegen die Wachtschiffe; drohend weisen sie die Zähne, hell im Sonnenschimmer blitzen die Geschütze aus ihren Luken hervor. Vorbei! Wir haben nichts zu fürchten: Alt-Englands Flagge weht von unserm Mast; friedlich nur dröhnt ein Kanonenschuß über die Themse hin und verhallt jetzt in den stillen Lüften der Grafschaft Kent. – Weiter schaufelt sich der Dämpfer, an Ostindienfahrern vorbei, die jetzt eben mit vollen Segeln und voller Hoffnung in Meer und Welt hinausziehen; seht, die Matrosen grüßen und schwenken ihre Hüte! Wenn wieder Land unter ihren Füßen ist, so ist es des Indus oder des Ganges Ufer. Glückliche Fahrt!

Und jetzt, ein Invalidenschiff sperrt uns fast den Weg. Alles daran ist zerschossen – es selbst und seine Bewohner. Ein Dreidecker ist’s; seine Kanonenluken sind friedliche Fenster geworden, hinter denen die Sieger von Abukir und Trafalgar, die alte Garde Nelsons, ihre traulichen Kojen haben.

Aber lassen wir die Alten! Das junge, frische Leben jubelt eben jetzt an uns vorüber. Eine wahre Flottille von Dampfböten, eine friedliche Schärenflotte, nur heimisch im Themsefahrwasser, kommt unter Sang und Klang den Fluß herunter. In Gravesend ist Jahrmarkt oder ein Schifferfest, da darf der Londoner Junggesell, der Kommis und Handwerker nicht fehlen; die halbe City, scheint es, ist flügge geworden und will in Gravesend tanzen und springen und sich einmal gütlich tun nach der Melodie des Dudelsacks. […] Greenwich taucht auf vor uns, immer reger wird das Leben, immer bunter der Strom; – wie wenn Ameisen arbeiten, hierhin, dorthin, rechts und links, vor und zurück, aber immer rastlos, so lebt und webt es zwischen den Ufern. Noch haben wir kein Wort Englisch gehört, und schon haben die Spiegel und Flaggen der vorbeisausenden Schiffe einen ganzen Sprachschatz vor uns aufgeschlagen; wie in Blättern eines Riesenlexikons hätten wir darin lesen können. Noch hat unser Fuß London nicht betreten, noch liegt es vor uns, und schon haben wir ein Stück von ihm im Rücken – auf hundert Dampfböten eilte es an uns vorbei. Die Bevölkerung ganzer Städte ist ausgeflogen aus der einen Stadt, und doch die Tausende, die ihr fehlen, – sie fehlen ihr nicht. – Was ein Stück Infusorienerde unter dem Ehrenbergschen Mikroskop, das ist London vor dem menschlichen Auge. Zahllos wimmelt es; man gibt uns Zahlen, aber die Ziffern übersteigen unsere Vorstellungskraft. Der Rest ist – Staunen.

Eine Fahrt im Pferdeomnibus

London hat einen unvertilgbaren Eindruck auf mich gemacht; nicht sowohl seine Schönheit als seine Großartigkeit hat mich staunen lassen. Es ist das Modell oder die Quintessenz einer ganzen Welt. Der mehrerwähnte Umstand, daß London mehr Nachtwächter (zwölftausend) hat als das Königreich Sachsen Soldaten, ist am ehsten geeignet, eine Vorstellung von den Dimensionen dieser Riesenstadt zu geben.

Wir Deutsche seufzen über »teures Leben« in London; ich will das unerörtert lassen, aber pflichtschuldig versichern, daß ein Paar Schuhsohlen und einige pence vollkommen ausreichen, das wahre, eigentliche, das unvergleichliche London kennenzulernen. […] Wer London wahrhaft erfassen will, der stürze sich, wenn er dreist und ein tüchtiger Fußgänger ist, in das Gewühl der Menschen, oder besser noch, er besteige die outside (Außenseite) eines Omnibus und fahre straßenauf, straßenab von der City bis nach Paddington, von der Westminster-Brücke nach Vauxhall und von dort zum Hyde oder Regent’s Park. Passiert er Cheapside in der City, so entfaltet sich vor seinen Blicken die summende, rastlose Geschäftigkeit der ersten Handelsstadt der Welt. Er sieht die Straße vor sich mit Menschen, cabs und gigs, Frachtwagen und Fiakern wahrhaft bedeckt; mit jedem Augenblick erwartet er die Passage gehemmt oder den Omnibus, der ihn führt, zermalmt zu sehn; – mitnichten, die Übung hat auch hier den Meister gemacht; wo die Ängstlichkeit Gefahr bringen würde, triumphiert die Sicherheit. Womit vergleich ich jenes Treiben? Mit einem geschäftigen Bienenschwarm, der dichtgedrängt nach Nahrung ausfliegt, eine untätige, puppenartige Bienenkönigin an der Spitze? Nenn ich diese zerrinnenden und rastlos neugestalteten Menschenwogen ein Meer, darin der einzelne als Tropfen verschwimmt? Am anschaulichsten mach ich dies Drängen und Treiben vielleicht, wenn ich jede Straße mit einem schmalen Theaterkorridor vergleiche, der nach beendigter Vorstellung die Hindurchströmenden kaum zu fassen vermag. Doch unser Omnibus ist noch weit von seinem Ziel; soeben schneidet er Farringdon Street und gelangt aus der City nach dem fashionablen Teil der Stadt, nach West End. Auf dem Holipflaster des »Strand«, der ersten schönen Straße West Ends, die er passieren muß, rollt er dahin. Die Szene verändert sich; die Straßen, breit und sauber, zeigen nur hier und dort einen Frachtwagen, der sich verirrt zu haben scheint, das Gedränge läßt nach, und Menschen und Fuhrwerke werden eleganter. Wir passieren Charing Cross und befinden uns nun auf dem Grund und Boden der Nobility. Piccadilly, Regent und Oxford Street, es ist gleichgültig, welche der drei Straßen wir einer besonderen Musterung unterwerfen, ich mag nicht der Paris sein, der ihren Schönheitswettstreit entscheidet. Wär es Abend, so würd ich unzweifelhaft für Oxford Street in die Schranken treten, – denn länger und vorzugsweise grader als die beiden andern Straßen, gewährt das strahlende Bild der dichtgedrängten Gaslampen, gehoben durch ein aus allen Läden dringendes Lichtmeer, unzweifelhaft den schönsten Anblick. – Welch ein Unterschied zwischen der Handelswelt West Ends und der City. Diese führt einen Welthandel und erachtet es für gleichgültig, ob die Wechsel in finstern, verbauten Comptoir-Stuben oder in sammet- und goldgeschmückten Zimmern geschrieben werden; der Kaufmann in West End hingegen ist nur ein Krämer, der die Nobility in seiner unmittelbaren Nähe mit ihren Bedürfnissen versorgt. Ihre Ladyschaft könnte selbst einmal sein Geschäftslokal mit ihrer hohen Gegenwart beglücken, daher die flimmernde Pracht desselben. Die Schaufenster aus Spiegelglas sind von erstaunlicher Größe, alles Holzwerk ist vergoldet, dem Auge des Vorübergehenden bieten sich die kostbarsten Stoffe in geschmackvoller Gruppierung dar. Die Wände des Verkauflokals bestehen oft aus lauter Spiegeln, und die von zwanzig und mehr Gasflammen beleuchtete Pracht zeigt sich vervierfacht dem staunenden Beschauer. – Der Omnibuskondukteur ruft »Hyde Park!« Wir sind an der Ecke von Oxford Street und Park Lane und steigen ab. Nehmen wir an, es sei fünf Uhr nachmittags; wir treten in den vor uns liegenden Park und nehmen Platz auf einer Bank. Hier haben wir täglich das Longchamps der Pariser. Was die Fashion für heute heiligspricht, das bewegt sich an uns vorüber. Ein neuer gig des Lord B., ein geschmackvoller Reitanzug der Lady M., der falbe Hengst des Baronet V., auf den drei Tage zuvor tausend Pfund gewettet und gewonnen wurden – hier wirst du sie finden, hier hält die Aristokratie ihre Fensterparade vor sich selbst und dem staunenden Volke ab. Und ist der letzte Reiter an dir vorüber und siehst du im Glanz der untergehenden Sonne London mit seinen Kuppeln und zahllosen schlanken Feueressen, die minarettartig sich hier und da erheben, wie eine Stadt des Propheten vor dir liegen, dann rufe dir alle die verschiedenen Bilder, die es im Lauf des Tages vor dir entfaltete, ins Gedächtnis zurück. Erinnere dich, daß du frühmorgens in die Dockskeller tratest, die wiederum ein London unter der Erde genannt zu werden verdienen, erinnre dich, daß jede Weinsorte ein unterirdisches Stadtviertel bildete, darinnen die aufgetürmten Fässer als die Stockwerke hölzerner Häuser betrachtet werden konnten, darinnen wir lange dunkle Gassen passierten, lampenerhellt wie unsre Straßen bei Nacht. Erinnre dich, daß wir aus den Docks an Bord eines Dampfers traten und, vom Tower aus die Themse hinauffahrend, die menschenbedeckten steamer so zahllos uns vorüberfahren sahn wie die Fiaker in unsren Straßen, erinnre dich der kühngewölbten Brücken, unter denen wir dahinflogen und über welche rastlos eine dunkle Menschenwoge rollte, erinnere dich dann des City-Gewühls und der märchenhaften Pracht des erleuchteten West Ends und gestehe, daß London großartig und unvergleichlich ist.

Straßen, Häuser, Brücken und Paläste

London ist nicht das, was man eine »schöne Stadt« nennt. Es hat nichts aufzuweisen, was sich unserm Opernplatz oder gar dem Place de la Concorde in Paris vergleichen ließe. Die Zahl seiner durch Schönheit ausgezeichneten Gebäude steht in keinem Verhältnis zu der Zahl seiner Häuser überhaupt. Auch das Haus des Privatmannes bleibt äußerlich hinter dem zurück, was die Mehrzahl unsrer Straßen dem Auge zu bieten pflegt. Namentlich in der City und mehr noch in jenem volkreichen Stadtteil, der den Namen der »Tower Hamlets« führt, finden sich zahlreiche Gassen, auf die das Wort jenes spöttelnden Franzosen noch immer paßt, der ganz London mit kreuz und quer gebauten Mauerlinien verglich, drin sich große und kleine Löcher statt der Türen und Fenster befänden.

Unsre Häuser weichen in Bau und Einrichtung mehr oder minder voneinander ab; es dürfte schwerfallen, auch nur ein halbes Dutzend zu finden, die sich vollständig glichen. In London ist es umgekehrt. Ganze Stadtteile bestehen aus Häusern, die sich so ähnlich sehn wie ein Ei dem andern. Es ist mithin nichts leichter, als das »englische Haus« als Kollektivum zu beschreiben. Das englische Haus hat zwei oder drei Fenster Front, ist selten abgeputzt, meist durch ein Eisengitter von der Straße getrennt und hat ein Souterrain mit der Küche und den Räumlichkeiten für das Dienstpersonal. Parterre, und zwar nach vorn heraus, befindet sich das Sprech- oder Empfangzimmer (parlour), dahinter ein sitting-room, in dem das Diner eingenommen zu werden, auch wohl der Hausherr seine »Times« zu lesen und sein Nachmittagsschläfchen zu machen pflegt. Die teppichbedeckte Treppe führt uns in die drawing-rooms, zwei hintereinander gelegene Zimmer von gleicher Größe, beide durch eine offenstehende, scheuntorartige Tür in stetem Verkehr miteinander. Hier befindet sich die Dame vom Hause; hier streckt sie sich auf diesem bald und bald auf jenem Sofa; hier steht der Flügel, auf dem die Töchter musizieren; hier sind die cup- und chinaboards (offene Etageren mit chinesischem Porzellan); hier stehn Humes Werke und Addisons Essays in endloser Reihe; hier hängen die Familienporträts; hier sitzt man um den Kamin oder am Whisttisch und beschließt den Tag in stillem Geplauder beim Tee oder im lauten Gespräch, wenn die Gentlemen das Feld behaupten und ihren selbstgemischten Nachttrunk nehmen. – In der zweiten Etage sind die Schlafzimmer – noch eine Treppe höher die Wohn- und Arbeitszimmer für die Kinder, auch wohl ein Gastbett für Besuch von außerhalb.

So sind Hunderttausende von Häusern. Ihre Einförmigkeit würde unerträglich sein, wenn nicht die Vollständigkeit dieser Uniformität wieder zum Mittel gegen dieselbe würde. In vielen Fällen wird nämlich von den Bauunternehmern nicht ein Haus, sondern ein Dutzend gleichzeitig und nebeneinander aufgeführt, wodurch diese Gesamtheit von Häusern oftmals das Ansehn eines einzigen großen Gebäudes gewinnt. Gesellt sich dann noch an jener Stelle, wo die einzelnen Häuser aneinandergrenzen, eine säulenartige Fassade oder gar an den ersten Etagen entlang ein zierlicher Balkon hinzu, so werden hier und da Resultate erzielt, die sich dem nähern, was unsere hübschesten Straßen aufzuweisen haben.

Eins aber haben Londons Straßen und Häuser vor uns voraus, das ist ihre äußerste Sauberkeit. Man gewahrt dies nicht ohne ein Gefühl der Beschämung, wenn man dabei des Schmutzes gedenkt, der namentlich zur Winterzeit in unsern Straßen souverän zu herrschen pflegt und sich auftürmt, als sei das so sein Recht. Jedes Londoner Haus hat bis in seine zweite und dritte Etage hinauf den unschätzbaren Vorteil eines nie mangelnden Wasserstroms, der ihm, nach Gefallen, aus Dutzenden von Röhren entgegenströmt. Alles schmutzige Wasser fließt sofort wieder ab und ergießt sich in eine tief unter jedem Straßendamm gelegene Kloake, deren Hauptkanäle mit der Themse in Verbindung stehen. Die Straßen selbst zeigen eine Reinlichkeit, die nur von der niederländischen übertroffen wird. Trottoirs (meist von Sandstein) nehmen gemeinhin die ganze Breite des Bürgersteiges ein, und das eigentliche Straßenpflaster (auf den Hauptverbindungslinien makadamisiert) befindet sich selbst bei Regenwetter und trotz des unglaublichen Verkehrs in stets passierbarem Zustand. Eigentümliche Fuhrwerke, die, ähnlich wie unsere Eggen auf dem Felde, einen breiten Besen hinter sich führen, fahren bei schmutzigem Wetter auf und ab und säubern so die aufgeweichten Straßen.

Ich bin ins Loben gekommen, fast wider meinen Willen; so sei denn auch vor allem und eh der Tadel wieder in sein Recht tritt, der fünf gewaltigen Brücken (zu denen sich die Hängebrücke als sechste gesellt) Erwähnung getan, die das eigentliche London mit Southwark oder, was dasselbe sagen will, die Grafschaften Middlesex und Surrey miteinander verbinden. Diese Brücken sind meiner Meinung nach weitab das Bedeutendste, was London an Baulichkeiten aufzuweisen hat. Ich glaube den Grund dieser eigentümlichen Erscheinung darin gefunden zu haben, daß das englische Volk alles hat, was zu einem imposanten Baue ausreicht: Berechnung, Reichtum, Ausdauer, Kühnheit, – aber das entbehrt, was zur Schöpfung des künstlerisch Vollendeten nötig ist: Geschmack und Schönheit. Sooft ich auch die Themse hinauf- und hinunterfahre, immer wieder beschleicht mich ein Staunen, wenn die Southwark-Brücke mit ihren drei Riesenbögen, deren jede eine Spannung von 240 Fuß hat, plötzlich vor mir auftaucht, und dies Staunen schwindet nur, wenn ich weiter stromabwärts gleite und die Londonbrücke, schwer und massig wie ein Gebirgsstück, über den Fluß geworfen sehe. Es läßt sich nichts Solideres denken, und wenn ich aufgefordert würde, einem Fremden in London den Punkt zu zeigen, der mir am meisten geeignet schiene, den Charakter dieser Stadt und dieses Landes zur Anschauung zu bringen, so würd ich ihn nicht nach St. Paul und nicht nach Westminster, sondern an die granitne Brüstung dieser Brücke führen und ihn dem Eindruck dieser festen und kühn gewölbten Masse überlassen.

Wend ich mich jetzt zur Besprechung öffentlicher Gebäude, wie Kirchen und Paläste, so ist es ein unverhältnismäßiger Mangel an derartigen Bauwerken, der sich dem Urteil sofort aufdrängt. Das neue London, besonders auf dem Waterloo-Platz – wo sich zu den schönen Baulichkeiten des Platzes selbst die eleganten Klubhäuser Pall Malls und einzelner Nachbarstraßen gesellen –, präsentiert eine Anzahl von Gebäuden, auf denen auch das Auge des Architekten mit Anerkennung verweilen wird, aber diese Bauten, wie zum Teil vollendet an und in sich, haben doch überwiegend den Charakter von Privathäusern und bieten, wenn mir diese Wendung gestattet ist, nicht Masse genug dar, um den Baumeister so recht als einen Meister zu zeigen. Erst in voller Bewältigung massenhaften Stoffs, im Innehalten der Schönheit auch innerhalb der größten Dimensionen, offenbart sich der Meister. Alle diese Gebäude sind, vielleicht nicht ihrem Wert, aber ihrer Gattung nach, zweiten Ranges.

Großartige Bauten von mindestens relativer Makellosigkeit hat London nur zwei: St. Paul und das Britische Museum. St. Paul, wenngleich nur eine Nachahmung St. Peters, wird unter diesen Nachahmungen immer den ersten Rang einnehmen. Es ist im höchsten Maße bedauerlich, daß die Beengtheit des Platzes, auf dem dieser Riesenbau steht, einen Totalanblick unmöglich macht, aber auch was wir sehen, reicht aus, um uns den Namen Christoph Wrens mit Ehrfurcht sprechen und jener Grabschrift desselben (in der Kirche selbst) beipflichten zu lassen, die da heißt:

Si monumentum requiris – circumspice!

Das Britische Museum zeigt den in London wenig vertretenen Stil der Antike. Es ist ein mächtiges Gebäude mit zwei kurz vorspringenden Flügeln. Ionische Säulen tragen den Portikus des Haupteinganges sowohl wie der Seitenteile. Überall Einfachheit und Symmetrie; die gewaltige Masse, durch Schönheit belebt, wirkt erhebend und bewältigend zugleich.

Hiermit ist das Verzeichnis Londoner Schönheit erschöpft. St. James ist nur noch die Karikatur eines Königsschlosses. Aus rotem Backstein aufgeführt, klein, niedrig und mit zwei abgekappten Türmen am Eingangstor, gleicht es eher dem verrotteten Herrenhause eines heruntergekommenen alten Squires in Yorkshire oder Westmoreland als dem Palast englischer Könige, und es bedarf des Auges dessen, der hinter den herabgelassenen Rouleaux das dicke rotbärtige Antlitz Heinrichs VIII. erkennt, wie er zur Anna Bulen flüstert, um diesen Platz wiederholt zu besuchen. Buckingham Palace, die gegenwärtige Residenz der Königin, ist minder häßlich als St. James, aber doch nicht um so viel schöner, daß es die Langeweile tilgte, die ihm auf der Stirne steht. Sollt ich zwischen beiden entscheiden, so würd ich, der Königin Viktoria zum Trotz, von zwei Übeln das kleinste wählen. – Somerset House ist stattlich, aber nichts weiter; seine Front markiert sich wenig, der Hof ermüdet durch Monotonie, und nur nach der Themse hinaus imponiert es durch seine Lage und seine Masse.

Und nun die Kirchen! Welch ein Verbrechen, von der Westminster-Abtei bis hierher geschwiegen und seinem Anhängsel, der Kapelle Heinrichs VII., noch keine pathetische Lobrede gehalten zu haben! Aber ich zähle nun mal zu den Unglücklichen, die es tragen müssen, keine gebornen Engländer zu sein, und infolgedessen zu der blasphemistischen Ansicht neigen, daß Westminster mehr interessant als schön sei und daß seine beiden Türme (zu denen der arme Wren, kein Freund der Gotik, nolens volens gepreßt wurde) die Linie des Lächerlichen nur notdürftig vermeiden. Ich liebe Westminster und das Zauberblau seiner prächtigen Mittelfenster, ich lieb es auch, mich in einen Chorstuhl der Kapelle Heinrichs VII. zu setzen und die Wappenbanner der Ritter des Bathordens über mir hin und her schwanken zu sehen, aber es ist die Geschichte dieses Platzes und nicht seine Schönheit, die mich an ihn fesselt, und ich kann nicht miteinstimmen in den Glaubenssatz jedes alten und echten John Bull, daß dieser Platz »das Wunder der Welt« sei.

Der echte John Bull hat auch noch einen andren Spleen, der jedenfalls unverzeihlicher ist als die Bewunderung des »wonder’s of the world«, das ist die Bewunderung seiner neuen Houses of Parliament. Diese Parlamentshäuser sind da und haben viel Geld gekostet, das beides steht fest. Namentlich der letztere Umstand läßt den Gedanken gar nicht aufkommen, daß sie vielleicht doch nichts taugen könnten. Der praktische Sinn des Engländers sträubt sich dagegen, so viele Pfund Sterling vergeblich ausgegeben zu haben. Er wiederholt dir Mal auf Mal, daß das Gebäude 900 Fuß lang und einer seiner vielen Türme, zunächst noch in der Intention, 340