Bilder einer Ausstellung - Norbert Büchler - E-Book

Bilder einer Ausstellung E-Book

Norbert Büchler

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Beschreibung

Lausanne, 2005 Während der Tournee eines Orchesters erkranken nach einer Feier ein Drittel der Mitglieder und es müssen Ersatzmusiker einspringen, darunter der Geiger Frank Beckmann. Nach dem Abschlusskonzert gibt der Dirigent ein Fest auf seinem Anwesen, wo Frank Beckmann in dessen Privatgalerie ein Gemälde entdeckt, das er zu kennen glaubt. Neugierig geworden, findet er im Nachlass seiner Eltern seltsame Unterlagen, die auf einen jüdischen Kunsthändler und dessen verschwundene Bilder einer Ausstellung im Jahre 1936 hinweisen. Inmitten des Orchesteralltags beginnt eine spannende Spurensuche, die von Florenz über den Genfer See bis zur Amalfiküste führt. (Neuauflage des 2014 erschienenen Romans)

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Lausanne im Sommer 2005

In der Küche eines Restaurants geschah ein folgenreicher Fehler …

Antonio Giamottis Gesicht war ungewohnt blass. Er blickte Anne missgelaunt an und hakte nach:

„Zweiunddreißig?“

„Ja, leider. Siebzehn Streicher, zwei Oboen, alle Blechbläser, beide Schlagzeuger sowie der Pauker.“

„Wo sind sie?“

„Die meisten noch in der Klinik, viele haben Fieber. Man hat die Erreger bereits nachweisen können und erwartet eine Krankheitsdauer von zwei bis vier Tagen.“

„Und das Restaurant?“

„Wurde sofort geschlossen, die Lebensmittelüberwachung ist dran. Alle hatten das gleiche Menü.“

Giamotti stand auf und donnerte:

„Orchesterversammlung um elf Uhr hier im Hotel, holen Sie auch den Veranstalter dazu!“

„Aber das ist in einer halben Stunde, wie soll ich einen Raum und alle Musiker ...?“

„Das ist Ihr Problem. Ziemlich unbedeutend angesichts des meinigen.“

Anne verließ die im obersten Stockwerk gelegene Hotelsuite von Giamotti und eilte zum Aufzug.

„So ein Idiot.“

Um zwei Uhr in der Nacht war die Hiobsbotschaft eingetroffen: Nach einer privaten Feier lagen alle eingeladenen Musiker in der Klinik von Lausanne. Seither hatte Anne kein Auge mehr zugetan.

Der Hotelmanager wusste bereits von dem Notstand und sagte ihr einen Konferenzraum zu. Sie rief den Cellisten Harry Brunner an und bat um seine Hilfe, die anberaumte Versammlung bekannt zu machen. Brunner, der einzige des dreiköpfigen Orchestervorstands, welcher der vorabendlichen Einladung nicht gefolgt war, meinte skeptisch:

„Über fünfzig Kollegen in so kurzer Zeit? Heute ist freier Tag, viele sind bereits unterwegs und nicht jeder hat im Ausland sein Handy an.“

„Laut Giamotti ein unbedeutendes Problem.“

„So ein Idiot!“

Dann rief sie beim Konzertveranstalter in Genf an und berichtete von dem Vorfall. Herr Hürrli zeigte sich bestürzt.

„Maestro Giamotti hat für elf Uhr eine Orchesterversammlung einberufen. Ich soll dafür sorgen, dass Sie ebenfalls erscheinen.“

Anne hörte, wie Herr Hürrli tief durchatmete:

„Genf - Lausanne in fünfundzwanzig Minuten? Das sollte zu schaffen sein.“

Um kurz nach elf Uhr saßen etwa dreißig Orchestermitglieder im Konferenzraum. Als Maestro Giamotti erschien, ließ ihn der Blick in das magere Drittel seines Orchesters erstarren. Da betrat Herr Hürrli den Raum, begrüßte Giamotti und redete beruhigend auf ihn ein. Dennoch weigerte sich Giamotti angesichts der offenkundigen Meuterei seines Orchesters, die von ihm einberufene Versammlung zu eröffnen. Dies übernahm daher der Vorstand Harry Brunner. Er erklärte die Abwesenheit etlicher Kolleginnen und Kollegen mit der Kurzfristigkeit der Terminierung, zudem sei dieser Tag als Ruhetag angesetzt gewesen und man könne davon ausgehen, dass noch nicht alle von dem nächtlichen Ereignis erfahren hätten. Da Giamotti noch immer keine Anstalten machte, sich zu äußern, übergab Brunner das Wort an Herrn Hürrli, dem er für die Anreise mit dem Helikopter in so kurzer Zeit dankte. Dieser sprach in ruhigem Schwyzerdytsch sein Bedauern über diesen Sündenfall eidgenössischer Gastronomie aus, wünschte den betroffenen Damen und Herren eine baldige Genesung und riet Maestro Giamotti zur Gelassenheit, eine Eigenschaft, die er als einer der großen lebenden Dirigenten zweifelsohne besitze. Worauf Hürrli diese illusorische Annahme gründete, ließ er offen. Er führte weiter aus, dass das Schweizer Publikum den Maestro und seine Musik so sehr bewunderten, dass es aus Veranstaltersicht kein Problem darstelle, die letzten vier Konzerte in kleinerer Besetzung zu absolvieren, so er, Maestro Giamotti, sowie der verehrte Solist und das Orchester diese Flexibilität aufzubringen in der Lage seien. Giamotti blieb angesichts dieser diplomatischen Offerte nur ein unmerkliches Nicken übrig. Herr Hürrli dankte ihm und bot dem Orchester jegliche Unterstützung bei der Lösung des Problems an, wovon er aber die Inanspruchnahme des Helikopters ausnehmen müsse. Das höfliche Gelächter der Musiker übertönte eine boshafte Bemerkung Giamottis, welche nur Anne, die in seiner Nähe stand, hörte und die sie sofort wieder zu vergessen beschloss. Nun sprach Herr Hürrli noch das Konzert in Montreux am nächsten Tag an. Er bat darum, ihm Bescheid zu geben, ob es abgesagt werden müsse, da bis dahin nur noch, er blickte auf seine Uhr, dreiunddreißig Stunden verblieben, ein knapp bemessener Zeitraum angesichts der Situation. Alle Blicke wandten sich Giamotti zu, der sich aber zu keiner Reaktion gemüßigt sah, im Gegenteil, er starrte Herrn Hürrli regungslos an und schien gedanklich abwesend. Anne, an der die eigentliche Organisation dieser Situation hing, stand auf und wandte sich an den Maestro mit der Aufforderung, eine Entscheidung zu treffen, da keine Zeit bleibe, diese zu vertagen.

Sie erwartete, dass er diese ihrer Stellung nicht angemessenen Anweisung mit einer Beleidigung kontern würde, doch während sie seinem stechenden Blick nur mit Mühe standhielt, antwortete er, das Orchester möge darüber entscheiden. Dann verabschiedete er sich mit einer angedeuteten Geste von Herrn Hürrli und verließ den Saal. Harry Brunner dankte Anne für ihre klaren Worte und berichtete von seinem eben geführten Telefonat mit Artur Bronkönig, dem Solisten im Klavierkonzert. Er habe Bronkönig die Situation erörtert und dieser habe nach einigem Hin und Her seine Bereitschaft erklärt, die restlichen Konzerte dennoch zu spielen. Brunners Wortwahl gab allen Anwesenden zu verstehen, dass Bronkönig im Verlaufe ihres Telefonats keine Bosheit ausgelassen hatte, um den Vorfall als unzumutbar für einen Künstler seines Ranges darzustellen. Er galt als überheblicher Altmeister, dessen legendäre Zusammenarbeit mit Giamotti nicht verhindern konnte, dass sie sich inzwischen verachteten. Brunners abschließende Bemerkung, dass die Nachwirkungen des Telefonats vergleichbar mit denen des gestrigen Menüs gewesen seien, entfachte spontanen Applaus. Danach begann die Diskussion, ob das Tourneeprogramm in reduzierter Besetzung ausführbar sei. Als kritisch wurde vor allem die zweite Hälfte des Konzerts, Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“, angesehen. Die Debatte endete in dem fast rebellisch zu nennenden Beschluss, das Problem allein Giamotti zu überlassen. Danach wurde besprochen, ob es sinnvoll sei, so Anne das Engagement von Aushilfen in derart kurzer Zeit organisieren konnte, das morgige Konzert mit nur einer einzigen Probe zu spielen. Wiederum gab es skeptische Wortmeldungen, insgesamt überwog jedoch die Meinung, dass es angesichts des Standardrepertoires sowie ihres Ranges als Spitzenorchester durchführbar wäre, zumal Giamotti ein fähiger Dirigent sei, sehe man von den sonstigen Gestörtheiten dieser Berufsgruppe ab. Eine deutliche Mehrheit stimmte schließlich dafür. Anne hatte in der Zwischenzeit den Orchesterintendanten in Deutschland erreicht, ihm die Lage erklärt und die Bewilligung der entstehenden Zusatzkosten erhalten. Nun teilte sie ihm das aktuelle Abstimmungsergebnis mit, woraufhin der Intendant allen viel Erfolg angesichts der Herausforderung wünschte. Herr Hürrli versprach, die Presse zu informieren, damit die Situation entsprechend gewürdigt werde. Außerdem habe er sich noch persönlich bei den Maestros Giamotti und Bronkönig zu bedanken. Er verabschiedete sich mit einer solidarischen Geste. Nun lag es an Anne, ein organisatorisches Wunder zu vollbringen.

Nach der Versammlung ging sie auf ihr Zimmer, schlug die Zimmertür zu und stieß einen Wutschrei aus. Ihre Tochter Lisa, erstmals bei einer Tournee mit dabei, sah sie befremdet an. Was ursprünglich als Belohnung für ihr exzellentes Abitur gedacht war, wandelte sich in Lisas Augen zu einem Höllentrip. Genau dies sagte sie ihrer Mutter.

Anne verdrehte nur hilflos die Augen und machte sich auf den Weg zu dem Konferenzraum, wo ihr Telefon, Fax und Internet zur Verfügung gestellt worden waren. Sie ließ sich in den Bürostuhl fallen und schloss die Augen. Die auf ihr lastende Verantwortung wog schwer, ihr Auftreten Giamotti gegenüber hatten sie Kraft gekostet. Während sie ihre Schläfen massierte, verbot sie sich jeden Selbstzweifel und begann, den Berg an Arbeit anzugehen.

Zuerst rief sie bei Giamotti an und informierte ihn, dass das morgige Konzert stattfinde, sie aber unverzüglich die neuen Besetzungen in den jeweiligen Instrumentengruppen wissen müsse, vor allem die „Bilder einer Ausstellung“ werde vom Orchester als problematisch angesehen. Giamotti antwortete, wenn er eine Versammlung einberufe und nur ein Drittel erscheine, dann käme dies einem Aufstand gegen ihn gleich. Über Besetzungsfragen nachzudenken habe er folglich genauso wenig Lust wie diesen Putschistenhaufen zu dirigieren. Damit legte er auf. Anne blieb nichts anderes übrig als Herrn Hürrli zu bitten, die Besetzungsliste bei Giamotti zu erfragen. Als Herr Hürrli kurz darauf zurückrief, empfahl er ihr, schnellstmöglich Giamottis Gattin anreisen zu lassen, soviel er wisse, sei sie die Einzige, die den Maestro aus seiner Versenkung zu holen imstande sei. Bezüglich der Besetzung habe er leider nichts erreichen können. Anne kontaktierte den zweiten Konzertmeister und berichtete ihm von Giamottis Weigerung. Dann rief sie den Kontrabassisten Carlo an, den einzigen Italiener im Orchester, und bat ihn, Signora Giamotti telefonisch zu überreden, sofort zu kommen, man könne sie jederzeit vom Genfer Flughafen abholen. Nach einer halben Stunde rief Carlo zurück und meinte, sie käme, jedoch widerwillig, wie sie betont habe.

Der zweite Konzertmeister hatte inzwischen ein Krisenkomitee mit allen verfügbaren Musikern einberufen, in dem hitzig diskutiert wurde, bis schließlich ein neuer Besetzungsplan vorlag, den er zu Anne brachte. Er riet ihr, Giamotti eine Kopie davon zukommen zu lassen, falls dieser doch noch zur Vernunft käme und Änderungen vorschlagen wolle. Anne ließ den Plan in einem Umschlag in Giamottis Suite bringen. Kurz darauf rief die Servicekraft sie an und berichtete, der Maestro habe den Umschlag ungeöffnet zerrissen.

Bevor sie begann, mögliche Aushilfen anzurufen, eilte sie nochmals auf ihr Zimmer. Ihre Tochter war gerade dabei, ihren Koffer zu packen.

„Lisa, was ist los?“

„Papa holt mich gleich ab, ich habe ihn darum gebeten. Dein Stress tut mir leid, aber ich halt das nicht mehr aus. Papa nimmt mich zu sich bis eure Tournee beendet ist.“

„Schön, dass ich dazu gefragt werde!“

„Siehst du, genau diesen Ton ertrage ich nicht mehr. Ich kann nichts für eure orchestrale Diarrhöe, doch du behandelst mich, als hätte ich persönlich das Essen vergiftet. Du bist schon wie dieser Giamotti.“

Anne sah sie verunsichert an, in diesem Ton sprach Lisa sonst nie mit ihr.

„Warum kann Papa so schnell hier sein?“

„Er macht hier wieder Urlaub, wir telefonieren doch jede Woche. Außerdem habe ich ihn vor eurem Konzert in Genf getroffen und bin mit ihm Eis essen gegangen.“

In dem Augenblick klopfte es bereits. Anne hatte Frank seit ihrer Trennung vor zwei Jahren nicht mehr gesehen, sie hatten immer nur telefoniert, meist Lisas wegen.

„Hallo Frank.“

„Hallo Anne.“

Sie war überrascht bei seinem Anblick, er sah jünger aus als früher, was ihr einen Stich versetzte.

„Ich bin nicht begeistert von Lisas Vorhaben, aber …“

Frank unterbrach sie:

„Lisa bleibt einfach ein paar Tage bei mir, alles kein Problem. Ich wohne in Meillerie am französischen Ufer.“

Sie sah ein, dass ihre Tochter im Grunde eine ideale Lösung gefunden hatte und nahm sie in die Arme. Dann wandte sie sich wieder an Frank:

„Gab es das bei euch auch schon mal? Gestern Abend ging ein Drittel des Orchesters in ein Restaurant und nun liegen sie alle flach. Und Giamotti ist sich nicht zu blöd, dies als Putsch gegen ihn zu bezeichnen. Stell dir vor, der Veranstalter musste eigens mit dem Helikopter …“

„Nein, das gab es bei uns noch nie.“

Frank spürte Müdigkeit, Annes Dynamik war er nicht mehr gewachsen. Ihre ständigen Wechsel zwischen Stärke und verzweifelter Kraftlosigkeit kannte er zur Genüge.

Anne sah den beiden nach, wie sie im Aufzug verschwanden. Bevor sie über ihre seltsame Reaktion auf Franks Erscheinen nachdenken konnte, hastete sie wieder in ihr provisorisches Büro und griff zum Telefon.

Am Spätnachmittag hatte Anne elf von neunzehn benötigten Zusagen erhalten. Da Carlo sich um Signora Giamottis Anreise kümmerte, sah sie allmählich Licht am Ende des Tunnels. Von Giamotti selbst gab es allerdings noch kein Lebenszeichen. Eher zufällig erfuhr sie vom Hotelmanager, dass er sich ein Essen und zwei Flaschen Rotwein aufs Zimmer hatte kommen lassen. Anne war froh, dass seine Frau bald eintreffen würde.

Gegen Abend gönnte sie sich eine Kleinigkeit im Hotelrestaurant. Es fehlten inzwischen nur noch ein Pauker und ein erster Konzertmeister. Plötzlich hörte sie einen Tumult im Foyer, es wurde auf Italienisch gebrüllt, bis Carlo ins Restaurant stürzte und an Annes Tisch eilte.

„Giamotti ist stinksauer, dass seine Frau da ist. Er hat sie aufgefordert, auf der Stelle zu verschwinden.“

„Und wie hat sie reagiert?“

„Sie hat ihn angefahren, dass er nach Alkohol rieche und allein das ein Grund sei, die Scheidung einzureichen, zuvor solle er aber endlich aufhören, sich wie ein Kind zu benehmen und die Tournee zu Ende bringen. Bei dem Wort Scheidung ist er zusammengezuckt, klar, er hat ja bereits einige hinter sich.“

„Und wo sind sie jetzt?“

„In seiner Suite. Ich übergebe die Sache jetzt an dich.“

„Vielen Dank für alles. Carlo, du bist ein Engel.“

„Da ist noch was.“

Carlo zögerte.

„Bronkönig hat Giamottis Wutanfall vom Treppenhaus aus verfolgt. Du weißt ja, wie die beiden sich …“

Anne fiel ihm ins Wort:

„Danke, ich will nichts weiter hören.“

Carlos zwinkerte ihr zu und verschwand wieder.

Sie saß vor ihrem Laptop und telefonierte weiter ihre Musikerliste ab, erhielt allerdings nur noch Absagen, was ihr Kopfschmerzen verursachte. Sie begann sich erneut die Schläfen zu massieren, als es klopfte. Signora Giamotti betrat den Raum. Anne fiel sofort auf, wie selbstbewusst diese Frau auftrat, die nur wenige Jahre jünger war als sie selbst. Da Chiara Giamotti im Gegensatz zu ihrem Mann kein Deutsch konnte, redeten sie Englisch.

„Signora Giamotti, vielen Dank für Ihr Kommen! Wie geht es Ihrem Mann?“

„Sie meinen den gekränkten Meister?“

Anne musste ein Lächeln unterdrücken, was der Dirigentengattin nicht entging.

„Sie dürfen sich ruhig amüsieren. Er führt sich auf, als hätte man ihm im Sandkasten seine Burg kaputt gemacht ...“

„Tut mir leid, Signora Giamotti …, aber Ihr Mann ist unser Chef, es ist seltsam, wenn Sie so über ihn reden. Aber ist er wenigstens bereit, die Tournee fortzusetzen?“

„Keine Sorge, das wird er tun, ob bereit oder nicht. Ich bleibe die nächsten Tage bei ihm, möchte aber ein eigenes Zimmer.“

„Selbstverständlich, das organisiere ich. Hat er schon entschieden, wann er morgen mit der neuen Besetzung proben möchte?“

„Nein, aber sagen Sie mir die Uhrzeit, dann richte ich es ihm aus.“

„Ich glaube, dass er das selber bestimmen möchte.“

„Ja, er möchte immer alles bestimmen. Und wenn alles genau so läuft wie er will, geht es ihm bestens. Glauben Sie mir, ich heiratete vor zwei Jahren einen angesehenen Dirigenten, doch ich lebe mit einem verzogenen Kind zusammen, auch wenn es bereits zweiundsechzig Jahre alt ist. Naja, so lange ich ihn nicht stillen muss ... also, wann wird morgen geprobt?“

„Zwölf bis sechzehn Uhr und abends das Konzert in Montreux. Früher geht es nicht, da die Aushilfen alle erst am Vormittag anreisen.“

„Gut, er wird sich daran halten. Ich werde mich die nächsten Tage zurückziehen, wir sehen uns dann nach dem Abschlusskonzert in Florenz bei unserem Gartenfest. Sie sind auch dabei?“

„Aber natürlich.“

Signora Giamotti lächelte ihr zu und verließ den Raum. Ihre lockere und bestimmende Art gefiel Anne. Sie nahm eine Kopfschmerztablette und ging mit neuem Elan an die Arbeit. Von ihrem Laptop aus schickte sie eine Kurznachricht mit den morgigen Probezeiten an alle Musikerhandys. Es war vereinbart worden, dass jeder auf diesem Wege erreichbar sein musste. An Artur Bronkönig verfasste sie eine handschriftliche Nachricht, die sie ihm vom Hotelservice in seine Suite bringen ließ.

Kurz vor Mitternacht erreichte sie endlich den Pauker aus Zürich, auf den sie alle Hoffnung gesetzt hatte. Er konnte kurzfristig einspringen. Nun fehlte nur noch ein erster Konzertmeister. Die einzige noch in Frage kommende Musikerin aus ihrer Liste war erst am nächsten Morgen zu erreichen.

Sie dachte an Frank, bei dem ihre Tochter Lisa nun wohnte. Auch wenn sie es vermeiden wollte, ihn zu holen, so war er doch ihre mögliche Rettung, denn er hatte in seiner Position als Konzertmeister in einem anderen Orchester schon mehrmals bei ihnen gespielt, schien Zeit zu haben und war bereits vor Ort.

***

Drei Tage vor den Geschehnissen in Lausanne kam Frank in Meillerie an, wo er schon mehrere Sommerurlaube verbracht hatte. Die Anreise aus Süddeutschland glich einer Pilgerfahrt durch erinnerungswürdige Orte.

In Bregenz hatte er sein Auto nahe am Bodensee geparkt und lief zu der legendären Seebühne, wo jeden Sommer Opernaufführungen unter freiem Himmel stattfinden. Hier dachte er an Wiebke, einer verflossenen Liebe, rothaarig und impulsiv, die mit ihm Musik studiert und damals ein Engagement im Bregenzer Opernchor hatte. Sie verbrachten die drei Wochen im Wechsel zwischen Hotelbett und Bühne. Er wunderte sich, wie Wiebke dies durchgehalten hatte und erfuhr erst später, dass sie zu jener Zeit bereits ein Auge auf den zweiten Tenor geworfen hatte, mit dem sie bald darauf drei rothaarige Kinder in die Welt setzte.

Nach Bregenz ging es erneut auf die Autobahn, bis er hinter Zürich die Raststätte Würenlos ansteuerte, ein über der Autobahn schwebendes Einkaufszentrum. Im dortigen Restaurant gab es einen Fensterplatz, wo er im Frühjahr 1982 Kaffee trank und sich plötzlich der Geiger Pinchas Zukerman an den Nebentisch setzte. Zwanzig Minuten lang rang er mit sich, Zukerman anzusprechen, doch er wagte es nicht. Was hätte er sagen sollen? Dass er auch geigte? Dass er ihn bewundere? Warum ihn mit solchen Banalitäten stören? Als Zukerman aufstand und ging, war Frank, als hätte er eine Gotteserscheinung gehabt. Kurz darauf kam eine junge Bedienung an seinen Tisch und fragte, ob er Insulin bräuchte oder ob das bei ihm ein Unter-Zukerman-Schock sei. Sie lächelte ihn an, stand fünf Minuten später in Jeans und pinkfarbener Bluse erneut vor ihm und verkündete, dass ihre Schicht zu Ende sei. Auf dem Weg zu ihrem Zimmer in einer WG stellte sich heraus, dass sie in der Raststätte nur jobbte, eigentlich in Zürich Geige studierte, wo Zukerman ein Seminar gegeben hatte, bei dem sie Teilnehmerin war. Sie habe an Franks Reaktion gemerkt, dass er Zukerman erkannte und fand es souverän, dass er ihn in Ruhe gelassen hatte. Als er sie am nächsten Morgen zu ihrem Schichtbeginn in Würenlos absetzte, meinte sie mit leichtem Bedauern, dass so eine Nacht unwiederholbar sei und außerdem ihr Freund heute zurück käme, den sie nicht vorhabe, seinetwegen zu verlassen. Sie hieß Isabel, was vielleicht nicht mal stimmte, an ihrer Wohnungstür standen nur Nachnamen. Er sah sie nie wieder.

Der nächste Pilgerort hieß Bern, wo er vor langer Zeit eine Woche verbracht hatte, um sich über eine mögliche Ehe mit Anne klar zu werden. In dieser Woche ernährte er sich fast ausschließlich von Kaffee, was ihm zu geistiger Klarheit verhalf, wenngleich der Koffeinexzess stark euphorisierend wirkte. So erschien sein künftiges Leben als einziger Höhenflug. Zu spät erkannte er, dass das Koffein ihm lediglich einen Anfall spätpubertärer Naivität verschafft hatte, in dessen Nachwirkung er Anne schließlich heiratete. Insofern war Bern für ihn ein Mahnmal, weshalb er die Stadt keinesfalls auslassen durfte.

Von dort zum Genfer See war es nicht mehr weit. Als die Autobahn steil in Richtung Vevey abfiel, bestaunte er einmal mehr den Blick über den See. Die Illusion eines besseren Lebens bekam hier eine Art Bühne, mehr noch, dieser See schenkte ihm eine Gelassenheit, die er woanders nicht fand. Ein älterer Orchesterkollege, dem er diese Gedanken in einem unvorsichtigen Augenblick anvertraute, lachte nur und meinte, das sei der berufsbedingte Neid auf die hohe Künstlerdichte dieser Gegend, arrivierte Künstler wohlgemerkt. Letztlich seien wir alle Orchestersklaven und damit verkannte Solisten, denen der Weltruhm aus rätselhaften Gründen versagt geblieben ist. Die hier Lebenden hätten schlichtweg Glück gehabt, wir unglücklich Verdammten hingegen müssten unser Genie dem Gefuchtel irgendwelcher Dirigenten opfern.

Frank wechselte damals schnell das Thema. Sein Kollege hatte überhaupt nichts verstanden. Umso eigensinniger pflegte er seither die Illusion, hier ein anderer Mensch sein zu dürfen.

Bei Montreux verließ er die Autobahn und fuhr durch den Ort. Am Casino, in dem für viele Jahre das legendäre Jazzfestival stattgefunden hatte, stoppte er kurz. Hier war er Miles Davis begegnet, der mit einer umwerfend schönen Frau zum Künstlereingang lief. Seit das Festival in einem Neubau stattfand, war das Casino zur Spielhölle verkommen.

Er ließ Montreux hinter sich, passierte das in den See gebaute Chateau Chillon und folgte hinter Villeneuve der Straße landeinwärts, bis sie bei Bouveret wieder am Wasser entlang führte. In St. Gingolph überquerte er die Grenze zu Frankreich und nach wenigen Kilometern erreichte er Meillerie, wo er wie üblich im Hotel du Lac abstieg. Es lag direkt an einem kleinen Bootshafen, dessen Beschaulichkeit nur einer der Gründe war, weshalb Frank diesen verschlafenen Ort so schätzte: Am Genfer See gelegen und aus irgendwelchen Gründen nie mondän geworden. Ähnlich dem Hotel, dreistöckig und mit einer Fassade, welche mit ihren Jugendstilornamenten an goldene Zeiten erinnerte, auch wenn die zum See hinausgehende Terrasse in den siebziger Jahren mit rauchbraunem Glas zum Wintergarten verunstaltet worden war und seither das Restaurant beherbergte. Doch Frank liebte diesen Makel genauso wie die verschnörkelten Schriftzüge des Hotelnamens an jeder Seite des Gebäudes. Als er es vor Jahren entdeckte, lag an der Rezeption ein Hausprospekt mit dem Bild eines amerikanischen Schauspielers, den Frank als drittklassigen Westerndarsteller zu erkennen glaubte und der das Hotel mit einem markigen Cowboyspruch lobte. Diese Glanzzeit war lange vorbei, die Zimmer mit ihrem morbiden Charme und der zweckmäßigen Einrichtung erinnerten eher an ein aufgegebenes Etablissement, in denen früher halbseidene Revuetänzerinnen ihre Bleibe hatten. Lediglich das Restaurant hatte die Jahrzehnte auf hohem Niveau überstanden.

Als er nun die Rezeption betrat und die unnachahmliche Eleganz des weißhaarigen Monsieur Toule erwartete, überraschte ihn eine junge Frau in Jeans und T-Shirt, die ihn durch ihre schief sitzende Brille interessiert musterte. Auf seine Nachfrage stellte sie sich als neue Besitzerin vor, die das Hotel zusammen mit ihrem Mann, der mit dem Restaurant seinem ersten Michelin-Stern näher kommen wollte, erworben habe. Die Zimmer seien inzwischen alle mit Nasszellen ausgestattet worden, man plane zudem eine grundlegendere Renovierung in einigen Jahren. Beim Ausfüllen des Gästeformulars beobachtete ihn die kleine Tochter der Besitzerin, die eine bunte Spielzeugbrille trug, welche genauso schief saß wie die ihrer Mutter. Gespannt trug Frank - einen Aufzug gab es aus Platzgründen nicht - seinen Koffer nach oben und wurde nicht enttäuscht. Das Mobiliar war unverändert, wenngleich es noch abgenutzter aussah als bei seinen letzten Besuchen. Die Nasszelle hingegen war neu. Er fand es aufrichtig von der jungen Frau, diese in eine Zimmerecke gesetzte Kunststoffbox nicht als Bad zu bezeichnen. Offensichtlich hatte man noch Reste der alten Zimmertapete auftreiben können, deren fehlende Patina aber ins Auge stach und damit den Versuch zunichtemachte, die Nasszelle nahtlos ins Zimmer zu integrieren. Wenn man - wie er - den Genfer See zu seiner eigentlichen Heimat auserkoren hat, musste man sich in Bescheidenheit ergeben, sonst waren längere Aufenthalte ruinös. Wahrscheinlich war dieses Hotel der einzig mögliche Ort dafür.

Er öffnete das Fenster mit Blick auf den See. Direkt unter ihm legte gerade ein Segelboot im Hafen an und weiter draußen zog ein Ausflugsschiff seine Linie in Richtung Lausanne, dessen Konturen sich in der Ferne abzeichneten. Er packte seinen Koffer aus, legte sich auf das Bett und schlief, von der Fahrt ermüdet, sofort ein.

Später duschte er ausgiebig und suchte dann in der vom Wasserdampf vernebelten Nasszelle nach einer Türklinke, wobei er die Toilettenspülung auslöste. Er tastete weiter die feuchten Plastikwände ab, bis er die Tür schließlich öffnen konnte. Die Dampfschwaden zogen durch das Zimmerfenster ins Freie ab.

Im Restaurant entschied er sich für einen Tisch in der Ecke und die Besitzerin, nun elegant gekleidet und geschminkt, brachte ihm die Speisekarte. Ihre Brille saß noch immer schief. Er entschied sich für das Menu du Jour. Mit Anne war das Bestellen im Restaurant immer ein langwieriges Entscheidungsdrama gewesen, eine Erblast ihrer Mutter. Bei dem Gedanken überkam ihn eine Art posttraumatischer Müdigkeit. Seine Schwiegermutter hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er ihr als Schwiegersohn nicht passte: Zu bieder, zu gewöhnlich, zu langweilig. Das gleiche äußerte sie allerdings auch über Anne, ihrer einzigen Tochter. Die Schwiegermutter war eine Art Naturgewalt und immer bereit, in Begeisterungsstürme auszubrechen. Vor allem Neues und Unbekanntes entfachten diese ekstatischen Beben und obwohl nur von kurzer Dauer, waren sie schwer erträglich, weshalb ihr Mann diese Buschfeuermentalität nicht allzu lange überlebte. Leider erbte Anne eine nicht unbeträchtliche Dosis dieses mütterlichen Vulkans, was auch ihrer Ehe abträglich war. Franks Art, die Dinge bedächtig anzugehen, von der Schwiegermutter als komatöses Phlegma verhöhnt, kollidierte ständig mit Annes Energieschüben. Dass sie sich selbst angesichts der mütterlichen Urgewalt keineswegs als kraftvoll wahrnahm, im Gegenteil, jede ihrer Anstrengungen versinnbildlichte für sie den verlorenen Kampf gegen ihre übermächtige Mutter, machte alles noch komplizierter. Ihre Diskussionen endeten trotz Franks analytischer Sorgfalt meist betrüblich. Seiner üblichen Schlussbemerkung, wenig Lust zu haben, sich ebenso frühzeitig wie sein Schwiegervater vom Acker machen zu müssen, nur weil er eine gewisse Gelassenheit schätze, folgte Annes ebenso verzweifelter wie hilfloser Blick aus tränenfeuchten Augen.

Die junge Frau kam an den Tisch und nahm seine Bestellung auf, empfahl ihm zum Menü einen leichten Rotwein, vorzugsweise einen Lavaux vom nahen Seeufer, der hervorragend zu der Hauptspeise passe. Er nahm ihren Vorschlag an. Wäre seine Schwiegermutter dabei gewesen, hätte es Ärger gegeben. Ihr ungefragt etwas zu empfehlen, war mehr als nur unvorsichtig, es kam einem Affront gegen ihr in über siebzig Jahren angehäuftem Erfahrungswissen gleich. Anne blieb beim Bestellen dagegen immer höflich, konnte sich aber für nichts entscheiden.

Im Moment freute sich Frank an der Abwesenheit beider und versank in den Anblick des Sees. Es war still, die anwesenden Gäste unterhielten sich dezent, selbst vom Hafen her drang kein Geräusch. Die junge Frau brachte ihm die Flasche Wein, entkorkte sie routiniert und schenkte ihm ein wenig davon in das Glas. Er roch daran, schwenkte das Glas und nahm dann einen Schluck. Für sein Lob schenkte sie ihm ein derart charmantes Lächeln, dass er sich beglückwünschte, wieder hierhergekommen zu sein.

Letztlich hatte er dies Juliette Jouard, einer jungen Geigerin aus Evian, zu verdanken. Die ungewöhnlich frühe Sommerpause seines Orchesters dauerte dieses Jahr sieben Wochen, er hatte Zeit im Überfluss, weshalb ihm Juliettes Anfrage, sie auf ihr anstehendes Probespiel für eine Orchesterstelle vorzubereiten, gelegen kam. Das Unterrichten begabter Talente bedeutete eine willkommene Abwechslung, vor allem wenn diese am Genfer See wohnten.

Nach dem Essen kam der Koch zusammen mit seiner Frau an den Tisch. Er war Frank ebenso sympathisch wie dessen Frau, sie schienen fleißig und begabt und hatten den Mut aufgebracht, viel Zeit und Geld in dieses Hotel zu investieren. Er lobte das Essen und die Speisekarte mit ihrer kleinen, aber exklusiven Auswahl. Der Koch strahlte ihn an und verschwand wieder in der Küche.

Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Er schlenderte am beleuchteten Uferweg entlang und blickte auf das Lichtermeer am gegenüberliegenden Ufer. Von einem Steg aus konnte er das hell leuchtende Montreux und seine bis hoch über dem Ort liegenden Ausläufer erkennen. Irgendwo dort oben hatte Stiller, Max Frischs berühmte Romanfigur, mehr als nur das Haus seines Lebens gefunden. Er ging zurück ins Hotel, las noch einige Seiten und fiel dann todmüde und zufrieden ins Bett.

Er schlief lange. Um noch ein Frühstück zu bekommen, beeilte er sich beim Duschen, seine Orientierung in der Nasszelle nahm zu. Im Frühstücksraum saß nur noch ein junges Paar, welches verliebt miteinander lachte. Die Besitzerin brachte ihm eine Kanne Kaffee und er frühstückte ausgiebig. Als das junge Paar den Raum verließ, war nur noch das Kühlaggregat der Buffettheke zu hören. Er sah auf die Uhr, Juliette Jouard erwartete ihn um halb eins, es wurde Zeit. Sein Citroen stand seit dem Morgen in der brennenden Augustsonne, das Lenkrad schien zu glühen. Während er alle Türen öffnete, bedauerte er es, sich nicht rechtzeitig um die seit Monaten defekte Klimaanlage gekümmert zu haben. Mit offenen Fenstern fuhr er nach Evian, der Fahrtwind machte die Hitze erträglicher. Im Ort bog er in eine steil ansteigende Straße und folgte Juliettes Wegbeschreibung, mit deren Hilfe er ihre Adresse in einem hoch über dem See gelegenen Außenbezirk von Evian mühelos fand. Am Eingang des Anwesens der Familie Jouard wartete er auf Einlass. Mit seinem Geigenkoffer in der Hand blickte er zu der Kamera hoch, die über dem Eingangsportal thronte. Mehrere Minuten, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, stand er in der prallen Sonne, was seine Laune allmählich verschlechterte. Er griff nach seinem Handy, um Juliette anzurufen. Da bewegte sich das Tor. Lautlos glitten die schmiedeeisernen Flügel auseinander und er betrat das Anwesen. Der Kiesweg führte durch einen mit Installationen bevölkerten Park, alle im unverkennbaren Stil des Schweizer Künstlers Jean Tinguely, die aber - das wusste er von Juliette - von ihrem Vater stammten. Dessen florierendes Immobilienbüro genoss exzellenten Ruf und erforderte in erster Linie Diskretion, in zweiter Linie Geduld und in allerletzter Linie Zeit, weshalb Monsieur Jouard viel davon seiner skurrilen Leidenschaft, dem Kopieren des Tinguelyschen Werks, widmen konnte. Konsequent bereiste er die Standorte der Originale, fotografierte sie und skizzierte detailliert deren Mechanik und Bewegungsabläufe. Danach begann die Suche nach den entsprechenden Schrottteilen, was an Unmöglichkeit grenzte und ihn oft wochenlang beschäftigte, bis er schließlich in akribischer Feinarbeit das jeweilige Plagiat anfertigen konnte. Exakt zu wissen was man suche, sei das Geheimnis erfolgreichen Findens, erzählte er gerne den Besuchern seiner Werkstatt - allesamt Kunden seines Immobilienbüros - letztlich entspreche dies auch der Grundhaltung seines Berufs, gleichgültig ob die Vorderachse eines Buicks aus den sechziger Jahren oder aber ein zweistöckiges Anwesen mit Seeblick, Südterrasse und hundefreier Nachbarschaft das Objekt der Begierde sei. Über dem Eingangstor seiner Werkstatt in dem ehemals als Pferdestall genutzten Nebengebäude hing ein Emailschild mit der Aufschrift Plagiaterie, wo er mit - wie er es nannte - an krimineller Energie grenzender Detailversessenheit die Installationen nachbaute und auch hin und wieder verkaufte, korrekterweise als Plagiat ausgewiesen und preislich moderat gehalten. Als Makler hingegen lehnte er Objekte unter zwei Millionen Kaufpreis ab. Er kannte zwischen St. Gingolph und Hermance, dem französischen Ufer des Genfer Sees, so gut wie jeden Hausbesitzer, der sich mit dem Gedanken trug, sein Anwesen zu verkaufen. Eröffnet hatte er sein Immobilienbüro 1984, da war er vierunddreißig Jahre alt. Mit dem väterlichen Vermögen ausgestattet, zudem französisch, deutsch, englisch und italienisch sprechend, wurde seine Agentur schnell zur ersten Adresse in der Gegend.