Inselfluchten - Norbert Büchler - E-Book

Inselfluchten E-Book

Norbert Büchler

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Beschreibung

Der Maler und Bildhauer Paul Baumann lebt zurückgezogen auf einer Kykladeninsel und hat seit langem ein Verhältnis mit seiner Schwägerin Judith. Als deren Sohn ihn auf der Insel besucht und dabei die junge Halbgriechin Anna kennenlernt, löst dies eine Reihe von familiären Turbulenzen aus, in deren Verlauf lange gehütete Geheimnisse ans Tageslicht kommen. Zudem führt das Zusammentreffen von Paul Baumann mit Annas Vater, einem Musiker, für beide zu einem folgenreichen Aufbruch. (Neuauflage des 2009 erschienen Romans)

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INHALTSVERZEICHNIS

TEIL 1

PROLOG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

TEIL 2

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

TEIL 3

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

EPILOG

TEIL 1

PROLOG

Der Abbau des Skulpturenzauns kam einem Spektakel gleich, das sich etliche Bewohner des Dorfes Panormous nicht entgehen ließen. Es musste vorsichtig zu Werke gegangen werden, da der Käufer des Zauns – der exzentrische Sohn einer Genfer Uhrendynastie – das Kunstwerk möglichst unversehrt wiedererrichten lassen wollte. Die zwei Bagger und acht griechischen Arbeiter legten zuerst die Säulenfundamente frei, hämmerten dann die Betonverkeilung aus, um so den zusammengeschweißten, dreißig Meter langen Zaun in Einzelstücke zersägen zu können. Er hatte vierzehn Jahre lang das Grundstück seines Schöpfers Paul Baumann eingefasst und das Dorf anfangs tief gespalten. Der Zaun bestand aus verfremdeten Währungszeichen und abstrahierten Genitalformen. Auf den ersten Blick als formenreiches Skulpturengebilde wahrgenommen, offenbarten sich erst mit dem zweiten und schließlich jedem weiteren Blick die eigentlichen Details. Das Zerkleinern des Zauns in transportfähige Einzelteile stellte alle Beteiligten vor Entscheidungsnöte, da unvermeidlich durch sensible Formen gesägt werden musste. Sowohl die Arbeiter als auch die anwesenden Dorfbewohner schlugen verschiedenste Routen vor, um die Anzahl der zu zerteilenden Genitalformen auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Als die Einzelteile schließlich verpackt, verladen und abtransportiert waren und die letzten Neugierigen das Grundstück verlassen hatten, kehrte Ruhe ein und Paul atmete auf. Den provokanten Zaun brauchte er nicht mehr, im Gegenteil, sollte seine Schwägerin Judith, mit der er seit langem ein ebenso geheimes wie leidenschaftliches Verhältnis pflegte, zu ihm ziehen, war Friede angesagt – und der Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Paul betrachtete den Graben umdas Grundstück, seine Ideen zur Neugestaltung plante er zu verwirklichen, sobald er die Zeit dafür fand.

Er ging zurück ins Haus und goss sich Wasser aus der Karaffe in ein Glas, als er durch das Fenster Joachim kommen sah. Sie hatten sich vor zwei Monaten kennengelernt und etliche Abende weintrinkend zusammen verbracht. Durch die offene Verandatür hörte Paul ihn sagen:

»Endlich ist dieser dekadente Zaun verschwunden, da schaut doch alles gleich viel netter aus.«

Joachim blieb im Türrahmen stehen und blickte auf den Krater rund um das Grundstück. Paul sagte gut gelaunt:

»Du hättest dabei sein sollen, als sie den Zaun zersägt haben. Schmerzverzerrte Gesichter wohin man sah.«

Joachim lächelte.

»Der Nachbesitzer bekommt dafür frisch verschweißte Genitalien.«

»Es ist der Sohn einer meiner Auftraggeber mit einem deutlichen Hang zur Dekadenz.«

»Das ist mir klar, wer will so etwas sonst schon haben?«

»Du rechnest mir überhaupt nicht an, dass ich ihn weggegeben habe. Es fiel mir nicht leicht, mich von ihm zu trennen.«

»Das machst du doch nicht freiwillig.«

»Wie kommst du darauf?«

»Das hast du doch sicher nur gemacht, damit Judith endlich zu dir zieht.«

Paul sah ihn an.

»Du wirst mir immer unsympathischer mit deiner Menschenkenntnis. Judith stellte mir tatsächlich zwei Bedingungen. Die erste ist seit heute erfüllt.«

»Und die andere?«, fragte Joachim.

»Sie will, dass ich die Finger von meinen Geschäftspartnerinnen lasse.«

»Da verlangt sie aber wirklich nicht viel von dir.« Paul verdrehte die Augen.

»Mit Verlaub, Hochwürden, Ihr habt keine Ahnung.«

Sie setzten sich auf die Veranda, der aufkommende Wind vertrieb wohltuend die Hitze des Tages. Joachim sagte:

»Ich nehme morgen früh die erste Fähre.«

»Deine antiquierten Ansichten werde ich in keiner Weise vermissen.«

»Und mit wem trinkst du deinen Wein?«

»Das ist das einzige Problem.«

»Ich dachte, Judith sei das einzige Problem?«

»Das ist das andere einzige Problem.«

-1-

Paul Baumanns künstlerischer Werdegang war viele Jahre von Aussichtslosigkeit geprägt – viel gelobt, aber selten gekauft. Die Wende seines Künstlerdaseins kam mit einer ebenso erfolgreichen wie ernüchternden Ausstellung von Bildern, die er während eines dreimonatigen Aufenthalts auf Kreta in kräftigen Ölfarben gemalt hatte. Binnen weniger Wochen verkaufte er alle Bilder – ein Umstand, der ihn in eine Krise stürzte. Paul erging sich lauthals darüber, den Geschmack des Mittelstandes getroffen zu haben, ein untrügliches Indiz für künstlerische Belanglosigkeit. Bald könne man sich in Kanzleien, Arztpraxen und Vorstadtvillen kaum noch retten vor seinem Werk. Unter den Käufern befand sich ein ortsansässiger Notar, dessen Bruder eine Werbeagentur in Zürich leitete und bei einem Familientreffen die Bilder sah. Er nahm Kontakt zu Paul auf, dessen Schwur, keinen Pinsel mehr anzurühren, seine Lage alles andere als vereinfachte. Das überraschende Angebot der Agentur kam zum richtigen Zeitpunkt. Die erste Werbekampagne mit Motiven seiner Bilder wurde ein voller Erfolg, dem weitere folgten. Er berief einen befreundeten Rechtsanwalt zu seinem Agenten und nach drei Jahren harter Arbeit rund um die Uhr reifte Pauls Idee, ein Atelier zu kaufen, und zwar fernab der deutschen Kunstszene, die seinen Erfolg mit Häme zu ignorieren versuchte.

Die Insel Tinos erschien ihm schon bei einer früheren Reise in die Ägäis als idealer Wohnsitz, da sich der Tourismus nur im Bereich der Hafenstadt etablieren konnte, während die übrige Insel aufgrund wenig einladender Strände davon verschont geblieben war. Hinzu kamen praktische Gründe: Tinos war bekannt für seinen Marmor, dessen Abbau vor Ort Paul zugutekam. Die Insel hatte zudem bedeutende Bildhauer hervorgebracht, weshalb das Athener Kultusministerium in den sechziger Jahren eine Kunstakademie dort gründete.

Im entlegensten Teil der Insel fand er schließlich ein geeignetes Anwesen. Das verschlafene Dorf Panormous mit seinen weißen Häusern lag an einem halbrunden Hang, der zum Meer hin abfiel. Die einzige geteerte Straße führte am Wasser entlang, wo mehrere Tavernen und am Kai bunte Fischerboote lagen. Der nahe Sandstrand wirkte genauso bescheiden wie das ganze Dorf. Die Bucht von Panormous wurde von zwei weit auslaufenden Landzungen eingefasst, auf einer davon stand ein alter Leuchtturm. Am Rande des nur wenige Kilometer landeinwärts gelegenen Ortes Pyrgos befand sich das großzügige Gebäude der Kunstakademie.

Das von Paul entdeckte Haus samt Nebengebäude lag etwas außerhalb am höchsten Punkt des Dorfes. Bei seinen Erkundungen nach dem Hauseigentümer stieß er auf unerwarteten Widerstand. Als er dem Griechen schließlich gegenübersaß, zeigte dieser zwar grundsätzliche Bereitschaft zu einem Verkauf, aber nicht an einen Deutschen. Paul, dessen griechische Sprachkenntnisse zu der Zeit bereits passabel waren, brachte ihn mit Mühe so weit, seine kategorische Ablehnung aufzugeben und sein Anliegen zumindest zu überdenken. Der Grieche meinte, dass er mit dem Bürgermeister und dem Gemeinderat reden müsse, schließlich sei Paul der erste Deutsche im Dorf und das wolle er nicht alleine verantworten. Was sich in dieser Hinsicht auf den anderen Inseln abspiele, mache ihn nicht nur traurig, sondern wütend. Paul versuchte ihm klarzumachen, dass er das Anwesen ausschließlich als Atelier zu nutzen gedenke und keinerlei andere Absichten hege.

Als Paul sechs Wochen später nach Panormous zurückkehrte, erhielt er eine Absage ohne jede Begründung. Daraufhin sprach er beim Bürgermeister vor, der freundlich, aber unmissverständlich äußerte, dass es die alleinige Entscheidung des Besitzers sei, ob und wem er das Anwesen verkaufe. Paul, der das Haus inzwischen unbedingt haben wollte, ging zu Dimitri Xiadis, dem Leiter der Kunstakademie, und bat ihn um Hilfe für sein geplantes Atelier. Dieser nahm Pauls Anliegen zur Kenntnis und versprach, sich umzuhören. Zwei Monate später lag ein mehrere Seiten langer Fragebogen in seiner Post, den er mit Hilfe einer griechischen Bekannten ausfüllte. Dem folgte bald darauf ein Brief vom Bürgermeister, worin dieser mitteilte, dass dem Kauf des Anwesens nun nichts mehr im Wege stehe. Als Paul erneut in Panormous eintraf, bedankte er sich bei Dimitri, der entgegnete, dass nicht etwa er, sondern gewisse Umstände, die näher zu erläutern er nicht befugt sei, den Kauf ermöglicht hätten. Paul solle froh sein, dass die Angelegenheit in seinem Sinne entschieden sei.

Vom Dorf aus führte ein steiler Trampelpfad sowie ein befahrbarer Schotterweg in zwei engen Serpentinen zum Haus. Nach dem Kauf ließ er es in gemeinsamer Planung mit einem ortsansässigen Architekten umbauen und vergab sämtliche Aufträge an heimische Handwerker. Das zweistöckige Hauptgebäude nutzte Paul als Wohnhaus, Büro und Atelier, den ebenerdigen Anbau richtete er als Gästewohnung ein. Das Haus wurde an zwei Seiten von einer mit hellen Marmorbruchplatten belegten Terrasse umgeben, deren Ränder zur Hangseite hin senkrecht abfielen. Anstelle eines Geländers fertigte er im Stein verankerte Kerzenständer aus Bronze, die wie etruskische Figuren anmuteten. Über die gesamte Terrassenfläche ließ er eine Pergola errichten, blau anmalen und mit Schatten spendendem Schilfrohr belegen. Über den Fenstern verzierten inseltypische Oberlichter die Fassade: halbmondförmige lichtdurchlässige Reliefs aus Marmor, deren kunstvolle Darstellungen von einem Rundbogen aus Natursteinen eingefasst wurden. Das Nebengebäude war von wild wuchernden Gewächsen eingeschlossen. Die einst rötliche Bemalung der eingerosteten Fensterläden konnte man nur noch erahnen – Paul beließ sie ebenso wie das restliche Gebäude unverändert. Für ideales Licht im Inneren sorgten zwei großflächige Dachfenster, die er auf Rat des Architekten im Rahmen der Dachsanierung einbauen ließ.

Nach dem Abschluss der Umbauarbeiten entwarf er seinen Zaun und als dessen Kontrapunkt stellte er eine Marmorskulptur von Judith mitten in sein Grundstück, sein erstes ihr gewidmetes Werk. Aber in den Wirren um den Zaun fand sie kaum Beachtung, auch wenn für ihn beides untrennbar zusammengehörte. Der Zaun provozierte trotz seiner Uneindeutigkeit einen Skandal – Paul hatte angesichts der Freizügigkeit, die auf der benachbarten Touristeninsel vorherrschte, die Mentalität der Einheimischen falsch eingeschätzt. Die überhitzt geführte Diskussion um den geforderten Abbau lief letztlich auf die Frage hinaus, wie der Bürgermeister dazu Stellung nehmen würde. Dieser zog Dimitri Xiadis zu Rate, der den Zaun als Ausdruck künstlerischer Freiheit deklarierte und die ganze Aufregung nicht verstand. Nach einer weiteren Gemeinderatssitzung schloss sich der Bürgermeister dieser Meinung an. Er gab Paul den Rat, die in die Jahre gekommene Kapelle auf seine Kosten restaurieren zu lassen, was Paul umgehend veranlasste und im Dorf wohlwollend zur Kenntnis genommen wurde. Der Bürgermeister klärte Paul später mit deutlichen Worten über seinen unglücklichen Einstand in die Dorfgemeinschaft auf. Paul entschuldigte sich und sprach seinen Dank aus, wobei er nochmals die überraschende Wendung seines Hauskaufs zur Sprache brachte. Der Bürgermeister antwortete zunächst mit der gleichen rätselhaften Verschwiegenheit wie auch Dimitri, um schließlich anzudeuten, dass es jemanden auf der Insel gebe, der sich für ihn eingesetzt habe. Mehr war ihm nicht zu entlocken, obwohl Paul ihn immer wieder darauf ansprach.

Die Arbeit für seine Auftraggeber konnte er während des Umbaus zunächst von seinem Atelier in Deutschland aus ohne größere Schwierigkeiten fortführen. Wie bisher musste er mehrere Male pro Jahr nach München, Wien, Zürich oder Genf, der Großteil lief jedoch über Telefon, Fax und Internet. Die Arbeit ging nie aus, der Termindruck der Branche war immens, doch machte Hektik ihm wenig aus – im Gegensatz zu seinen Vorfahren.

Paul entstammte einer Beamtenfamilie. Der Kontakt zu ihr brach vor vielen Jahren ab, nachdem sein Bruder Karl ihm irgendwann vorwarf, dass allein seine Existenz rufschädigend für die Familie sei. Paul antwortete, dass der einzige Schaden in dieser Familie die Gene von vier Beamtengenerationen seien, und als rufschädigend seien vielmehr Großvater als dem Führer dienender Beamter sowie Vater als aktiver Soldat der Wehrmacht einzustufen. Seither herrschte eisiges Schweigen. Dieser Bruch traf allen voran seine Mutter Mara. Judith, die durch ihre Ehe mit Karl regelmäßigen Kontakt zu ihrer Schwiegermutter hielt und den Schmerz in ihren seltenen Bemerkungen über Paul deutlich heraushörte, warf ihm sein Verhalten oft vor. Paul, der sich als Existenzialist – Sartres Philosophie war ihm näher als jede andere – ausschließlich seinem Lebensentwurf verpflichtet sah, verweigerte Gespräche über sein Innenleben mit der gleichen Starrköpfigkeit, mit der er seine familiäre Herkunft leugnete. »Die Hölle«, pflegte er Sartre zu zitieren, »sind die anderen.« »Und diese anderen sind meine Familie«, fügte er hinzu. Selbst den Begräbnissen seiner Eltern blieb er fern. Er lebte alleine und konnte sich – wenn überhaupt – nur ein gemeinsames Leben mit Judith vorstellen.

Als diese ihn nun vor einigen Wochen anrief und fragte, ob ihr Sohn Torsten für eine gewisse Zeit bei ihm wohnen dürfe, konnte er ihr diese Bitte nicht abschlagen. Er sah Torstens Aufenthalt mit Skepsis entgegen und sollte Recht behalten, wenn auch aus völlig anderen Gründen als von ihm befürchtet.

-2-

Torsten hatte kurz vor seinem Eintreffen sein ungeliebtes Studium im Alter von achtundzwanzig Jahren beendet und erhielt von seinem Vater Karl überraschend zweitausend Euro in die Hand gedrückt, als Torsten ihm die Diplomurkunde präsentierte. »Besser ein Diplom als gar nichts!«, kommentierte sein Vater den ansonsten glanzlosen Anlass. Dass weder Torsten noch Max, sein drei Jahre jüngerer Sohn, den Beamtenstatus anstrebten, bedeutete einen harten Schlag für ihn, dem ein weiterer folgte, als Torsten kurze Zeit später einfach verschwand. Dass er zu Onkel Paul reiste, blieb Karl gegenüber unerwähnt, denn das zerrüttete Verhältnis der beiden begleitete Torsten von Kindheit an. Er versuchte immer zu vermitteln, doch sein Vater quittierte Bemühungen dieser Art mit gehässigen Kommentaren. Von Judith kam nie ein zustimmendes Wort zu den Ausfällen ihres Mannes, im Gegenteil, wenn er zu heftig gegen Paul wetterte, kritisierte sie ihn scharf wegen seines Starrsinns, was die Atmosphäre noch stärker vergiftete. Schließlich machte der väterliche Beschluss, dass nicht mehr über seinen Bruder gesprochen werden dürfe, Paul zu Torstens Idol für innerfamiliären Widerstand, weshalb er bei Judith auf eine Kontaktvermittlung drang, bis sie schließlich nachgab.

Als Torsten nun mit Paul telefonierte, erklärte er ihm, dass er einen radikalen Ortswechsel brauche und zudem sein Leben überdenken wolle, er würde Paul aber weder stören noch ihm auf der Tasche liegen. Dieser erteilte daraufhin seine Aufenthaltserlaubnis unter der Voraussetzung, dass Torsten ihn nicht mit Problemen behelligen möge, er habe zu arbeiten und daher wenig Zeit. Insgeheim erhoffte Torsten sich aber einige richtungsweisende Impulse für seine ihm vollkommen unklare Zukunft und reiste kurz darauf nach Tinos.

Mit Paul tiefer gehende Gespräche zu führen gestaltete sich vor Ort dann tatsächlich als schwierig, da dieser keinerlei Anstalten zeigte, seinen festgelegten Tagesablauf wegen Torsten zu gefährden. Paul stand früh auf und verschwand entweder im Atelier oder im daneben liegenden Büro. Er arbeitete viel und stand häufig unter Zeitdruck. In der Mittagszeit schlief er nach einem ausgiebigen Essen, welches er abwechselnd in einer der Dorftavernen einnahm, um danach wieder im Atelier zu verschwinden, wo er oft bis in die Nacht hinein arbeitete.

Torsten wohnte in der Gästewohnung. Er fand bald heraus, dass sich dort gelegentlich Mitarbeiterinnen seiner Auftraggeber aufhielten, die Paul auf die Insel einlud. Für Torsten bedeutete der Besuch von Geschäftspartnern, wie Paul sie nannte, dass er die Gästewohnung räumen und in ein Zelt in den Garten umziehen musste, was ihn aber nicht weiter störte. Gleich in den ersten Wochen wohnte eine junge Frau bei ihnen. Sie duzte Paul, bewegte sich freizügig auf dem Grundstück und würdigte Torsten keines Blickes, obwohl er sie bei ihrem Eintreffen als eine Art zweiter Gastgeber herzlich willkommen hieß und seinen Umzug ins Zelt als selbstverständlich darstellte, wovon sie aber ohnehin ausging. Er fand ihre Überheblichkeit ärgerlich und zog sich fortan an den Strand zurück, redete manchmal mehrere Tage kein Wort, was Paul wohlwollend zur Kenntnis nahm. Er las seit geraumer Zeit Musils »Mann ohne Eigenschaften«, das er des Titels wegen aus dem Verkaufsregal genommen hatte und dessen Klappentext ihn überzeugte: ein Roman, der alle Krankheiten eines Jahrhunderts und ihrer Gesellschaft sezierend bloßlegte. Am Strand liegend und vertieft in seine Lektüre, hörte er eine junge Frauenstimme, deren deutsche Worte offensichtlich an ihn gerichtet waren.

»Kann man sich in dieser Hitze überhaupt konzentrieren?«, fragte die Stimme im Vorübergehen.

»Es geht so«, antwortete er ohne aufzublicken.

Aus den Augenwinkeln heraus, im Sichtschutzbereich seiner Sonnenbrille, sah er zwei junge Frauen. Er vertiefte sich wieder in sein Buch, doch einige Zeit später setzte sich eine der beiden Frauen neben ihm in den Sand und fragte:

»Darf ich dich kurz stören?«

Torsten blickte sie an.

»Du störst mich nicht.«

»Danke. Die Jungs dort drüben sind mir nämlich zu aufdringlich.«

Torsten entdeckte etwas abseits ihre Freundin, von drei Einheimischen umringt.

»Und du meinst, ich bin anders als die drei?«

Sie lächelte.

»Zumindest hast du vorhin weitergelesen!«

»Ich setze Prioritäten.«

»Ja, das macht sie auch«, antwortete sie und blickte wieder zu ihrer Freundin hinüber.

»Ich heiße übrigens Torsten.«

Sie lächelte ihn an.

»Sehr angenehm, Anna.«

Torsten betrachtete ihr interessantes Gesicht mit den wachen dunklen Augen, umrahmt von schulterlangen schwarzen Haaren.

»Wusstest du nicht schon vorher, dass deine Freundin griechische Männer mag?«

»Sie ist wie verwandelt. Eigentlich wollte sie hier malen, doch plötzlich ist es ihr viel zu heiß. Heute Vormittag hat sie deshalb beschlossen, Einheimische kennenzulernen, um das Leben hier besser zu verstehen, wie sie sagt. Dann könne sie es auch besser in ihren Bildern zum Ausdruck bringen.«

Sie schüttelte ihren Kopf, dann fiel ihr Blick auf sein Buch.

»Was liest du?«

Er reichte es ihr.

»Das kannst du in dieser Hitze lesen?«

»Ich versuche, die Hitze zu ignorieren.«

»Dann hättest du ja gleich in Deutschland bleiben können.«

»Ich brauche Abstand zu diesem kranken Land.«

Sie sah ihn belustigt an:

»Das klingt reichlich frustriert.«

»Deshalb bin ich hier.«

»Und was machst du genau?«

»Ich versuche, Klarheit über meine berufliche Zukunft zu finden.«

»Hier am Strand? Wie soll das denn gehen?«

Plötzlich stieß ihre Freundin zu ihnen:

»Anna, kannst du mir den Appartementschlüssel geben?«

Etwas abseits stand einer der Griechen. Anna schüttelte den Kopf.

»Gib mir bitte den Schlüssel«, wiederholte ihre Freundin.

»Elke, das ist auch mein Appartement.«

»Können wir das unter uns regeln?«, sagte Elke nun mit Blick auf Torsten. Anna vereinbarte mit ihm, das begonnene Gespräch ein anderes Mal weiterzuführen. Der Strand sei so klein, da könne man sich schließlich kaum verfehlen.

Am nächsten Morgen entdeckte er Anna sofort. Er breitete seine Badematte neben ihr aus und erkundigte sich nach dem Fortgang der gestrigen Diskussion.

»Sie hat heute Nacht bei dem Griechen übernachtet. Ich habe ihr verboten, mit ihm in unserem Appartement zu schlafen. Seither habe ich nichts mehr von ihr gehört.«

»Machst du dir Sorgen?«

»Sorgen?«

Anna lachte ihn gut gelaunt an.

»Ich vermute eher, es geht ihr blendend. Und du? Schon weitergekommen mit deiner Krise?«

»Ich liege die meiste Zeit am Strand und hoffe auf eine klarere Zukunft.«

Anna blickte ihn an.

»Eine klarere Zukunft? Und du meinst, so kommst du weiter?«

Torsten gefiel ihre Art zu reden nicht.

»Du bist sehr pragmatisch«, sagte er.

»Das hoffe ich!«, antwortete sie lächelnd.

»Dann sollten wir das Thema wechseln.«

»Warum? Du liegst dich hier wund und verzweifelst an der Zukunft.«

Genau in diesem Augenblick gesellte sich erneut Elke zu ihnen, ließ sich neben Torsten in den Sand gleiten und streckte ihre Arme von sich. Ihr knapper Bikini machte Torsten unruhig, er musste ins kühle Wasser und fragte Anna, ob sie mitgehe, doch sie hatte keine Lust. Vom Meer aus sah er Anna und Elke heftig miteinander diskutieren, bis beide ihre Sachen packten und in Richtung Dorf liefen. Anna winkte ihm noch kurz zu. Torsten schwamm zurück an den Strand und legte sich wieder auf seine Matte. Annas Einstellung passte ihm zwar nicht, aber vielleicht konnte sie ihm den entscheidenden Impuls geben, dessentwegen er hier war. Außerdem gefiel sie ihm.

Am Abend traf er sie im Minimarket, der im Hinterraum eines kleinen Kafenions versteckt die einzige Einkaufsmöglichkeit im Dorf bot.

»In Deutschland brauchen sie für das gleiche Warenangebot drei Stockwerke, hier reichen dagegen ein paar Quadratmeter aus«, sagte er zur Begrüßung.

Sie bezahlten an der Theke des Kafenions ihre Waren und danach lud er sie spontan zum Essen ein. Als sie in einer der Tavernen saßen und sich angeregt über ihr Studium unterhielten, kam Paul des Weges. Er lächelte Torsten an:

»Du beginnst deinen Müßiggang sinnvoll zu nutzen!«, sagte er mit Blick auf Anna. Torsten stellte sie ihm vor.

»Sie sehen griechisch aus«, sagte Paul.

»Meine Mutter ist hier geboren und aufgewachsen.«

Anna berichtete auf Torstens Nachfrage, dass ihre Mutter, die vor fünf Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen war, in Deutschland studiert hatte, um danach das elterliche Hotel im Hafenort Ormos Agias zu übernehmen. Dann lernte sie ihren künftigen Mann kennen und zog wieder nach Deutschland.

»Vielleicht kenne ich Ihre Familie. Wie hieß Ihre Mutter?«, fragte Paul sie.

»Elena Solaris.«

Paul schüttelte verneinend den Kopf.

»Aber ein schöner Name! Übrigens, habt ihr Lust, morgen Abend hier mit mir zu essen? Ich lade euch ein.«

Torsten bemerkte:

»Seltsam, auf einmal wirst du gesprächig? Liegt es daran, dass deine Geschäftspartnerin heute Morgen abgereist ist?«

Paul ignorierte ihn:

»Also bis morgen Abend? Um die gleiche Zeit?«

Anna nickte ihm zu:

»Einverstanden. Morgen bin ich noch da.«

Torsten schaute sie fragend an.

»Ich besuche übermorgen für einige Tage meinen Onkel auf Syros, der Nachbarinsel. Dort treffe ich mich mit meinem Vater, der für einige Zeit hier Urlaub machen will.«

Paul verabschiedete sich. Es war bereits lange dunkel, als er Anna durch die spärlich beleuchteten Gassen mit ihren verwinkelten Treppen zu ihrem Appartement begleitete, das einem entfernten Verwandten von ihr gehörte. Er erzählte Anna dabei von seinem Onkel. Irgendwann bemerkte Anna:

»Mein Vater ist auch Künstler.«

»Etwa auch ein Maler?«

»Nein, Musiker.«

Zum Abschied verabredeten sie sich für den Nachmittag am Strand.

-3-

Am nächsten Morgen wurde Torsten von Paul ans Telefon geholt. Sein Bruder Max berichtete ihm, dass Vater sich mächtig über sein Verschwinden aufgeregt habe.

»So wütend habe ich ihn schon lange nicht mehr erlebt. Zum Glück hat er keine Ahnung, wo du bist! Du solltest dir Arbeit suchen, anstatt irgendwo unterzutauchen. Dann fing er plötzlich an, mich zu loben, das musst du dir vorstellen, wo er mich immer einen verweichlichten Träumer nannte. Er fand es gut, dass ich drei Jahre jünger bin als du und beruflich bereits genauso weit, also mit Diplom und so weiter. Lediglich meine zögerliche Art, die Doktorarbeit anzugehen, schmälert seine Zuversicht. Du siehst, er wird noch richtig bescheiden.«

»Also das Übliche, dann brauche ich mir keine Sorgen zu machen.«

Max erkundigte sich noch über sein Inselleben und sie beendeten das Gespräch.

Am Nachmittag traf er sich wieder mit Anna, die sich bereits darauf freute, ihren Onkel zu besuchen, der sie und ihren Vater danach mit dem Boot nach Panormous bringen würde.

»Mein Vater will hier die Ruhe genießen und nochmals Abschied nehmen von meiner Mutter. Er hat mich in dieser Hinsicht die letzten Jahre so sehr gestützt, dass er selber kaum dazu kam. Und außerdem wird er nächsten Monat fünfundfünfzig Jahre alt, das will er hier feiern, in aller Ruhe eben.«

»Das mit der Ruhe klingt sehr sympathisch.«

»Ja, das gefällt dir! Aber im Gegensatz zu dir hat mein Vater keinen Hang zur Lethargie.«

Später zog Torsten von seinem Zelt wieder in die Wohnung. Im Bad roch es nach dem Parfüm jener Schönen, deren Namen er nicht einmal kannte. Wahrscheinlich wusste Paul ihn selber nicht.

-4-

Auf dem Weg zum Lokal erzählte Torsten seinem Onkel von Annas Vater.

»Soso, ein Musiker«, murmelte Paul, der nur halb zuhörte.

Anna wartete bereits auf sie. Paul bestellte Wasser, Wein und eine große Fischplatte samt Vorspeisen. Zu Torstens Überraschung fragte Paul ihn erstmals, warum er überhaupt hier sei. Torsten berichtete ihm von seinem ungeliebten Studium und den damit zusammenhängenden Zweifeln, woraufhin Anna sich an Paul wandte.

»Ich versuche ihn von seiner Lebenskrisenfantasie zu befreien. Doch er will nichts hören, er will seine Krise haben.«

Torsten ereiferte sich:

»Ich werde beruflich nicht jeden Mist machen, nur um Geld zu verdienen.«

Paul lächelte.

»So eine Einstellung hatte ich auch mal, aber du siehst ja, wovon ich inzwischen lebe. Werbung für Luxusartikel, um vermögenden Leuten den Griff zur Kreditkarte zu erleichtern.«

Torsten hatte noch nie in Erwägung gezogen, dass auch ein Künstler derartige Probleme haben könnte. Paul fuhr fort:

»Ich habe das Glück, dass meine Arbeiten perfekt zu gewissen Produkten passen. Meine Auftraggeber nehmen fast alles, was ich ihnen liefere, wenn ich mich ihren Vorgaben unterordne. Als Entschädigung verlange ich gute Honorare und nutze die reizvollen Geschäftskontakte.«

Er lachte, während Anna ihn bei seinem letzten Satz kritisch ansah.

»Finden Sie das toll mit diesen jungen Frauen?«

Paul warf einen strengen Blick zu Torsten.

»Betreibst du etwa Rufschädigung?«

Anna wollte etwas erwidern, als Elke und ihr griechischer Freund am Lokal vorbeischlenderten und grüßten. Torsten nutzte die Pause, um wieder auf sein Thema zu kommen.

»Könntest du nicht mit der Werbung aufhören und nur noch deine eigenen Sachen machen?«

»Ich finde hin und wieder Zeit dafür. Du bist immer Sklave und Herr, wichtig ist die Relation.«

Torsten sah in einiger Entfernung, wie Elke sich von ihrem Griechen verabschiedete, zu ihrem Tisch zurücklief und schließlich Paul fragte, ob sie sich dazusetzen dürfe. Anna stellte sie widerwillig vor und Paul machte eine einladende Geste, die Elke dankbar annahm.

»Von meinem griechischen Bekannten erfuhr ich, Sie seien Künstler. Anna hat mir bislang nichts davon erzählt. Wie konntest du nur?«, fragte Elke mit vorwurfsvollem Blick zu Anna.

»Du warst zu sehr mit deinem griechischen Liebhaber beschäftigt«, antwortete Anna. Elke errötete, hakte aber nach:

»Wollen Sie nicht von Ihrer Arbeit erzählen?«

Pauls Gesichtsausdruck verdüsterte sich.

»Nein.«

»Aber warum denn? Kunst ist doch ein wunderbares Thema.«

»Dann sind wir uns ja einig. Wozu also noch viel reden«, sagte er mürrisch.

Elke gab nicht auf:

»Sind Sie etwa zu bescheiden, um über sich zu reden?«

Torsten lachte:

»Onkel Paul und bescheiden? Das ist wie Picasso und untalentiert.«

Paul zog die Augenbrauen hoch.

»Torsten, zügle deine Worte, wenn du weiterhin bei mir wohnen willst.«

Zu Elke gerichtet sagte er:

»Ich fürchte, du bist eine Art Kollegin?«

Elke errötete erneut:

»Ja. Malerin.«

Paul sagte entrüstet zu Torsten:

»Du hast mir bislang nichts von ihr erzählt. Wie konntest du nur?«

Elke holte tief Luft, sah ihm in die Augen und sagte:

»Wenn Sie nur daran interessiert sind, mich lächerlich zu machen, gehe ich wieder.«

»Junge Kollegin, ich habe durchaus noch andere Interessen.«

Sein vieldeutiger Blick blieb auf ihr ruhen. Anna rutschte ungeduldig auf dem Stuhl und Elke fragte spitz:

»Und die wären?«

Paul warf einen kurzen Blick zu Anna und begann dann unverhofft über ein aktuelles Projekt zu berichten. Elke fragte immer wieder detailliert nach, was Paul nun doch zu gefallen schien. Torsten sah Paul als launischen Menschen, der sich wenig um die Befindlichkeiten anderer kümmerte. Inzwischen kam das Essen und Paul bestellte ein weiteres Gedeck für Elke. Ihr Interesse an Onkel Paul wuchs permanent und man sah ihr an, dass sie diesen Kontakt nicht ungenutzt lassen würde. Obwohl Pauls Monolog immer seltener Platz für ihre Zwischenfragen ließ, zeigte er im Laufe des Abends wachsendes Interesse an ihr. Torsten bezweifelte, dass dies ihren Nachfragen oder gar ihrer Malerei galt. Als Paul zu später Stunde vorschlug, noch ein Glas Wein bei ihm zu trinken, ging Elke kurz entschlossen mit.

Torsten sah Anna amüsiert an:

»In spätestens einer halben Stunde zeigt er ihr seine Lieblingsskulptur.«

»Du meinst…?«

»Genau, ich muss wohl wieder ins Zelt umziehen.«

-5-

Seit Torsten in Panormous wohnte, rief Judith alle paar Tage bei Paul an, um sich über ihren Sohn zu informieren. Paul erzählte ihr von Anna, was Judith zuerst neugierig und dann stutzig werden ließ.

»Bist du dir sicher? Ihre Mutter ist Griechin und hatte ein Hotel auf der Insel? Weißt du, wie sie heißt?«

»Ein wunderschöner Name – Solaris.«

»Und ihr Vorname?«

»Elena.«

Er hörte förmlich Judiths Schreck.

»Was ist mit dir?«

»Unmöglich!«, rief sie in den Hörer.

»Wieso? Kennst du sie?«

Judith schwieg. Paul fügte hinzu:

»Sie ist vor einigen Jahren tödlich verunglückt.«

Nach einer weiteren Pause fragte sie:

»Wie alt ist diese Anna?«

»Sie scheint in Torstens Alter zu sein.«

»Kannst du es genauer erfragen?«

»Judith, warum diese Aufregung? Sei froh, dass Torsten sich endlich aus deiner Mutterhölle befreit. Er ist erwachsen und hat hoffentlich bald Sex mit einer hübschen Griechin, und du sorgst dich um ihr Alter?«

»Lass deine dummen Sprüche. Finde lieber heraus, wie alt sie ist.«

»Sie ist für einige Tage zu ihrem Onkel gefahren. Aber ich kann Torsten fragen.«

»Mach das und ruf mich sofort zurück. Bitte!«

Er hörte das Freizeichen und ging murrend in den Garten, wo Torsten gerade wieder sein Zelt bezog, während Elke sich nebenan häuslich einrichtete. Er fragte Torsten beiläufig, wie alt Anna sei.

»Ich weiß es nicht. Ich schätze in meinem Alter.«

Torsten sah Onkel Paul scharf an.

»Lass deine Finger von ihr, ich warne dich!«

»Für wie charakterlos hältst du mich eigentlich?«

Torsten erwiderte:

»Ich wohne im Zelt wegen Elke. Da muss ich doch misstrauisch werden.«

Er wandte sich ab.

»Sie ist absolut tabu für dich!«, hörte er Torsten noch rufen. Ärgerlich rief er Judith zurück.

»Das musst du mir hoch anrechnen. Wegen deiner Neugier muss ich mir von Torsten anhören, dass ich meine Finger von seiner Freundin lassen soll. Das ist wirklich das Letzte.«

Judith lachte kurz.

»Er kennt dich bereits. Und? Wie alt ist sie?«

»Das weiß er nicht. Aber er schätzt sie auch in seinem Alter.«

»Danke.«

Sie legte ohne weiteren Gruß auf.

-6-

Judith stand im Wohnzimmer und konnte kaum glauben, was sie eben gehört hatte. Sie setzte sich auf das Sofa und versuchte sich zu beruhigen. Elena Solaris. Dass ihr Mann Karl ausgerechnet diese Woche auf einer Tagung in Norddeutschland verbrachte, war mehr als ärgerlich. Sie stand erneut auf, lief nervös durch das Haus, bis ihr Entschluss feststand. Sie musste zu Torsten, und zwar möglichst schnell. Sie bat eine Freundin, die in einem Reisebüro arbeitete, ihr einen Flug zu buchen und zehn Minuten später erhielt sie von ihr die Flugdaten. Dann rief sie ihren jüngeren Sohn Max an und weihte ihn ein, ohne ihm aber den genaueren Hintergrund der Reise zu verraten. Zudem erbat sie sich Stillschweigen gegenüber Karl. Schließlich packte sie ihren Koffer, schrieb Karl eine kurze Mitteilung und steckte sie in einen Briefumschlag, den er bei seiner Rückkehr vorfinden würde. Am nächsten Morgen fuhr sie in Aufbruchstimmung mit dem Taxi zum Flughafen. In Athen erreichte sie knapp die Fähre und kam spät am Abend auf Tinos an. Da niemand von ihrem Eintreffen wusste, ging sie in ein Hotel im Hafenort Ormos Agias. Die Strapazen der Reise und die schwüle Hitze ließen sie rasch in einen tiefen Schlaf fallen.

Tags darauf fuhr sie mit dem Bus nach Pyrgos und nahm dort ein Zimmer. Sie konnte zwar bei Paul wohnen, doch sie musste damit rechnen, dass Karl nach dem Lesen ihrer Nachricht recherchieren oder Max unter Druck setzen und ebenfalls auf die Insel kommen würde. Außerdem wohnte wahrscheinlich wieder irgendeine Frau bei Paul, doch darüber nachzudenken verspürte sie wenig Lust. Sie schlenderte durch das weiße Dorf, in dem sich seit Jahren nichts verändert hatte: eng verschlungene Gassen, geschwungene Treppen in grellweißem Marmor, über die Mauern hängende Gewächse und Pflanzen, deren Duft einem fast den Atem nahm. Alle Wege endeten auf der zentralen Patia mit zwei Kafenions, die ihre blauen Tische und Stühle unter einer Schatten spendenden großen Platane platziert hatten. Sie bestellte einen Frappé und beobachtete das rege Leben auf dem kleinen Platz, wo die Studenten der Kunstakademie mit vom Marmormehl verstaubter Kleidung ihre Mittagspause verbrachten. Sie schien die einzige Fremde zu sein, doch das würde sich am Nachmittag ändern, wenn Touristenbusse ihren Stopp in Pyrgos machten, dem Höhepunkt der halbtägigen Inselrundfahrten.

Vor Einbruch der Dämmerung machte sie sich auf den Weg nach Panormous. Der wenig begangene Trampelpfad führte durch die Ruinen des alten Pyrgos über Steintreppen bergab an einer Quelle vorbei, deren Wasser die kleine Talsenke begrünte. Sie kreuzte mehrere mit Gestrüpp überwachsene alte Eselspfade. An manchen windstillen Flecken staute sich die Hitze des Tages derart intensiv, dass sie schwitzend Panormous erreichte und die Brise vom Meer als angenehm und kühlend empfand. Der Anblick der Bucht mit dem verfallenden Leuchtturm, der auf einer der vorgelagerten Inselzungen thronte, beeindruckte sie immer wieder. Es begann schon zu dunkeln, als sie Pauls Haus erreichte. Auf der Terrasse brannten mehrere Kerzen auf seinen etruskischen Kerzenständern, die wie Figuren die Sitzgruppe einrahmten und in warmes Licht tauchten.

Sie hatte Paul seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen. Er saß dort, mit seiner weit geschnittenen hellen Leinenhose, darüber eines seiner üblichen halboffenen Hemden in tiefem Blau – die Farbe, die seine Augen so intensiv zur Geltung brachte. Er strahlte seine gewohnte Selbstzufriedenheit aus, hinter der er seine wahre Befindlichkeit meist verbarg – doch das ahnte, wenn überhaupt, nur sie. Torsten saß im verwaschenen T-Shirt neben ihm, der ungewohnte Bart in seinem braungebrannten Gesicht stand ihm nicht besonders. Aus dem Gästehaus vernahm sie Geräusche, es schien also derzeit noch jemand dort zu wohnen. Sie ging langsam näher. Als sie die ersten Gesprächsfetzen hören konnte, blieb sie hinter einem Busch stehen. Torsten fragte gerade in einem ungläubigen Tonfall:

»Und seit wann hast du diesen heimlichen Kontakt zu meiner Mutter?«

»Hat Judith dir das nie erzählt?«

Torsten verneinte.

»Dann weißt du wirklich noch nicht viel. Ich kenne Judith schon länger als dein Vater. Wir waren damals zusammen, fast ein Jahr lang. Dein Vater kam dann sozusagen als mein Nachfolger.«

Torsten starrte ihn verblüfft an.

»Ich studierte damals noch und gab Zeichenkurse an der Volkshochschule. Ich hasste diese Kurse, brauchte aber das Geld. Dort lernte ich Judith kennen und sie faszinierte mich sofort. Wir verstanden uns glänzend, trafen uns auch außerhalb der Kurse und verbrachten viel Zeit miteinander. Ich redete oft auf sie ein, ihr Kunstgeschichtsstudium zum Abschluss zu bringen, doch irgendwann endete unsere Beziehung und spätestens als sie deinen Vater kennenlernte, gab sie jeglichen Berufswunsch auf. Den Rest hat dann wohl Karl erledigt, dem eine Hausfrau ohne eigene berufliche Ambitionen mehr als recht war. Dem konnte sich Judith leider nicht widersetzen.«

Paul nahm sein Weinglas und trank einen Schluck.

»Wenn du meine Meinung hören willst: Judith hat ihr Leben vergeudet. Trotz ihrer zahlreichen Möglichkeiten wagte sie nie zu leben. Meine beruflichen Aussichten waren alles andere als gut und das schreckte sie ab. Sie sehnte sich nach Sicherheit, doch die konnte ich ihr nie bieten, da diese Verantwortung mich unfrei gemacht hätte. Aus den gleichen Gründen wollte ich auch nie Kinder. Und schließlich ihre Probleme mit meinen Frauengeschichten, weshalb sie mich dann letztlich verließ. Wir verbrachten ein wunderbares Jahr zusammen, doch sie beendete es überstürzt. Später erst erfuhr ich, dass sie ausgerechnet Karl, meinen ermüdenden Bruder, kennengelernt hatte. Schon damals konnten wir uns nicht ausstehen. Und so nahm Judiths Drama ihren Lauf. Karl konnte ihr Sicherheit geben, im Gegensatz zu mir.«

»Wart ihr als Kinder auch schon so verschieden?«, fragte Torsten.

»Ich bin der Ältere und irgendwie gab es mit mir immer Ärger. Karl als der brave und angepasste Sohn stellte den Normalfall in der Familie dar. Ich hingegen galt als Sonderling mit künstlerischen Interessen, der ständig revoltierte, was darin gipfelte, dass ich meine Mutter Mara verdächtigte, mich mit einem anderen Mann gezeugt zu haben, denn woher sollte meine Andersartigkeit sonst kommen? Als ich ihr gegenüber diese gewagte These einmal äußerte, gab sie mir eine Ohrfeige, obwohl ich damals schon siebzehn Jahre alt war. Damit erledigte sich das Thema endgültig. Ich verkam zum Fremdling in der Familie, aber zur Freude meines Vaters führte Karl die Tradition fort und wurde Beamter. Judith musste seine Eintönigkeit all die Jahre ertragen. Nur in einer Hinsicht gelang ihr wahrscheinlich ein Volltreffer mit ihm – er ist ihr mit Sicherheit absolut treu geblieben.«

Judith hörte sich Pauls lückenhafte Version ihres Lebens interessiert an. Torsten sagte:

»Sie hat dich vor Vater immer verteidigt.«

»Hat sie das? Nun, nach unserer Trennung gab es einige Jahre keinen Kontakt zwischen uns, bis sie mir unverhofft einen Brief schrieb. So trafen wir uns wieder, heimlich, niemand wusste davon. Der Kontakt hält sich, bis heute.«

Judith überraschte es nicht, dass er alles für ihn Unrühmliche ausließ. Was nicht in sein Leben passte, schob er einfach beiseite.

»War das hart, als sie dich damals verließ?«, fragte Torsten.

»Ich habe das getan, was jeder in dieser Situation macht. Ich stürzte mich in die Arbeit und lenkte mich mit anderen Frauen ab. Im Grunde tue ich das bis heute, seit fast dreißig Jahren.«

Judith hielt den Atem an, ihr gegenüber hatte er dies noch nie so offen geäußert.

»Das klingt ziemlich frustriert.«

»Mag sein. Ich bin für Beziehungen nicht sonderlich geeignet. Doch dieses Jahr mit Judith stellte etwas Besonderes dar, wir waren beide jung und voller Illusionen, da liebt es sich leichter als irgendwann später. Etwas Undefinierbares an ihr lässt mich bis heute nicht los.«

Er hielt kurz inne.

»Judith hat ihr Leben anders gelebt, nicht zuletzt wegen euch, dir und deinem Bruder. Im Grunde hätte sie aber auch ein ganz anderes Leben führen können. Aber es ist sinnlos, sich das zu fragen. Du hast nun mal nur ein einziges Leben, um es auszuprobieren.«

Torsten sah Paul eine Weile an und fragte dann mit unsicherer Stimme:

»Habt ihr all die Jahre auch miteinander…?«

Paul lächelte.

»Frage das deine Mutter.«

Judith sah den passenden Augenblick gekommen, ging die letzten Meter zur Terrasse hoch und setzte sich zu den beiden, die sie überrascht anstarrten.