Bin im Garten - Meike Winnemuth - E-Book
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Bin im Garten E-Book

Meike Winnemuth

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Beschreibung

Hier ist der Urlaub zu Hause am schönsten: Im eigenen Garten!

»Ein Jahr im Garten leben. Gemüse anbauen. Bäume pflanzen. Blümchen natürlich auch. Wurzeln schlagen. Boden unter den Füßen finden, und zwar einen, den ich persönlich dorthin geschaufelt habe.« Weltreisende sucht Ort zum Bleiben: Mit Tempo und Witz erzählt Meike Winnemuth in ihrem Tagebuch vom Abenteuer des ersten eigenen Gartens. Vom Träumen und Planen, Schuften und Graben, Säen, Pflanzen, Ernten, Essen. Vom großen Wachsen (Muskelkater!) und Werden (plötzlich: geduldig!). Und entführt uns dabei an einen paradiesischen Ort wahren Lebens, mit Radieschen und Schnecken, mit Rittersporn und anderen blauen Wundern.

Jetzt mit Zusatzkapitel: »Wie es weiterging«!

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Das Jahr des großen Wachsens – Meike Winnemuths neues Abenteuer

Weltreisende sucht Ort zum Bleiben: Ihr Bestseller Das große Los hat Hunderttausenden Lust gemacht, aufzubrechen und die Welt zu sehen. Inzwischen will Meike Winnemuth nur eins: ankommen, Wurzeln schlagen, festen Boden unter den Füßen. Und zwar einen, den sie persönlich dorthin geschaufelt hat. Sie startet das Projekt »Garten«. Obwohl sie nie einen hatte und nicht mal ahnt, wie man Tomaten zieht. Einzige Regel für den Anfang: Das Grüne muss nach oben. Träumen und planen, schuften und graben, säen, pflanzen, ausprobieren, ernten, essen. Mit Tempo und Witz erzählt Meike Winnemuth in ihrem Tagebuch vom großen Wachsen (Muskelkater!) und Werden (plötzlich: geduldig!). Und sie entführt uns an einen paradiesischen Ort wahren Lebens, mit Radieschen und Schnecken, mit Rittersporn und anderen blauen Wundern.

Meike Winnemuth, 1960 in Neumünster geboren, ist freie Journalistin, Autorin und preisgekrönte Bloggerin (www.meikewinnemuth.de). Ihr Buch Das große Los. Wie ich bei Günther Jauch eine halbe Million gewann und einfach losfuhr wurde ein enormer Publikumserfolg. Sie lebt in Hamburg und an der Ostsee.

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Copyright © 2019 Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Fotos: Felix Amsel, Meike Winnemuth; mit Ausnahme von:

[siehe hier] Getty Images/The LIFE Picture Collection/Ralph Morse

[siehe hier] Marsha Arnold

Bildbearbeitung: Lorenz & Zeller, Inning a. Ammersee

Illustrationen: Inka Hagen, www.inkahagen.de

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagabbildungen: Felix Amsel; GoodStudio/Shutterstock

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-16588-8V003

www.penguin-verlag.de.

»Do I contradict myself?

Very well, then I contradict myself,

(I am large, I contain multitudes.)«

WALT WHITMAN, SONG OF MYSELF

VORWORT

»Was machen Sie denn hier? Das sind doch Sie, oder?«, fragt die Dame auf dem Parkplatz.

»Ähm … Wen genau meinen Sie denn?«

»Na, Sie sind doch diese Weltreisende? Ich habe Sie mal im Fernsehen gesehen. Beim Jauch gewonnen, ein Jahr unterwegs …?«

»Ja«, sage ich. »Das bin ich. Oder war ich. Ist schon ein paar Jahre her.«

Wir plaudern ein bisschen über das Reisen, über die Welt, über das Weltreisen. Sie blickt in meinen Einkaufswagen. »Und was wollen Sie damit?«

Wir stehen vor einem Gartencenter, im Wagen liegen drei Sack Pflanzerde, zwei Sack Hornspäne, eine Packung Urgesteinsmehl, ein Paar Gartenhandschuhe, obenauf eine Palette mit etwas ramponiertem Wald-Geißbart von der Resterampe, Stück ein Euro, ein Mitleidskauf.

»Das ist für meinen Garten«, sage ich.

»Ach! Wohnen Sie denn jetzt hier in der Nähe?«

»Ja.«

»Soso. Da bin ich ja mal gespannt, wie lange Sie es bei uns aushalten.«

Ich will antworten, aber sie ist schon in ihr Auto gestiegen. Seufzend wuchte ich die Säcke in den Kofferraum.

Auf dem Weg nach Hause denke ich über die Begegnung nach, sie ist nicht die erste dieser Art. Es scheint immer noch erklärungsbedürftig zu sein, dass ich jetzt hier bin, fern der Welt, so scheinen es alle anderen wahrzunehmen. »Ach, Sie reisen gar nicht mehr?« Das klingt immer enttäuscht. Als ob ich Verrat am schönen Leben begehe, als ob sich ein Zugvogel freiwillig in einen Wellensittichkäfig gesetzt hat.

Zur Urlaubszeit rufen immer noch Frühstücksradioredaktionen an, ob ich nicht morgen um viertel vor sieben live on air fünf super Kofferpacktipps geben könne. Nee, sage ich, tut mir leid. Mal abgesehen davon, dass ich zu der Zeit keinen geraden Satz rausbringe: Ich bin längst woanders.

Ich habe ein Blechschild mit dem Aufdruck »Bin im Garten«, das ich immer an die Haustürklinke hänge, wenn ich hinten arbeite, aber eigentlich ist es nicht mehr nötig. Der Postbote und die meisten anderen Besucher gehen sowieso automatisch hinten rum, die wissen schon, wo ich bin.

Bin im Garten, das ist inzwischen ebenso sehr eine Orts- wie eine Zustandsbeschreibung. Ich grabe Pflanzlöcher und verwurzele mich, ich schaufele Erde und finde festen Boden unter den Füßen, ich bin an einem Ort angekommen, den ich vorher noch nicht kannte: zuhause. Ein selbstgeschaffenes Reich, in dem mein Wille geschehe – dachte ich vorher. Die Natur hat sich kaputtgelacht, und ziemlich bald habe ich mitgelacht.

Beim Reisen geht es nicht darum, sich durch die Welt zu bewegen, sondern von der Welt bewegt zu werden, berührt und verändert. Das funktioniert auch auf ein paar hundert Quadratmetern, wie ich in diesem Jahr festgestellt habe. Wenn man die Reisemetapher endgültig zu Tode reiten möchte: Mein erster Ausflug in den Garten war in vielem eine Abenteuerreise in ein fremdes Land mit anfangs noch undurchschaubaren Gesetzen. Terra incognita. Aber es ist ein sehr gastfreundliches Land, in das ich da geraten bin, es hat mich umarmt und reich beschenkt, mit Blumen und Bohnen, mit Erbsen und Erfahrungen.

Und es liegt nur ein paar Schritte weit entfernt.

Dieses Buch ist das Logbuch eines Gartenjahrs, ein Versuch, das Unbeschreibliche zu beschreiben: die Freude, das Staunen, die tiefe Verbundenheit mit einem kleinen Fleckchen Erde, das bis zum Himmel reicht. Was es nicht ist, das muss ich warnend vorausschicken: ein Buch voller Gartentipps und -tricks. Das soll lieber jemand schreiben, der deutlich mehr Erfahrung hat als ich. Ich lerne es ja selbst gerade erst, und würde man sich von einer Dreijährigen das Laufen beibringen lassen wollen?

Wenn man von seinem Garten spricht, habe ich schnell gemerkt, ist das so, als ob man von seinem Säugling oder von seinem Haustier erzählt: endlos faszinierend für den Gartenbesitzer oder die Mutter oder den Hundehalter, zum Augenrollen für alle, die das Pech haben, zuhören zu müssen. Tja. Nun haben Sie leider das Buch gekauft, da müssen Sie jetzt durch. Aber mit Glück haben Sie selbst einen Garten, den Sie lieben, dann haben Sie sich vermutlich denselben Virus eingefangen wie ich. Und falls Sie keinen Garten haben, aber gern einen hätten: Vielleicht habe ich Sie hinterher angesteckt, es einfach zu probieren, idealerweise mit dem goldenen Leitsatz im Herzen, der für das Reisen, den Garten und praktisch alles im Leben gilt: Einfach mal machen – es könnte ja gut werden.

JANUAR

1. Januar

Es ist spät geworden gestern, es war viel Champagner im Spiel und ab einem gewissen tragischen Punkt viele Gläser »Lütje Minze« bei meinen Nachbarn Uwe und Helga, zu denen wir nach Mitternacht gezogen waren. »Lütje Minze« ist ein Produkt der örtlichen Schnapsbrennerei, es vernichtet bei jedem Schluck zehntausend Gehirnzellen, die Mehrheit der Geschmacksknospen und nahezu die gesamte Restwürde, die man an einem Silvesterabend noch hat.

Jetzt ist früher Nachmittag, Zeit fürs Frühstück. Und Zeit, das neue Jahr zu begrüßen. Ganz, ganz leise.

»Nie wieder Lütje Minze«, murmelt meine beste Freundin Katharina in ihren Kaffee.

»Nie wieder«, sage ich.

Sie blickt in den trüben Garten hinaus. »Und du willst wirklich das ganze Jahr hierbleiben?«

»Jepp.«

Das ist zumindest der Plan. Er ist noch etwas wacklig, aber geht ungefähr so: ein Jahr im Garten leben. Gemüse anbauen. Bäume pflanzen. Blümchen natürlich auch. Wurzeln schlagen. Boden unter den Füßen finden, und zwar einen, den ich persönlich dorthin geschaufelt habe. Ein guter Plan – ich weiß nur noch nicht, ob ich ihm gewachsen bin.

Denn große Ahnung, was ich hier tue, habe ich eigentlich nicht. Und Erfahrung schon gar nicht. Eigentlich nur Sehnsucht, aber die ist ja, wie ich weiß, der beste Treibstoff von allen. Die hat mich einmal um die Welt getragen, die hat mich mein Leben gleich mehrmals umkrempeln lassen. Und jetzt hat sie mich an diesen Ort geschwemmt, fern der Stadt, nah am Meer, das nächste Kino 30 Kilometer entfernt. In eine kleine quadratische Hütte mit einem Holzofen und ohne Waschmaschine, aber mit einem Garten. Meinem Garten.

Meiner neuen Welt.

»Du und Garten? Das hältst du doch gar nicht aus, dann kannst du doch gar nicht mehr reisen«, hatten viele gesagt, als ich davon erzählte. Kann ich vielleicht nicht, will ich aber auch nicht. Ich bin gereist, wirklich viel gereist, das war und ist schön. Aber an einem Ort war ich eben noch nie: da, wo ich bleiben will.

Hier.

2. Januar

Katharina muss zurück nach Hamburg ins Büro, ich fahre sie zum 20 Kilometer entfernten Bahnhof.

»Pass auf deinen Rücken auf, ja? Und gib Bescheid, wenn du Hilfe brauchst«, sagt sie zum Abschied.

»Ja, Mutti.«

Ab jetzt bin ich wieder allein, Zeit für eine Bestandsaufnahme. Ahnung, wie gesagt: überschaubar. Jahrzehntelang hatte ich keinerlei Kontakt mit irgendeiner Form von Grünzeug, bestenfalls mit Supermarkt-Basilikum, das nach spätestens zwei Tagen still im Topf verschied.

Als ich jünger war, kam mir Gärtnern vor wie Oper: langweilig, witzlos, ein Hobby für alte Leute mit zu viel Zeit, eine Geheimgesellschaft, zu der man keinen Zutritt hat. Ein bisschen weltabgewandt fand ich das alles, ein Kreisen um die kleine Scholle, die man beackert, ein Leben auf Knien. Leute mit Gärten konnten nie wegfahren. »Wir würden ja gern, aber der Gaaarten …«, hieß es dann immer. Ich habe nie verstanden, was so toll daran sein soll, vom eigenen Lattenzaun eingeknastet zu sein. Ich war jung, ich hatte Besseres zu tun, als Blumen zu gießen.

Mit 40 zog ich in eine Wohnung mit einer großen Dachterrasse. Hier mussten Pflanzen her, das sah sogar ich ein. Vermutlich war ich inzwischen einfach reif dafür. Einiges wie das Gärtnern, der Whisky und das Tragen von Hausschuhen erschließt sich ja erst im Alter, da muss man reinwachsen.

Damals gab es bei Ikea quadratische Zinkcontainer, 40 mal 40 Zentimeter, mit vorgebohrten Löchern im Boden, eigentlich für Transportrollen, perfekt aber auch für den Wasserabzug. Ich kaufte 30 davon, stellte sie zu einem großen Hochbeet zusammen, schleppte Erde die Treppe hoch, gab absurdes Geld im Gartencenter aus und begann zu lernen: was hier oben auf dem Dach den Wind und die Sonne überlebt, was wann blüht, was wie hoch wird, was nebeneinander gut aussieht und was nacheinander.

Ein Blumenbeet ist ein Spiel mit vier Dimensionen: Zu Höhe, Breite, Länge kommt auch noch die Zeit, die wiederum direkte Auswirkungen hat auf Höhe, Breite, Länge, Farbe und Verwesungsgrad der Pflanzen. Mein Schachbrett-System war perfekt für die ersten Levels in diesem Spiel: Ich konnte die 30 Kisten immer wieder umstellen, je nach Jahreszeit neu sortieren. Was verblüht war, wurde in der Mitte versteckt, was zu groß wurde, wanderte in den Hintergrund. Wenn eine Pflanze die Ellenbogen ausfuhr und sich zu breit machte, durfte sie an den Rand, und wenn eine so überhaupt nicht mitspielen wollte: tschüss, da kommt auch schon der Nachrücker von der Ersatzbank. Es war ein sich immer wieder neu organisierendes Puzzle, und schon damals verstand ich: Die Spielregeln macht die Natur. Ich darf nur das Brett aufstellen und die Figuren verteilen.

Ich pflanzte hohe Ziergräser, die im Wind raschelten, magentafarbenes Eisenkraut auf staksigen Stielen, stahlblaue Kugeldisteln, Schein-Sonnenhut und andere Steppenstauden, Wiesenblumen, Kräuter. Zähes Zeug, das mit der Extremlage hier oben klar kam und dem ich beim Überleben ein bisschen unter die Arme griff: Der Wasserschlauch schlängelte sich fast den ganzen Sommer quer durch die Wohnung von der Küche am Sofa vorbei hinaus auf die Terrasse.

Schnell wurde es manisch, das wird es bei mir meist. Ich studierte Pflanzenlexika, Gräseranthologien, Gartenkataloge, kaufte verrückt teure englische Gießkannen (der Snob gießt nur mit der original »Long Reach« von Haws, mit Messingbrause natürlich), warf mit lateinischen Pflanzennamen um mich und benahm mich auch sonst in jeder Hinsicht lächerlich. Diagnose: akuter Gartenvirus. Wenn man den erst mal hat: keine Aussicht auf Heilung.

Dann ging eine große Liebe zu Ende, der Mann kam mir abhanden, die Dachterrasse war danach keine Heimat mehr. Ich verkaufte die Wohnung mitsamt den Pflanzen. Ich wollte nichts mehr davon, ich wollte nur weg, es war mir alles egal geworden. Ich zog ruhelos durch viele Städte und durch viele Wohnungen und endete in einem Altbau ohne Balkon.

Was aber nicht zu Ende war, so sehr ich sie auch zu verdrängen versuchte: die Sehnsucht. Da war ein Samenkörnchen gelegt, das geduldig schlummerte. Eines Tages würde es keimen. Irgendwann, sagte ich mir manchmal, irgendwann werde ich einen Garten haben. Wenn ich alt bin. Wenn ich alles andere erlebt und erledigt habe. Garten ist wie Rente, glaubte ich, das Leben nach dem Leben.

Und jetzt sitze ich hier in einem Garten. Meinem Garten. Weit vor der Rente. Wie konnte das nur passieren?

Es war wie alles Wichtige in meinem Leben reiner Zufall. Zufällig die Anzeige gesehen, zufällig sowieso in der Nähe gewesen, die Besitzer, die in Hessen lebten, waren auch gerade da.

Da war das Haus – ein Wochenendhäuschen aus den frühen Siebzigern, keine 300 Meter von der Ostsee entfernt. Ein flacher Holzbungalow, 48 Quadratmeter groß, eine Zigarrenkiste umgeben von Waschbeton.

Und da war der Garten, der sich bis zum Wald erstreckte. Eine Kletterrose blühte, ein Bambus rauschte im Wind. Hinten links am Waldrand ein kleines Gartenhaus, dahinter eine Lichtung aus Ahorn und Buchen. Zur Rechten, nicht weit entfernt, ein Backsteinleuchtturm, dahinter Salzwiesen mit Longhornrindern, und dann auch schon das Meer.

Das ist es, dachte ich, das will ich. Das und kein anderes.

Innerhalb einer halben Stunde hatte ich das Haus per Handschlag gekauft. Ohne groß zu verhandeln, ohne Vergleichsangebote, ohne Marktübersicht und ohne Zögern. Es war das erste und einzige Haus, das ich je besichtigt habe, bis dahin wäre ich nicht mal auf die Idee gekommen, eines besitzen zu wollen. Bloß nichts Festes, bloß keine Ketten, bloß keine Sorge um eingefrorene Leitungen und Kanalgebühren, hatte ich immer gedacht. Ein Haus bedeutet Verantwortung und Verpflichtung. Wollte ich alles nicht, ich wollte frei sein.

Andererseits ist, wenn ich’s recht bedenke, das Haus sogar das Ergebnis meiner Freiheit. Es gab eine Schlüsselszene auf einer einjährigen Weltreise vor einigen Jahren: Ich ging in Hawaii frühmorgens am Strand von Hunakai entlang. Am Ufer stand ein Mann mit seinem Hund und schaute aufs Meer, ganz still. Und auf einen Schlag dachte ich: Der hat ein Leben und ich nicht. Der geht jeden Tag mit dem Hund hierher, und danach frühstückt er. Und morgen wieder. Und ich irre durch die Welt, heute hier, morgen dort, ohne Kontinuität und ohne Halt. Ich will denselben Baum im Frühjahr, im Sommer, im Herbst und meinetwegen sogar im Winter sehen, dachte ich plötzlich, ich will den Wandel, aber am selben Ort, denn nur dort erlebt man ihn wirklich. Ich will irgendwo hingehören. Ich will endlich wieder ein Zuhause. Eine Heimat.

Erst kam der Hund. Fiete, Foxterrier. Die erste Stufe der Bindung, der sanfte Übergang vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit. Da war plötzlich eine Leine in meiner Hand und am anderen Ende ein Lebewesen mit sehr eigenen Ideen. Der Hund führte mich in den Wald, den ich früher immer unheimlich fand und jetzt wunderschön. Er führte mich ans Meer, das ich immer schon geliebt hatte und zusammen mit ihm nur noch mehr liebte. Ich sah die Welt mit seinen Augen, und die Augen sahen: Dreck. Das Hauptbahnhofsviertel, in dem ich lebe, ist übersät mit Müll, mit Scherben aus zerdepperten Bierflaschen, mit Dönerresten, mit Plastik, mit scharfkantigen Kronkorken. War mir früher nie aufgefallen. Jetzt aber sehr.

Und deshalb das Meer und deshalb die Hütte und deshalb der Garten und deshalb dieses Jahr.

Schuld allein ist nur Hawaii.

3. Januar

Jeden Tag geht mein erster Weg ans Wasser, noch vor der ersten Kanne Tee. Zähneputzen, Gummistiefel, Hundeleine, Meer: Ich kann gar nicht sagen, was für ein unglaublicher Luxus das ist, jeden Morgen wieder, was für ein Geschenk. Ich gehe immer den gleichen Weg, am Leuchtturm vorbei, an der Jungviehweide entlang hinunter zum Strand, am Ufer nach rechts, dann zwei, drei Kilometer mit dem Wind hin und gegen den Wind zurück – und noch nie bin ich zweimal denselben Weg gegangen. Das Meer hat jeden Tag eine andere Nuance von Unbeschreiblichkeit: himmelgrau, schlammblau, elefantengrün. Oft hat sich der Wildstrand über Nacht völlig gewandelt. Mal liegen da Steine, wo gestern noch keine waren, mal hat der Westwind einen Schwung Seetang angeschwemmt, oft ist bei Sturmflut der ganze Strand verschwunden und zwei Tage später breiter als zuvor.

Heute ist Perigäum, der Tag, an dem der Mond auf seiner Umlaufbahn der Erde am nächsten ist. An diesem Tag sind die Gezeiten besonders stark ausgeprägt. Auf der mondzugewandten Seite der Erde steigt der Meeresspiegel ungewöhnlich hoch an, auf der abgewandten Seite ist die Ebbe verstärkt. Wenn sich Sonne, Mond und Erde in einer Linie befinden – zwischen dem 2. und 4. Januar –, haben wir Springflut.

So wie heute.

Der Strand ist fast doppelt so breit wie gewöhnlich, das Meer hat sich weit zurückgezogen. Es ist der beste Tag, um Donnerkeile, fossilierte Seeigel oder Hühnergötter zu finden, Feuersteine mit einem durch Erosion herausgewaschenen Loch. Diese Steine wurden früher an die Hühnerstange gehängt, damit die Hennen besser legen, später mauserten sie sich zum universellen Glücksbringer. Hühnergötter suchen, das ist ein Kindheitsvergnügen, das nie alt wird. Man geht Schritt für langsamen Schritt, harkt den Sand mit Blicken, beugt sich gelegentlich hinunter, dreht einen Stein um, legt ihn wieder hin, geht weiter. Ich könnte viel Geld verdienen, wenn ich hier Hühnergott-Meditationsseminare für Gestresste anböte – ach, überhaupt genügt es ja, an jede monotone Tätigkeit das Wort »Meditation« anzuhängen, um sie sofort zu einer kostenpflichtigen Veranstaltung zu machen. Geh-Meditation. Kartoffelschäl-Meditation. Rasenmäh-Meditation, Unkrautjät-Meditation.

Heute sind es drei Hühnergötter, ein sehr gutes Zeichen, finde ich. Zuhause lege ich sie auf die Küchenfensterbank. Das Jahr steht unter einem freundlichen Stern.

4. Januar

Ich bin jetzt im dritten Jahr hier, bisher allerdings nur unregelmäßig, mal ein langes Wochenende, mal drei Wochen. Im ersten Jahr habe ich einfach nur geschaut, was mir aus der Erde entgegenkam. Da war eine Rhododendron-Hecke von der Größe des Saarlands, zwei Azaleen, eine Kletterhortensie und diverses Gesträuch: ein Bauernjasmin, eine altmodische Spiere, der unvermeidliche Kirschlorbeer. Ansonsten im Frühjahr ein paar Narzissen und sonst nicht viel: Die Vorbesitzer waren selten da und wollten einen pflegeleichten Garten. Also Koniferen, ein bisschen Buchs, 90 Prozent Gras.

Als erstes ließ ich einen Zaun bauen. Unbegeistert, ich bin kein großer Freund von Zäunen. Vielleicht begann das Unglück der Menschheit, als ein Neandertaler zum ersten Mal auf die Idee kam, einen Zaun um seinen Gemüsegarten zu bauen. Erst wegen der wilden Tiere, dann wegen der anderen Neandertaler. Ein Zaun bedeutet: Dies ist meins und nicht deins. Raus hier, Pfoten weg.

Aus Nomaden wurden Sesshafte, aus Menschen wurden Stämme. Aus den Zäunen wurden Mauern, aus den Mauern wurden Grenzen. Von da an ging’s bergab.

Hätte ich keinen Hund, hätte ich keinen Zaun. Aber mein Hund geht nun mal gern spazieren. In dem entzückend gezeichneten Rassekompendium »Wuff!« der britischen Illustratorin Fenella Smith wird der Foxterrier sinnend über einer Landkarte abgebildet, darunter steht: »Aufgrund seiner Unermüdlichkeit, immer alles erkunden zu wollen, der Marco Polo der Hundewelt.« Genau so ist es. Foxterrier sind Einzeljäger, sie sind neugierig, unerschrocken, selbstbewusst und darauf gezüchtet, eigene Entscheidungen zu treffen.

Fietes Standardentscheidung lautet: Och, mal gucken. Mal sehen, was so los ist nebenan und wo man was zu essen organisieren kann. Schnell hatte er raus, dass Bimmermanns das Katzenfutter auf die Terrasse stellen und dass die Leute hier im Sommer gern die Türen offen lassen. Es findet nicht jeder witzig, wenn ein verhungert guckender Fox schwanzwedelnd hinter einem in der Küche sitzt. Deshalb der Zaun. Doppelstabmatte, anthrazit, RAL 7016, die perfekte Nichtfarbe, viel unsichtbarer als das allgegenwärtige Moosgrün.

Der Zaun kostete ein Vermögen. Wirklich schockierend viel. Ich habe Autos gefahren, die weniger kosteten.

Weil die Zaunbauer schon mal da waren mit ihren Geräten, legte ich mit einer alten Wäscheleine eine weit geschwungene Linie auf den Rasen, mit Buchten und Landzungen wie das Meer nebenan. Das da zwischen Wäscheleine und Zaun soll bitte weg, sagte ich, das wird ein Beet. Rasensoden raus, Mutterboden rein.

Ein Stück unbeschriebene Erde. Eine Erlaubnis. Eine Aufforderung.

So begann es mit mir und dem Garten.

5. Januar

Viel ist derzeit nicht los da draußen. Nach den starken Regenfällen der letzten Monate ist der Garten eine Schlammhölle, an einigen Stellen steht man knöcheltief im Wasser. Das scheint den Maulwurf aber nicht zu stören, der sich vergnügt durch den Rasen baggert; ich stelle ihn mir immer mit einer kleinen Taucherbrille vor.

Maulwürfe sind, wenn ich das richtig verstanden habe, des Gärtners zweitgrößter Schrecken, gleich nach der Spanischen Wegschnecke, und sind in der Zeit zwischen Januar und März besonders aktiv, weil auf Brautschau. Die buddeln sich hektisch durch die Welt, um eine gleichgesinnte Buddlerin zu finden.

Ich persönlich finde sie nicht schlimm. Der Rasen hinter meiner Hütte ist ohnehin keine Schönheit, er ist voll Klee, Gänseblümchen und Hahnenfuß. Mir völlig egal, ich will schließlich nicht Golf darauf spielen. Der Maulwurf lockert den Boden, frisst Schädlinge und wird im Frühjahr von allein wieder in den Wald verschwinden, wenn es ihm nämlich zu laut wird bei mir. Ich sage nur: Benzinrasenmäher. Mag er nicht, er ist sehr geräuschempfindlich. Alle anderen Hausmittel (Hundehaare in die Löcher stopfen oder Wattebäusche mit stinkigem Parfüm oder Bambusstäbe mit darübergestülpten Plastikflaschen, die im Wind klappern) funktionieren nicht, die habe ich im letzten Jahr schon probiert.

Auch Fiete ist keine große Hilfe.

Wir haben uns also geeinigt, der Maulwurf und ich: Im Winter gehört der Laden ihm, zur Rasenmähersaison mir. Die wunderbar lockere Erde der Maulwurfshügel gehört mir sowieso, davon habe ich schon ganze Schubkarrenladungen für Blumenkübel verwendet. In 20 Minuten kann so ein Tierchen (groß wie ein iPhone, aber nur halb so schwer) bis zu sechs Kilo Erde bewegen, das ist Spitzensport. Ich brauche eine Stunde, bis ich alle Hügel abgetragen habe. Völlig zu Recht also fallen diese Athleten unter das Tierschutzgesetz, man darf sie nicht töten, nur vergrämen. Buttersäure soll helfen, lese ich. Aber will man sich das wirklich antun?

Ansonsten tobt da draußen nur noch eine durchgeknallte Spatzenbande, die in meinem Rhododendron wohnt und gelegentlich zur Poolparty in einer vom Regen vollgelaufenen Aussaatschale einjettet. Man muss sich das hier wie Ballermann für Spatzen vorstellen, und entsprechend lautstark sind sie auch.

6. Januar

Der Holzofen hat seine Tücken, jeden Morgen liefern wir uns einen kleinen Kampf. Zum Anfeuern muss man die Tür offenlassen, sonst zieht er nicht richtig, und ab einem bestimmten Punkt muss der Regler geschlossen werden, sonst zundert das Holz zu schnell weg.

Feuer zu machen, rechtzeitig Scheite nachzulegen – nicht zu früh und nicht zu viele – und zu wissen, wie lange die Wärme am Abend hält, das war das erste, was die Hütte mir beigebracht hat. Und wie man hier überhaupt rein- und rauskommt: Die Terrassenschiebetür ist nur mit einem genau dosierten Schwung zu schließen, aber kurz vor dem Einschnappen muss man sich mit der Schulter brachial gegen den Rahmen werfen.

Auch sonst braucht man Humor, wenn man hier wohnen will: Es gibt zwar ein Gästezimmer, doch es ist eigentlich nur eine Koje von Wand zu Wand, man muss vom Fußende aus ins Bett hechten. In der Küche steht ein altersschwacher Kühlschrank, der es irgendwie schafft, oben Eiswürfel schmelzen zu lassen und derweil unten Joghurt tiefzufrieren. Es ist alles ein bisschen anders hier, und genau das liebe ich an der Hütte. Sie hat ihre eigenen Gesetze.

Die beiden wichtigsten – und seien wir ehrlich: größten – Einrichtungsgegenstände sind zwei Pokale, die seit den Zeiten des ersten Besitzers Walter Tiedemann hier wohnen. Ich wusste lange nicht viel über Walter, der schon vor Jahren dood bleven ist, wie wir hier oben sagen, nur dies: 1986 hat er den ersten Preis im Brandungsangeln gewonnen und 1989 ist er Skatmeister des hiesigen Sportvereins geworden, beides prämiert durch zwei matt glänzende unterarmhohe Pötte mit Deckel und Gravur und Marmorsockel. Auf dem einen umwächst Lorbeer eine Hecht-Plakette (was insofern bemerkenswert ist, als man Hechte eher selten in Brandungen antrifft, aber Dorsch- und Butt-Plaketten waren vermutlich gerade aus), auf dem anderen vier Buben-Spielkarten. Es sind schöne Stücke, ich schaue sie gern an und staube sie regelmäßig ab.

Und jedes Mal beim Anschauen und Abstauben denke ich: In knapp sechs Jahrzehnten habe ich keinen einzigen Pokal in irgendwas gewonnen, keine Trophäe, keine Urkunde mit Goldrand, nix. Das liegt natürlich hauptsächlich daran, dass ich keine kompetitiven Sportarten wie Brandungsangeln oder Skat betreibe und auch sonst keine pokalträchtigen Hobbys habe.

Aber ist es am Ende nicht vielleicht so, dass ich einfach nur den Wettbewerb scheue? Den Vergleich? Die hochwahrscheinliche Niederlage? Wenn man nicht verlieren will, kann man auch nicht gewinnen, weder einen Pokal noch sonst was im Leben. Vielleicht fehlt mir auch, was noch schlimmer wäre, die Leidenschaft und Leidensfähigkeit, mich einer Sache ganz zu verschreiben. Das ist jetzt der Plan, das will ich hinkriegen, bis ich 60 bin, also gefühlt bis übermorgen: endlich mal etwas so konsequent betreiben, dass ich jemandem was zum Abstauben hinterlassen kann.

Es muss ja gar nicht aus Blech sein, denke ich, wenn ich aus dem Fenster schaue. Denn die größten Trophäen, die Walter mir hinterlassen hat, stehen da draußen. Er hat die Eibe neben der Haustür und die Rhododendren gepflanzt, die in ihren 40 Jahren zu einer drei Meter hohen, fünf Meter breiten und 15 Meter langen Wand gewachsen sind. Die staube ich jetzt auch ab, sozusagen: Ich dünge und wässere sie und breche die welken Blüten aus.

Die Rhododendren, erzählt mein Nachbar Uwe, hat Walter damals als Setzlinge aus Neumünster mitgebracht, wo er stationiert war. Neumünster ist meine Geburtsstadt. Der Kreis schließt sich.

Walter war gelernter Landschaftsgärtner. Ist mit 28 zur Bundeswehr gegangen, wurde mit 56 als Stabsfeldwebel pensioniert. Er muss immer sehr schick gewesen sein, Goldknopfblazer, Krawatte, eine Seglermütze auf dem grauschwarzen Haar. Im Dorf hat er die Bäume beschnitten, meiner Nachbarin Edeltraut hat er geholfen, in ihrem Vorgarten ein militärisch präzises Buchsbaum-Parterre anzulegen, aus vier Karrees mit einem Oval in der Mitte, das es noch heute gibt und von Edeltraut geduldig und hingebungsvoll in Form gehalten wird.

Walter hat also Spuren hinterlassen. Das will ich auch. Einen Garten anlegen, einen Baum pflanzen, der mich überlebt, so wie die Rhododendren und Eiben und Edeltrauts Mini-Versailles Walter überlebt haben. Die Welt ein Stück schöner hinterlassen, als ich sie vorgefunden habe, zumindest auf den paar Quadratmetern vor und hinter meinem Haus.

Und ich möchte mein eigenes Essen anpflanzen dieses Jahr, das habe ich noch nie gemacht. Von Selbstgesätem leben, von meiner Hände Arbeit. Ich habe mein Leben lang am Schreibtisch gesessen und von Hirngespinsten gelebt, von Texten, in einen Computer getippt und durch den Äther irgendwo hingeschickt. Mir zerrinnt dieses Immaterielle zunehmend zwischen den Fingern, ich bin es müde. Ich brauche was Handfestes in meinem Leben, was Reales.

Wenn es klappt, kann ich mich im August von eigener Ernte ernähren. Wenn nicht, habe ich im September mein Idealgewicht. Win-win.

7. Januar

Ich lese nach Jahren mal wieder Walden, aus naheliegenden Gründen. 1845 zog der Autor Henry David Thoreau in eine zwölf Quadratmeter große Hütte im Wald, um sich auf das Wesentliche zu besinnen. »Ich zog in den Wald«, schrieb er, »weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hatte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte. (…) Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde.«

Walden ist seit seinem Erscheinungsjahr 1854 von nahezu jeder Generation wiederentdeckt worden. Weltliteratur eben: Wenn viele verschiedene Leute verschiedener Kulturen zu verschiedenen Zeiten einem Buch immer wieder Neues abgewinnen, dann ist es unbedingt der Beachtung wert. Walden stand schon in vielen Arbeiterhaushalten, bevor Marx von der Entfremdung durch Arbeit predigte, war Lieblingslektüre von 68ern, Naturschutzbewegten und Aussteigern, wurde von Sozialrevolutionären wie Mahatma Gandhi und Martin Luther King verehrt und war zu nahezu allen Zeiten Fluchtfantasie für Zivilisationsmüde, Manifest für Konsumkritiker und Bibel für »Simplify your Life«-Anhänger. Zurzeit ist das Buch die Blaupause für die »Tiny Home«-Bewegung, die auf kleinem Wohnraum mit zierlichem ökologischen Fußabdruck die Welt und nebenbei das eigene Leben retten will.

Wenngleich meine Hütte viermal so groß ist wie die Thoreaus, der nächste Supermarkt zehn Autominuten entfernt liegt und das Internet zwar langsam, aber zumindest vorhanden ist – spartanisch kann man das also beim besten Willen nicht nennen –, ist mir das Prinzip Reduktion sehr vertraut. Ich habe mit der Idee des Weniger oft herumgespielt: Für einen Selbstversuch habe ich mal ein Jahr lang das gleiche blaue Kleid getragen (das es aus Gründen der Hygiene in drei identischen Exemplaren gab), ich habe gleichzeitig jeden Tag einen Gegenstand aus meinem Besitz verschenkt, verkauft oder anderweitig entsorgt.

Es war ein Experiment, ein Spiel, aber eines, das Konsequenzen hatte: Das Bedürfnis nach Befreiung und Erleichterung ist seitdem der rote Faden in meinem Leben, das Weniger mein neuer Mehrwert. Es geht um Abrüstung an allen Fronten: Entrümpeln, Entsorgen, Entschleunigen, Entlasten, Entspannen. Seltsame Welt, denke ich manchmal: Wir haben so viel Zeit und so viele Möglichkeiten wie nie – und sind dabei so angestrengt wie nie. Ein immer größerer Teil der Anstrengung besteht darin, sich die schöne neue Welt vom Hals zu halten, weil sie einen einfach überfordert.

Vor sechs Jahren bin ich von meiner 200-qm-Altbauwohnung in ein 38-qm-Apartment gezogen. Ich sah nicht mehr ein, für diese riesige Menge Luft um mich herum zu schuften, wenn ich sie noch nicht mal genoss. Seit dem Experiment mit dem blauen Kleid und der anschließenden Weltreise mit kleinem Gepäck trage ich ausschließlich Blau, was das morgendliche »Was ziehe ich heute an?« zu einer Sekundenentscheidung macht: Ich muss nur aus dem Fenster schauen und greife dann entweder zu Hemd oder zu Pullover. Kein weiteres Nachdenken nötig: Alles passt zusammen und alles passt in einen schmalen Schrank.

Es passt überhaupt alles, in jeder Hinsicht. Es passt mir. Wie angegossen. Ich habe mein Leben um meine Bedürfnisse herum maßgeschneidert. Es geht dabei nicht vorrangig um Sparsamkeit (obwohl mir die überschaubareren laufenden Kosten ermöglichen, deutlich weniger zu arbeiten), sondern um die Erleichterung, sich nur noch auf das konzentrieren zu dürfen, was mir wirklich wichtig ist. Ich würde meine Methode deshalb auch nicht Minimalismus, sondern Essentialismus nennen: Ich verzichte auf Dinge, die mir nichts bedeuten, gebe aber Geld für Sachen aus, die andere Leute vielleicht als sinnlosen Luxus betrachten, guten Wein und gebundene Bücher zum Beispiel. Es geht darum herauszufinden, was einem persönlich wirklich wichtig und unverzichtbar ist. Der Rest kann weg.

Wirklich wichtig ist mir zum Beispiel, immer wieder Neues lernen zu dürfen, immer wieder bei null anzufangen. Ahnungslos in einem Bereich zu sein und täglich ein bisschen schlauer zu werden. Oder auf die Nase zu fallen und es beim nächsten Mal anders zu machen – ob besser, weiß ich vielleicht erst beim dritten oder zehnten Versuch.

Das Gärtnern ist ein Feld, in dem Ahnungslosigkeit bestens gedeiht, weil es so unendlich viele Möglichkeiten gibt, es zu beackern. Es gibt ein paar Grundregeln, klar. Das Grüne muss nach oben, es braucht Wasser und Licht zum Wachsen – der Rest hängt ab von tausenderlei spezifischen Umständen.

In diesem Jahr wird es auch darum gehen, sich allein durchzuschlagen – so allein wie man im 21. Jahrhundert mit einem Handy in der Hosentasche und Dauerzugriff auf Videos mit minutiösen Pflanzanleitungen sein kann. Heute braucht niemand mehr einen Großvater, der einen in der Kunst des Kartoffellegens anlernt. In der Regel weiß der Opa auch nicht, wie es geht. Muss er auch nicht wissen, dafür gibt es YouTube.

Thoreau ließ sich übrigens jede Woche Leckereien von seiner nicht allzu weit entfernt lebenden Familie liefern, lese ich gerade. Man muss es ja nicht übertreiben mit der Natur.

8. Januar

»Gesellschaft ist gewöhnlich zu billig zu haben«, schreibt Thoreau. »Wir treffen uns nach zu kurzen Zwischenräumen, als dass wir Zeit genug gehabt hätten, neuen Wert füreinander zu erlangen. Wir kommen dreimal täglich bei den Mahlzeiten zusammen und lassen den anderen immer wieder von dem schimmligen alten Käse kosten, der wir sind.«

Der schimmlige alte Käse, der wir sind! Wie gemein und wie großartig.

Weiter: »Wir wohnen dicht gedrängt zusammengepfercht, sind einander im Weg, stolpern übereinander und verlieren, meine ich, einigermaßen den Respekt voreinander. Gewiss würde weniger große Häufigkeit für jeden bedeutenden und herzlichen Verkehr genügen.«

Ja, gewiss. Das merke ich ja schon in meiner kleinen Zigarrenkisten-Siedlung. Von den 39 Hütten sind acht auch im Winter dauerhaft bewohnt, sonst ist alles ausgestorben. Der benachbarte Campingplatz ist von Oktober bis Ostern geschlossen, Durchgangverkehr gibt es nicht, wir leben am Ende einer Sackgasse. Vielleicht sieht man am Strand mal einen Angler in Wathose oder einen Hundespaziergänger, der sich gegen den Wind stemmt, ansonsten ist die Welt ganz weit weg.

Und das sorgt für den »herzlichen Verkehr«, den Thoreau ersehnt. Hier gibt man sich die Hand zur Begrüßung, wenn man sich länger nicht gesehen hat, nie geht man aneinander vorbei, ohne ein paar Worte zu wechseln. Man nimmt sich zur Kenntnis und passt aufeinander auf. Wird jemand länger nicht gesehen, schaut man mal nach dem Rechten.

Ich hatte noch nie so wenige Nachbarn wie hier und zugleich noch nie so viele, die ich tatsächlich kenne. In der Stadt wohnt man Schulter an Schulter, über-, unter- und nebeneinander. Aber eben auch nebeneinander her. Hier helfen wir uns beim Holzstapeln und Zaunbauen. Wir geben uns die Hand, zur Begrüßung und auch sonst.

9. Januar

Der Raureif hat über Nacht den Garten gezuckert. Dieser geisterhaft schöne Anblick ist für mich einer der Hauptgründe, entgegen der deutschen Gewohnheit die Stauden im Herbst nicht abzurasieren: Jetzt sieht man erst die feinen Strukturen, die zarten Halme und Stängel. Der andere, wichtigere Grund ist der, dass die Samenstände Nahrung für Vögel bergen und der Boden nicht kahlfriert. Die Blätter und die abgestorbenen Pflanzen schützen und wärmen die Erde. Boden soll man eben nicht wie Dreck behandeln.

Worauf ich hier stehe, ist mir einigermaßen klar: Lehm. Der sich nach Regen in Schlamm verwandelt und bei Trockenheit in Granit. Aber stimmt das? Ich studiere den Ratgeber Permakultur im Hausgarten mit seiner minutiösen Anleitung, wie man eine ordnungsgemäße »Finger- und Ausrollprobe« durchzuführen hat, um zu ermitteln, mit welchem Boden man es zu tun hat. Mit der Bodenqualität steht und fällt nämlich alles. Sie ist buchstäblich die Grundlage des Gärtnerns: Ist der Boden sandig und hält die Feuchtigkeit nicht? Lehmig mit Tendenz zu Staunässe? Humusreich? Sauer? Alkalisch? Das Ergebnis hat Konsequenzen auf die Auswahl der Pflanzen, die hier florieren. Im ersten Jahr habe ich den Fehler gemacht, einige trockenheitsliebende Gräser zu pflanzen, die nichts so sehr hassen wie nasse Füße. Die hatten damals auf meiner Dachterrasse fantastisch funktioniert, hier verabschiedeten sie sich grußlos.

Der Bodentest geht so: Man rollt die feuchte Erde zwischen den angefeuchteten Handflächen. Schafft man eine bleistiftdicke Wurst? Eine halbbleistiftdicke Wurst? Die man zu einem Ring biegen kann? Glänzt der?

Ja, ja, ja und ja.

Die letzte Anweisung lautet: »Prüfen Sie die Probe vorsichtig zwischen den Zähnen. Knirschen ➛ lehmiger Ton. Butterartige Konsistenz ➛ Ton.«

Okay. Ich beiße jetzt also vorsichtig in meinen kleinen Erd-Kringel. Wird mich schon nicht umbringen. Haben wir als Kinder nicht pfundweise Sandkastenerde gegessen? Und leben wir noch? Na bitte.

Es knirscht, aber nicht sehr. Ist das jetzt lehmiger Ton? Oder am Ende doch toniger Lehm?

Ich beschließe, die Bodenprobe mit einem Single Malt herunterzuspülen. So macht man das doch in Gärtnerkreisen fachgerecht, oder? Die leicht torfige Note passt perfekt zum lehmigen Ton. Oder tonigen Lehm.

1O. Januar

Der Postbote bringt das Willkommenspaket der Royal Horticultural Society, der Königlichen Gartenbaugesellschaft, gegründet 1804 in London. Allein die Anmeldung bei diesem altehrwürdigen britischen Gartenverein war schon hübsch. Im Pulldown-Menü auf der Webseite hatte ich die Wahl zwischen Dr, Lady, Master, Miss, Mr, Mrs, Ms, Professor, Reverend und Sir. Ich habe kurz zwischen Lady und Reverend geschwankt. Und mich dann widerstrebend für Lady entschieden.

Lady M Winnemuth bekommt also anlässlich ihrer Aufnahme zur Begrüßung das Vereinsmagazin The Garden (das seit 1866 erscheint) sowie zwei Tütchen mit Samen geschickt, einmal Tomate mit dem Namen ‘Gardener’s Delight’ und einmal Wicke, ‘Spencer Mix’, zufällig eine meiner Lieblingsblumen.

Es geht gut los mit Lady M und der Royal Horticultural Society.

Mitglied bin ich aus niederen Motiven geworden: Im Mai möchte ich gern, das weiß ich jetzt schon, nach London zur legendären Chelsea Flower Show fliegen, der bedeutendsten Gartenausstellung der Welt. An Tickets ist notorisch schwer heranzukommen – nicht aber, wenn man Mitglied der RHS ist, die genießt Vorzugsbehandlung. Und ich genieße jetzt schon das warme Gefühl, Teil einer großen gartenverrückten Gemeinschaft zu sein. Bestimmt nicht der schlechtere Teil der Menschheit.

11. Januar

Im Zeitschriftenregal des Supermarkts liegt eine Gartenzeitschrift mit der drohenden Titelzeile »Es wird durchgeblüht«. Es ist die Februar-Ausgabe, die natürlich schon Anfang Januar erschienen ist, das sagt viel über die Ungeduld von Gärtnern.

Bei mir blüht überhaupt nichts durch, ich würde es auch nicht wollen. Ich mag diese skelettöse Jahreszeit, in der nur noch die Gerippe der Stauden stehen, die Knochen der Bäume. Die Welt ist nackt und klar, beschienen von einer fahlen Wintersonne. Alles ruht und sammelt Kräfte, alle Energie geht in die Wurzeln. Es ist die Zeit vor dem Anfang, eine Vorbereitung auf das, was da kommen mag. Es ist ein einziges Nochnicht. Komisch, dass es immer nur um das Leben nach dem Tod geht, nie um das Leben vor dem Leben.

Mit der Post kommen die ersten Saatkataloge, die ich bestellt hatte, vom Kräuterspezialisten Rühlemann sowie den Ökoversendern Hof Jeebel und Dreschflegel. Beide haben sich auf alte Gemüsesorten spezialisiert, auf seltene Samen, Steckzwiebeln, Setzkartoffeln, auch Jungpflanzen sind im Angebot bei Jeebel, alles in Bioqualität. Die Saaten sind samenfest, was bedeutet, dass man aus den entstandenen Pflanzen weitere ziehen kann, die dieselben Eigenschaften haben. In den Gartencentern werden meist nur sterile Hybridsorten angeboten, deren Eigenschaften sich nicht weitervererben. Bedeutet: Für die nächste Saison kann man nicht selbstgewonnenes Saatgut verwenden, sondern muss wieder nachkaufen – super für die Saatkonzerne.

Fast der gesamte kommerzielle Anbau funktioniert nach diesem Muster, der Handel mit Saatgut ist in der Hand weniger Monopolisten, die zufällig auch noch den Agrarchemiemarkt beherrschen. Ergebnis: Monokulturen aus wenigen Hochleistungssorten, die nur unter Hochleistungsbedingungen gedeihen, also auf stark gedüngten Böden und unter massivem Pestizideinsatz. Im letzten Jahrhundert sind etwa 75 Prozent der alten Gemüse- und Obst-Sorten verloren gegangen. Die gibt es einfach nicht mehr, weil ihr Anbau nicht profitabel genug war. Für den Massenmarkt ist es wichtig, dass die Gemüsepflanzen jederzeit gleich aussehen und gleich schmecken, gleichzeitig reif werden, damit sie maschinell geerntet werden können, und anschließend lange Lieferketten sowie Lagerzeiten überstehen.

Und was wäre nun das Problem, wenn es nur noch fünf Mais-Arten gäbe? Würde irgendeiner was vermissen? Vielleicht nicht, aber die genetische Einförmigkeit fördert Epidemien. Die Pflanzen sind anfälliger für Krankheiten und Insektenbefall, was nur noch mehr Chemieeinsatz nötig macht. Die Folgen für die Umwelt sind bekannt: ausgelaugte Böden, Insektensterben, umkippende Ökosysteme. Der Ast, auf dem wir sitzen, knarrt bereits so lange, dass man sich schon die Ohren zuhalten muss, wenn man das nicht hören will.

Dagegen kämpfen die kleinen gallischen Dörfer der Öko-Saathändler wie eben die Kooperative Dreschflegel. Zu der haben sich fünfzehn Höfe zusammengeschlossen, um biologische Saatgutvermehrung von alten Sorten zu betreiben, die es schon lange nicht mehr im Handel gibt. Sie wollen die genetische Vielfalt erhalten. Finde ich gut. Unterstützenswert. Ich will es ohne Chemie probieren in diesem Jahr, und zwar von Anfang an.

Die Kataloge werde ich in den nächsten Tagen ausgiebig studieren. Schon beim ersten Durchblättern wird klar, dass ich heillos überfordert sein werde mit der Auswahl. Hof Jeebel führt über hundert Sorten Pflanzkartoffeln und zehn Sorten Pastinaken, in Rühlemanns 370-seitigem Kräuterkatalog gibt es allein 45 Sorten Salbei. Und anschließend geht es im Katalog weiter mit SambungNyawa, Salomonssiegel, Sandstrohblume, Sanikel, Sassafras, Säuerling, Salzmelde, Sarsaparilla …

Nie gehört von dem Zeug. Was für ein Spaß!

12. Januar

In der Zeitschrift der Royal Horticultural Society lese ich gerade eine hübsche Geschichte über Cardiocrinum giganteum. Es ist die größte Lilie der Welt, sie wird drei bis vier Meter hoch und muss himmlisch duften – sofern man die Nase überhaupt hoch zu ihren Blüten bringt. Zwei Jahre braucht ihr Samen, um zu keimen, weitere sieben Jahre lässt sie sich Zeit, um zum ersten Mal zu blühen. Das tut sie dann für gerade mal zehn Tage. Allein das Wissen um ihre Existenz macht mich schon nervös. Wie geduldig bin ich? Wie entschlossen?

Es wird auch um das Durchhalten gehen in diesem Jahr. Das Warten, die Beharrlichkeit, die stete, zähe, wahrscheinlich oft öde Arbeit – alles Dinge, die ich in meiner postmodernen Sucht nach instant gratification ziemlich verlernt habe.

Schaffe ich das?

17. Januar

Der Januar ist die Zeit für dumme Ideen und Größenwahn. Für Gartenbücher, für »Ach, das könnte man doch eigentlich mal ausprobieren«, für »Wenn das ein norditalienischer Marchese mit fünf festangestellten Gärtnern in seinem Schlosspark hinkriegt, schaffe ich das auch«. Im Januar ist im Garten alles möglich, das ist ein Monat fern jeder Realität. Die Planung für das neue Gartenjahr steht zwar halb auf dem Standbein der Erfahrung, doch das Spielbein ist viel durchtrainierter, besonders im Winter. Was man alles machen könnte!

Besonders Gartenbücher sind eine üble Droge. Erstens die Bücher selbst: grabplattenschwer, schön gedruckt, mit Bildern zum Schwelgen – verbunden mit dem wohligen Selbstbetrug, was äußerst Nützliches gekauft zu haben, quasi ein Fachbuch, eine Investition fürs Leben. Zweitens aber auch die Inhalte: Genau so soll das aussehen bei mir, beschließe ich beim Anblick von Piet Oudolfs traumhaft leichten Gräsergärten oder von Dan Pearsons Home Farm. Natürlich würde es helfen, 20 000 Quadratmeter zur Verfügung zu haben. Andererseits: Wie sonst soll man herausfinden, was einem gefällt? Was man schön findet, weiß man ja erst, wenn man es sieht. Ich blättere, klebe Post-its zwischen die Seiten, schreibe mir Pflanzennamen raus, googele nach Bezugsquellen.

Das Problem ist dabei allerdings, die Gier im Zaum zu halten. Ich lese von einer seltenen, hübschen, unkomplizierten Pflanze wie Deutzia setchuenensis var. Corymbiflora, der Sternblütigen Sichuan-Deutzie, recherchiere ein bisschen herum, stoße auf Sätze wie »wurde bereits von Édouard-François André nach einer früheren Beschreibung von Émile Lemoine beschrieben und benannt, aber erst von Alfred Rehder in die heute gültige Systematik eingeordnet« und bin sofort entflammt, vor allem, weil ich von keinem der drei offenbar bedeutenden Herren je gehört habe. Eine neue Welt! Mit neuen Helden! Weiter: »Eine Kostbarkeit aus China ist dieser feinzweigige, zart wirkende Strauch. Die kleinen weißen Blüten erscheinen in edler Zurückhaltung zwischen dem mattgrünen Laub. Ein echter Hingucker im Zusammenspiel mit Pflanzen des Halbschattens wie Farnen und Funkien.« Und natürlich will ich auf der Stelle eine Deutzia setchuenensis var. Corymbiflora besitzen (selbstverständlich erst, wenn ich es schaffe, den Namen dreimal hintereinander schnell und fehlerfrei auszusprechen).

Blöderweise ist der Erwerb feinzweigiger Sträucher in den Zeiten des Internets und des Pflanzenversands so verheerend leicht wie ein Schuhkauf bei Zalando. Ein Klick, und schon hat man einen Karton mit einem Baum vor der Tür. Ich bin da leider sehr anfällig, in diesem Jahr werde ich mich zusammenreißen müssen.

2O. Januar

Ich habe gerade ein nützliches kleines Buch für Gemüse-Neulinge gelesen, Alice Holdens Anpflanzen. Fang an mit zehn einfachen Gemüsesorten. Alles, was darin steht, ist ganz bestimmt goldrichtig. Deppensicher beginnen mit Kräutern, Salaten, Mangold, roter Bete, Zucchini – mit Gemüse also, das von Kindergartenkindern gezogen werden kann. Aber ich mag nun mal keine Zucchini, ich finde Zucchini einen Skandal. Rote Bete? Bäh. Ich will pflanzen, was ich gern esse, nur dann werde ich alles drangeben, um meine Ernte durchzubringen. Einer Zucchini würde ich im Zweifel kaltlächelnd beim Sterben zusehen.

Nachdem ich mich eine Woche lang durch die Saatenkataloge gefressen habe, beschließe ich, einfach zu bestellen, was interessant klingt und Spaß verspricht. Im Zweifel die abwegigere Option wählen, bloß nicht das, was ich genauso gut im Supermarkt kaufen kann. Also natürlich die violetten Möhren, natürlich die blauen Kartoffeln und die ‘Rote Emmalie’ und ‘La Ratte’ und ‘Angeliter Tannenzapfen’, nur des Namens wegen, und die gute alte ‘Linda’, weil die wirklich super schmeckt und außerdem mal fast von der Kartoffelindustrie weggemobbt wurde. ‘Linda’ ist ein Survivor, die muss in meinen Garten.

Dazu Borlotti-Bohnen, Zuckererbsen, Radicchio di Treviso, Fenchel, Mairübchen, Topinambur, Palmkohl. Ich habe keine Ahnung, wie Palmkohl schmeckt, ich habe nur Fotos gesehen und weiß, dass er spektakulär schön ist: eine blaugrüne Kohlfontäne, die auch gut in einer antiken Urne aussähe. Also wird er angebaut; falls er nicht schmeckt, ist er wenigstens dekorativ. Und die Minigurke Melothria, die im Katalog aussieht wie eine murmelgroße Wassermelone. Entzückend.

Ach, und Tomaten, viele, viele Tomaten. Alles, bloß keine Zucchini.

23. Januar

Die nächsten Wochen bis Ende Februar bin ich überwiegend in Hamburg, ein Bürojob, um Geld für neue Pflanzenkäufe zu generieren. Genau zur richtigen Zeit, denn im Garten kann ich jetzt ja doch nichts tun, er hält noch ein paar Wochen Winterschlaf. Ich hingegen bin hellwach und scharre innerlich mit den Hufen. Dieses Jahr meine ich es ernst, nach den Erfahrungen der ersten beiden Jahre traue ich mich jetzt wirklich an die Sache ran. Mein erstes Beet, das Wäscheleinenbeet, war noch eine Mischung von dem, was ich von meiner Dachterrasse kannte – viele Gräser und Kugeldisteln, Ziersalbei und Katzenminze –, aber auch ein gerüttelt Maß an »Au ja!«-Pflanzen, die ich einfach schön fand. Rittersporn in mehr Blautönen, als der Himmel je haben wird, Lupinen, Eisenhut, Knöterich, Wiesenknopf, Witwenblumen, Astern, Strandflieder, Blaurauten, Eisenkraut, Frauenmantel.

Es müssen gut 150 Pflanzen gewesen sein, wenn nicht mehr, die ich auf der Fläche verteilt, nach bestem Wissen arrangiert (die hohen nach hinten, für die breitwüchsigen mehr Platz), umarrangiert (nee, doch besser nicht orange neben rosa) und dann eingegraben habe.

Das meiste hat überlebt.

Die Gräser sind fast alle noch da, die Witwenblumen explodieren, das Patagonische Eisenkraut hat sich selbstständig gemacht, sät sich jedes Jahr woanders hin aus und wandert so durch den ganzen Garten. Von den zwanzig Lupinen stehen noch drei, von den zehn Ritterspornen eineinhalb, der Rest: Schneckenfraß. Die Astern haben sich als Hooligans entpuppt und meine Lieblinge, die zarten Echinacea pallida ‘Hula Dancer’, plattgemacht, und wo der Salbei ist, weiß der Himmel.