Birthday Girl - Penelope Douglas - E-Book

Birthday Girl E-Book

Penelope Douglas

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Beschreibung

Sie hat nur einen Wunsch, und er darf nicht in Erfüllung gehen.

Eine Forbidden-Love-Romance über Sehnsucht und den Mut, sich auch verbotene Wünsche zu erfüllen, um glücklich zu werden. ​Nach »Punk 57« die zweite große TikTok-Sensation der SPIEGEL-Bestsellerautorin Penelope Douglas endlich auf Deutsch!

Jordan hatte es nie leicht im Leben. Sie wurde von allen Menschen verlassen, die sie eigentlich lieben hätten sollen, und sie musste schon früh auf eigenen Beinen stehen. Tagsüber studiert sie Landschaftsarchitektur, abends kellnert sie in einer Bar, um über die Runden zu kommen. Als sie an ihrem Geburtstag (wieder einmal) allein ins Kino geht, lernt sie Pike kennen. Er ist geschieden, lebt alleine und wurde ebenfalls von allen Menschen enttäuscht, die er je geliebt hat. Jordan und Pike fühlen sich vom ersten Moment an miteinander verbunden. Doch nicht nur der Altersunterschied steht zwischen ihnen, und sie wissen, dass sie aufhören müssen, aneinander zu denken. Als Jordans Leben plötzlich in sich zusammenfällt, findet sie bei Pike überraschend Halt und sogar ein neues Zuhause. Sie fühlt sich bei ihm geborgen, und sie weiß, dass Pike für sie da ist, auch wenn er es nicht ausspricht. Sie sieht es in seinen Augen, wenn er morgens beim Frühstück sitzt. Und wenn er abends nach Hause kommt, spürt Jordan, wie ihr Herz schneller schlägt. Beide kämpfen gegen ihre aufkeimende Liebe und die körperliche Anziehung an. Bis sie es nicht mehr tun.


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Seitenzahl: 676

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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Christina Kagerer

© Penelope Douglas 2018

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Birthday Girl« bei Penelope Douglas LLC, Las Vegas 2018

© everlove, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2023

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Redaktion: Svenja Kopfmann

Covergestaltung: zero-media.net, München, nach einem Entwurf von Pink Ink Designs

Covermotiv: Pink Ink Designs und FinePic®, München

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Hinweis

Zitat

KAPITEL 1

Jordan

KAPITEL 2

Jordan

KAPITEL 3

Pike

KAPITEL 4

Jordan

KAPITEL 5

Pike

KAPITEL 6

Jordan

KAPITEL 7

Jordan

KAPITEL 8

Pike

KAPITEL 9

Jordan

KAPITEL 10

Pike

KAPITEL 11

Jordan

KAPITEL 12

Pike

KAPITEL 13

Jordan

KAPITEL 14

Pike

KAPITEL 15

Jordan

KAPITEL 16

Pike

KAPITEL 17

Jordan

KAPITEL 18

Pike

KAPITEL 19

Jordan

KAPITEL 20

Pike

KAPITEL 21

Jordan

KAPITEL 22

Jordan

KAPITEL 23

Pike

KAPITEL 24

Jordan

KAPITEL 25

Pike

KAPITEL 26

Pike

Zwei Monate später

KAPITEL 27

Pike

KAPITEL 28

Jordan

KAPITEL 29

Jordan

Ein Jahr später

EPILOG

Pike

Neun Jahre später

Playlist

Contentwarnung

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Liebe LeserInnen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Um euch das bestmögliche Leseerlebnis zu ermöglichen, findet ihr deshalb am Buchende[1] eine Contentwarnung.

Euer everlove-Team

»Wenn du erwachsen wirst, stirbt dein Herz.«

Allison Reynolds, The Breakfast Club

KAPITEL 1

Jordan

Er geht nicht ran. Das ist jetzt schon das zweite Mal in fünfzehn Minuten, dass ich ihn angerufen habe. Geschrieben habe ich ihm auch – ohne Erfolg. Ob er wohl daran denkt, um 2 Uhr hier zu sein?

Ich lege auf, und mein Blick wandert zur Uhr über der Bar. Es ist schon fast Mitternacht. Also noch zwei Stunden, bis ich offiziell Feierabend habe und mein Freund denkt, dass ich abgeholt werden muss.

Und ich dachte, es wäre eine schöne Überraschung, dass ich heute früher rauskomme.

Scheiße. Ich muss unbedingt mein Auto reparieren lassen. Ich kann mich nicht immer darauf verlassen, dass er mich abholt.

Musik schallt durch den Raum, rechts von mir lachen Gäste, und auf meiner linken Seite füllt einer der anderen Barkeeper die Eiswürfel nach.

Ein mulmiges Gefühl überkommt mich. Wenn er nicht ans Handy geht, heißt das, dass er entweder schläft oder das Handy ausgegangen ist. Beides könnte bedeuten, dass er erst wieder an mich denkt, wenn es zu spät ist. Es ist nicht so, dass er immer unzuverlässig ist, es wäre aber auch nicht das erste Mal.

Das ist wahrscheinlich das Problem daran, wenn man seinen platonischen Freund zum festen Freund macht. Er denkt immer noch, dass er mit allem davonkommt.

Ich nehme mein Oberteil und meine Unitasche aus dem Schrank unter den Zapfhähnen heraus und stecke mein Handy in die Tasche. Dann ziehe ich mir ein Flanellhemd über mein Tanktop, knöpfe es zu und stecke es mir vorne in die Hose. Für das Trinkgeld ziehe ich mich immer etwas sexy an, aber so werde ich definitiv nicht hier rausgehen.

»Wohin gehst du?«, fragt Shel und schaut mich an, während sie ein Bier nachschenkt.

Ich werfe einen Blick auf meine Chefin. Kleine Herzchen sind auf ihrem Unterarm tätowiert, und ihr schwarzes Haar mit den blonden Strähnen hat sie hochgebunden.

»Im Kino läuft eine Mitternachtsvorstellung von Evil Dead«, antworte ich, als ich die Schranktür schließe und mir den Lederriemen meiner Tasche über den Kopf ziehe. »Ich werde die Zeit totschlagen und dort auf Cole warten.«

Sie schenkt das Bier fertig ein und schaut mich an, als würde sie eine Million Dinge zu mir sagen wollen, wüsste aber nicht, wo sie anfangen soll.

Ja, ja, ich weiß.

Ich wünschte, sie würde aufhören, mich so anzusehen. Es kann gut sein, dass Cole um 2 Uhr nicht hier sein wird, wenn er jetzt nicht ans Handy geht. Das ist mir bewusst. Er könnte bei irgendeinem Freund und schon ordentlich dicht sein.

Oder er könnte zu Hause im Bett sein und sich tatsächlich den Wecker gestellt haben, um mich um 2 Uhr abzuholen. Und dabei könnte er das Handy im anderen Raum liegen gelassen haben. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, aber es ist möglich. Er hat noch zwei Stunden Zeit. Die werde ich ihm geben.

Außerdem arbeitet meine Schwester, und hier kann niemand weg, um mich nach Hause zu fahren. Heute Abend ist nicht viel los, und meine Schicht wurde früher beendet, weil ich die Einzige bin, die kein Kind durchzufüttern hat. Obwohl ich das Geld genauso dringend brauche.

Ich ziehe am Riemen meiner Tasche über meiner Schulter und fühle mich, als wäre ich sehr viel älter als achtzehn. Also neunzehn, wenn man bedenkt, was für ein Tag heute ist.

Ich hole tief Luft und schiebe die Sorgen für heute Nacht beiseite. Viele Leute in meinem Alter haben Geldprobleme, können Rechnungen nicht zahlen und müssen sich auf Mitfahrgelegenheiten verlassen. Ich weiß, es ist zu viel verlangt, sein Leben jetzt schon im Griff zu haben, aber trotzdem ist es mir peinlich. Ich hasse es, hilflos zu sein.

Und Cole kann ich auch keine Schuld geben. Es war meine Entscheidung, ihm den Rest meines Studiendarlehens zu geben, damit er sein Auto reparieren lassen kann. Es gab auch Zeiten, in denen er für mich da war. Eine Hand wäscht die andere.

Als ich mich umdrehe, stellt Shel gerade das Bier vor Grady ab – einer der Stammgäste – und nimmt sein Geld entgegen. Sie geht zur Kasse und wirft mir noch einen Blick zu. »Du hast kein Auto«, sagt sie. »Und draußen ist es dunkel. Du kannst nicht zum Kino laufen. Mädchenhändler warten nur auf heiße Teenagermädchen mit blonden Haaren.«

Ich schnaube. »Du musst aufhören, dir Lifetime Movies anzuschauen.«

Zwar sind durchaus ein paar größere Städte in der Nähe, und Chicago liegt auch nur ein paar Stunden entfernt, aber wir befinden uns immer noch mitten im Nirgendwo.

Ich hebe die Absperrung zum Tresenbereich hoch und komme hinter der Bar hervor. »Das Kino ist nur einen Block entfernt«, erwidere ich. »Wenn ich renne, bin ich in zehn Sekunden da.«

Ich klopfe Grady auf den Rücken, als ich gehe, und das graue Haar seines Pferdeschwanzes wippt, als er sich umdreht und mir zuzwinkert. »Mach’s gut, Kleine«, sagt er.

»Gute Nacht.«

»Jordan, warte«, ruft Shel hinter der Jukebox hervor, und ich drehe meinen Kopf in ihre Richtung.

Ich beobachte, wie sie eine Schachtel aus der Kühlung hervorholt und sie mir zusammen mit einer Flasche Wein über die Bar zuschiebt.

»Alles Gute zum Geburtstag.« Sie grinst, als wüsste sie, dass ich dachte, sie hätte es vergessen.

Ich lächle und öffne die kleine Schachtel, in der sich sechs Donuts befinden.

»Das war alles, was ich in der Eile besorgen konnte«, erklärt sie mir.

Hey, es ist Kuchen. Na ja, fast. Ich werde mich auf jeden Fall nicht beschweren.

Ich schließe die Schachtel wieder, öffne meine Tasche und verstecke meine Beute – inklusive Wein – darin. Zugegeben, ich habe nicht erwartet, dass mir jemand etwas schenkt, aber es freut mich trotzdem, dass jemand an mich gedacht hat. Meine Schwester Cam wird mich, wenn wir uns morgen sehen, bestimmt mit einem schönen Oberteil oder einem Paar hübscher Ohrringe überraschen. Und mein Dad wird mich wahrscheinlich diese Woche irgendwann anrufen.

Shel weiß, wie sie mich zum Lachen bringen kann. Ich bin alt genug, in einer Bar zu arbeiten, aber nicht alt genug, um Alkohol zu trinken. Mir eine Flasche Wein zuzustecken, die ich außerhalb der Bar genießen kann, macht meine Nacht zu einem kleinen Abenteuer.

»Danke«, sage ich, lehne mich über die Bar und gebe ihr einen dicken Schmatzer auf die Wange.

»Pass auf dich auf«, sagt sie.

Ich nicke, drehe mich um und trete durch die Holztür nach draußen auf den Gehweg.

Als die Tür hinter mir zufällt, ist die Musik dahinter nur noch ein gedämpftes Dröhnen. Meine Brust senkt sich, als ich den Atem freilasse, den ich – ohne es zu merken – die ganze Zeit angehalten habe.

Ich habe sie wirklich lieb, aber ich wünschte, sie würde sich nicht solche Sorgen um mich machen. Sie sieht mich immer an, als wäre sie meine Mom und würde alles für mich hinbiegen wollen.

Ich hätte mich wirklich glücklich schätzen können, eine Mutter wie sie zu haben.

Frische Luft hüllt mich ein, die Kühle der Nacht erzeugt Gänsehaut auf meinen Armen, und der angenehme Duft von Maiblumen dringt in meine Nase. Ich lege den Kopf zurück, schließe die Augen und atme tief ein, während mein langer Pony in der leichten Brise meine Wangen kitzelt.

Die warmen Sommernächte sind im Anmarsch.

Ich öffne die Augen, blicke nach links und rechts und sehe, dass die Gehwege leer sind, aber Autos immer noch beide Straßenränder säumen. Der Parkplatz des Seniorenzentrums ist ebenfalls voll. Die Bingo-Abende hier verwandeln sich später immer in Barnächte, und anscheinend sind die älteren Herrschaften immer noch gut dabei.

Ich drehe mich nach links, ziehe den Haargummi aus meinem Haar, lasse die Locken fallen und stülpe mir den Haargummi über das Handgelenk, als ich loslaufe.

Die Nacht fühlt sich gut an, auch wenn es draußen noch ein bisschen kalt ist. Aus jeder Ecke und Nische strömt der Geruch von Alkohol in meine Nase.

Für meinen Geschmack viel zu viel Lärm – und auch viel zu viele Augen.

Ich werde schneller und freue mich darauf, für eine Weile im dunklen Kino untertauchen zu können. Normalerweise gehe ich nicht allein ins Kino, aber wenn sie einen älteren Streifen aus den Achtzigern wie Evil Dead zeigen, dann bleibt mir nichts anderes übrig. Cole steht total auf Special Effects und traut keinen Filmen, die vor 1995 gedreht wurden.

Ich muss grinsen, als ich an seine Eigenheiten denke. Er weiß ja gar nicht, was er verpasst. Die Achtziger waren fantastisch. Ein ganzes Jahrzehnt voller Spaß pur. Nicht alles musste eine tiefere Bedeutung haben.

Für mich ist das eine willkommene Ablenkung, vor allem heute Nacht.

Schließlich laufe ich um eine Ecke und komme zum Kartenschalter. Ich bin ein paar Minuten zu früh. Perfekt! Ich hasse es nämlich, die Vorschau am Anfang zu verpassen.

»Eine bitte«, sage ich zu der Kassiererin.

Ich fische das Trinkgeld, das ich heute Abend bekommen habe, aus meiner Tasche und zähle die sieben Dollar fünfzig für das Ticket ab. Nicht, dass ich Geld zum Ausgeben hätte, vor allem nicht angesichts der Tatsache, dass die Miete bevorsteht und sich diverse Rechnungen auf dem Schreibtisch in Coles und meiner Wohnung stapeln, die wir noch nicht zahlen können. Aber sieben Dollar werden mich nicht in den Ruin treiben.

Außerdem habe ich heute Geburtstag …

Ich gehe an dem Getränkestand vorbei auf eine Doppeltür zu. Es gibt nur einen Kinosaal, und überraschenderweise hat dieses Kino seit sechzig Jahren überlebt, obwohl in den umliegenden Städten größere Kinos mit zwölf Sälen entstanden sind. Das Grand musste entsprechend kreativ werden und setzt auf Mitternachtsvorstellungen von alten Klassikern wie heute, veranstaltet aber auch Events und private Partys. Ich komme nicht oft hierher, da ich mit dem Studium und meinem Job genug zu tun habe. Das Kino ist aber ein schöner, dunkler Ort und somit perfekt, wenn man sich für eine Weile verlieren will. Privat und ruhig.

Ich trete durch die Tür, schaue noch mal auf mein Handy, um zu sehen, ob Cole angerufen oder geschrieben hat, und mache dann den Ton aus, bevor ich das Telefon wieder in die Tasche stecke.

Auf dem Bildschirm läuft Werbung, aber das Licht ist immer noch an. Schnell lasse ich den Blick durch den Saal schweifen und sehe ein paar einsame Gestalten in den Sitzen. In der hinteren Reihe rechts von mir sitzt ein Pärchen, und in der Mitte sehe ich eine Gruppe von Jungs – dem Klang ihres unangebracht lauten Gelächters nach zu urteilen, sind sie noch ziemlich jung. Von den ungefähr dreihundert Plätzen sind immer noch zweihundertfünfundachtzig frei, und ich kann mir einen Platz aussuchen.

Ich gehe fünf oder sechs Reihen nach vorne und setze mich in der Mitte auf einen freien Sitz. Dort stelle ich meine Tasche auf den Boden, hole leise die lila Tüte mit der Flasche Wein heraus und lese das Etikett in dem schummrigen Licht.

Merlot. Ich hatte gehofft, es wäre Weißwein, aber wahrscheinlich muss Shel dieses Zeug loswerden. Diesen Wein servieren wir nur, wenn es eine Veranstaltung im Freien gibt, bei der wir keine Gläser draußen haben wollen.

Ich schraube den Deckel auf und rieche daran. Aber ich kann keines dieser edlen Aromen ausmachen, die Sommeliers immer beim Wein entdecken. Kein Anzeichen von »kräftigem Aroma mit süßen Kirschen« oder Ähnliches. Ich klappe das Tischchen vor mir herunter, nutze es aus, dass die Reihe vor mir leer ist, und stelle meine Füße zwischen den leeren Sitzen auf den Armlehnen ab.

Ich stelle die Flasche wieder ab, hole mein Handy aus der Tasche – für den Fall, dass Cole anruft – und lege es auf das Tischchen neben den Wein.

Blöderweise fällt es mir herunter, zwischen meine Beine auf den Boden. Schnell presse ich die Knie zusammen, um es aufzufangen, wobei ich gegen das Tischchen stoße. Und schon segelt die offene Weinflasche zu Boden.

Ich schnappe nach Luft. »Scheiße!«, rufe ich leise.

So ein Mist.

Ich stelle meine Füße wieder auf den Boden, klappe das Tischchen hoch und bücke mich, um nach meinem Handy zu suchen. Meine Finger tauchen in den verschütteten Wein, und ich zucke zusammen, als ich merke, was für ein Chaos ich angerichtet habe. Als ich einen Blick über die Sitze vor mir werfe, sehe ich, dass der Wein auf eine Gruppe von drei Kerlen ein paar Reihen weiter unten zuläuft.

Ich stöhne auf. Klasse, einfach klasse.

Ein leichter Schweißfilm bildet sich auf meiner Stirn. Ich stehe auf, ziehe meinen Schal aus der Tasche und trockne mir daran die Finger ab. Ich bin nicht gerade begeistert, meinen Schal zu ruinieren, aber ich habe keine Taschentücher dabei.

Was für ein Schlamassel.

So viel dazu, ein paar Stunden der Realität zu entfliehen.

Ich blicke mich nach einem Platzanweiser mit einer Taschenlampe um, obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass sie so jemanden hier nicht beschäftigen – schon gar nicht um diese Uhrzeit. Das einzige Licht, das ich demnach habe, ist die Taschenlampe meines Handys, das irgendwo auf dem stockdunklen Fußboden liegt.

Als ich niemanden sehe, stecke ich meinen Schal in die Tasche und gehe in die nächste Reihe. Dort bücke ich mich, schaue unter die Sitze und taste nach meinem Handy. Als ich nichts finde, gehe ich in die nächste Reihe und dann in die nächste. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich gehört habe, wie es vor mir runtergefallen ist. Da die Reihen steil nach unten gehen, könnte es weit gefallen sein. Verdammt.

In der nächsten Reihe stelle ich meine Tasche ab, gehe auf alle viere und schaue unter die Sitze links und rechts von mir, während ich mit den Händen den Boden abtaste. Vor mir sitzt ein Paar langer Beine in einer Jeans, und als ich aufblicke, sehe ich einen Mann, der gerade dabei ist, sich eine Handvoll Popcorn in den Mund zu stecken. Er starrt mich mit gerunzelter Stirn an.

»Tut mir leid«, flüstere ich und streiche mir das Haar hinter die Ohren. »Ich habe mein Getränk fallen lassen, und gleichzeitig ist mir mein Handy weggerutscht, und das muss jetzt hier irgendwo liegen. Würden Sie vielleicht …?«

Er zögert einen Moment, blinzelt und richtet sich dann auf. »Ja klar.« Er klappt sein Tischchen hoch, steht auf und holt etwas aus seiner Tasche. »Mal schauen.«

Er schaltet die Taschenlampe seines Handys ein und leuchtet damit unter die Sitze.

Sofort sehe ich mein Handy unter dem Sitz neben ihm und hebe es auf. Gott sei Dank. Wir stehen beide auf, und meine Schultern entspannen sich. Ich kann mir momentan wirklich kein kaputtes Handy leisten und fahre mit meinen Fingern über das Display, um sicherzugehen, dass es keinen Sprung hat.

»Haben Sie es?«, fragt er.

»Ja, danke.«

Er macht seine Taschenlampe aus, fährt aber mit seinen Fingern über mein Handy und hält sie dann an seine Nase, um daran zu riechen.

»Ist das …« Er zuckt zusammen. »Wein?«

Ich schaue auf den Boden und sehe, dass der Wein sich seinen Weg bis zu ihm gebahnt hat und er jetzt mittendrin steht.

»O Mann!« Ich schaue zu ihm auf. »Es tut mir so leid. Der ist ja überall!«

»Nein, nein, ist schon gut.« Er lacht leise, und seine Mundwinkel verziehen sich zu einem Lächeln, als er aus der Pfütze tritt. »Ich wusste nur nicht, dass sie hier Alkohol verkaufen.«

Ich nehme meinen Schal und wische damit mein Handy ab. »Tun sie auch nicht«, erwidere ich leise, damit ich die anderen Leute im Kino nicht störe. »Ich habe gerade Feierabend gemacht, und meine Chefin hat mir den Wein mitgegeben, um … ähm …« Ich schüttle den Kopf und ringe nach Worten. »… um zu feiern.«

»Feiern?«

»Pst«, zischt jemand.

Wir schauen den Kerl eine Reihe weiter hinten ganz rechts an, der uns einen bitterbösen Blick zuwirft. Weder die Vorschauen noch der Film haben begonnen, und wir verdecken ihm nicht mal die Sicht, aber anscheinend stören wir ihn trotzdem. Ich gehe zu meiner Tasche zurück.

Der Mann, der mir geholfen hat, nimmt sein Getränk und sein Popcorn und folgt mir. Dabei steigt mir der Duft seines Duschgels in die Nase. »Ich werde nur etwas rüberrutschen – raus aus dieser Sauerei«, sagt er.

Er setzt sich ein paar Plätze weiter hin, schaut erst mich an und dann zurück zu dem Platz, auf dem ich vorhin gesessen habe, als ich den Wein verschüttet und das Handy fallen gelassen habe. »Sie können sich gerne zu mir setzen.« Er deutet auf den Platz neben sich. Offensichtlich hat er realisiert, dass ich auch alleine hier bin.

»Danke, ich werde einfach …« Ich beende den Satz nicht, sondern nehme meine Tasche und will mich gerade umdrehen, um zu meinem eigenen Platz zurückzugehen, als ich sehe, wie ein Kerl mit einem Mädchen den Kinosaal betritt. Ich erstarre mitten in der Bewegung und beobachte, wie sie nach links in die letzte Reihe gehen und sich auf der anderen Seite des Saals in ihre Sitze fallen lassen.

Scheiße.

Jay McCabe. Der einzige andere Freund, den ich außer Cole je hatte. Und er lässt Cole wie den reinsten Prinzen aussehen. Leider zieht er mich immer noch bei jeder Gelegenheit, die sich ihm bietet, auf. Auf keinen Fall werde ich mich heute Nacht mit ihm rumschlagen!

»Alles in Ordnung?«, fragt der Kerl mit der Handytaschenlampe, als ich mich nicht bewege. »Ich verspreche, Sie nicht anzumachen. Sie sind eh zu alt für mich.«

Ich werfe ihm einen erstaunten Blick zu und vergesse Jay und seine Freundin für einen Moment. Zu alt für ihn? Wie bitte? Ich mustere ihn: ungefähr ein Meter achtzig groß, Muskeln, die sich unter seinem T-Shirt abzeichnen, und Tätowierungen auf dem rechten Unterarm, die sich bis unter den Ärmel ziehen. In der Bar habe ich schon viele Typen gesehen, und er sieht definitiv nicht aus wie neunzehn, zumindest nicht wie die Neunzehnjährigen, die mir bisher über den Weg gelaufen sind.

Er muss mindestens dreißig Jahre alt sein.

Er prustet los. »Das war nur ein Scherz«, sagt er, und sein Mund verzieht sich zu einem breiten Lächeln, das meine Gesichtszüge etwas entspannen lässt. »Wenn Sie den Film nicht alleine anschauen wollen, können Sie sich gerne neben mich setzen. Das ist alles, was ich sagen wollte.«

Ich sehe zu Jay und seine Begleitung rüber, aber dann kommt plötzlich eine Gruppe von Typen durch die Tür und macht dabei einen Riesenlärm. Ich sehe, dass Jay von dem Mädchen weg und in die Richtung schaut, aus der der Lärm kommt. Um sicherzugehen, dass Jay mich nicht sieht, lasse ich mich instinktiv auf den Sitz neben dem Mann fallen.

»Danke.«

Ich spüre die Gegenwart meines Ex-Freundes im Kino, und die alten Erinnerungen kommen wieder hoch. Ich erinnere mich daran, wie er mir einmal das Gefühl vermittelt hat, ihm gegenüber völlig hilflos zu sein.

Dabei will ich doch nur einen Abend nicht über alles nachdenken müssen.

Ich lehne mich zurück und versuche, mich zu entspannen, aber dann sehe ich im Augenwinkel den Mann neben mir sitzen, den ich überhaupt nicht kenne, und werde mir seiner Nähe plötzlich nur allzu sehr bewusst.

Ich drehe meinen Kopf zu ihm und schaue ihn fragend an. »Sie sind kein Serienmörder, oder?«

Er runzelt die Stirn und blickt mich an. »Sind Sie einer?«

»Serienmörder sind normalerweise asoziale, weiße Männer.«

Ein gut aussehender Mann alleine im Kino? Hmmm …

Er zieht eine Augenbraue nach oben. »Und sie sehen aus wie jeder andere«, fügt er mit skeptischer Stimme hinzu, während er mich von oben bis unten mustert.

Das Licht der Werbung auf der Leinwand spiegelt sich in seinen Augen, und keiner von uns blinzelt.

Doch dann kann ich ein Lachen nicht mehr zurückhalten und strecke ihm meine Hand entgegen. »Ich bin Jordan. Tut mir leid wegen dem Wein.«

»Jordan?«, wiederholt er und nimmt meine Hand. »Ein untypischer Name für ein Mädchen.«

»Nicht wirklich.« Ich entspanne mich in meinem Sitz, verschränke die Arme vor der Brust, ziehe meine Knie an und lege meine Füße in den Spalt zwischen die zwei leeren Sitze vor mir. »Das war der Name von Tom Cruises Geliebter in Cocktail. Erinnern Sie sich?«

Er runzelt fragend die Stirn.

»Cocktail?«, wiederhole ich. »Ein Film von 1988 über einen Barkeeper?«

»Ach ja, richtig.« Aber dabei schaut er mich so unsicher an, dass ich nicht weiß, ob ihm klar ist, wovon ich eigentlich rede.

»Mögen Sie Filme aus den Achtzigern?«, frage ich und deute auf die Leinwand vor uns.

»Ich mag Gruselfilme«, stellt er klar und hält mir das Popcorn entgegen. »Und der hier ist ein Klassiker. Und Sie?«

»Ich liebe die Achtziger.« Ich nehme mir eine Handvoll und stecke mir eins in den Mund. »Mein Freund hasst meinen Film- und Musikgeschmack, aber ich kann einfach nicht anders. Ich gehe immer hierher, wenn sie einen Film aus diesem Jahrzehnt zeigen.«

Ich komme mir etwas seltsam vor, weil ich meinen Freund erwähnt habe, aber ich will keinen falschen Eindruck erwecken. Schnell schaue ich auf seine linke Hand und stelle erleichtert fest, dass er keinen Ehering trägt. Es wäre falsch gewesen, hier mit einem verheirateten Mann zu sitzen.

Aber er blickt mich nur wissend an. »Breakfast Club ist Ihr Lieblingsfilm, stimmt’s?«, fragt er. »Und jeder andere von John Hughes?«

»Haben Sie etwas gegen Breakfast Club?«

»Nicht die ersten zehn Male, die ich ihn gesehen habe.«

Ich muss grinsen. Er hat recht, er läuft wirklich oft im Fernsehen.

Dann beugt er sich vor. »Die Achtziger waren das Jahrzehnt der Actionhelden«, sagt er mit leiser und tiefer Stimme. »Das vergessen die Leute immer. Lethal Weapon, Stirb Langsam, Terminator, Rambo …«

»Jean-Claude Van Damme«, sage ich.

»Genau.«

Ich beiße mir auf die Lippe, um nicht zu lachen, aber mein Magen verkrampft sich trotzdem, und ich pruste los.

Er sieht mich fragend an. »Worüber lachen Sie?«

»Nichts«, antworte ich schnell und nicke. »Van Damme. Ein toller Schauspieler. Mit vielen bedeutenden Filmen.«

Aber ich kann mir das Lachen nicht verkneifen, und er runzelt die Stirn, weil er weiß, dass ich Blödsinn rede.

Da höre ich hinter mir ein Kichern, und als ich mich umdrehe, sehe ich, wie Jay die Leinwand völlig ignoriert und stattdessen heftig mit dem Mädchen rumknutscht.

»Kennen Sie sie?«, fragt mich der Mann neben mir.

Ich schüttle den Kopf. Das geht ihn nichts an.

Wir werden leise, und ich esse das Popcorn in meiner Hand auf. Ich lege den Kopf in den Nacken und betrachte die hohe Decke und die antiken Goldbögen über mir. Er sitzt neben mir, und ich atme langsam ein und aus, während mein Puls rast.

Warum bin ich nervös? Ist es wegen Jay?

Ziemlich sicher nicht. Momentan denke ich nicht mal an ihn.

Die Leute um uns herum unterhalten sich und warten darauf, dass der Film beginnt, aber ich kann nicht verstehen, was sie sagen – und es interessiert mich auch nicht wirklich. Meine Haut fühlt sich warm an.

»Was studieren Sie denn an der Doral State?«, fragt er.

Ich schaue ihn überrascht an. Er weiß, auf welche Uni ich gehe?

Serienmörder.

Aber dann deutet er auf meine Tasche auf dem Boden, und ich sehe den Schlüsselanhänger mit dem Emblem der Uni heraushängen.

Ah, stimmt ja.

Ich richte mich auf. »Landschaftsdesign«, sage ich. »Ich will Plätze im Freien schöner machen.«

»Klingt gut. Ich arbeite in der Baubranche.«

Ich lächle ihn halbherzig an. »Dann machen Sie also Plätze im Innern schöner.«

»Nein, nicht wirklich.«

Ich muss wegen dem tristen Klang seiner Stimme lachen, als wäre er gelangweilt von dem, was er tut.

»Ich mache sie praktischer«, korrigiert er mich.

Dabei schaut er mich mit seinen braunen Augen warm und eindringlich an, bevor sein Blick für einen kurzen Moment auf meinen Mund fällt. Sofort kribbelt es in meinem Bauch. Schnell schaut er wieder weg, und auch ich wende meinen Blick von ihm ab und versuche, langsam zu atmen.

Ich räuspere mich, bücke mich und hole die Schachtel mit den Donuts aus meiner Tasche. Ich stelle sie auf das Tischchen vor mir und öffne sie. Sofort strömt mir der süße Duft in die Nase, und mein Magen knurrt. Ich blicke zum Projektionsfenster zurück. Ob der Film wohl bald beginnt? Dafür habe ich mir die Donuts nämlich eigentlich aufgehoben. Aber jetzt bin ich wirklich kurz vorm Verhungern.

Ich spüre den Blick des Mannes auf mir und schaue ihn an. »Ich habe heute Geburtstag«, erkläre ich. »Meine Chefin hat mir deshalb die hier und den Wein geschenkt, weil sie keinen Kuchen bekommen hat.«

Ich nehme einen heraus und lehne mich zurück, bevor ich meine Füße wieder auf die Armlehne vor mir lege.

»Essen Sie alle sechs Donuts?«, fragt er.

Ich halte zwei Zentimeter vor meinem Mund in der Bewegung inne und starre ihn an. »Finden Sie das etwa ekelerregend oder so?«

»Nein, ich frage mich nur, ob ich auch einen bekomme.«

Ich grinse und gebe ihm mit einer Handbewegung Richtung Schachtel zu verstehen, dass er sich bedienen kann.

Er nimmt den mit dem einfachen Zuckerguss. Ob er das wohl tut, weil er eher der bodenständige Typ ist oder weil er mir die Donuts mit den bunten Streuseln lassen möchte? Beides fände ich irgendwie nett. Wir lehnen uns zurück und essen schweigsam.

Und ich kann mich einfach nicht davon abhalten, ihm immer wieder verstohlene Blicke zuzuwerfen. Sein braunes Haar ist hell, und seine Augen sehen mal blau, grün oder braun aus, je nachdem, welches Licht gerade über die Leinwand flackert. Sein ovales Gesicht ist von Bartstoppeln überzogen, und er hat eine markante Nase. Ich verfolge mit meinem Blick, wie sich sein kantiges Kinn beim Kauen bewegt. Um seine Augen herum kann ich ganz feine Fältchen erkennen, was bedeutet, dass er wahrscheinlich schon älter als dreißig ist, aber er könnte auch einfach nur die ganze Zeit in der Sonne arbeiten. Er ist groß, stark, fit und braun gebrannt, und …

Plötzlich fällt sein Blick auf mich, als ob er spürt, dass ich ihn gerade eingehend mustere.

Schnell schaue ich nach vorn zur Leinwand. Verdammt.

Das ist schon okay, oder? Es ist normal, andere Leute attraktiv zu finden. So was kommt vor. Scarlett Johansson ist zum Beispiel attraktiv. Das heißt aber nicht, dass ich an ihr interessiert bin.

Ich nehme einen weiteren Bissen von meinem Donut, und mein Blick wandert wieder zur Seite auf seine Arme mit den verschiedenen Tattoos. Schwarze Zahnräder und Schrauben wie bei einem Roboterskelett, ein paar Tribals, die mir verraten, dass er definitiv ein Kind der Neunziger war, und etwas, das aussieht wie eine Taschenuhr, die versucht, sich aus seiner Haut zu befreien. Die Tattoos scheinen kein bestimmtes Thema zu haben, aber sind wunderschön gestochen. Welche Geschichte wohl hinter ihnen steckt?

Ich beiße noch mal in meinen Donut, und der rosa Zuckerguss und die bunten Streusel verursachen ein angenehm fast schon elektrisierendes Gefühl an meinem Gaumen, weswegen ich am liebsten das ganze Ding auf einmal in den Mund nehmen würde.

»Ich stehe ja wirklich auf Bauchmuskeln«, sage ich kauend, »aber die sind einfach zu gut.«

Er lacht laut auf und schaut mich kopfschüttelnd an.

»Was?«

»Nichts. Sie sind nur …« Er schaut weg, als suche er nach den richtigen Worten. »Sie sind irgendwie … interessant … oder so.« Er schüttelt wieder den Kopf. »Tut mir leid, ich weiß nicht, was ich meine.« Und dann ruft er, als wäre es ihm gerade eingefallen: »Niedlich. Sie sind niedlich.«

Mein Magen macht einen Satz, und meine Wangen werden warm, als wäre ich wieder in der fünften Klasse, als es noch ein Kompliment war, wenn ein Junge dich niedlich findet. Ich weiß, dass er meine Persönlichkeit meint und nicht mein Aussehen, aber irgendwie gefällt mir das.

Er isst seinen Donut auf und nimmt einen Schluck von seinem Getränk. »Wie alt sind Sie?«, fragt er. »Dreiundzwanzig? Vierundzwanzig?«

»Ja, irgendwann mal.«

Er muss erneut lachen.

»Neunzehn«, antworte ich schließlich.

Er holt tief Luft und seufzt, während sein Blick in die Ferne schweift.

»Was?« Ich nehme den letzten Bissen von meinem Donut und reibe meine Hände aneinander. Dann lehne ich meinen Kopf wieder zurück an die Sitzlehne.

»Noch mal so jung zu sein«, sinniert er. »Es kommt mir wie gestern vor.«

So alt ist er jetzt auch wieder nicht, oder? Neunzehn Jahre können noch nicht allzu lange her sein bei ihm. Zehn Jahre? Vielleicht zwölf?

»Würden Sie denn was anders machen, wenn Sie noch mal in dem Alter sein könnten?«, frage ich ihn.

Er verzieht seine Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen und schaut mich dann ernst an. »Ich gebe Ihnen jetzt mal einen kleinen Ratschlag, okay?«

Ich höre ihm gespannt zu und lasse ihn dabei nicht aus den Augen.

»Starten Sie immer mit voller Kraft durch?«

Hä?

Offensichtlich sieht er an meinem Blick, wie verwirrt ich bin, denn er fährt fort: »Die Zeit rast an einem vorbei«, sagt er. »Und Angst gibt einem all die Ausreden, die man sucht, um die Dinge nicht zu tun, die man eigentlich tun sollte. Zweifeln Sie nicht an sich selbst, hinterfragen Sie sich nicht, lassen Sie sich nicht von Ihrer Angst zurückhalten, seien Sie nicht faul und treffen Sie keine Entscheidungen basierend darauf, wie zufrieden andere damit wären. Trauen Sie sich einfach, okay?«

Ich starre ihn an, unfähig, irgendwas anderes zu tun. Ich würde gerne lächeln, denn mein Herz schwillt gerade an, was sich wirklich gut anfühlt. Gleichzeitig spüre ich aber auch etwas in mir, das ich nicht richtig einordnen kann. Es ist, als überfluteten mich ein Dutzend Emotionen auf einmal. Und alles, was ich tun kann, ist, in kurzen, knappen Zügen einzuatmen.

»Okay«, flüstere ich.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich das, was er gesagt hat, hören wollte oder musste, aber ich spüre, wie sich meine Schultern etwas straffen und mein Kinn sich bereits nach vorne reckt. Keine Ahnung, wie lange es anhält, aber ich bin gerade etwas mutiger geworden, und er ist mein neuer Held.

Ich beobachte, wie er eine kleine Schachtel hervorzieht, ein Streichholz anzündet und es schließlich in einen der Donuts steckt. Der rosa Zuckerguss, nach dem Shel gefragt hat, weil sie weiß, dass es meine Lieblingsfarbe ist, glänzt hell in der kleinen Flamme. Mir wird warm ums Herz.

Ich nehme die Füße runter, beuge mich vor, schließe die Augen und frage mich selbst, was ich will, bevor ich die Flamme auspuste.

Aber ich habe mir nicht das Übliche gewünscht. Mein Kopf ist plötzlich ganz leer, und mir fällt nichts mehr ein, was ich außerhalb dieses Kinos brauche oder will. Ich kann nur an eins denken.

Wir lehnen uns beide zurück und essen noch einen Donut, als die Lichter endlich ausgehen und der Filmsound von beiden Seiten des Saals ertönt.

Die nächsten neunzig Minuten essen und lachen wir, und ich verstecke ein paarmal mein Gesicht, wenn ich weiß, was gleich kommt. Hier und da zucke ich zusammen und muss lachen, als er ebenfalls vor Schreck zusammenzuckt, was ihm peinlich zu sein scheint. Nach einer Weile bemerke ich, dass mein Kopf in seine Richtung geneigt ist, und er hat seinen Fuß auf dem leeren Sitz vor uns liegen, während sein Kopf ebenfalls zurückgelehnt ist. Wir haben es uns beide total gemütlich gemacht, und es ist mir nicht mal in den Sinn gekommen, eine gewisse Distanz zu wahren.

Ich sehe mir nicht oft Filme mit anderen Menschen an. Ich bin es nicht gewohnt, still neben jemand anderem zu sitzen. Coles und meine Terminpläne passen nicht immer zusammen, und meine Schwester Cam hat eigentlich gar keine Freizeit mehr. Die meisten meiner Freundschaften aus der Highschool haben den Abschluss nicht überdauert. Es ist schön, einfach nur abzuhängen.

Schließlich startet der Abspann, und ich glaube nicht, dass ich mich an viel von dem Film erinnern kann. Aber ich war schon lange nicht mehr so entspannt. Ich habe gelacht und gegrinst, Witze gemacht und alles vergessen, was da draußen vor sich geht. Und das habe ich gebraucht. Ich will noch gar nicht wirklich nach Hause.

Das Licht geht an, und langsam richte ich mich auf und stelle die Füße wieder auf den Boden, während ich den Kloß in meinem Hals hinunterschlucke und ihn anschaue. Er folgt meinem Beispiel, blickt mir aber nicht in die Augen.

Ich stehe auf, hänge mir meine Tasche über die Schulter und hebe meinen Müll auf.

»In ein paar Wochen kommt Poltergeist.« Er steht auf und nimmt seinen Müll. »Wenn ich Sie wiedersehe, werde ich mir einen Platz in den hinteren Reihen suchen.«

Ich muss lachen und denke an den Wein. Als wir die Reihe verlassen und in Richtung Ausgang gehen, fällt mir auf, dass Jay und sein Date nicht mehr auf ihren Plätzen sitzen. Sie müssen früher gegangen sein, aber ehrlich gesagt, habe ich schon lange vergessen, dass sie überhaupt hier waren.

Poltergeist. Ist das seine Art, mich beiläufig zu fragen, ob ich auch kommen möchte?

Aber nein, er weiß, dass ich einen Freund habe.

Allerdings kann ich mir nicht verkneifen, mich zu fragen, ob ich wiederkommen würde, falls Cole und ich aus irgendeinem Grund in einem Monat nicht mehr zusammen wären.

Ich blinzele mehrmals, und Schuldgefühle übermannen mich, als ich den Gang hochgehe. Wahrscheinlich würde ich kommen. Es gibt nicht viele interessante Männer in der Stadt, und ich hatte heute Spaß. Dieser Typ ist interessant.

Und gut aussehend.

Und er hat einen Job.

Ich sollte ihn mit meiner älteren Schwester verkuppeln. Mir ist es sowieso ein Rätsel, wie er es die ganze Zeit geschafft hat, nicht auf ihrem Radar aufzutauchen.

Wir verlassen als Letzte den Kinosaal. In der Lobby bleiben wir stehen und werfen unseren Abfall weg.

Ich blicke zu ihm auf, und mein Herz macht einen Sprung, als ich ihn in hellem Licht und in voller Größe vor mir stehen sehe. Braune Augen. Er hat definitiv braune Augen. Aber grüner um die Iris herum.

Sein Haar ist nur wenig gestylt und gerade lang genug, um mit den Fingern durchfahren zu können. Mein Blick fällt auf seinen weichen, braun gebrannten Hals. Ich kann allerdings nicht sehen, ob er unter dem Kragen seines T-Shirts auch so braun ist. Oder am restlichen Körper. Wie auf Kommando erscheint ein Bild von ihm oben ohne beim Holzhacken vor meinem inneren Auge, und ich …

Schnell schließe ich die Augen und schüttle den Kopf.

Ja, okay …

»Ähm, ich gehe jetzt besser zurück.« Ich ziehe meine Tasche fester an mich. »Hoffentlich wartet mein Freund mittlerweile in der Bar, um mich abzuholen.«

»Bar?«

»Das Grounders?«, sage ich. Denn den Laden kennt er mit Sicherheit. Es ist nur eine von drei Bars in der Stadt, auch wenn viele das Poor Red’s oder den Stripclub der Kneipe vorziehen, in der ich arbeite. »Ich hatte heute unerwartet früher Feierabend, aber er muss mich heimfahren, und ich konnte ihn nicht erreichen. Aber jetzt ist er bestimmt da.«

Er hält mir die Tür auf, als wir das Kino verlassen, und folgt mir nach draußen.

»Ich hoffe, Sie hatten einen schönen Geburtstag, obwohl Sie arbeiten mussten«, sagt er.

Ich drehe mich nach rechts, wo sich das Grounders befindet, während er sich nach links wendet.

»Danke für die Gesellschaft, ich hoffe, ich habe den Film für Sie nicht ruiniert.«

Sein Blick ruht einen Moment lang auf mir, und er atmet schwer ein, als er mich gequält ansieht. Schließlich schüttelt er den Kopf und wendet den Blick ab. »Überhaupt nicht«, sagt er.

Wir schweigen einen Augenblick und gehen langsam auseinander, ohne dass wir uns voneinander abwenden.

Das Schweigen wird länger, die Distanz weiter, und schließlich hebt er eine Hand und winkt mir zu, bevor er beide Hände in die Hosentaschen steckt. »Gute Nacht«, sagt er.

Ich starre ihn einfach nur an. Ja, gute Nacht.

Dann drehe ich mich um und spüre, wie mein Magen sich zusammenzieht.

Ich weiß nicht mal, wie er heißt. Es wäre nett gewesen, ihn begrüßen zu können, falls ich ihm mal wieder über den Weg laufe.

Aber ich habe keine Zeit, mich weiter damit zu befassen, weil mein Handy genau in dem Moment klingelt. Als ich es aus der Tasche hole, sehe ich Coles Name auf dem Display.

Ich bleibe stehen und gehe ran. »Hey, bist du im Grounders?«, frage ich ihn. »Ich bin gleich da.«

Aber er sagt nichts, und ich rufe seinen Namen. »Cole? Bist du dran?«

Nichts.

»Cole?«, sage ich lauter.

Aber die Leitung ist tot. Ich will ihn gerade zurückrufen, als ich hinter mir eine Stimme höre.

»Ihr Freund heißt Cole?«, fragt der Mann aus dem Kino. »Cole Lawson?«

Ich drehe mich um und sehe, dass er langsam auf mich zukommt.

»Ja«, sage ich. »Kennen Sie ihn?«

Er zögert einen Moment, als müsse er etwas verarbeiten, aber dann streckt er mir die Hand entgegen und stellt sich mir endlich vor. »Ich bin Pike. Pike Lawson.«

Lawson?

Er hält kurz inne und fügt dann hinzu: »Sein Vater.«

Mir bleibt die Luft weg. »Was?«, keuche ich.

Sein Vater?

Ich öffne den Mund, schließe ihn aber schnell wieder, als ich den Mann jetzt mit völlig anderen Augen sehe.

Cole hat seinen Vater beiläufig erwähnt – ich wusste, dass er in der Gegend lebt –, aber sie stehen sich nicht nahe, so wie ich es verstanden habe. Der Eindruck, den ich von Coles Vater bekommen habe, wenn er ihn kurz erwähnt hat, passt überhaupt nicht zu dem Mann, mit dem ich mich heute Abend im Kino unterhalten habe. Er ist nett.

Und man kann gut mit ihm reden.

Und er sieht verdammt noch mal nicht alt genug aus, um einen neunzehnjährigen Sohn zu haben.

Er lächelt mich kurz an, und ich weiß, dass er diese Wendung der Ereignisse auch nicht erwartet hat.

Ich höre, wie sein Handy in der Tasche vibriert, und er holt es raus, um nachzusehen, wer anruft.

»Und wenn er mich jetzt anruft, steckt er in Schwierigkeiten«, sagt er und starrt auf das Handy. »Soll ich Sie mitnehmen?«

»Wohin?«

»Aufs Polizeirevier vermutlich.« Er seufzt, geht ans Handy und bedeutet mir, ihm zu folgen. »Gehen wir.«

KAPITEL 2

Jordan

»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist«, sage ich und ziehe meine gestapelten Holzkisten aus seinem Kofferraum. »Ich komme mir wie ein Schmarotzer vor.«

Cole verzieht seine Mundwinkel auf diese schrullige Weise, dass man nur noch die linke Seite seiner Zähne sieht. »Was willst du denn sonst machen?« Er schaut mich an und zieht mein zusammenklappbares Zeichenbrett zu sich und nimmt es hoch. »Bei deinen Eltern wohnen?«

Seine blauen Augen sind verschleiert – wahrscheinlich vom Schlafmangel –, als wir unsere Sachen auf die Verandastufen von Pike Lawsons Haus stellen.

Unser neues Zuhause.

Die letzten Tage waren verrückt, und ich kann nicht fassen, dass dieser Kerl sein Vater ist. Was ist das bitte für ein Zufall? Ich wünschte, wir hätten uns anders kennengelernt. Nicht um 2 Uhr morgens bei der Fahrt aufs Polizeirevier, um seinen Sohn – meinen Freund – aus dem Knast zu holen.

»Komm schon, ich hab’s dir doch gesagt«, sagt Cole und geht zum Auto zurück, um noch eine Ladung zu holen. »Mein Dad war derjenige, der angeboten hat, dass wir hier wohnen können. Wir können seine Hausarbeiten übernehmen, und das gibt uns die Chance, Geld für eine neue Wohnung zu sparen. Eine bessere Wohnung.«

Richtig. Und wie viele Kinder ziehen zu ihren Eltern zurück, um genau das zu tun, und bleiben dann doch wieder drei Jahre dort? Sein Dad muss doch wissen, worauf er sich da eingelassen hat.

Ich werde mir alle Mühe geben, so schnell wie möglich hier wegzukommen, aber Cole kann nicht sparen. Eine neue Wohnung zu finden und Kaution zu bezahlen – die wir von der vorherigen Wohnung wegen Schäden an den Teppichen nicht mehr zurückbekommen haben –, wird einen Haufen Kohle kosten. Wenn wir erst mal eine Wohnung gefunden haben, kann Cole schon helfen, die Miete zu zahlen. Aber sowohl Kaution als auch Einrichtung wird komplett an mir hängen bleiben.

Es ist jetzt drei Tage her, seit ich Pike Lawson im Kino getroffen habe. Wir haben Cole vom Gefängnis abgeholt und sind nach Hause gefahren, wo ich meine Wohnung völlig verwüstet vorfinden durfte. Cole wollte eine Überraschungsparty für mich schmeißen, aber unsere Freunde – seine Freunde – haben nicht gewartet, bis ich nach Hause gekommen bin. Um 23 Uhr war jeder bereits betrunken, die Pizza war weg – aber, hey, man muss ihnen zugestehen, dass sie mir zumindest ein Stück Kuchen übrig gelassen haben.

Ich musste ins Badezimmer gehen, um nicht vor ihnen loszuheulen, als ich die Wohnung gesehen habe.

Anscheinend ist es während der Party zu einem Streit gekommen, die Nachbarn haben sich über den Lärm beschwert, Cole hat die Klappe zu weit aufgerissen, und er und einer seiner Freunde wurden von der Polizei mitgenommen. Unser Vermieter Mel hat uns unmissverständlich klargemacht, dass er genug hat und Cole ausziehen muss. Ich hätte bleiben können, was aber nicht mal ansatzweise infrage kam – die Miete und die Nebenkosten könnte ich nie alleine stemmen. Vor allem nicht, nachdem ich meine Ersparnisse dafür ausgegeben habe, ihm letzten Monat bei der Reparatur von Coles Wagen auszuhelfen.

Zum Glück haben die Cops ihn dieses Mal ohne Kaution gehen lassen, denn ich hätte keine hundert Dollar irgendwo herzaubern können, geschweige denn zweitausendfünfhundert.

»Du bist sein Sohn«, erinnere ich Cole und nehme meine Stehlampe – eines der wenigen Dinge, die wir nicht haben einlagern lassen, weil Coles Dad bereits ein möbliertes Schlafzimmer für uns hat. »Aber dass ich auch hier wohne, während er die Rechnungen bezahlt? Das ist nicht richtig.«

»Und ich denke, es wäre nicht richtig, wenn ich das hier nicht jeden Tag für mich haben könnte«, sagt er mit einem verschmitzten Grinsen, während er mich an sich zieht und seine Arme um mich legt. Ich lasse die Lampe los und lächle, weil ich seine Neckereien genieße, obwohl ich etwas von der Rolle bin. Es ist schon eine Weile her, dass ich so entspannt war, um all den Stress zu vergessen, den wir haben. Wir haben schon lange nicht mehr zusammen gelacht, und langsam fällt es mir immer schwerer.

Aber in diesem Moment hat er dieses spitzbübische Funkeln in den Augen, als wäre er der charmanteste Kerl auf Erden, den man einfach lieben muss.

Er legt seine Stirn an meine, und ich fahre mit den Fingern durch sein blondes Haar und schaue ihm in die dunkelblauen Augen, die einem immer den Eindruck vermitteln, als wäre ihm gerade eingefallen, dass ein ganzer Kuchen im Kühlschrank auf ihn wartet.

Er nimmt meine rechte Hand in seine und zieht unsere Hände zwischen uns hoch. Ich weiß, was er da tut. Unsere Finger umfassen jeweils die Hand des anderen, und unsere Daumen liegen nebeneinander. Er schaut mir in die Augen, während wir dieselben Erinnerungen teilen.

Für Außenstehende mag es aussehen wie ein Wrestling-Griff, aber als wir runterschauen, sehen wir die kleine, birnenförmige Narbe, die wir beide auf unseren Daumen haben und die wir nur mit einem anderen Menschen teilen. Es klingt dämlich, wenn wir anderen Leuten die Geschichte erzählen – eine Nerf-Gun vom kleinen Bruder eines Freundes, die zu klein für unsere Hände war und uns die Haut aufgerissen hat, als wir versucht haben, sie zu benutzen. Wir drei haben alle gelacht, als wir gesehen haben, dass sie uns die exakt gleichen Narben an den Daumen beschert hat.

Jetzt sind es nur noch Cole und ich. Nur noch wir zwei. Zwei Narben, nicht mehr drei.

»Bleib bei mir, okay?«, flüstert er. »Ich brauche dich.«

Und für einen kurzen Augenblick sehe ich diese Verwundbarkeit.

Ich habe ihn auch mal gebraucht, und er war da für mich. Wir haben viel zusammen durchgemacht, und er ist wahrscheinlich mein bester Freund.

Deshalb verzeihe ich ihm auch immer wieder. Ich will ihn nicht verletzen.

Und deshalb habe ich mich von ihm auch hierzu überreden lassen. Ich will wirklich nicht bei meinem Dad und meiner Stiefmutter einziehen, und es ist ja auch nur noch bis zum Ende des Sommers. Wenn meine Studiendarlehen für den Herbst kommen und ich über den Sommer durchs Arbeiten Geld ansparen konnte, kann ich mir wieder meine eigene Wohnung leisten. Glaube ich zumindest.

Cole hält mich fest und bleibt ganz still. Er weiß, dass ich immer noch sauer auf ihn bin, weil er verhaftet worden ist und mein Apartment zerstört wurde, aber er weiß auch, dass er mir wichtig ist. Ich frage mich langsam, ob das einer meiner Fehler ist. Definitiv eine meiner Schwächen.

Er fasst nach unten und greift mir an den Hintern, dann küsst er mich auf den Hals. Ich schnappe nach Luft, als er sich an mich drückt, und lachend winde ich mich aus seinen Armen.

»Hör auf!«, tadle ich ihn flüsternd, während ich nervös zu dem zweistöckigen Haus hinter mir blicke. »Wir haben jetzt keine Privatsphäre mehr.«

Er grinst. »Mein Dad ist noch bei der Arbeit, Babe. Er wird nicht vor fünf zu Hause sein.«

Oh. Das ist schon mal gut. Ich werfe einen Blick die Straße rauf und runter und sehe Haus an Haus mit offenen Vorhängen und spielenden Kindern in den Gärten. Hier ist es nicht wie in den Wohnblöcken, wo man sich über den Weg läuft, aber sich nicht füreinander interessiert, weil man unsichtbar ist und sowieso nicht lange genug bleiben wird, um die Aufmerksamkeit wert zu sein. Hier, in einer echten Nachbarschaft, investieren die Menschen Zeit in diejenigen, die nebenan wohnen.

Ich hole tief Luft und atme den Geruch von Grills ein, während die Rasenmäher brummen. Es ist eine wirklich schöne Nachbarschaft. Ob ich eines Tages wohl auch so wohnen werde? Und einen tollen Job finden? Ein schönes Haus haben? Werde ich glücklich sein?

Cole lehnt seine Stirn wieder an meine. »Es tut mir wirklich leid.« Er schaut mich nicht an, sondern sieht zu Boden. »Ich vermassele es immer wieder, und ich weiß nicht, warum. Ich bin einfach so ruhelos. Ich kann einfach nicht …« Aber er beendet des Satz nicht, schüttelt nur seinen Kopf.

Doch ich weiß, was er meint. Ich weiß es immer. Cole ist kein Versager. Er ist neunzehn. Impulsiv, wütend und verwirrt. Aber anders als ich musste er nie erwachsen werden. Es gab immer jemanden, der sich um ihn gekümmert hat.

»Du weißt, wer du mal sein willst«, sage ich. »Dorthin zu kommen, ist für jeden ein anderer Prozess. Aber du wirst es schaffen.«

Er schaut mir in die Augen, und für einen Moment erkenne ich ein Zögern in seinem Blick, als würde er etwas sagen wollen. Aber dann ist es verschwunden. Stattdessen legt er wieder sein schiefes Grinsen auf. »Ich verdiene dich nicht.« Er gibt mir einen Klaps auf den Hintern.

Ich zucke zusammen, und wir lassen voneinander ab. Stimmt, tust du nicht. Aber du bist süß, und du kannst echt gut massieren.

Wir laden das Auto weiter aus und tragen alles ins Haus. Ich stelle ein paar Einkäufe, die ich vorher besorgt habe, in der Küche ab und trage dann den letzten Karton durch das Wohnzimmer die Treppe rauf in unser Zimmer, das hinter der ersten Tür auf der linken Seite liegt.

Ich atme tief durch die Nase ein, als ich durch den Türrahmen in unser neues Schlafzimmer gehe, und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, als ich den Geruch von frischer Farbe wahrnehme. So, wie es aussieht, ist Coles Vater gerade dabei, das Haus, in das wir einziehen, zu renovieren. Allerdings scheint die meiste Arbeit schon erledigt zu sein. Die Fußböden im Erdgeschoss sind aus glänzendem Holz, in jedem Raum gibt es passende Kranzprofile, die Arbeitsflächen in der Küche sind aus Granit mit jeder Menge neu aussehender Edelstahlvorrichtungen, und der schwarze Möbelbau aus Glas hat meinen Puls leicht in die Höhe getrieben. Ich habe noch nie in einem annähernd so schönen Haus wie diesem gewohnt. Für einen Bauunternehmer ist Pike Lawson definitiv kein schlechter Designer.

Es ist ohne Zweifel ein schönes Haus. Ein wirklich schönes Haus. Nicht, dass es eine Villa ist – einfach nur ein typisches zweistöckiges Holzhaus mit einer kleinen Veranda, die zur Eingangstür führt –, aber es ist renoviert, wunderschön, gut erhalten, und hinten und vorne gibt es einen Garten.

Ich stelle die Kiste ab, gehe zum Fenster und spähe durch die Vorhänge. Ein richtiger Garten. Die Lebenssituation von Coles Mom war nicht immer gut – es ist also schön zu wissen, dass er hier ein sauberes, sicheres Zuhause hat, wann immer er es braucht. Ich frage mich, warum er einem immer das Gefühl vermittelt hat, jemanden zu brauchen, der sich um ihn kümmert, obwohl er doch die ganze Zeit das hier haben konnte. Was ist zwischen ihm und Pike Lawson los?

Eines Tages werde ich auch so ein Haus haben. Mein Vater hingegen wird leider in dem Wohnwagen sterben, in dem ich aufgewachsen bin.

Cole kommt rein, legt ein paar Koffer aufs Bett und geht sofort wieder aus dem Zimmer, während er sein Handy aus der Tasche zieht.

»Meinst du, deinem Dad macht es was aus, wenn ich die Küche benutze?«, rufe ich und folge ihm aus dem Zimmer. »Ich habe ein paar Zutaten gekauft, um Burger zu machen.«

Er bleibt nicht stehen, aber ich höre sein kratziges Lachen. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendein Mann – auch nicht mein Dad – einer Frau verbieten würde, seine Küche zu benutzen, um ihm etwas zu essen zu machen, Babe.«

Na klar. Ich schaue ihm hinterher, als er rechts durch das Wohnzimmer und nach draußen geht. Ich gehe weiter geradeaus in die Küche.

Früher habe ich gerne was für Cole getan. Ich wollte besser für ihn da sein, als meine Mutter es für meinen Vater war. Sein Haus – oder seine Wohnung – sauber halten und ihn lächeln sehen, wenn ich sein Leben ein bisschen leichter machen oder ihm das geben konnte, was er braucht. Aber in den letzten Monaten ist das etwas einseitig geworden.

Sein Vater allerdings tut viel für uns, und Teil der Abmachung ist, an einigen Abenden in der Woche zu kochen. Ich habe kein Problem, meinen Teil des Deals einzuhalten. Nun ja, unseren Teil des Deals, aber Cole wird nicht kochen, also überlasse ich ihm die Gartenarbeit. Sein Vater ist ebenfalls der Meinung, dass das in Coles Verantwortung liegt.

Pike Lawson. Ich musste mir Mühe geben, nicht an den Abend im Kino zu denken. Die Willkürlichkeit dieser ganzen Situation ist für mich immer noch schwer zu begreifen.

Ich muss immer wieder an das Streichholz im Donut und an den Ratschlag denken, den er mir gegeben hat – das zu tun, was ich will. Irgendwie glaube ich, dass er diese Dinge auch zu sich selbst gesagt hat. In seiner Stimme haben Erfahrung und auch etwas Enttäuschung mitgeschwungen, und ich will mehr über ihn wissen. Zum Beispiel, wie er als junger Vater war.

Und ich fand ihn süß. Na und? Ich finde auch Chris Hemsworth süß. Und Ryan Gosling, Tom Hardy, Henry Cavill, Jason Mamoa und die Winchester-Brüder … Herrgott noch mal, ich hatte schließlich keine sexuellen Absichten. Es gibt absolut keinen Grund, dass mir das unangenehm ist.

Nichts wird passieren. Ich bin mit seinem Sohn zusammen.

Ich bleibe neben einem der Stühle am Küchentisch stehen, hole mein Handy raus und mache Musik an. Sofort ertönt Jessie’s Girl, was ich heute Morgen nach dem Laufen angehört habe. Schnell werfe ich einen Blick durch die Küche und das Wohnzimmer, um sicherzugehen, dass keine Sachen von uns rumliegen. Ich will nicht, dass wir Coles Dad mehr Umstände machen, als wir es sowieso schon tun.

Dann mache ich zum Kühlschrank auf und berühre im Vorbeigehen die Arbeitsfläche in der Mitte des Raums. Während die anderen Arbeitsflächen aus Granit mit schwarzen Akzenten sind, besteht die Fläche in der Mitte aus einem Schneidebrett. Das weiche Holz fühlt sich unter meinen Fingerspitzen warm an, und ich kann keine Kratzer vom Schneiden spüren. Die ganze Küche sieht aus, als wäre sie vor Kurzem erst neu gemacht worden, vielleicht wurde das Schneidebrett also noch nicht oft benutzt. Oder Pike ist einfach kein großer Koch.

Über der Kücheninsel hängt eine praktische Vorrichtung aus Bronze, und ich drehe mich um die eigene Achse, bevor ich weiter zum Kühlschrank gehe. Dabei lache ich vor mich hin. Es ist schön, sich bewegen zu können, ohne irgendwo anzustoßen. Das Einzige, was dieser Küche noch fehlt, das statt anerkennendem Nicken ausufernde Bewunderung in mir auslösen würde, wären ein paar Fliesenspiegel. Fliesenspiegel sind cool.

Beim Kühlschrank angekommen, hole ich Rinderhackfleisch, Butter und geriebenen Mozzarella heraus, schließe die Kühlschranktür mit meinem Fuß, drehe mich um und lege alles auf die Arbeitsfläche. Ich nehme die zwei Zwiebeln, die ich vorher dort abgelegt habe, wippe mit meinem Kopf im Takt zur Musik und bewege mich hin und her, während ich ein Messer aus dem Messerblock nehme und beginne, die zwei Zwiebeln in dünne Ringe zu schneiden.

Die Musik in meinen Ohren steigert sich, die Härchen an meinen Armen stellen sich auf, und ich spüre Energie durch meine Beine strömen, weil ich am liebsten tanzen würde, was ich aber nicht tue. Ich hoffe, Pike Lawson hat nichts gegen gelegentliche Musik aus den Achtzigern in seinem Haus. Im Kino hat er nicht gesagt, dass er sie nicht mag, aber da hatte er auch noch keine Ahnung, dass wir bei ihm einziehen würden.

Ich belasse es dabei, meine Lippen zum Text zu bewegen und mit dem Kopf zu wippen, während ich mit den Händen fünf große Frikadellen forme und sie in eine Pfanne lege, in der ich bereits Butter erhitzt habe.

Meine Hüften bewegen sich von einer Seite zur anderen, als mich plötzlich jemand an der Hüfte kitzelt. Ich zucke zusammen, das Herz rutscht mir in die Hose, und ich schnappe nach Luft.

Als ich mich umdrehe, sehe ich meine Schwester hinter mir. »Cam!«, rufe ich.

»Erwischt«, zieht sie mich auf, grinst von einem Ohr zum anderen und pikst mir noch mal in die Rippen.

Ich mache die Musik auf meinem Handy aus. »Wie bist du reingekommen? Ich habe die Klingel gar nicht gehört.«

Sie geht um die Kücheninsel herum, setzt sich auf einen Barhocker, stützt sich auf die Ellbogen und nimmt sich einen Zwiebelring. »Ich habe Cole draußen getroffen«, erklärt sie. »Er hat gesagt, ich soll einfach reingehen.«

Ich werfe einen Blick aus dem Fenster und sehe ihn und ein paar seiner Freunde um den alten VW meiner Großmutter herumstehen, den Coles Dad hat hierherbringen lassen, da er gerade nicht fährt. Ich hätte ihn nicht beim Apartment lassen können, und jetzt sieht es fast so aus, als würde Cole endlich sein Versprechen einlösen und ihn reparieren, damit ich wieder ein Auto habe.

Das Brutzeln des Fleisches in der Pfanne dringt mir in die Ohren, und ich drehe mich um, um die Burger zu wenden. Etwas heißes Öl spritzt auf meinen Unterarm, und ich zucke zusammen, als sich ein stechendes Gefühl darauf ausbreitet.

Ich weiß, dass Cam hier ist, um nach mir zu sehen. Alte Gewohnheiten und so.

Meine Schwester ist nur vier Jahre älter als ich, aber sie hat schon immer Moms Job übernommen. Ich habe bis zu meinem Abschluss im Trailerpark gewohnt, aber Cam ist mit sechzehn Jahren ausgezogen und seitdem auf sich allein gestellt. Nur sie und ihr Sohn.

Ich schaue auf die Uhr – es ist kurz nach 17 Uhr. Mein Neffe ist wahrscheinlich gerade bei der Babysitterin und sie auf dem Weg zur Arbeit.

»Also, wo ist der Vater?«, fragt sie mich.

»Vermutlich noch bei der Arbeit.«

Aber er müsste bald zu Hause sein. Ich lege die Frikadellen aus der Pfanne auf einen Teller und öffne die Packung mit den Brötchen.

»Ist er nett?«, fragt sie schließlich zögerlich.

Ich habe ihr den Rücken zugewandt, also kann sie meinen Unmut nicht sehen. Meine Schwester ist eine Frau, die kein Blatt vor den Mund nimmt. Die Tatsache, dass sie sich mit ihrem Tonfall zurückhält, sagt mir, dass sie wahrscheinlich Gedanken hat, die ich nicht hören möchte. Zum Beispiel, warum ich den besser bezahlten Job nicht einfach annehme, den ihr Chef mir letzten Herbst angeboten hat, damit ich in der Wohnung bleiben kann.

»Er scheint nett zu sein.« Ich nicke und werfe ihr einen schnellen Blick zu. »Etwas still, glaube ich.«

»Du bist still.«

Ich korrigiere sie grinsend. »Ich bin ernst. Das ist ein Unterschied.«

Sie kichert und setzt sich aufrecht hin. Dabei zieht sie den Saum ihres weißen Oberteils runter, und der rote Spitzen-BH, den sie darunter trägt, kommt zum Vorschein. »Irgendjemand musste bei uns zu Hause ja ernst sein.«

Damit meint sie »beim Aufwachsen«.

Sie wirft sich das braune Haar über die Schulter, und ich sehe die langen Silberohrringe, die perfekt zu ihrem Make-up, den Smokey Eyes und dem glänzenden Lippenstift passen.

»Wie geht es Killian?«, frage ich, und das Bild meines Neffen taucht vor meinem inneren Auge auf.

»Ach, wie immer ein verwöhnter Fratz«, sagt sie. Aber dann hält sie inne, als falle ihr etwas ein. »Nein, warte. Heute hat er mir erzählt, dass er seinen Freunden sagen wird, ich sei seine ältere Schwester, wenn ich ihn von der Tagesmutter abhole.« Sie schnaubt auf. »Der kleine Satansbraten schämt sich für mich. Aber trotzdem war ich stolz darauf, dass die Leute ihm das glauben würden.« Sie fährt sich übertrieben mit den Fingern durch ihr Haar. »Ich schaue schließlich immer noch gut aus, oder?«

»Du bist erst dreiundzwanzig.« Ich bestreue eine Frikadelle mit Mozzarella und lege noch eine zweite obendrauf, auf die ich noch mehr Mozzarella gebe. »Natürlich siehst du gut aus.«

»Hm.« Sie schnippt mit den Fingern. »Das muss ich ausnutzen, solange ich noch kann.«

Ich blicke ihr in die Augen, und für einen kurzen Moment kann ich einen Riss in ihrer humorvollen Fassade erkennen. Ihr amüsiertes Lächeln sieht eher wie eine Entschuldigung aus, und sie blinzelt schnell, um die Stille zu überbrücken, während ihre Worte in der Luft hängen bleiben.

Cam zieht den Saum ihres Oberteils herunter, um in der Gegenwart ihrer kleinen Schwester so viel wie möglich von ihrem Bauch zu verdecken.

Meine Schwester hasst ihren Job, aber die Liebe zum Geld überwiegt.

Dann wendet sie sich mit fast anschuldigendem Tonfall wieder an mich. »Was machst du da eigentlich?«

»Abendessen.«

Sie schüttelt den Kopf und verdreht die Augen. »Nicht nur, dass du es nicht schaffst, den Typen, mit dem du zusammen bist, in die Wüste zu schicken, jetzt kümmerst du dich auch noch um einen anderen?«

Ich lege ein paar Zwiebelringe auf den Double-Cheeseburger und packe ihn zwischen zwei Brötchenhälften. »Tue ich nicht.«

»Doch.«