9,99 €
Das TikTok-Phänomen: Dark Romance mit Suchtfaktor Kai Mori ist nach Thunderbay zurückgekehrt, um nach Damon Torrance zu suchen. Sein bester Freund ist zu seinem größten Feind geworden, und er soll sich in einem verlassenen Hotel in der Stadt verstecken. Nur die mysteriöse Nik Banks, eine Frau aus Kais Vergangenheit, weiß, wo Damon ist, und so bittet Kai sie um Hilfe. Doch Banks hat ihre eigenen Geheimnisse und Pläne. Auch wenn es ihr immer schwerer fällt, ihre Gefühle für Kai zu unterdrücken, weiß sie, auf wessen Seite sie steht – und dass in dieser Devil's Night Kai der Gejagte sein wird.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 772
Text bei Büchern ohne inhaltsrelevante Abbildungen:
Mehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher:
www.everlove-verlag.de
Wenn dir dieser Roman gefallen hat, schreib uns unter Nennung des Titels »Hideaway« an [email protected], und wir empfehlen dir gerne vergleichbare Bücher.
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Christina Kagerer
© Penelope Douglas 2017
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Hideaway«, Penelope Douglas LLC, Las Vegas, 2017
© everlove, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2024
Redaktion: Svenja Kopfmann
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
Covergestaltung: zero-media.net, München, nach einem Entwurf von Penguin Random House
Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
Wir behalten uns eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Cover & Impressum
Widmung
Zitat
Contentwarnung
PLAYLIST
KAPITEL 1
Kai
KAPITEL 2
KAI
Sechs Jahre zuvor
KAPITEL 3
Kai
Gegenwart
KAPITEL 4
KAI
Sechs Jahre zuvor
KAPITEL 5
KAI
Gegenwart
KAPITEL 6
BANKS
Sechs Jahre zuvor
KAPITEL 7
BANKS
Gegenwart
KAPITEL 8
BANKS
Sechs Jahre zuvor
KAPITEL 9
BANKS
Gegenwart
KAPITEL 10
BANKS
Gegenwart
KAPITEL 11
KAI
Gegenwart
KAPITEL 12
BANKS
Gegenwart
KAPITEL 13
BANKS
Sechs Jahre zuvor
KAPITEL 14
KAI
Gegenwart
KAPITEL 15
BANKS
Gegenwart
KAPITEL 16
BANKS
Sechs Jahre zuvor
KAPITEL 17
BANKS
Gegenwart
KAPITEL 18
BANKS
Gegenwart
KAPITEL 19
KAI
Gegenwart
KAPITEL 20
BANKS
Gegenwart
KAPITEL 21
BANKS
Gegenwart
KAPITEL 22
BANKS
Gegenwart
KAPITEL 23
KAI
Gegenwart
KAPITEL 24
BANKS
Gegenwart
KAPITEL 25
KAI
Gegenwart
KAPITEL 26
KAI
Gegenwart
KAPITEL 27
BANKS
Gegenwart
KAPITEL 28
KAI
Gegenwart
KAPITEL 29
BANKS
Gegenwart
KAPITEL 30
BANKS
Gegenwart
EPILOG
BONUSSZENE:
HINWEISE AUF KAIS VERSTECK
BANKS
DANKSAGUNG
Contentwarnung
Anmerkungen
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für Z. King
Der Mensch vermag das Wilde in sich nicht auszulöschen, indem er dessen Regungen verneint. Der einzige Weg, sich einer Versuchung zu entledigen, besteht darin, sich ihr hinzugeben.
– Dr. Jekyll and Mr. Hyde
LIEBE LESERINNEN UND LESER,
Obwohl der Roman Hideaway ein alleinstehendes Buch ist, baut die Handlung auf Ereignissen auf, die in Corrupt (Devil’s Night 1) stattgefunden haben. Wir empfehlen, erst Corrupt zu lesen, bevor ihr mit diesem Roman beginnt.
Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Um euch das bestmögliche Leseerlebnis zu ermöglichen, findet ihr deshalb am Buchende eine Contentwarnung[1].
Euer everlove-Team
»Black Honey« von Thrice
»Castle« von Halsey
»Control« von Puddle of Mudd
»Cry Little Sister« von Seasons After
»Emotionless« von Red Sun Rising
»Go To Hell« von KMFDM
»Heavy In Your Arms« von Florence + the Machine
»Jekyll And Hyde« von Five Finger Death Punch
»Like A Nightmare« von Never Say Die
»Lung (Bronchitis Mix)« von Sister Machine Gun
»Paint It, Black« von Ciara
»Remember We Die« von Gemini Syndrome
»Save Yourself« von Stabbing Westward
»Scumgrief (Deep Dub Trauma Mix)« von Fear Factory
»Smells Like Teen Spirit« von Think Up Anger
»Smokin’ In The Boys Room« von Mötley Crüe
»Waiting Game« von Banks
Der Regen war wie die Nacht. Im Dunkeln und unter den Wolken konnte man anders sein.
Ich bin mir nicht sicher, was es war. Vielleicht der Mangel an Sonnenlicht und die Tatsache, dass unsere Sinne geschärft waren, oder der leichte Schleier, der die Dinge vor unserem Blick versteckte, aber manches konnte nur zu bestimmten Zeiten getan werden. Die Jacke ausziehen und die Ärmel hochkrempeln. Sich einen Drink eingießen und zurücklehnen. Mit seinen Freunden lachen und den Fernseher während eines Basketballspiels anschreien.
Einem Mädchen, das man schon seit einer Stunde mit Blicken ausgezogen hatte, auf die Toilette eines Pubs folgen, und seine Freunde anerkennend nicken sehen, wenn man wieder herauskam.
Das sollte man mal tagsüber mit der Praktikantin im Büro versuchen.
Nicht, dass ich gerne die Freiheit hätte, Dinge zu tun, wann immer mir der Sinn danach stand. Es war doch viel reizvoller, wenn sie rar gesät waren.
Aber jeden Morgen, wenn die Sonne aufging, wurden die Knoten in meinem Bauch enger vor Vorfreude.
Die Nacht würde wieder hereinbrechen.
Ich ließ meine Maske neben mir an meiner Hand baumeln, während ich auf dem Treppenabsatz im ersten Stock stand und Rika in ihrem Auto sitzen sah. Sie hielt ihren Kopf gesenkt, und ihr Gesicht wurde vom Schein ihres Handys beleuchtet, während Regen auf die Windschutzscheibe trommelte und sie etwas tippte.
Ich schüttelte den Kopf und spannte meinen Kiefer an. Sie hört nicht zu.
Ich beobachtete, wie die Verlobte meines besten Freundes fertig wurde, das Licht ihres Handys erlosch, sie die Tür öffnete, ausstieg und durch den strömenden Regen rannte. Ich kniff die Augen zusammen und betrachtete sie. Kopf und Augen nach unten gerichtet. Die Schlüssel in ihrer geschlossenen Faust. Die Arme über dem Kopf, um sich vor dem Regen zu schützen, weshalb sie aber auch nichts sehen konnte.
Sie nahm ihre Umgebung überhaupt nicht wahr. Das perfekte Opfer.
Ich nahm den Riemen meiner Maske und zog mir den silbernen Totenkopf über den Kopf, wobei sich die Innenseite der Maske perfekt an mein Gesicht schmiegte. Die Welt um mich herum verengte sich zu einem Tunnel, und ich konnte nur noch sehen, was direkt vor mir lag.
Hitze schoss mir in den Nacken und drang tief in meine Brust ein. Ich nahm einen langen, kühlen Atemzug, spürte, wie mein Herz schneller schlug und ich hungrig wurde.
Plötzlich erfüllte der Klang des Regens, der wie ein Wasserfall in der Gasse draußen dröhnte, das Dojo, und die schwere Metalltür unten wurde zugeschlagen.
»Hallo?«, rief sie.
Das Herz rutschte mir in die Hose, ich schloss die Augen und genoss das Gefühl. Der Klang ihrer Stimme hallte durch das leere Gebäude, aber ich blieb still auf dem Treppenabsatz stehen und wartete darauf, dass sie mich fand.
»Kai?«, hörte ich sie durch das große Gebäude rufen.
Ich griff hinter mich, zog mir die Kapuze meines schwarzen Sweatshirts über den Kopf und drehte mich um, um sie über das Geländer hinweg anzuschauen.
»Hallo?«, fragte sie erneut, diesmal etwas ungeduldiger. »Kai, bist du hier?«
Zuerst sah ich ihr blondes Haar. Das fiel einem an Rika immer als Erstes auf. In ihrem schwarzen Penthouse, in diesem schwarzen Dojo, in der dunklen Gasse draußen, in dunklen Räumen und auf schwarzen Straßen … Sie stach immer heraus.
Ich legte meine Hände auf das verrostete Geländer, blieb auf dem Gitter stehen und sah, wie sie langsam in den Hauptraum unter mir ging und auf die Lichtschalter an den Wänden drückte. Aber nichts passierte. Das Licht ging nicht an.
Sie drehte ihren Kopf nach links und rechts und sah plötzlich alarmiert aus. Dann streckte sie ihre Hand aus und versuchte erneut, das Licht einzuschalten.
Nichts.
Ihre Brust hob und senkte sich jetzt schneller, und sie wurde wachsamer, als sie ihre Tasche enger um sich zog.
Ich musste mir ein Grinsen verkneifen, legte den Kopf schief und beobachtete sie. Ich sollte mich zeigen. Ich sollte fair spielen und sie wissen lassen, dass ich hier war und sie sicher.
Aber je länger ich wartete, je länger ich still und versteckt blieb, desto nervöser schien sie zu werden. Und als sie jetzt weiter in den Raum unter mir hineinging, konnte ich nicht anders, als diesen Moment genießen zu wollen. Sie war verwirrt. Verängstigt. Befangen. Sie wusste nicht, dass ich hier war. Direkt über ihr. Sie wusste nicht, dass mein Blick in diesem Moment auf ihr lag. Sie wusste nicht, dass ich mich auf sie stürzen und sie auf den Boden schmeißen könnte, ehe sie überhaupt verstand, was passierte.
Ich wollte ihr keine Angst einjagen, aber ich tat es trotzdem. Macht und Kontrolle machten süchtig. Und ich wollte nicht, dass mir das gefiel, weil es mich krank machte.
Es machte mich zu Damon.
Ich begann, schneller zu atmen, und meine Fäuste ballten sich um das Geländer, während ich es jetzt selbst mit der Angst zu tun bekam. Das war nicht normal.
»Ich weiß, dass du hier bist«, sagte sie und sah sich mit zusammengekniffenen Augen um.
Aber der sture Blick in ihrem Gesicht war erzwungen, und erneut musste ich hinter meiner Maske grinsen.
Ihr langes, graues T-Shirt fiel ihr über die Schulter, und Wassertropfen glitzerten auf ihrer Brust und ihrem Hals. Der Regen trommelte draußen auf Meridian City ein, und um diese Zeit – und in diesem Viertel – waren die Straßen leer. Niemand würde sie hören. Wahrscheinlich hatte keiner gesehen, wie sie das Gebäude betreten hatte.
Und die Art und Weise, wie sie sich in dem dunklen Raum jetzt langsam rückwärtsbewegte, zeigte mir, dass ihr genau das jetzt auch bewusst wurde.
Ich trat einen Schritt vor.
Das Gitter unter meinen Füßen knarzte, und sie riss ihren Kopf nach links, als sie das Geräusch hörte.
Ihr Blick fiel auf mich. Ich sah sie an und ging zur Treppe.
»Kai?«, fragte sie.
Warum antwortet er mir nicht?, fragte sie sich wahrscheinlich. Warum trägt er seine Maske? Warum ist das Licht aus? Wegen dem Unwetter? Was ist hier los?
Aber ich sagte kein Wort, als ich langsam auf sie zuging. Ihre hübsche, kleine Gestalt wurde immer klarer, je näher ich kam. Nasse Haarsträhnen, die mir vorher nicht aufgefallen waren, klebten an ihrer Brust, und die Diamantohrringe, die Michael ihr letztes Weihnachten geschenkt hatte, funkelten an ihren Ohren. Die Umrisse ihrer Brüste drückten sich durch ihr T-Shirt.
Ihre blauen Augen blickten mich unsicher an. »Ich weiß, dass du es bist.«
Ich grinste hinter der Maske, weil ihr angespannter Körper ihre Worte Lügen strafte.
Bist du dir da sicher, Rika?
Langsam umrundete ich sie, während sie stur stehen blieb.
Bist du dir sicher, dass ich es bin? Es könnte auch nicht Kai sein, oder? Ich könnte nur seine Maske genommen haben. Oder mir die gleiche gekauft haben.
Ich trat hinter sie und versuchte, ruhig zu atmen, obwohl mein Herz raste. Ich konnte sie spüren. Die Energie zwischen meiner Brust und ihrem Rücken.
Sie hätte sich umdrehen müssen. Sie hätte sich selbst auf so eine Gefahr vorbereiten müssen, wie ich es ihr beigebracht hatte. Dachte sie, das Ganze war ein Spiel?
»Hör auf«, zischte sie mich an und drehte ihren Kopf gerade so weit, dass ich sehen konnte, wie sich ihre Lippen bewegten. »Das ist nicht lustig.«
Nein, es war nicht lustig. Michael war über Nacht nicht in der Stadt, und Will lag wahrscheinlich irgendwo betrunken herum. Nur wir zwei waren hier.
Und so, wie mein verdammter Bauch gerade kribbelte, war es weder lustig noch gut, noch richtig, wie sehr ich mich ständig über die Grenzen schieben musste, um wieder Kontrolle zu erlangen. Es war nicht gut, dass ich nicht aufhören wollte.
Ich packte sie, legte meine Arme um sie und vergrub meine Nase unter ihr Ohr. Ihr Parfüm ließ meine Augenlider schwer werden, und sie schnappte nach Luft, als ich ihren Körper an meinen zog. »Es gibt nur uns, kleines Monster«, knurrte ich. »Genau so, wie ich es will, und wir haben die ganze Nacht.«
»Kai!«, schrie sie und zog an meinen Armen.
»Wer ist Kai?«
Sie drehte sich in meinem Griff um und wand sich. »Ich kenne dich mittlerweile. Deine Größe, deine Form, deinen Geruch …«
»Ach, wirklich?«, fragte ich. »Du weiß, wie ich mich anfühle?«
Ich vergrub mein maskiertes Gesicht an ihrem Hals und legte meine Arme noch fester um sie. Besitzergreifend. Bedrohlich. Dann flüsterte ich: »Ich vermisse die kleine Rika von der Highschool.« Ich stöhnte und tat so, als würde es mich antörnen, wie sie sich in meinem Griff wand. »Da hast du nie so frech geantwortet.«
Sie hielt inne, und ihr ganzer Körper erstarrte, bis auf ihre Atmung. Sie sog scharf die Luft ein, dann begann sie in meinen Armen zu zittern.
Jetzt hatte ich sie.
Jemand, den wir gut kannten, hatte diese Worte einmal gesagt. Jemand, vor dem sie Angst hatte. Und jetzt zweifelte sie, ob ich nicht doch er sein könnte.
Damon ist letztes Jahr verschwunden, und er könnte überall sein, richtig, Rika?
»Ich habe schon lange darauf gewartet«, sagte ich und hörte, wie es draußen donnerte. »Zieh das aus.« Ich riss ihr Shirt herunter und entblößte ihr Tanktop. Sie schrie auf. »Ich will dich sehen, verdammt.«
Sie schnappte nach Luft, entzog sich meinem Griff und schlug nach mir. Dann trat sie sofort einen Schritt zurück – der erste Gegenzug, den ich ihr beigebracht hatte, wenn einen jemand von hinten packt –, aber ich setzte meinen Fuß zurück und wusste, was sie vorhatte.
Komm schon, Rika!
Dann ließ sie sich plötzlich fallen, und ihr ganzes Körpergewicht glitt mir durch die Arme und direkt auf den Boden.
Ich hätte fast gelacht. Sie dachte schnell. Gut.
Aber ich gab nicht nach. Sie stützte sich auf ihre Hände und Knie und bereitete sich auf die Flucht vor. Doch ich packte sie am Knöchel.
»Was denkst du, wo du hingehst?«, fragte ich gedehnt.
Sie drehte sich um und trat nach meiner Maske. Ich wich lachend zurück. »O Gott, das wird Spaß machen. Ich kann es kaum erwarten.«
Sie wimmerte leise auf, als sie rückwärts krabbelte und sich auf die Füße drückte. Sie drehte sich um und rannte mit angsterfülltem Gesicht in Richtung Umkleide. Wahrscheinlich wollte sie zum Hinterausgang des Gebäudes.
Ich rannte ihr nach, bekam ihr Oberteil zu fassen, und mein ganzer Körper stand in Flammen.
Verdammt. Ich spürte, wie mir der Schweiß den Nacken runterlief. Es ist nur ein Spiel. Ich werde ihr nicht wehtun. Es war wie ein Versteckspiel unter Kindern. Wir wussten, dass nichts Schlimmes passieren würde, wenn wir erwischt wurden, und wir verletzten niemanden, wenn wir jemanden erwischten. Aber die irrationale Angst erregte uns trotzdem.
So gefiel es mir. Das war alles. Es war nicht real.
Ich drehte sie herum, legte eine Arm um sie und hob mit der anderen Hand ihr Knie an, um sie vom Boden zu heben. Sie zog das andere Knie nach oben, aber ich drehte meine Hüfte zur Seite, bevor sie mich zwischen den Beinen treffen konnte. Ich riss sie zurück, und wir landeten beide auf dem Boden – ich auf ihr.
»Nein!«, schrie sie. Ihr Körper wand sich unter mir, und ich drängte mich zwischen ihre Beine, legte ihre Arme über ihren Kopf und hielt sie dort fest.
Sie kämpfte gegen meinen Griff an, aber ihre Arme begannen zu zittern und sie wurde schwächer.
Ich hielt inne und blickte auf sie hinab. Damon und ich hatten beide dunkle Haare und Augen, auch, wenn seine fast schwarz waren. Sie könnte uns in der Dunkelheit nicht unterscheiden. Aber sie konnte mich spüren. Sie konnte spüren, wie ich sie bedrohte, zwang, anfasste … genau wie er.
Langsam ließ ich meinen Kopf auf ihre Brust sinken, blieb nur einen Zentimeter über ihrer Haut stehen, und sie hörte auf, sich zu wehren. Ihre Brust bebte so heftig, als hätte sie einen Asthmaanfall.
Ihr Körper gab unter meinem nach, ihre Hände waren hilflos über ihrem Kopf fixiert. Ich wusste, dass sie aufgegeben hatte. Sie wusste, dass es vorbei war. Niemand würde mich aufhalten, niemand würde sie schreien hören, ein Verrückter mit einer Maske könnte sie verletzen oder umbringen und hätte die ganze Nacht dafür Zeit.
Plötzlich entglitten ihr die Gesichtszüge, und sie weinte, als ihr Kampf vorüber war und sie den Horror dessen, was mit ihr geschah, erkannte.
Verdammt noch mal. Ich riss meine Kapuze zurück und warf wütend die Maske hinter mich. »Du bist ein verdammtes Baby!«, schrie ich und schlug mit der Hand neben ihrem Kopf auf den Boden. »Schmeiß mich von dir runter!«, schrie ich ihr ins Gesicht. »Jetzt! Komm schon!«
Sie knurrte, ihr Gesicht wurde rot, und sie drückte sich nach oben, um ihren Arm um meinen Nacken zu legen. Sie nahm mich in den Schwitzkasten, legte ihre andere Hand unter ihren Arm und stach mir mit einem Finger und dem Daumen in die Augen.
Es war nicht fest, aber es genügte, dass ich meinen Griff lockerte und sie Zeit hatte, mir ins Gesicht zu schlagen. Als ich zurückwich, richtete sie sich auf, packte ihre Tasche und schlug sie mir gegen den Kopf.
»Au!«, zischte ich und riss ihr die Tasche aus der Hand.
Aber sie stand schnell auf und rannte zur Wand, wo sie sich eins der Kendo-Schwerter schnappte und sich mit dem Bambus-Shinai in der Hand auf meinen Angriff vorbereitete.
Ich setzte mich auf meine Fersen zurück und legte eine Hand an mein Gesicht, um zu sehen, ob ich blutete. Nichts. Ich seufzte auf und sah sie an. Mein ganzer Körper wurde kalt, als die Angst aus ihrem Blick wich und durch Wut ersetzt wurde.
Das Adrenalin schoss mir immer noch durch die Adern, und ich holte tief Luft. Plötzlich fühlte sich mein Körper zehnmal schwerer an, als ich aufstand.
»Es gefällt mir nicht, so aus dem Hinterhalt angegriffen zu werden!«, zischte sie. »Das hier sollte ein sicherer Ort sein.«
Ich blinzelte und sah sie vorwurfsvoll an. »Es ist nirgendwo sicher.«
Dann ging ich zur Treppe, und zog mir das Sweatshirt aus, während ich nach oben stieg. »Du bist nicht auf der Hut.« Ich nahm die Wasserflasche, die ich vorhin am Fenster liegen gelassen hatte. »Ich habe dich beobachtet. Da draußen auf der Straße hast du die ganze Zeit auf dein Handy gestarrt. Und du konntest kaum gegen mich ankommen. Du hast zu viel Zeit damit verschwendet, in Panik zu verfallen.«
Ich trank, durstig von der Anstrengung, dem Nachdenken, dem Sichsorgen und dem Pläneschmieden. Das hatte ich gebraucht.
Ich vermisste all die Nächte vor vielen Jahren, als ich noch ein Ventil hatte. Als ich Freunde hatte, mit denen ich hatte ausflippen können.
Ihre Schritte hallten auf den Stufen, und ich schaute durch das Fenster auf die hellen Lichter von Meridian City, die auf der anderen Seite des Flusses leuchteten und einen scharfen Kontrast zu der Dunkelheit auf dieser Seite bildeten.
»Ich habe alles aufgesogen, was du mir beigebracht hast«, sagte sie. »Ich habe dir vertraut, und ich habe die Situation gerade nicht ernst genommen. In dem Moment, in dem es wirklich passiert, komme ich damit zurecht.«
»Du hättest dieses Mal damit zurechtkommen sollen. Was, wenn es nicht ich gewesen wäre? Was wäre dann mit dir passiert?«
Ich blickte auf sie hinab und sah, wie ihr gepeinigter Blick aus dem Fenster ging. Sofort bekam ich Schuldgefühle. Ich hasste diesen Blick. Rika hatte schon genug durchgemacht, und ich hatte sie gerade wieder erschüttert.
»Ich glaube, es hat dir gefallen«, antwortete sie leise und starrte immer noch aus dem Fenster. »Ich glaube, du hast es genossen.«
Mein Herz machte einen Sprung, und ich drehte mich von ihr weg, um ihrem Blick durch das Fenster nach draußen zu folgen.
»Wenn es mir gefallen hätte, dann hätte ich nicht aufgehört.«
Sie sah mich an, und ich hörte, wie draußen ein Auto vorbeifuhr. Die Reifen quietschten im Regen.
»Weißt du, ich beobachte dich auch«, sagte sie zu mir. »Du bist still, und niemand weiß, wo du isst oder schläfst …«
Ich drehte die Wasserflasche zu, und das Plastik knisterte in meiner Faust. Ich wusste, wovon sie sprach. Ich wusste, dass ich abweisend war. Aber ich musste alles in mir verschlossen halten, wenn ich nicht riskieren wollte, dass die falschen Dinge rauskamen. Es war besser so.
Und es war schlimmer geworden. Alles war so im Arsch. Sie und Michael waren miteinander beschäftigt. Will war nur noch ein paar Stunden am Tag nüchtern. Ich war noch nie so alleine gewesen wie in letzter Zeit.
»Du bist wie eine Maschine.« Sie holte tief Luft. »Nicht wie Damon. Du bist nicht zu durchschauen.« Sie hielt inne. »Außer jetzt. Außer, wenn du deine Maske trägst. Es hat dir gefallen, richtig? Es ist das einzige Mal, dass ich sehe, dass du etwas fühlst.«
Ich sah sie mit sanftem Blick an. »Du bist nicht immer bei mir«, scherzte ich.
Ich hielt ihrem Blick einen Moment lang stand, und wir wussten beide genau, wovon ich sprach. Sie hatte mich noch nicht mit Frauen gesehen, und sie wurde rot. Dann lächelte sie mich vage an und ließ die Fragerei sein.
Ich räusperte mich und fuhr fort. »Du musst an deinen Gegenzügen arbeiten«, sagte ich zu ihr. »Und an deiner Schnelligkeit. Wenn du innehältst, gibst du dem Angreifer die Chance, dich zu packen.«
»Ich wusste, dass ich bei dir in Sicherheit bin.«
»Das bist du nicht«, antwortete ich streng. »Du musst immer davon ausgehen, in Gefahr zu sein. Wenn dich jemand anders als Michael in die Finger bekommt, dann kriegt er sowieso, was er verdient.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust, und ich konnte ihren Trotz spüren. Ich verstand sie. Sie wollte ihr Leben nicht in ständiger Angst leben. Aber sie hielt sich ja nicht mal an die einfachsten Vorsichtsmaßnahmen. Und es würde ihr leidtun, wenn sie die falschen Entscheidungen traf. Michael war nicht immer bei ihr.
Aber wenn er es war, dann war er voll und ganz bei ihr. Ich hatte schon seit Wochen nicht mehr wirklich mit ihm geredet.
»Wie geht’s ihm?«, fragte ich sie.
Sie verdrehte die Augen, und ich spürte, dass die Stimmung etwas heiterer wurde. »Er will nach Rio oder sonst wohin fliegen, um zu heiraten.«
»Ich dachte, ihr wolltet beide warten, bis du mit dem College fertig bist.«
Sie nickte und seufzte. »Ja, das dachte ich auch.«
Ich sah sie fragend an. Was war dann los?
Michaels und Rikas Eltern erwarteten eine Hochzeit in Thunder Bay, und soweit ich wusste, war das in Ordnung für die beiden. Michael wollte sogar eine richtig große Sache draus machen. Er wollte sie in einem Kleid sehen, wie sie den Gang entlang auf ihn zuschritt. Schließlich hatte er seine ganze Kindheit und Jugend lang gedacht, sie würde seinen Bruder heiraten. Er wollte jedem zeigen, dass sie ihm gehörte.
Und dann kam es mir.
Damon.
»Er hat Angst, dass eine große Hochzeit Damon zur Rückkehr bewegen wird«, riet ich.
Rika nickte langsam und starrte immer noch aus dem Fenster. »Er denkt, wenn wir verheiratet sind, wird mir nichts Schlimmes mehr passieren. Je eher, desto besser.«
»Er hat recht«, sagte ich zu ihr. »Eine Hochzeit – Hunderte von Menschen und Will und ich an seiner Seite – das würde sein Ego nicht verkraften. Er würde sich nicht fernhalten können.«
»Niemand hat seit einem Jahr von ihm gehört oder ihn gesehen.«
Ich spürte, wie sich mein Kiefer anspannte, und bekam ein ungutes Gefühl im Bauch. »Ja, das ist es, was mich beunruhigt.«
Vor einem Jahr hatte Damon gewollt, dass Rika unendlich litt. Eigentlich hatten wir das alle gewollt, aber Damon war noch etwas weiter gegangen. Und als wir nicht an seiner Seite geblieben waren, waren wir alle zu seinen Feinden geworden. Er hatte uns angegriffen, sie verletzt und Michaels Bruder Trevor dabei geholfen, zu versuchen, sie umzubringen. Michael hatte recht, wenn er annahm, dass Damons Wut wahrscheinlich noch nicht verraucht war. Wenn wir zumindest wüssten, wo er war, dann wäre das eine ganze andere Sache. Aber die Detektive, die wir angeheuert hatten, um ihn aufzuspüren, hatten ihn bisher noch nicht gefunden.
Was erklärte, warum Michael Schritte in die Wege leiten wollte, Rika aus dem Rampenlicht zu holen, in das so eine große Hochzeit in unserem wohlhabenden Küstenort sie stellen würde.
»Du machst dir doch gar nichts aus einer großen Hochzeit«, erinnerte ich sie. »Du willst nur Michael. Warum macht ihr es dann nicht so, wie er es vorschlägt?«
Sie blieb einige Augenblicke still und redete dann mit in die Ferne gerichtetem Blick weiter. »Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Direkt hinter St Killians, wo der Wald endet und die Klippen den Blick auf das Meer freigeben. Unter dem Mitternachtshimmel …« Sie nickte, und ein wunderschönes, sehnsüchtiges Lächeln legte sich auf ihre Lippen. »Dort werde ich Michael heiraten.«
Ich betrachtete sie und fragte mich, was dieser verträumte Blick in ihren Augen bedeutete. Als hätte sie schon immer gewusst, dass sie Michael Crist eines Tages heiraten würde, und als hätte sie es schon ihr ganzes Leben in ihrem Kopf vor sich gesehen.
»Was ist das für ein Gebäude?«, fragte Rika und deutete mit ihrem Kinn aus dem Fenster.
Ich folgte ihrem Blick, aber ich musste gar nicht hinschauen, um zu wissen, welches Gebäude sie meinte. Ich hatte die Lage unseres Dojos schließlich aus einem bestimmten Grund gewählt.
Ich schaute durch die Scheibe auf das Gebäude auf der anderen Straßenseite, das ungefähr dreißig Stockwerke höher war als unseres. Die grauen Steinwände wurden vom Regen und dem gebrochenen Licht von der Straße verdunkelt.
»Das Pope«, antwortete ich. »Das war mal ein Hotel. Ist es eigentlich immer noch.«
Das Pope stand jetzt schon seit einigen Jahren leer und war ursprünglich errichtet worden, als man darüber geredet hatte, ein Footballstadion zu bauen, um mehr Touristen nach Meridian City zu locken. Und um Whitehall, das heruntergekommene Viertel, in dem wir uns jetzt befanden, zu neuem Leben zu erwecken.
Leider war aus dem Stadion nie etwas geworden, und das Pope war nach ein paar Jahren, in denen es versucht hatte, im Geschäft zu bleiben, bankrott gewesen.
Ich betrachtete die dunklen Fenster und die Schatten der Vorhänge in den mehreren Hundert Räumen, die jetzt leise und verlassen dalagen. Es war schwer vorstellbar, dass es in einem so großen Gebäude keinen Funken Leben mehr gab. Eigentlich unmöglich. Mein argwöhnischer Blick schweifte in jedes dunkle Loch, aber ich konnte immer nur ein paar Zentimeter in die Räume hineinschauen, bevor sie von der Dunkelheit verschluckt wurden.
»Ich habe ein Gefühl, als ob uns jemand beobachtet.«
»Ich weiß«, stimmte ich ihr zu und schaute wieder in jedes einzelne Fenster – eins nach dem anderen.
Aus dem Augenwinkel sah ich, dass sie zitterte, also nahm ich mein Sweatshirt und reichte es ihr.
Sie nahm es, lächelte mich an und ging zur Treppe zurück. »Es wird kalt. Ich kann nicht glauben, dass wir schon fast Oktober haben. Bald ist wieder Devil’s Night«, sang sie vor sich hin und klang aufgeregt.
Ich nickte und folgte ihr.
Aber als ich noch einen letzten Blick hinter mich warf, bekam ich eine Gänsehaut, als ich an die vielen leeren Zimmer in dem verlassenen Gebäude auf der anderen Straßenseite dachte.
Und an eine Devil’s Night vor so langer Zeit, als ein Junge, der einmal ich gewesen war, ein Mädchen, das Rika hätte sein können, in demselben dunklen Hotel vor unserem Fenster gejagt hatte.
Aber damals hatte er nicht wie heute Nacht damit aufgehört.
Er hatte etwas getan, was er nicht hätte tun dürfen.
Dicht hinter Rika ging ich die Treppe hinunter und betrachtete ihren Hinterkopf.
Sie wusste gar nicht, wie nahe ihr die Gefahr wirklich war.
Devil’s Night. Sie war da.
Unsere letzte.
Nächsten Mai würden wir unseren Abschluss machen, und wenn wir vier erst mal aufs College gingen, wären wir nur noch in den Winter- und Sommerferien zu Hause. Und dann wären wir zu alt für solche Sachen. Wir könnten es nicht mehr mit unserer Jugend entschuldigen, dass wir die Nacht vor Halloween mit Pranks und anderem kindischen Unfug feierten, nur um etwas Chaos anzurichten. Wir wären Männer. Das ginge dann nicht mehr, richtig?
Also war heute Nacht die Nacht der Nächte. Das große Finale.
Ich schlug meine Autotür zu und ging über den Parkplatz, vorbei an Damons BMW und zum Hintereingang der Kathedrale. Ich öffnete die Tür und betrat einen großen Raum mit ein paar Tischen, einer Küche, ein paar Couchen und einem Tisch mit Broschüren, in denen es um das Beten des Rosenkranzes und Gesund fasten ging.
Ich atmete tief ein, und der vertraute Geruch von Weihrauch stieg mir in die Nase. Ich war katholisch getauft – genau wie mein Freund Damon –, aber in Wahrheit waren wir genauso wenig katholisch, wie Taco Bell mexikanisch war. Ich spielte für meine Mutter mit, während Damon sich nur einen Spaß daraus machte.
Ich ging den Gang entlang in die eigentliche Kirche, aber da durchbrach ein lauter Knall die Stille, und ich blieb stehen und sah mich um, um festzustellen, wo das Geräusch hergekommen war. Es hatte sich angehört wie ein Buch, das auf einen Schreibtisch fiel.
Es war ein Freitagmorgen. Viele Menschen würden nicht hier sein, außer vielleicht ein paar Nachzügler, die in den Bankreihen knieten und Buße taten, da die Beichte gerade zu Ende war.
»Was haben wir gestern besprochen?«, hörte ich Vater Beirs kräftige Stimme von irgendwo links von mir.
»Ich kann mich nicht erinnern, Vater.«
Ich grinste in mich hinein. Damon.
Ich ging leise nach links in einen Marmorkorridor und fuhr mit den Fingerspitzen über die glänzende Mahagoniverkleidung an den Wänden, während ich versuchte, mir das Lachen zu verkneifen.
Ich blieb kurz vor der geöffneten Tür des Büros des Priesters stehen, lehnte mich zurück und lauschte. Damon antwortete Beir mit weicher, ruhiger Stimme, als folgte er einem Drehbuch.
»Du bist stur und verantwortungslos.«
»Ja, Vater.«
Meine Brust bebte. Damons Worte standen immer in krassem Gegensatz dazu, wie sie klangen, wenn sie seinen Mund verließen. Ja, Vater, als würde er einsehen, dass er Mist gebaut hatte, obwohl er eigentlich meinte: Ja, Vater. Sind Sie nicht stolz auf mich?
Die meisten von uns beichteten während der offiziellen Beichte im Hauptschiff der Kirche, aber Damon wurde gezwungen – nach vielen Jahren fehlgeschlagener »Wandlung« durch seinen Vater und den Priester –, die Beichte wöchentlich persönlich abzulegen.
Und er genoss es ungemein. Er hatte Spaß daran, für jeden der Böse zu sein.
Ich drehte meinen Kopf zur Seite und lugte in den Raum. Der Priester ging um den Schreibtisch herum, während Damon auf einer einzelnen Kirchenbank kniete und Beirs große, schwarze Bibel auf dem Ständer vor sich hatte.
»Willst du gerichtet werden?«, fragte der Priester.
»Wir werden alle gerichtet.«
»Das habe ich dir nicht beigebracht.«
Damons Kopf war so gebeugt, dass ihm seine schwarzen Haare über die Augen hingen, aber ich konnte den Anflug eines Lächelns erkennen, das Beir wahrscheinlich nicht sehen konnte. Er trug unsere Schuluniform – Khakihose mit dem weißen, zerknitterten Oxford-Hemd, geöffneten Manschetten und einer blau-grünen Krawatte, die lose um seinen Hals hing. Wir waren alle auf dem Weg zur Schule, aber er sah aus, als hätte er die Klamotten die ganze Nacht getragen.
Plötzlich drehte er seinen Kopf in meine Richtung, und ich sah, wie er die Zunge herausstreckte und sie anzüglich von einer Seite zur anderen bewegte, während er wie ein Arschloch grinste.
Ich brach in stummes Gelächter aus, grinste ihn an und schüttelte den Kopf.
Idiot.
Dann drehte ich mich um, ging durch den Gang zurück in die Hauptkirche und ließ Damon seine »Stunde« beenden.
Es gab viele Dinge, die ich an diesem Ort liebte, aber Religionsunterricht gehörte nicht dazu. Die Messen langweilten mich, die Sonntagsschule war monoton, viele der Priester unnahbar und kalt, und so viele Gemeindemitglieder waren von Montag bis Samstag gemein zueinander, nur, um dann sonntags zwischen zehn und elf Uhr eine totale Wandlung durchzumachen. Es war alles so eine Heuchelei.
Aber ich mochte die Kirche. Sie war still. Und hier konnte man selbst auch still sein, ohne zu irgendwelchen Interaktionen gezwungen zu werden.
Ich ging den Kirchgang nach hinten und vergewisserte mich, dass an den vier Beichtstühlen kein Licht brannte, das signalisierte, dass sich ein Priester darin befand. Da sie alle leer waren, betrat ich den letzten auf der rechten Seite, der zum Teil hinter einer Säule versteckt lag und der den Buntglasfenstern am nächsten war.
Ich zog den Vorhang zurück, betrat die kleine, dunkle Kabine und schloss den Vorhang wieder. Der Duft von altem Holz umgab mich, aber da war noch etwas anderes, das mir irgendwie bekannt vorkam. Als wäre ich draußen im Wind und dem Regen ausgesetzt.
Ich setzte mich auf den Holzstuhl, blickte auf die verdunkelte Weidentrennwand und wusste, dass die andere Seite leer war. Die Priester hatten sich alle an ihre alltäglichen Arbeiten begeben. Genau, wie es mir gefiel. Ich machte das hier immer alleine.
Ich beugte mich vor, stützte meine Ellbogen auf die Knie und faltete die Hände. Die Muskeln in meinen Armen brannten durch die unfreiwillige Beugung.
»Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt«, sagte ich mit leiser Stimme. »Meine letzte Beichte ist einen Monat her.«
Ich musste schlucken, weil mir bewusst wurde, dass ich mir zuhörte, wenn kein Priester anwesend war. Und ob man es glaubte oder nicht, das war manchmal viel schwerer. Es gab niemanden, der mir Vergebung erteilen konnte, außer ich selbst.
»Ich weiß, dass Sie nicht hier sind«, sagte ich zu dem leeren Stuhl auf der anderen Seite der Trennwand. »Ich weiß, dass ich das schon lange genug mache, um mir meine Entschuldigungen sparen zu können, aber …« Ich hielt inne und suchte nach den richtigen Worten. »Aber manchmal kann ich nur reden, wenn niemand zuhört.«
Ich holte tief Luft und ließ meine Hüllen fallen.
»Wahrscheinlich muss ich die Dinge einfach laut aussprechen«, grübelte ich. »Selbst wenn ich die billige Buße nicht bekomme, die nichts dazu beiträgt, die Schuld zu lindern.«
Ich atmete den Duft von Wasser und Wind ein und wusste nicht, woher er kam, aber er verlieh mir das Gefühl, in einer Höhle zu sein. Sicher vor Augen und Ohren.
»Ich brauche Sie nicht. Ich brauche nur diesen Ort«, gab ich zu. »Was stimmt nicht mit mir, dass ich die Dinge so gerne verstecke? Dass ich meine Geheimnisse mag?«
Ich konnte mir vorstellen, dass Damon jede Menge Geheimnisse hatte. Er prahlte nicht mit seinen nicht gerade legalen Taten, aber er versuchte auch nie, sie zu verbergen. Will, der andere in unserer Gruppe, tat nie etwas ohne Rückendeckung. Irgendjemand wusste also immer, was er gerade vorhatte.
Und Michael – unser Mannschaftskapitän und derjenige, der mir am nächsten stand – versteckte nur die Dinge, die er auch vor sich selbst versteckte.
Aber ich … Ich wusste, wer ich war. Und ich gab mir die größte Mühe, es niemanden sehen zu lassen.
»Ich lüge meine Eltern gerne an«, flüsterte ich fast. »Es gefällt mir, dass sie nicht wissen, was ich letzte Nacht oder letzte Woche getan habe oder was ich heute Nacht tun werde. Es gefällt mir, dass niemand weiß, dass ich gerne allein bin. Dass ich gerne kämpfe, dass mir die privaten Räume in den Clubs gefallen …« Ich schweifte ab, verlor mich in meinen Gedanken und dachte an den vergangenen Monat seit meiner letzten Beichte und an all die Nächte, in denen ich mich selbst verloren hatte.
»Es gefällt mir, dass meine Freunde einen schlechten Einfluss auf mich haben«, fuhr ich fort. »Und ich beobachte gerne.«
Ich nahm eine Faust in die andere und zwang mich zu den nächsten Worten.
»Ich beobachte gerne Menschen. Das habe ich erst vor Kurzem an mir entdeckt.« Ich fuhr mir mit einer Hand durchs Haar. Die Spitzen waren hart vom Gel. »Teil von etwas sein zu wollen, zu fühlen, was sie fühlen, das ist fast heißer, als tatsächlich ein Teil von etwas zu sein.« Ich blickte auf die dunkle Trennwand und sah, dass sie nur einen kleinen Spalt geöffnet war. »Und ich verstecke das gerne. Ich will nicht, dass meine Freunde mich so gut kennen, wie sie denken, dass sie mich kennen. Ich weiß nicht, warum.« Ich schüttelte nachdenklich den Kopf. »Es gibt Dinge, die einfach aufregender sind, wenn sie ein Geheimnis bleiben.« Ich ließ den Kopf fallen und seufzte. »Aber so sehr es mir auch gefällt, nicht gesehen zu werden, so einsam ist es auch. Es gibt keine Verbindung.«
Was nicht ganz stimmte, wenn man es von außen betrachtete. Michael, Will, Damon … wir waren alle aus dem gleichen Holz geschnitzt. Wir alle liebten das Wilde und sehnten uns nach dem Rausch, der damit einherging, dass wir Dinge taten, die wir nicht tun sollten.
Aber ich? Ich mochte meine Privatsphäre. Mehr als sie.
Und ich mochte es schmutzig. Genau wie sie.
Ich schob die Scham beiseite und kam wieder aufs Wesentliche zurück. »Kurz gesagt, ich lüge. Die ganze Zeit. Zu oft, um es zu zählen.« Ich belüge jeden. »Die meiste Zeit bin ich auf meinen Vater böse. Ich habe den Namen des Herrn im vergangenen Monat mindestens fünfhundertmal missbraucht, und ich hatte unehelichen Sex, um die Monotonie jeder wachen Minute zu durchbrechen, die von unreinen Gedanken geprägt ist.« Ich schüttelte den Kopf und lachte über mich selbst. »Buße wird mich nicht dazu bringen, aufzuhören, und ich habe nicht die Absicht, mich zu ändern, also …«
Deshalb brachte es mir auch nichts, vor einem Priester zu beichten. Mir gefiel, dass ich alles falsch machte.
Aber es fühlte sich gut an, es zuzugeben. Wenigstens beichtete ich, oder? Wenigstens wusste ich, dass ich Dinge tat, die ich nicht tun sollte. Das war doch schon etwas.
Ich schloss die Augen, lehnte mich gegen die Wand und genoss die Stille. Ich konnte nicht mehr auf heute Abend warten, verdammt. Der Gedanke an die Katakomben oder an den Friedhof, oder wo immer wir auch aufschlagen mochten, erfüllte mich mit Verlangen. Nach meiner Maske, nach der Angst, der Jagd … Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und spürte, wie Hitze meinen Körper emporstieg.
Das Plätschern des Brunnens im hinteren Teil der Kirche erklang leise, und ich hörte das Echo eines Hustens in der Ferne. Ich wusste nicht, was ich zuerst tun würde – etwas kaputt machen, Sex haben oder eine Prügelei anzetteln. Aber ich wollte, dass es jetzt passierte, und es war noch nicht mal dunkel. Heute war das Highlight meines Jahres.
»Es gibt eine Geschichte …«, ertönte plötzlich eine Stimme, und ich zuckte zusammen.
Ich riss die Augen auf, und das Herz rutschte mir in die Hose. Was, zum …?
»Was, zum Teufel?«, entfuhr es mir, und ich setzte mich aufrecht hin. »Wer ist da?«
Die Stimme – eine weibliche Stimme – war ganz aus der Nähe gekommen.
Von der anderen Seite des Beichtstuhls.
Ich sprang von meinem Stuhl auf, dessen Beine auf dem Marmorboden quietschten.
»Nein, bitte nicht«, flehte sie und wusste wahrscheinlich, dass ich gleich die Tür zu der Priesterkammer auf der anderen Seite aufreißen würde. »Ich wollte nicht lauschen, aber ich war schon hier, und du hast angefangen zu reden. Ich werde nichts sagen.«
Sie klang jung, vielleicht mein Alter, und nervös. Ich starrte auf die Trennwand, hinter der ihre Stimme erklang.
»Du warst die ganze Zeit hier?«, knurrte ich und dachte an den ganzen Scheiß, den ich gerade erzählt hatte. »Was soll das? Wer bist du?«
Ich riss meinen Vorhang auf, aber dann hörte ich, wie sie die Trennwand auf ihrer Seite öffnete. »Bitte«, flüsterte sie. »Ich will mit dir reden, und das kann ich nicht, wenn du mich siehst. Gib mir eine Minute. Nur eine Minute.«
Ich hielt inne und presste die Zähne aufeinander. Was tat sie hier, verdammt? Wusste sie, wer ich war?
»Du darfst mich sehen«, sagte sie. »Aber gib mir erst eine Minute.«
Etwas an ihrer Stimme klang verletzlich. Als wäre sie eine Vase, die am Tischrand schaukelte. Ich stand einen Moment lang wie versteinert da und überlegte, ob ich sie aus reiner Neugier aus dieser Kabine herausholen oder ihr die Minute geben sollte.
Okay. Nur eine Minute.
»Es gibt da eine Geschichte«, fing sie erneut an, als ich mich nicht weiter bewegte. »Über das Pope Hotel in Meridian City. Kennst du das?«
Ich schaute auf die Trennwand, konnte aber ihren Umriss im Dunkeln kaum ausmachen.
Das Pope? Diese Multi-Millionen-Dollar-Verschwendung auf der schäbigen Seite der Stadt?
Ich schloss den Vorhang und setzte mich wieder. »Wer bist du?«
»Es gibt ein Gerücht über das dreizehnte Stockwerk«, fuhr sie fort und ignorierte meine Frage. »Es existiert, aber niemand kommt hinein. Hast du von der Geschichte gehört?«
Ich lehnte mich etwas zurück, war aber immer noch angespannt und auf der Hut. »Nein.«
»Es heißt, dass die Familie, der das Pope gehört, in jedem ihrer Hotels ein dreizehntes Stockwerk hat errichten lassen. Für den Eigengebrauch der Familie«, erklärte sie mir. »Das gesamte Stockwerk ist ihr Wohnbereich, wenn sie in der jeweiligen Stadt in einem ihrer Hotels wohnen. Aber für Gäste ist es nicht zugänglich. Der Fahrstuhl hält in diesem Stockwerk nicht, und als danach gesucht wurde, gab es auch keine Möglichkeit für den Fahrstuhl, dort zu halten. Das Stockwerk ist eingemauert.« Sie klang jetzt ganz aufgeregt. »Genau wie das Treppenhaus an dieser Stelle.«
»Wie kommt die Familie dann in das geheime Stockwerk, wenn sie will?«
»Das ist die Frage«, sagte sie. »Das ist das Geheimnis. Lange haben die Leute angenommen, dass es nur ein Gerücht war, das von den Besitzern und den Angestellten verbreitet wurde, um den Bekanntheitsgrad des Hotels zu erhöhen.« Sie hielt inne, und ich hörte, wie sie tief einatmete. »Aber dann begannen die Gäste sie zu bemerken.«
»Sie?«
»Eine tanzende Frau«, antwortete sie.
»Eine tanzende Frau«, wiederholte ich, und plötzlich war meine Neugier geweckt.
Ein geheimes Stockwerk? Ein geheimer Eingang? Ein Geistermädchen?
Ich hatte das Gefühl, dass sie nickte, konnte mir aber nicht sicher sein. »Nach Mitternacht, wenn fast alle Gäste in ihren Zimmern sind und das Hotel leise und dunkel ist – dann sagen sie, dass man sie sehen kann.« Jetzt flüsterte sie fast, und ich konnte das Lächeln in ihrer Stimme hören. »Sie tanzt ganz alleine, wie eine Ballerina – unten, im dunklen, vom Mondlicht beschienenen Ballsaal. Zu einem gespenstischen Schlaflied.«
Ich konnte die Umrisse ihrer Lippen im Schatten sehen.
»Ein weiteres Gerücht besagt, dass auch im dreizehnten Stockwerk eine Ballerina auf einem Balkon tanzt«, fuhr sie fort. »Sie konnten sie aus den Fenstern weiter oben sehen. Der leichte Regen, der in den Lichtern der Stadt reflektiert wird, tanzt mit ihr, während sie sich dreht und Sprünge macht. Über die Jahre hinweg sind immer mehr Geschichten, Sichtungen und Fragen hinzugekommen … Ein Mädchen, das nie ein- und auscheckt, sich am Tag versteckt und in der Nacht tanzt.« Dann flüsterte sie kaum hörbar, und ich bekam eine Gänsehaut. »Immer alleine, immer versteckt.«
Es konnte nicht wahr sein, aber irgendwie wollte ich es glauben. Es war wie eine Schatzsuche, oder? Ein Mädchen, abgeschirmt von der Außenwelt, das sich versteckt. Direkt vor den Augen aller.
»Warum erzählst du mir diese Geschichte?«
»Weil sie immer noch dort ist«, antwortete sie. »Sie versteckt sich in dem geheimen Stockwerk. Das würde ich zumindest gerne glauben. Geheimnisse und Mysterien verleihen dem Leben mehr Spaß, findest du nicht?«
Ich grinste in mich hinein, beugte mich vor und stützte meine Ellbogen wieder auf die Knie. »Doch.«
Sie legte ihre Finger an die Trennwand, und endlich sah ich etwas von ihr. Ihre schlanke Hand und Fingerspitzen mit kurzen Nägeln.
»Mir gefallen deine Geheimnisse.« Sie klang atemlos. »Und du tust ja keinem damit weh, richtig?«
Der Wind und das Wasser umgaben mich, und mir wurde klar, dass der Duft von ihr gekommen war. Ich hatte ihn gerochen, als ich den Beichtstuhl betreten hatte. Sie war schon da gewesen.
»Lauschst du oft den Beichten anderer Menschen?«, fragte ich fast belustigt.
»Manchmal.«
Ihre Antwort kam so schnell, dass ich sie einfach bewundern musste. Mir gefiel, dass es ihr so leichtfiel, ehrlich zu sein, und ich hoffte irgendwie, dass es an mir lag.
»Ich lüge auch«, gestand sie.
»Wen belügst du?«
»Meine Familie«, sagte sie. »Ich belüge sie die ganze Zeit.«
»Wann belügst du sie?«
»Immer, wenn ich muss, damit sie glücklich sind. Ich sage ihnen, dass es mir gut geht, wenn es mir nicht gut geht. Ich treffe mich mit meiner Mutter, obwohl ich es nicht sollte. Ich belüge sie darüber, dass ich versuche, loyal zu sein.«
»Ist es wichtig, dass du ihnen die Wahrheit verschweigst?«
»Es ist so nötig wie ihr Wunsch, jeden meiner Schritte zu kennen, ja.« Ihre Finger glitten die Trennwand hinab, und ihre Nägel kratzten leicht daran. »Sie betrachten mich immer noch als Kind. Unfähig.«
»Du klingst, als könntest du es sein«, sinnierte ich. »Jung, meine ich.«
Sie schnaubte leise auf. »Ich war schon mit sechs Jahren uralt. Kannst du das auch hören?«
Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, sie zu verstehen. Ihre Stimme, alles, was sie sagte, wer sie war … Mit sechs Jahren schon uralt. Sie war zu schnell erwachsen geworden. Das hatte sie gemeint.
Ich lehnte mich zurück und sah, wie sich ihr Umriss auf der anderen Seite der Trennwand bewegte. Ich wollte sie sehen, aber ich wollte nicht, dass sie aufhörte zu reden. Noch nicht.
Sie hatte gesagt, sie könne nicht mit mir reden, wenn ich sie sah. Kannte ich sie?
»Wir sind immer nur gut, weil es Konsequenzen gibt«, sagte ich zu ihr. »Wenn es die nicht gibt, zeigt jeder sein wahres Ich. Wie wenn man eine Maske abnimmt.«
»Oder sich eine anzieht«, entgegnete sie. »Schließlich liegt eine gewisse Freiheit darin, sich zu verstecken, oder?«
Ja, da hatte sie vermutlich recht …
»Gefällt es dir, eine Maske zu tragen?«, trällerte sie und wechselte das Thema.
Das kam aus heiterem Himmel, und mein Herz machte einen Sprung. »Warum fragst du mich das?«
Sie wusste, wer ich war, oder? Sie wusste, dass Devil’s Night war.
»Ich mag das Gefühl«, sagte sie. »Wie diese Trennwand und die Dunkelheit. Sie sind auch wie Masken, oder?«
Schon irgendwie.
»Ich könnte weiß Gott wer sein.« Ihre verletzliche Stimme klang jetzt weich und verspielt. »Ich könnte ein Mädchen sein, mit dem du aufgewachsen bist. Eine Klassenkameradin. Die kleine Schwester von jemandem. Das Mädchen, auf das du mit sechzehn aufgepasst hast …«
Meine Mundwinkel zuckten, und mir gefiel die Idee. Dass ich ihre Stimme nicht erkannte, hieß nicht, dass ich sie nicht kannte. Sie könnte wirklich ein Mädchen sein, an dem ich jeden Tag vorbeiging. Jemand, den ich nie eines Blickes würdigte. Oder sie könnte die Freundin eines Freundes sein oder eine der Töchter des Gärtners. Wer wusste das schon?
»Und du könntest auch jeder sein«, überlegte sie. »Der Freund einer Freundin, ein Lehrer, auf den ich einen Crush hatte oder einer der Freunde meines Vaters. Du könntest alles zu mir sagen. Ich könnte alles zu dir sagen. Und es gäbe keine Scham, weil wir uns nie von Angesicht zu Angesicht sehen müssten. Nicht, wenn wir nicht wollen.«
Ich beugte mich weiter vor und versuchte, mehr von ihrem Geruch einzuatmen.
Ich wollte sie sehen. Ich musste sie definitiv sehen.
»Ich werde deine Geheimnisse für mich behalten«, sagte ich zu ihr. »Egal, wer du bist.«
»Du bist eins meiner Geheimnisse«, entgegnete sie. »Ich versuche dich zu stehlen, aber ich wünschte, ich würde das nicht wollen.«
»Was soll das heißen?« Mich stehlen?
»Was beobachtest du gerne?«, fragte sie.
»Was?« Sie wechselte wieder das Thema. Sie war mir viel zu schnell, und ich hatte Mühe, mitzuhalten.
»In deiner Beichte hast du gesagt, dass du gerne beobachtest. Was?«
Ich kaute auf meiner Lippe und zögerte. »Ich glaube, das weißt du«, antwortete ich ausweichend. »Du kannst es dir vorstellen, großes Mädchen.«
Zum ersten Mal lachte sie. Es war ein perfekter, unschuldiger Klang, und meine Hände kribbelten plötzlich vor Verlangen, sie zu berühren.
»Und was, wenn ich auch gerne beobachte?«, fragte sie neckisch. »Zeig es mir mit deinen Worten.«
»Ich kann nicht.« Ich blickte nach unten und schämte mich plötzlich doch.
»Bitte«, flüsterte sie jetzt, und ich hätte schwören können, dass ich die Hitze ihres Atems auf meinem Gesicht spürte. »Rede mit mir. Erzähl mir, was du keinem anderen erzählst.«
Ich schüttelte den Kopf. Die Art, wie sie redete … es klang manchmal wie eine Frau, die sich auf meinen Schoß setzte, die Lippen nur wenige Zentimeter von meinen entfernt.
Aber jetzt klang sie wie ein kleines Mädchen, das unbedingt seine Süßigkeiten haben wollte.
»Wann hast du zum letzten Mal gebeichtet, Kleine?«, wollte ich wissen und drang tiefer in ihren Freiraum ein.
»Ich habe noch nie gebeichtet.«
»Bist du nicht katholisch?«
»Nein.«
Warum war sie dann hier?
Und warum saß sie auf der Seite des Priesters im Beichtstuhl? »Du bist selbst ein kleines Mysterium, oder?«, fragte ich und erwartete keine Antwort.
»Komm schon. Wobei schaust du gerne zu?«, fragte sie mich wieder, diesmal drängender.
Ich öffnete meinen Mund, aber es kam nur ein Seufzen heraus.
Mein Gott. Wobei schaute ich gerne zu? Das konnte ich ihr nicht erzählen. Verdammt.
Ich schloss die Augen. Ich musste hier weg. Was, wenn sie mich kannte? Was, wenn ich mit ihr zur Schule ging? Was, wenn sie jemand war, den ich mochte? Sie würde diese ganze Scheiße nicht hören wollen.
Aber als ob sie meine Angst spüren konnte, sagte sie zu mir: »Hab keine Angst. Ich stelle mir bereits das Schlimmste vor und bin immer noch hier, richtig?«
Ich schüttelte den Kopf und kam mir blöd vor. Aber ich lachte trotzdem. »Es gefällt mir …« Ich fuhr mir mit einer Hand übers Gesicht. »Einer meiner Freunde hatte diesen Sommer ein Mädchen mit im Fernsehraum«, sagte ich und begann von vorne. »Es war schon spät, wir waren alle ziemlich betrunken, und die Stimmung war aufgeheizt. Er hat angefangen, sie zu küssen und sie zu befummeln. Nichts, was ich nicht schon gesehen hätte, aber sie hat zu mir geschaut. Wahrscheinlich hat sie erwartet, dass ich mitmache, aber …«
Ich holte tief Luft. Ich hatte nicht das Gefühl, im Moment sicher zu sein. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich mich in diesem dunklen Beichtstuhl mit einer Trennwand zwischen mir und diesem Mädchen, das ich vielleicht kannte, versteckte. Ich sollte den Mund halten.
Aber ein Teil von mir wollte das nicht. Jedes Wort brachte mich näher an den Abgrund. Näher an den Fall. Ich wollte fallen.
Ich fuhr fort: »Irgendetwas ließ mich dieses Mal sitzen bleiben. Ich konnte meinen Blick nicht von ihr abwenden, aber ich konnte mich auch nicht bewegen.«
Das Mädchen auf der anderen Seite blieb still, aber ich wusste, dass sie noch da war.
»Ich wollte mich nicht bewegen«, gestand ich. »Und sie konnte ihren Blick auch nicht von mir lassen. Sie saß auf seinem Schoß und hat sich an ihm gerieben, hat aber die ganze Zeit nur mich angesehen.«
Ich schloss einen Moment lang die Augen und erinnerte mich an den Anblick des Mädchens, das sich an ihm gerieben hatte. Aber es war nur für mich gewesen. Alles, was sie getan hatte, hatte sie getan, damit ich zuschaute. Ich hatte sie kontrolliert.
»Ich konnte sehen, wie sich ihre Brust beim Atmen schneller bewegt hat. Ich konnte den Schweiß in ihrem Nacken sehen, das nervöse Funkeln in ihren Augen … Sie wusste nicht, was ich tun würde. Sie wusste nicht, ob mir gefallen hat, was ich gesehen habe, oder ob ich jeden Moment aufspringen würde. Sie hatte Angst. Und war aufgeregt.«
Sie hatte keine Ahnung gehabt, was ich dachte. Wie es mir gefallen hatte, was sie für mich tat, ohne mich überhaupt zu berühren. Ich hatte nicht mit meinen Händen oder mit meinem Mund kommuniziert, nur mein Blick hatte überall auf ihrem Körper gelegen. Und es hatte sie wahnsinnig gemacht, es nicht zu wissen. Aber es hatte ihr gefallen.
»Er hat es mit ihr getrieben«, sagte ich. »Aber ich war derjenige, der sie zum Höhepunkt gebracht hat.«
Ich spürte, dass meine Hose enger wurde, und ich griff mir zwischen die Beine, um meinen Penis zurechtzulegen. Das Verlangen brachte mich dazu, leise zu stöhnen.
»Schäbig, oder?«, sagte ich. »Ekelerregend, schmierig, widerlich …«
»Ja.« Aber ich hörte an ihrer Stimme, dass sie lächelte. »Was hast du dagegen getan?«
»Was meinst du?«
Sie drückte ihre Fingerspitzen wieder an die Trennwand. »Du musst danach ziemlich angetörnt gewesen sein. Was hast du getan?«
Ich unterdrückte ein nervöses Lachen. Sie ließ nichts aus, oder? »Jetzt grillst du mich aber bei lebendigem Leib, Kleine.«
Sie lachte leise auf, und ich konnte ihre Lippen nahe an der Trennwand sehen.
»Wie alt bist du?«, fragte ich.
»Alt genug, um Schlimmeres gesehen und gehört zu haben«, antwortete sie. »Keine Angst. Also, was hat du dann getan?«
»Ich kann nicht …«, presste ich hervor. »Ich habe … Ich habe nichts getan.«
Aber sie wartete, wusste, dass das gelogen war.
Ich benetzte meine trockenen Lippen und fuhr so leise fort, dass ich nicht wusste, ob sie mich hörte. »Ich habe nicht darauf gewartet, dass meine Freunde aufgestanden und zum Auto gegangen sind, um etwas zu essen zu holen«, sagte ich zu ihr. »Und ich habe auch nicht darauf gewartet, dass das Mädchen durch den Gang ins Bad gegangen und in die Dusche gestiegen ist. Ich bin ihr nicht gefolgt und habe auch nicht das Licht ausgemacht, um ihr Angst einzujagen …«
Der Gedanke daran, wie sie nach Luft geschnappt hatte, ließ die Welt um mich herum verschwimmen. Das dunkle Badezimmer, der sich bewegende Duschvorhang, der Wasserdampf, den ich schon riechen konnte …
»Es ist okay«, sagte das geheimnisvolle Mädchen, als ich nicht weiterredete.
»Ich wollte ihr keine Angst machen oder sie zum Schreien bringen.« Ich presste meine Zähne aufeinander und ließ meinen Kopf in die Hände fallen. »Ich habe auch nicht darauf gewartet, dass sie mich in die Dusche gebeten hat, wo ich sie genommen und gespürt habe, wie sie unter meinen Händen gekommen ist …«
Ich fuhr mir mit den Fingern durch das Haar und spürte Schamgefühl in mir aufsteigen, aber gleichzeitig fiel mir eine Last von den Schultern. Wenn dieses Mädchen nicht davonlief, dann konnte es nicht so schlimm sein, oder?
Oder?
»Und ich habe auch nicht jede Sekunde in ihrem engen Körper genossen …«
»Nein, hör auf«, sagte sie und unterbrach mich. »Sag nichts mehr. Bitte.«
Ich hob den Kopf und zuckte zusammen. »Ich mache dir Angst.«
»Nein.«
»Lügnerin.«
»Ja«, sagte sie schließlich. »Du machst mir Angst. Aber es gefällt mir. Ich bin nur …«
»Nur was?«
»Ich bin nur …« Sie hielt inne und atmete schneller. »Nur neidisch.«
»Warum?«
»Weil du sie gejagt hast.« Sie legte ihre blasse Stirn an die Trennwand, und ich berührte ein paar Strähnen ihres dichten, dunklen Haars. »Vielleicht sollte ich mich dir noch nicht zeigen. Vielleicht sollte ich mich auch von dir jagen lassen. Es klingt, als wärst du gut darin.«
Ich lehnte mich zurück, und ein Lächeln umspielte meine Lippen. Ich schämte mich nicht länger. Meinen Blick auf sie gerichtet zog ich meinen Schlüsselbund aus der Tasche und schlitzte mit meinem scharfen Autoschlüssel so schnell die Trennwand auf, dass sie keine Chance hatte, zu entkommen, als ich meine Hand nach ihr ausstreckte und sie am Oberteil packte. Ich zog sie zu mir, beugte mich vor und roch den Wind auf ihrer Haut. Sie fühlte sich klein und leicht an. Ich hielt sie fest, ohne auch nur einen Muskel zu bewegen.
»Wie kommst du darauf, dass ich das nicht schon die ganze Zeit tue?«, zog ich sie auf. »Denkst du, diese kleine Geschichte ist alles, was ich an schmutzigen Dingen auf Lager habe? Soll ich dir vom letzten Sommer erzählen, als ich meine ehemalige Babysitterin getroffen habe, die auf dem Heimweg von ihrer Schwesternschule war? Es hat ihr ziemlich gefallen, wie erwachsen ich geworden bin.«
Sie atmete in kurzen, schnellen Zügen ein und legte ihre Hände auf meine. »Ja.«
Ich kniff die Augen zusammen, ließ ihr Sweatshirt los und legte meine Hand stattdessen an ihr Gesicht. Sie erschauderte unter meiner Berührung, wich aber nicht zurück.
Ihre weiche Haut fühlte sich wie Wasser an, als ich mit den Fingerspitzen über ihr kantiges Kinn und ihre Wange fuhr. Ich streichelte über ihr weiches Ohrläppchen und griff in ihre Haare, um zu spüren, wie weich und lang sie waren. Ich fühlte Stoff an meinem Handrücken und erkannte, dass sie eine Kapuze trug.
Ihre Haare waren am Hinterkopf zusammengebunden, und sie war überall kalt. Im Gesicht, an den Händen, in den Haaren … alles fühlte sich wie ein Eisklotz an.
»Du bist eiskalt«, sagte ich.
Aber sie legte ihr Gesicht in meine Hand und atmete heiß in meine Handfläche. »Mir ist nicht kalt.«
Ihre Lippen berührten meine Hand kaum, und ich wollte ihr näher kommen … ich wollte sie berühren, tat es aber nicht. Sie wich nicht vor mir zurück, und ich wollte es hinauszögern. Also legte ich meine Hand um ihren Nacken und hielt sie fest, während ich mit dem Daumen über ihren Hals fuhr und spürte, wie sie schluckte.
Sie war ganz steif, als ob sie wirklich Angst hätte. Von irgendwo in der Kirche erklang ein Geräusch, und ich erkannte das Trommeln eines Basketballs. Nach Jahren auf dem Platz erkannte ich den Klang wie die Stimme meiner Mutter.
»Es ist Devil’s Night, und der Tag ist noch jung«, sagte sie schließlich. »Vielleicht findest du eine andere, der du heute Nacht Angst einjagen kannst.«
Ich hielt sie noch fester. »Und was, wenn ich dir Angst einjagen will?«
Ich spürte, wie sie lachte. »Dann werde ich vielleicht da sein«, sagte sie scherzhaft und zog sich zurück. »Frohe Jagd!«
Dann hörte ich ein Rascheln und sah Licht in ihre kleine Kabine dringen, bevor die Tür zugeschlagen wurde und es wieder dunkel war.
»Hey.« Ich zog meine Hände wieder in meine Kabine zurück. »Hey!«
Ich stand auf, riss den Vorhang auf, ging raus und sah mich um, bevor ich die Tür zur Kabine des Priesters öffnete. Sie war leer. Ich drehte mich um, sah mich in der Kirche um und sah nur ein paar Menschen in den Bankreihen, aber kein Teenagermädchen. Ich ging zu den Säulen an den Fenstern und schaute hinter jede einzelne, aber da war sie auch nicht.
»Was, zum Teufel?« Wohin war sie verschwunden?
Das Schlagen eines Basketballs kam jetzt näher, und ich blickte auf und sah Damon um die letzte Bank herum auf mich zugehen. Er musste gerade bei Beir fertig geworden sein.
»Was ist los?«, fragte er, eine Zigarette im Mund.
Ich straffte die Schultern, schloss den Mund und versuchte, ruhiger zu atmen. »Nichts.«
Ich hatte keine Ahnung, wie ich erklären sollte, was gerade geschehen war. Außerdem war es nie klug, ihm von einem Mädchen zu erzählen, das man für sich selbst haben wollte. Vorerst zumindest.
Er hielt sich den Ball an die Seite, bückte sich und zündete seine Zigarette an einer der Gebetskerzen an.
»Komm schon, mach sie aus«, schimpfte ich und versuchte, mich nicht nach dem Mädchen umzusehen. Ich konnte sie immer noch fühlen.
Damon richtete sich auf, und das Ende seiner Zigarette glühte orange. Er blies eine Rauchwolke in die Luft. »Als würde uns das interessieren.« Dann nahm er die Zigarette aus dem Mund und stieß erneut die Luft aus.
»Aber es ist verletzend für die Leute, die es interessiert. Kein Wunder, dass du jede Woche zur verdammten Beichte musst.« Ich ging um ihn herum und wurde ungeduldig, ohne zu wissen, warum.
Damon tat alles in seiner Macht Stehende, um ein Arschloch zu sein, aber so war er einfach. Er war immer derselbe.
Aber plötzlich wollte ich aus irgendeinem Grund heute Nacht nicht mehr dasselbe. Ich wollte nicht, dass er er oder ich ich war. Heute Nacht wollte ich nichts verstecken.
Es ist Devil’s Night, hatte sie gesagt. Sie wusste, was wir vorhatten. Sie kannte mich. Wenn sie mich nicht fand, dann würde ich sie finden.
Ich nahm ein paar Wasserflaschen aus dem Kübel mit Eiswürfeln neben den Handtüchern und ging Richtung Dampfbad. Die feuchte Hitze stieg mir in die Nase, als ich die Milchglastür öffnete und eintrat.
Im Männerclub von Hunter-Bailey war zu dieser Tageszeit nicht viel los. Und egal, wie beschäftigt meine Freunde und ich waren – oder wie verkatert –, an den meisten Vormittagen trafen wir uns hier.
Ich blickte auf und sah sofort Michael zwei Stufen weiter oben auf der Marmorbank sitzen, die um den Raum herumführte. Will saß vornübergebeugt auf der rechten Seite, eine Stufe weiter unten. Er hob den Kopf, und die Strapazen der letzten Nacht standen ihm in sein blasses, erschöpftes Gesicht geschrieben. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und ließ den Kopf wieder fallen, während er vor sich hin brummte: »Verdammt.«
Ich schüttelte den Kopf und hielt ihm eine Wasserflasche hin. »Du brauchst neue Laster.«
Der Mistkerl war jeden einzelnen Tag betrunken. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, verprasste er jeden Cent, den ihm seine dämlichen, gutmütigen Eltern gaben, für die drei Dinge, denen er sein Leben gewidmet hatte: Alkohol, Frauen und – wie ich langsam auch vermutete – Tabletten und Koks.