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Sinnliche Verführung und dunkle Geheimnisse ... Damons Torrance ist gefährlich und unberechenbar. Als er nach Thunder Bay zurückkehrt, hat er nur ein Ziel: Er will Rache – und das Leben von Winter Ashby zerstören, deren Aussage ihn ins Gefängnis gebracht hat. Doch Winter weigert sich, sein Opfer zu sein. Um zu gewinnen, muss sie sich auf sein düsteres Spiel einlassen, bei dem schon bald glühender Hass und verbotenes Verlangen aufeinandertreffen – und die dunkelsten Geheimnisse von Thunder Bay ans Licht kommen. Band 3 der »Devil's Night«-Reihe
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Seitenzahl: 967
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((bei fremdsprachigem Autor))
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Christina Kagerer
© Penelope Douglas 2019
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Hideaway«, Penelope Douglas LLC, Las Vegas, 2019
© everlove, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2024
Redaktion: Svenja Kopfmann
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Covergestaltung: zero-media.net, München, nach einem Entwurf von Colleen Reinhart
Covermotiv: Henrik Sorensen / Getty Images
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Cover & Impressum
Widmung
Zitat
Contentwarnung
PLAYLIST
KAPITEL 1
WINTER
KAPITEL 2
WINTER
Gegenwart
KAPITEL 3
DAMON
Sieben Jahre zuvor
KAPITEL 4
DAMON
Gegenwart
KAPITEL 5
WINTER
Sieben Jahre zuvor
KAPITEL 6
WINTER
Gegenwart
KAPITEL 7
DAMON
Sieben Jahre zuvor
KAPITEL 8
WINTER
Sieben Jahre zuvor
KAPITEL 9
DAMON
Gegenwart
KAPITEL 10
WINTER
Gegenwart
KAPITEL 11
WINTER
Sieben Jahre zuvor
KAPITEL 12
DAMON
Gegenwart
KAPITEL 13
WINTER
Sieben Jahre zuvor
KAPITEL 14
WINTER
Gegenwart
KAPITEL 15
DAMON
Gegenwart
KAPITEL 16
WINTER
Fünf Jahre zuvor
KAPITEL 17
DAMON
Fünf Jahre zuvor
KAPITEL 18
WINTER
Gegenwart
KAPITEL 19
DAMON
Gegenwart
KAPITEL 20
DAMON
Fünf Jahre zuvor
KAPITEL 21
WINTER
Fünf Jahre zuvor
KAPITEL 22
WINTER
Gegenwart
KAPITEL 23
DAMON
Gegenwart
KAPITEL 24
WINTER
Gegenwart
KAPITEL 25
DAMON
Gegenwart
KAPITEL 26
WINTER
Gegenwart
KAPITEL 27
DAMON
Gegenwart
KAPITEL 28
DAMON
Gegenwart
KAPITEL 29
DAMON
Gegenwart
KAPITEL 30
WINTER
Gegenwart
KAPITEL 31
WINTER
Gegenwart
KAPITEL 32
DAMON
Gegenwart
KAPITEL 33
DAMON
Gegenwart
KAPITEL 34
DAMON
Gegenwart
EPILOG
DAMON
KILL SWITCH – BONUSSZENE
DAMON
DANKSAGUNG
Contentwarnung
Anmerkungen
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für Z. King
Es hat seine Gründe, dass die Dinge nun einmal so sind.
– Bram Stoker, Dracula
LIEBE LESERINNEN UND LESER,
Obwohl der Roman Kill Switch ein alleinstehendes Buch ist, baut die Handlung auf Ereignissen auf, die in Corrupt und Hideaway stattgefunden haben. Wir empfehlen, erst die beiden anderen Bände der Reihe zu lesen, bevor ihr mit diesem Roman beginnt.
Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Um euch das bestmögliche Leseerlebnis zu ermöglichen, findet ihr deshalb am Buchende[1] eine Contentwarnung.
Euer everlove-Team
»37 Stitches« von Drowning Pool
»And the World Was Gone« von Snow Ghosts
»Bad Company« von Fiver Finger Death Punch
»Beggin for Thead« von Banks
»Black Magic Woman« von VCTRYS
»Bloodletting (The Vampire Song)« von Concrete Blonde
»Cannibal Song« von Ministry
»Cry Little Sister« von Marilyn Manson
»Dark Paradise« von Lana Del Rey
»Deathwish« von Red Sun Rising
»Don’t Say a Word« von Ellie Goulding
»Fear the Fever« von Digital Daggers
»Girls Just Wanna Have Fun« von Chromatics
»Go to Hell« von KMFDM
»Go to War« von Nothing More
»Hater« von Korn
»Holy Water« von Laurel
»Human« von Rag ’n’ Bone Man
»Is Your Love Strong Enough?« von How to Destroy Angels
»Me Against the Devil« von The Relentless
»Mouth« von Bush
»My Pregogative« von Bobby Brown
»Nothing Else Matters« von Apocalytica
»Plastic Heart« von Nostalghia
»Season of the Witch« von Donovan
»Serenity« von Godsmack
»Seven Nation Army (The Glitch Mob Remix)« von The White Stripes
»Sleep Walk« von Santo & Johnny
»S. O. S. (Anything but Love)« von Apocalytica (feat. Cristina Scabbia)
»Something I Can Never Have« von Nine Inch Nails
»Then He Kissed Me« von The Crystals
»Voices« von Motionless in White
Meine Ballettschläppchen schlurfen über den Holzboden, als ich langsam den langen Gang entlanggehe. Der Schein der Kerzen in ihren Haltern säumt die dunklen Wände, und ich spiele mit meinen Fingern, als ich bei jeder geschlossenen Tür, an der ich vorbeigehe, von links nach rechts blicke.
Ich mag dieses Haus nicht. Ich habe es noch nie gemocht.
Aber wenigstens sind die Feste nur zweimal im Jahr – nach den Sommerproben im Juni und nach der Premiere der jährlichen Nussknacker-Aufführung im Dezember. Madame Delova liebt Ballett, und als Gönnerin meiner Schule betrachtet sie es als ein »Geschenk an die Massen, von Zeit zu Zeit aus ihrem Turm herabzusteigen, um die Dorfbewohner zu unterhalten und uns in ihr Haus einzuladen«.
So oder so ähnlich hatte ich es meine Mom einmal sagen hören.
Das Haus ist so groß, dass ich es wahrscheinlich nie ganz sehen werde, und es ist voll mit Dingen, die alle immer bewundern und über die sich alle unterhalten. Aber es macht mich nervös. Ich habe das Gefühl, dass ich jedes Mal, wenn ich mich umdrehe, etwas kaputt mache.
Und es ist zu dunkel. Heute ist es sogar noch schlimmer, da das Haus nur von Kerzenschein erleuchtet wird. Ich nehme an, das ist Madames Art, alles wie einen Traum wirken zu lassen. So, wie sie sich selbst sieht: surreal, zu perfekt und aus Porzellan. Nicht wirklich existent.
Ich presse die Lippen aufeinander und bleibe stehen, bevor ich rufe: »Mom?«
Wo ist sie?
Mit vorsichtigen Schritten gehe ich weiter, ohne sicher zu wissen, wo ich bin oder wie ich wieder zur Party zurückkomme. Aber ich bin mir absolut sicher, dass ich gesehen habe, wie meine Mom nach oben gegangen ist. Ich glaube, es gibt auch ein zweites Stockwerk, aber ich bin mir nicht sicher, wo die Treppe ist, die nach oben führt. Warum sollte sie hier hochkommen? Alle anderen sind doch unten.
Mit jedem Schritt, mit dem ich mich von der Party entferne, presse ich meine Lippen fester zusammen. Die Lichter, die Stimmen und die Musik verschwinden, und langsam verschluckt mich die Dunkelheit des Gangs.
Ich sollte zurückgehen. Sie wird wütend werden, weil ich ihr gefolgt bin.
»Mom?«, rufe ich wieder und zupfe an der Strumpfhose, die ich seit heute Morgen unter meinem Kostüm trage und die unangenehm an meiner Haut reibt. »Mom?«
»Was zum Teufel ist los mit dir?«, schreit jemand.
Ich zucke zusammen.
»Alle fühlen sich in deiner Gegenwart unwohl«, fährt die Männerstimme fort. »Du stehst nur rum! Wir haben darüber gesprochen.«
Ich sehe einen schmalen Lichtstreifen durch eine angelehnte Tür im Gang und gehe näher. Ich bezweifle, dass meine Mom da drin ist. Meine Mom wird nicht angeschrien.
Aber vielleicht ist sie ja doch dort?
»Was geht nur in deinem Kopf vor?«, schreit der Mann weiter. »Kannst du nicht sprechen? Wenigstens ein Mal?«
Aber es kommt keine Antwort. Auf wen ist der Mann wütend?
Ich trete näher und versuche, durch den Türspalt zu sehen, wer im Raum ist.
Zuerst sehe ich nur Gold. Den goldenen Schein der goldenen Lampe auf einem goldenen Schreibtisch. Aber als ich meinen Kopf nach links drehe, schlägt mein Herz wie wild, als ich Madames Ehemann Mr Torrance hinter dem Schreibtisch stehen sehe. Er steht schwer atmend und mit angespanntem Kiefer da, während er auf die Person auf der anderen Seite des Tisches hinabblickt.
»Mein Gott«, zischt er verächtlich. »Mein Sohn. Mein Erbe … Bringst du denn kein verdammtes Wort aus deinem Mund? Du musst ja nur ›Hallo‹ und ›Danke, dass Sie gekommen sind‹ sagen. Du kannst nicht einmal eine einfache Frage beantworten, wenn dich jemand fragt. Was ist nur los mit dir, verdammt?«
Mein Sohn. Mein Erbe.
Ich versuche, einen Blick um die Tür herum zu erhaschen, aber ich kann die andere Person nicht sehen. Madame und Mr Torrance haben einen Sohn. Aber ich sehe ihn selten. Er ist ungefähr so alt wie meine Schwester, geht aber auf die katholische Schule.
»Sag endlich was!«, schreit sein Vater im nächsten Moment.
Ich ziehe scharf die Luft ein und mache instinktiv einen Schritt. Aber aus Versehen gehe ich nach vorne anstatt zurück, die Scharniere quietschen, als sich die Tür noch einen Spalt öffnet, und ich weiche zurück.
O nein.
Schnell trete ich von der Tür zurück, drehe mich um und bin bereit davonzulaufen. Aber bevor ich die Flucht ergreifen kann, wird die Tür geöffnet, Licht strömt über den dunklen Fußboden, und ein großer Schatten thront über mir.
Augenblicklich habe ich das Gefühl, mir in die Hose machen zu müssen, und presse meine Oberschenkel zusammen. Langsam drehe ich den Kopf und sehe Mr Torrance in einem dunklen Anzug dastehen. Der böse Ausdruck in seinem Gesicht wird weicher, und er seufzt auf.
»Hi«, sagt er, und seine Lippen verziehen sich zu einem vagen Lächeln, als er mich begutachtet.
Instinktiv trete ich einen Schritt zurück. »Ich … ich habe mich verlaufen.« Ich muss schlucken und schaue ihm in die dunklen Augen. »Wissen Sie, wo meine Mom ist? Ich kann sie nicht finden.«
Aber da reißt sein Sohn die Tür noch weiter auf, sodass der Türknauf an die Wand schlägt, und stürmt um seinen Vater herum aus dem Zimmer. Schwarzes Haar hängt ihm in die Augen, er hält den Kopf gesenkt, und seine Krawatte hängt ihm lose um den Hals. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, läuft er die Treppe runter.
Ich blicke ihm nach, und erst als seine Schritte verhallt sind, drehe ich mich wieder zu Mr Torrance um.
Er grinst und kommt näher auf mich zu. Ich weiche einen Schritt vor ihm zurück.
»Du bist Margots Tochter«, sagt er. »Winter, richtig?«
Ich nicke und mache noch einen Schritt zurück.
Aber er streckt seine Hand aus und legt sie unter mein Kinn. »Du hast die Augen deiner Mutter.«
Das habe ich nicht. Niemand hat das je gesagt.
Ich hebe das Kinn, damit es seine Hand nicht mehr berührt.
»Wie alt bist du?«, fragt er.
Er greift wieder nach meinem Kinn und dreht meinen Kopf nach links und rechts, während er mich begutachtet. Dann schweift sein Blick von meinem Gesicht hinab zu meinem weißen Turnanzug und dem Tutu, über meine Oberschenkel bis zu meinen Füßen. Dann schaut er mir wieder in die Augen, aber jetzt ist das Lächeln verschwunden. Etwas anderes liegt nun in seinem Blick, und ich weiß nicht, ob es sein Schweigen, seine Größe oder die Tatsache ist, dass ich die Party nicht mehr hören kann, aber ich ziehe mich noch ein paar Zentimeter vor ihm zurück.
»Ich bin acht«, murmle ich und senke den Blick.
Ich brauche seine Hilfe nicht, um meine Mom zu finden. Ich will jetzt einfach nur gehen. Er war so gemein zu seinem Sohn. Meine Eltern sind nicht perfekt, aber noch nie haben sie mich so angeschrien.
»Du wirst eines Tages sehr hübsch sein«, fügt er fast im Flüsterton hinzu. »Wie deine Mutter.«
Nach ein paar Sekunden schaffe ich es, den Kloß in meinem Hals runterzuschlucken.
»Das erste Mal, als ich meine Frau gesehen habe«, fährt er fort, »hatte sie ein Kostüm wie du an.«
Ich weiß, wie Madame in Ballettkostümen aussieht. Im Haus und im Tanzstudio hängen überall Fotos und Gemälde von ihr.
Mr Torrance bleibt einen Moment so stehen, und seine Größe und sein Blick, der auf mich gerichtet ist, verursachen mir ein ungutes Gefühl.
Schließlich lässt er die Hand fallen und atmet tief ein, als wäre er aus den Gedanken gerissen worden. »Geh spielen«, sagt er zu mir.
Ich drehe mich um und laufe den Weg zurück, den ich gekommen bin. Aber ich muss noch einmal einen Blick über die Schulter werfen, um sicherzugehen, dass er weit weg ist und mir nicht folgt. Er geht den Gang nach hinten und öffnet eine Tür, hält einen Moment inne, als sähe er jemanden.
Ich hätte mich fast wieder umgedreht, um weiterzugehen, aber als er aus dem Türrahmen tritt und sich umdreht, um die Tür zu schließen, sehe ich sie.
Meine Mom.
Ich kneife die Augen zusammen und blinzle, um sicherzugehen, dass sie es ist. Weißes Kleid, langes Haar in derselben Farbe wie meine Haare, ein verspieltes Lächeln auf den Lippen …
Die Tür wird geschlossen, und ich bleibe im dunklen Gang stehen. Das Geräusch eines Schlüssels, der im Schloss umgedreht wird, hallt von den Wänden wider.
Ich sollte gehen. Ich weiß nicht, was hier los ist, aber ich glaube nicht, dass ich sie belästigen sollte. Ich drehe mich um, laufe die Treppe runter durch das Foyer und wieder zurück in den hinteren Teil des Hauses zur Party.
Die Hintertür wird geöffnet, ein Kellner geht mit einem Tablett hindurch, und ich flitze nach draußen über die Steinterrasse und durch einen Haufen Erwachsene hindurch. Unterhaltungen ertönen um mich herum, Menschen lachen und essen, während rechts von mir eine Flötenspielerin in hellblauem Kleid bei einem Streicherquartett steht. Sie spielen Vivaldis Vier Jahreszeiten – Musik, die ich von meinem Tanzunterricht nur zu gut kenne.
Die Kellner räumen Geschirr ab, während mit Gläsern angestoßen wird, und ich blicke in den dunkler werdenden Himmel hinauf, wo die Wolken die Sonne verdecken und einen Schatten über die Party werfen. Perfekt für das Kerzenlicht.
Ich sehe eine Gruppe von Leuten und erkenne meine Freunde, die alle in Weiß gekleidet sind, da wir vorhin erst unsere Aufführung hatten. Sie laufen hinter eine Hecke und bilden kichernd einen Kreis um meine drei Jahre ältere Schwester, die in ihrer Mitte steht. Ich zögere nur einen Moment, bevor ich einen Schritt nach vorne mache und ihnen folge.
Ich laufe um die Hecke herum hinter das Haus auf den riesigen Rasen, der links und rechts von Blumenbeeten gesäumt und in der Ferne von Bäumen und Hügeln begrenzt wird. Er erstreckt sich weit und sieht aus wie aus einem Märchen. Abrupt bleibe ich stehen und atme den Wind ein, der mir durch die Bäume entgegenbläst. Ich kriege Gänsehaut auf den Armen und werfe einen Blick zum Haus zurück, auf die Fenster im ersten Stock, von wo ich gerade gekommen bin. Meine Mom könnte nach mir suchen.
Aber die Party ist langweilig, und ich wende mich wieder ab. Weiter hinten sehe ich meine Schwester mit meinen Klassenkameradinnen stehen. Was tun sie da? Sie wirft mir einen Blick zu, grinst und sagt schnell etwas zu den anderen, bevor sie hinter den großen Hecken im Gartenlabyrinth verschwinden.
»Wartet!«, rufe ich. »Ari, warte auf mich!«
Ich laufe den flachen Hügel hinunter Richtung Labyrinth und bleibe nur kurz am Eingang stehen, wo mein Blick auf die Hecken auf der anderen Seite fällt. Der Pfad ist nur noch für ein paar Meter sichtbar, bevor ich gezwungen bin, um eine Kurve zu gehen. Ich habe nicht gesehen, wohin sie gelaufen sind. Was, wenn ich mich verirre?
Ich schüttle den Kopf. Nein. Das konnte nicht gefährlich sein. Wenn es gefährlich wäre, hätten sie es abgesperrt, richtig? Gerade ist ein Haufen Kinder darin verschwunden. Es muss also in Ordnung sein.
Ich laufe los, während der Wind durch die Zypressen weht. Meine Härchen auf den Armen richten sich angesichts des grauen Himmels und der bedrohlichen Wolken auf. Ich biege nach rechts ab, um die Bäume herum, und folge dem Pfad, lasse den Eingang zum Labyrinth immer weiter hinter mir, je tiefer ich hineingehe.
Schon bald weiß ich nicht mehr, wo ich bin.
Der Geruch von Erde erfüllt meine Lunge, wenn ich einatme, und obwohl der Boden grasbewachsen ist, gelangt Dreck in meine Ballettschläppchen, was sehr unangenehm ist. Sie werden kaputtgehen, so viel steht fest.
Aber Madame hat darauf bestanden, dass wir auch nach der Vorstellung unsere Kostüme anbehalten.
Lachen und Rufe ertönen in der Ferne. Ich blicke mich nach allen Seiten um, gehe schneller und folge dem Klang. Sie sind immer noch hier.
Aber nach etwa einer Minute erstirbt der Klang, und ich bleibe stehen und versuche zu hören, wo meine Schwester und meine Freunde sein könnten.
»Ari?«, rufe ich.
Aber ich bin ganz alleine.
Vorsichtig gehe ich den Pfad weiter und komme auf eine offene grüne Lichtung mit einem großen Brunnen in der Mitte. Der Platz ist ungefähr doppelt so groß wie mein Zimmer, umgeben von großen Zypressen und mit drei weiteren Pfaden, die von dem großen offenen Platz wegführen. Bin ich jetzt in der Mitte des Labyrinths?
Der Brunnen ist riesig mit einem grauen Steinbecken am Boden und einem kleineren ganz oben. Aus den Fontänen sprudelt Wasser, das das obere Becken füllt und dann in dicken Wasserfällen ins untere fließt. Ein sehr schönes Geräusch. Wie tosende Stromschnellen. So friedlich.
Da ich nicht aufpasse, wo ich hingehe, laufe ich in jemanden hinein und stolpere zurück.
Die Frau hebt erschrocken die Arme und rückt von mir ab, als wäre ich schmutzig und als würde sie mich nicht anfassen wollen.
Ich blicke in die überraschten Augen von Madame. Dann wird ihr Blick sanfter und ihr Körper anmutig und fließend, als wäre das hier ein Theater und sie auf der Bühne.
»Hallo, Süße.« Ihre Stimme trieft nur so vor Lieblichkeit. »Hast du Spaß?«
Ich trete einen Schritt zurück, senke den Blick und nicke.
»Hast du meinen Sohn gesehen?«, fragt sie. »Er liebt Partys, und ich will nicht, dass er die hier verpasst.«
Er liebt Partys? Ich runzle verwirrt die Stirn. Da scheint sein Vater anderer Meinung zu sein.
Ich will ihr gerade sagen, dass ich ihn nicht gesehen habe, da erweckt etwas in meinem rechten Augenwinkel meine Aufmerksamkeit. Ich blicke nach rechts und schaue die dunkle Gestalt an.
Die dunkle Gestalt im Brunnen.
Sie sitzt im unteren Becken hinter dem Wasser und ist fast vollkommen versteckt.
Damon. Ihr Sohn, der vorhin im Haus von seinem Vater angeschrien wurde.
Ich halte einen Moment inne, dann geht mir die Lüge über die Lippen, bevor ich sie aufhalten kann. »Nein.« Ich schüttle den Kopf. »Nein, ich habe ihn nicht gesehen, Madame. Tut mir leid.«
Ich weiß nicht, warum ich ihr nicht sage, dass er direkt neben uns ist, aber nachdem sein Dad ihn gerade so angeschrien hat, nehme ich an, dass er in Ruhe gelassen werden will.
Ich weiche Madames Blick aus, als könnte sie die Lüge in meinen Augen erkennen, und starre stattdessen geradeaus. Ihr schwarzes Kleid geht ihr bis zur Mitte der Waden und glitzert vor lauter kleinen Juwelen und Perlen. Das Oberteil umschmiegt ihren schlanken Körper, und der Rock des Kleides flattert, wenn sie sich bewegt. Ihr langes schwarzes Haar liegt auf ihrem Rücken und ist so glatt und glänzend wie ein kühler Wasserstrom.
Ich habe meine Mom noch nie gut über sie reden hören, aber obwohl die Leute Angst vor ihr haben, sind sie ihr gegenüber immer nett. Sie sieht nicht viel älter aus als meine Babysitter, aber sie hat einen Sohn, der älter ist als ich.
Ohne noch ein Wort zu sagen, geht sie um mich herum und zurück Richtung Eingang des Labyrinths, während ich einen Moment lang still stehen bleibe und mich frage, ob ich ihr einfach folgen sollte.
Aber das tue ich nicht.
Ich weiß, dass er wahrscheinlich niemanden sehen will, aber irgendwie tut er mir leid, weil er so alleine ist.
Langsam gehe ich auf den Brunnen zu.
Ich blicke durch die nach unten fließenden Wasserfälle hindurch und versuche, ihn zu sehen, während er sich schnell versteckt. Seine Arme, die in einem schwarzen Jackett stecken, liegen auf seinen Knien, und das dunkle Haar hängt ihm über die Augen und klebt an seinen Wangenknochen, die wie Porzellan aussehen.
Warum sitzt er im Brunnen?
»Damon?«, sage ich vorsichtig. »Geht’s dir gut?«
Er sagt nichts, und durch das herabfallende Wasser kann ich sehen, dass er sich nicht bewegt. Als würde er mich überhaupt nicht hören.
Ich räuspere mich und sage mit lauterer Stimme: »Warum sitzt du da drin?« Dann füge ich hinzu: »Kann ich auch reinkommen?«
Das wollte ich eigentlich gar nicht sagen, aber plötzlich bin ich aufgeregt. Es könnte ja Spaß machen, und irgendetwas in mir will, dass es ihm besser geht.
Er bewegt seinen Kopf zur Seite, dreht sich dann aber wieder um.
Ich beuge mich zwischen zwei Wasserfällen hindurch und sehe, dass er seinen Kopf gesenkt hat und ihm das Haar ins Gesicht hängt. Dann sehe ich etwas Rotes an seiner Hand. Blutet er etwa?
Vielleicht will er ein Pflaster. Wenn ich verletzt bin, will ich immer meine Mom und ein Pflaster.
»Ich sehe dich manchmal in der Kathedrale. Aber du nimmst nie das Brot, stimmt’s?«, frage ich ihn. »Wenn die ganze Reihe aufsteht, um die Kommunion zu empfangen, bleibst du immer sitzen. Ganz alleine.«
Er bewegt sich nicht hinter dem Wasser. Genau wie in der Kirche. Er sitzt einfach nur da, wenn alle anderen den Gang entlanggehen, obwohl er alt genug ist. Ich weiß noch, dass er in derselben Kommunionsgruppe wie meine Schwester war.
Ich bin unruhig. »Ich habe auch bald Kommunion«, erzähle ich ihm. »Also, das ist zumindest der Plan. Aber man muss zuerst zur Beichte gehen, und das gefällt mir nicht.«
Vielleicht bleibt er deswegen während der Messe immer sitzen. Man darf das Brot und den Wein nur nehmen, wenn man gebeichtet hat, und wenn er das genauso hasst wie ich, dann sitzt er es vielleicht einfach aus.
Ich suche durch das Wasser hindurch seinen Blick. Der Strahl der Wasserfälle trifft meine Haut und mein Kostüm, und die Härchen auf meinen Armen stellen sich wieder auf. Ich will auch da reingehen. Ich will es sehen. Aber er macht keinen freundlichen Eindruck. Ich bin mir nicht sicher, was er tun wird, wenn ich auch reinsteige.
»Willst du, dass ich gehe?« Ich lege den Kopf zur Seite und versuche, ihm in die Augen zu blicken. »Wenn du willst, dann gehe ich. Mir gefällt es hier nur nicht besonders. Meine blöde Schwester zerstört alles.«
Sie ist mit meinen Freunden vor mir davongelaufen, und meine Mom ist … beschäftigt. In einem Brunnen zu sitzen, könnte durchaus Spaß machen.
Aber er sieht nicht so aus, als wolle er mich hier haben. Oder überhaupt irgendjemanden.
»Ich werde gehen«, sage ich schließlich, trete zurück und will ihn in Ruhe lassen.
Aber als ich mich umdrehe, verändert sich das leise Geräusch des Wassers plötzlich, und ich sehe, dass es jetzt auf seine Hand fällt. Er streckt sie langsam durch den Wasserstrahl hindurch und lädt mich ein reinzukommen.
Ich zögere einen Moment und versuche, seinen Gesichtsausdruck zu erkennen, aber ihm hängen immer noch die nassen Haare ins Gesicht. Ich blicke mich um, sehe niemanden. Meine Mom wird wahrscheinlich sauer sein, wenn ich nass werde, aber … ich will es.
Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, als ich meine Hand ausstrecke und seine kalten Finger anfasse. Dann hebe ich ein Bein und steige in den Brunnen.
So lange her.
Das war vor so langer Zeit, aber dieser Tag hat sich in mein Gedächtnis gebrannt, weil es der letzte war, an dem ich das Gesicht meiner Mutter gesehen habe. Es war der letzte Tag, an dem ich mein Zimmer gesehen habe und die neuen Möbel, mit denen sie es ausstatten wollte. Das letzte Mal, dass ich hinlaufen konnte, wo ich wollte, und das Gefühl gehabt hatte, dass der Weg vor mir ungefährlich war. Das letzte Mal, dass die Menschen sich in meiner Gegenwart nicht unwohl gefühlt haben. Das letzte Mal, dass meine Eltern mich geliebt und nicht als eine Last empfunden haben.
Es war das letzte Mal, dass ich noch ohne Hinterfragen integriert wurde oder dass ich einen Film, einen Tanz oder eine Aufführung so genießen konnte, wie man es sollte.
Es war der letzte Tag, an dem ich mich so gekannt habe, wie ich war, und der erste Tag einer neuen Realität, die niemals mehr rückgängig gemacht werden konnte. Ich konnte nicht zurück. Ich konnte nichts mehr zurückspulen und nicht in dieses Labyrinth gehen. Ich konnte es nicht mehr rückgängig machen, dass ich in diesen Brunnen gestiegen bin.
Denn ich wünschte bei Gott, dass ich es nie getan hätte. Von manchen Fehlern erholt man sich nie, denn nach diesem Tag konnte ich nie wieder sehen.
Und als meine Mutter und ich dreizehn Jahre später an ihrem Hochzeitstag neben meiner älteren Schwester standen, ihr Parfüm rochen und den Priester das heilige Sakrament der Ehe murmeln hörten, kämpfte ich gegen die Erinnerung an, dass dieser Brunnen vor all den Jahren für einen kurzen, wundervollen Moment wirklich ein himmlisches Versteck gewesen war. Und wie sehr ich mir wünschte, jetzt dort zu sein – nur weg von hier.
Die Ringe, der Kuss, der Segen …
Dann war es vollbracht. Sie war verheiratet.
Mein Magen verkrampfte sich, und meine Augen brannten, als ich sie schloss. Nein.
Ich stand da, hörte Geflüster und das Geräusch sich bewegender Menschen und wartete darauf, dass die Hand meiner Mutter mich die Treppe runter aus der leeren Kathedrale führen würde.
Ich brauchte Luft. Ich wollte nur weglaufen.
Aber die Stimmen meiner Mutter und meiner Schwester entfernten sich von mir.
Dann berührten dieselben kalten Finger wie vor all den Jahren in dem Brunnen meine Hand.
»Jetzt …«, flüsterte mir der neue Ehemann meiner Schwester ins Ohr. »Jetzt gehörst du mir.«
Ich erstarrte, ballte meine Hand zur Faust und spürte ihn nach der Zeremonie mir gegenüber in der Limousine sitzen. Damon Torrance. Der Junge im Brunnen.
Der Junge mit dem zerknitterten Anzug, den Haaren im Gesicht und einer blutigen Hand, der mich kaum hatte ansehen und mit mir sprechen können.
Aber jetzt war er ein Mann – groß, selbstbewusst, und er hatte definitiv gelernt zu reden. In seinen finsteren Worten in der Kirche hatte eine Bedrohung gelegen, aber ich konnte immer noch den Brunnen an ihm riechen. Er roch, wie kalte Dinge rochen. Wie eiskaltes Wasser.
»Dein Vater hat uns einen ziemlich hohen Betrag geboten, wenn ich ein Jahr lang mit dir verheiratet bleibe«, sagte meine Schwester, als sie und Damon meiner Mutter und mir gegenüber nebeneinander im Auto saßen. »Ich habe vor, das durchzuziehen. Egal, was du tust.«
Sie sprach in seine Richtung, aber seine Stimme war ruhig und resolut, als er sich schließlich an sie wandte. »Wir werden uns nicht scheiden lassen, Arion. Niemals.«
Seine Stimme wandte sich ab, als würde er aus dem Fenster sehen oder irgendwo anders hin außer zu ihr.
Keine Scheidung? Mein Herz schlug schneller. Natürlich würde er sich von ihr scheiden lassen. Eines Tages, oder? Ich hatte gar nicht glauben können, dass er überhaupt so weit gegangen war. Es ging hier schließlich nur um Rache an meiner Familie. Warum sollte er es ein Leben lang mit ihr aushalten?
Es war sein Plan gewesen, uns zu ruinieren. Einen Beweis für die Veruntreuungen und Steuerhinterziehungen meines Vaters zu finden und ihn dazu zu zwingen, das Land zu verlassen. Die Behörden hatten fast unseren gesamten Besitz beschlagnahmt, unsere Bankkonten eingefroren, und jetzt … sprang der Verursacher der ganzen Misere ein, um drei mittellose Frauen auszunutzen, die Hilfe brauchten. Die jemanden brauchten, der ihr Zuhause rettete und ihnen wieder zu dem luxuriösen Lebensstil und dem gesellschaftlichen Ansehen verhalf, die sie gewohnt waren.
Aber nein, ich verstand es schon. Sosehr ich auch vorgeben wollte, das Ende des Spiels nicht zu kennen, wusste ich tief in mir drin, dass ich es eben doch kannte.
Sein Plan war nicht, uns zu ruinieren, er wollte uns quälen.
So lange, wie es ihm Freude bereitete.
»Du willst mit mir verheiratet bleiben?«, fragte meine Schwester.
»Ich will nicht mit einer anderen verheiratet sein«, verbesserte sie Damon mit monotoner und desinteressierter Stimme. »Du bist so gut wie jede andere, nehme ich an. Du bist hübsch und jung. Du verkörperst Thunder Bay. Du bist gebildet und vorzeigbar. Außerdem bist du gesund, weshalb Kinder kein Problem sein sollten …«
»Du willst Kinder?«
Die Frage meiner Schwester klang fast hoffnungsvoll, und ich schloss meine Augen hinter der Sonnenbrille und zuckte innerlich zusammen.
»O Gott«, keuchte ich und konnte meinen Ekel und meine Übelkeit kaum verbergen.
Schweigen legte sich über das Auto, und ich war mir sicher, dass alle gehört hatten, was ich gesagt hatte. Und obwohl ich ihn nicht sehen konnte, wusste ich, dass sein Blick auf mir lag.
Wie konnte sie ihn immer noch wollen? Und sie würden Kinder in diesen Wahnsinn mit reinziehen? Was er getan hatte, als wir Kinder gewesen waren, war nicht genug, um sie zu überzeugen, wie böse er war. Auch nicht, was er mir auf der Highschool angetan hatte. Sie wusste, dass er sie nicht ausstehen konnte, aber trotzdem wollte sie ihn. Sie hatte ihn schon immer gewollt.
Arion war es egal, dass sie ihn überhaupt nur wegen der schlimmen Lage, in die er uns gebracht hatte, heiraten musste. Wegen ihm hatten wir alles verloren, aber hier war er und gab uns alles zurück, indem er die älteste Tochter heiratete, uns unter seine Fittiche nahm und uns finanziell versorgte. Er machte sich selbst zu unserem Retter, den wir gar nicht erst gebraucht hätten, wenn er uns nicht in diese Notlage gebracht hätte.
Ich hasste ihn. Der neue Ehemann meiner Schwester war der einzige Mann, von dem ich mir vorstellen könnte, ihn eines Tages umzubringen.
»Wenn du außereheliche Affären hast«, warnte Arion ihn, »sei diskret. Und erwarte dann auch nicht von mir, dass ich treu bin.«
»Ari…«, ermahnte meine Mom meine Schwester, den Mund zu halten.
Aber sie redete weiter. »Hast du verstanden?«, wollte sie von ihrem Ehemann wissen.
Ich drehte den Kopf zum Fenster, um mein Gesicht zu verbergen – oder zumindest die Hälfte davon. Vielleicht wollte ich auch nur den Anschein erwecken, dieser Konversation nicht zu folgen. Aber das Auto war zu klein, um seiner Gegenwart zu entkommen. Ich konnte jedes Wort verstehen.
Hätten sie das nicht bereden müssen, bevor sie geheiratet hatten? Oder war das etwa kein Deal Breaker für meine Schwester?
»Lass uns eins klarstellen«, sagte er ruhig. »Ich glaube, du hast vergessen, in welcher Lage du dich befindest, Arion.« Er hielt inne und fuhr dann fort. »Du bekommst meinen Namen. Du bekommst ein finanzielles Polster. Du darfst dein soziales Ansehen in dieser Gemeinde behalten, einschließlich deiner Shoppingtouren, Treffen zum Lunch und der verdammten Wohltätigkeitsveranstaltungen.« Mit jedem Wort klang seine Stimme schroffer. »Deine Mutter und deine Schwester landen nicht auf der Straße, und hier endet meine Verpflichtung dir gegenüber. Rede nur, wenn du gefragt wirst, und stell mir keine Fragen. Das nervt mich.«
Meine Brust hob und senkte sich beim Atmen, und mein Magen verkrampfte sich.
Er fuhr fort. »Ich werde mit anderen Frauen schlafen, aber du wirst nicht mit anderen Männern ins Bett gehen, weil kein anderer Mann der Vater meiner Kinder sein kann. Punkt«, fügte er abfällig hinzu. »Ich werde kommen und gehen, wie es mir gefällt, und ich erwarte, dass du bereit und gut gekleidet bist, wenn wir uns mal als Paar in der Öffentlichkeit zeigen müssen. Du wirst nicht die glücklichste Ehefrau sein, Arion, aber mir wurde gesagt, dafür hat der liebe Gott Shoppingcenter und Antidepressiva erfunden.«
Niemand sagte etwas, und ich ballte meine Faust um meinen Rock. Mir wurde leicht schlecht, weil sie sich nicht traute, ihm zu widersprechen. Aber sosehr ich seine Ehrlichkeit auch hasste, so sehr schätzte ich sie auch. In ihrer Ehe würde es keine Illusionen und falsche Hoffnungen geben.
Damon log nie.
Außer wenn er es tat.
»Und wenn du das durchziehen willst«, warnte er sie, »würde ich mich an deiner Stelle so schnell wie möglich daran gewöhnen, denn der einzige Ausweg aus dieser Ehe für dich ist dein Tod.«
»Oder deiner«, murmelte ich.
Alle schwiegen einen Moment, und ich bekam eine Gänsehaut, aber innerlich grinste ich. Ich stellte mir vor, dass er mich wahrscheinlich mit denselben schwarzen Augen ansah, an die ich mich erinnerte – nicht ganz versteckt hinter demselben, weichen, dicken Haar, von dem ich mir sicher war, dass es noch nie jemand außer mir berührt hatte. Aber es war mir egal. Das hier würde so oder so schlimm werden. Ich würde ihm oder seiner Familie keinen Gefallen tun und auf rohen Eiern laufen.
»Wir haben es verstanden, Damon«, sagte meine Mutter schließlich.
Das Auto wurde langsamer, und ich hörte, wie sich das Tor zu unserem Anwesen quietschend öffnete. Dann wurde das Auto wieder schneller und brachte uns nach Hause. Ich drängte mich am Ende der Rückbank gegen das Fenster und spürte, wie mein Körper gezogen wurde, als wir die Einfahrt umrundeten und vor unserem Haus stehen blieben.
Vielleicht sollte ich dankbar sein, dass wir das Haus noch hatten. Mein Vater – der Bürgermeister von Thunder Bay – war weg, unsere Geschäfte, unser Vermögen und unsere Immobilien beschlagnahmt, und fast jeder Dollar, der auf unseren Namen lief, war eingezogen. Meine Mutter war dankbar, dass Ari und ich wenigstens in unseren Betten schlafen konnten und den Ort, an dem wir aufgewachsen waren, nicht verloren hatten.
Aber sie machte sich etwas vor. Nichts von alldem gehörte noch uns. Das Haus und alles, was darin war, lief jetzt auf den Namen von Damons Vater. Wir hatten wirklich gar nichts mehr.
Man könnte meinen, das würde mir das Herz zerreißen, aber irgendwie fühlte es sich befreiend an zu wissen, dass ich nichts mehr zu verlieren hatte. Er hatte noch nie gegen jemanden gekämpft, der keine Angst hatte.
Die Tür öffnete sich, und ich hörte, wie sich die anderen bewegten und aufstanden.
»Ich komme nicht mit rein«, sagte Damon.
Kurz herrschte Stille, dann setzte meine Schwester zu einem Protest an. »Aber …«, begann sie, aber beendete den Satz nicht.
Keine Ahnung, ob sie beschlossen hatte, dass es die Mühe nicht wert war, ob meine Mutter ihr bedeutet hatte, leise zu sein, oder ob sie sich an seine Anweisung erinnerte, keine Fragen zu stellen. So oder so stieg sie an mir vorbei aus dem Auto, und der leichte Duft ihres Gucci-Parfüms stieg mir in die Nase. Ihr Kleid strich über meine Sandalen.
Meine Mutter stieg nach ihr aus, immer vor mir, um mich zur Eingangstür zu führen.
Aber als ich ihr folgen wollte, wurde ich am Kragen gepackt und gegen einen harten Körper gezogen. Die Autotür wurde zugeschlagen, und ich hörte ein Klicken.
Ich schnappte nach Luft und verspürte einen elektrischen Schlag unter der Haut, als sein warmer Atem auf meine Lippen fiel.
»Winter?«, rief meine Mom von draußen. »Damon, was ist los?«
Ich hörte, wie eine von ihnen am Türgriff rüttelte und versuchte, die Tür wieder zu öffnen.
»Hey.« Der Stimme meiner Schwester folgte ein Klopfen am Fenster.
Ich wollte meine Arme ausstrecken, um ihn wegzuschieben, aber dann ließ ich sie sofort wieder fallen. Er wollte, dass ich mich gegen ihn wehrte, und ich war noch nicht bereit, ihm diese Genugtuung zu geben.
Noch nicht.
»Weise Entscheidung«, flüsterte er. »Spar dir deine Kräfte, Winter Ashby. Du wirst sie noch brauchen.«
Sein Atem streifte meinen Mund und kitzelte mich in den Mundwinkeln, während sich seine Brust schneller als zuvor hob und senkte.
Jetzt war er nicht mehr ruhig.
Die Tür wurde wieder geöffnet, und ich wurde aus dem Auto gezogen. Dann stolperte ich in die Arme meiner Mutter, bevor ich hörte, wie die Autotür wieder zugeschlagen wurde.
Jemand packte mich am Arm – meine Schwester vermutlich –, und ich straffte die Schultern.
»Was sollte das?«, zischte sie.
»Bist du wirklich so schwer von Begriff?«, fuhr ich sie leise an. Wusste sie es wirklich nicht?
Nichts von alldem hatte etwas mit ihr zu tun, und das wusste sie.
Meine Mutter führte mich ins Haus, vorbei an dem erbärmlichen Geplätscher unseres eigenen kleinen Brunnens in der Einfahrt. Sobald wir das Marmorfoyer betraten, spürte ich das Kleid meiner Schwester an mir vorbeirauschen, und ich ließ den Arm meiner Mutter los, um die Hand nach der Treppe vor mir auszustrecken. Im Haus kannte ich meinen Weg.
Über mir knarzten die Stufen. Wahrscheinlich ging Ari gerade in ihr Zimmer.
Was für ein Hochzeitstag. Keine Gäste, kein Empfang, keine Hochzeitsnacht – zumindest noch nicht.
»Mom?«, rief Ari, als ich um das Geländer herum und auf mein Zimmer am Ende des Gangs zugehen wollte. »Er und ich werden ein größeres Zimmer und mehr Privatsphäre brauchen. Und das Hauptbadezimmer.«
Ich knirschte mit den Zähnen und schlug leicht gegen das Holzgeländer, als ich zu meinem Zimmer ging. Ich öffnete die Tür, ging rein, schlug sie wieder zu und schloss sie hinter mir ab. Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und ich griff nach rechts, wo ich sofort den Stuhl spürte, den ich aus dem Esszimmer gestohlen hatte. Ich klemmte ihn zum zusätzlichen Schutz unter die Türklinke.
Er war zwar vielleicht gerade weg, aber er könnte jederzeit wiederkommen.
An jedem Tag. Zu jeder Stunde in der Nacht. Jede Minute.
Mikhail schmiegte seine feuchte Nase an mein Bein, und ich bückte mich, streichelte ihn und zog seinen Kopf an meinen. Ich genoss das Gefühl der einzigen Sache, bei der es mir noch gut ging. Abgesehen vom Tanzen.
Ich hatte den Golden Retriever letztes Jahr geholt, und obwohl ich seine Gesellschaft liebte, würde es schwer sein, nur ihn mitzunehmen, wenn ich jetzt weglaufen würde.
Ich stand auf und rieb mir die Augen.
Mein Gott, ich konnte nicht fassen, was Ari da abzog. Sie wollten meiner Mutter ihr Schlafzimmer wegnehmen. Wut kochte in mir auf, aber das war wahrscheinlich gut. Wir sollten uns nicht hinter irgendwelchen Illusionen verstecken. Wir lebten, aßen und schliefen nur wegen der Gnade eines anderen Menschen. Jetzt waren wir in unserem eigenen Haus nur noch Gäste.
Wie konnte uns mein Vater so zurücklassen?
Wenn er geschnappt worden wäre, wäre er ins Gefängnis gekommen, und ich war mir sicher, dass das Damons Absicht gewesen war. Auge um Auge. Ein kleines bisschen Rache. Eine Dosis seiner eigenen Medizin.
Aber mein Vater hatte gerade noch genug Zeit zum Fliehen gehabt, und niemand wusste, wo er jetzt war. Wenn er etwas von dem Geld benutzt hätte, um uns zu verstecken, um uns mit sich aus dem Land zu nehmen oder um uns im Schutz von Freunden unterzubringen, dann hätte ich ihm vielleicht vergeben können. Oder ich hätte zumindest gewusst, dass wir ihm etwas bedeuteten.
Aber er war einfach gegangen. Und er hatte uns zurückgelassen in dem Wissen, dass wir auf jemand anderen angewiesen wären.
Was würde Damon mit uns machen?
Er würde mit Sicherheit seinen Spaß haben. Meine Schwester war bildhübsch. Meine Mutter hatte immer noch ihre Figur und ihr gutes Aussehen, wenn man den Bemerkungen, die ich gehört hatte, glauben konnte. Meine Schwester würde alles tun, was er von ihr verlangte – genau wie meine Mutter. Wenn sie sich weigerte, würde er einfach mich bedrohen, und sie würde ebenfalls alles tun.
Sie wäre vielleicht sogar eine Option für diese Allianz gewesen, wenn sie nicht noch mit meinem Vater verheiratet wäre. Und ich war auch keine ideale Wahl gewesen, weil ich mich gegen ihn wehrte und das immer tun würde. Ari war die leichteste Wahl.
Aber dass dieser Kelch an mir vorübergegangen war, bedeutete nicht, dass ich in Sicherheit war. Was sollte ich also tun?
Ich musste gehen. Es war an der Zeit, das wusste ich.
Ich hätte gar nicht erst zurückkommen dürfen. Nach der Highschool hatte ich zwei Jahre das College in Rhode Island besucht, hatte dann aber abgebrochen und war zurückgekommen, um mich auf mein Tanztraining zu konzentrieren und zu versuchen, die Choreografen oder Studioleiter davon zu überzeugen, mir eine Chance zu geben. Es war ein schreckliches Jahr gewesen, und es wurde noch schlimmer.
Ich kniete mich hin, schob meine Hände unter das Bett und fühlte nach dem Nylonriemen. Dann zog ich eine gepackte Reisetasche hervor. Die kühle, längliche Tasche hatte ich in meinem Schrank versteckt, seit ich Damon vor fünf Jahren ins Gefängnis gebracht hatte – immer bereit zum Fliehen, weil ich wusste, dass ich den unausweichlichen Kampf nicht gewinnen konnte. In der Tasche befanden sich zwei Sätze Klamotten, ein zweites Paar Sneaker, ein Prepaid-Handy mit Ladegerät, eine Kappe, eine Sonnenbrille, ein Erste-Hilfe-Set, ein Schweizer Taschenmesser und das ganze Geld, das ich seitdem heimlich angespart hatte: Bis jetzt waren es neuntausendzweiundachtzig Dollar.
Natürlich hatte ich Freunde und Verwandte, zu denen ich gehen könnte, aber zu verschwinden war die einzig sichere Möglichkeit. Ich musste untertauchen. Das Land verlassen.
Doch ich brauchte Hilfe, um dorthin zu gelangen. Jemand, dem ich über alles vertraute und der keine Angst vor Damon, seiner Familie oder der Elite dieser Stadt hatte. Jemand, der den neuen Ehemann meiner Schwester überlisten und mich hier rausbringen konnte.
Jemand, den ich nur ungern in die Sache hineinzog, aber ich war mir nicht sicher, ob ich eine Wahl hatte.
»Hey«, rief Ethan aus dem laufenden Auto. »Alles klar?«
Ich nickte, spürte, wie das Auto mich an den Oberschenkeln berührte, und wusste, dass er eine Tür für mich geöffnet hatte. »Klar.«
Es war kurz nach Mitternacht, und eine Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus, als ich die kühle Luft vor unserem Eingangstor einatmete und Mikhail festhielt. Natürlich hätte meine Mutter die Scheinwerfer gesehen, also hatte ich meinen Freund gebeten, mich die Straße weiter runter abzuholen und dreimal zu hupen – zweimal kurz, einmal lange –, damit ich wusste, dass er es war.
Ich war völlig angespannt. Damon war heute Abend nicht zurückgekommen, aber wenn sich nichts geändert hatte, dann war er immer noch der Alte. Er war gerne nachts auf, also könnte er schon auf dem Weg sein, und ich musste mich beeilen, wenn ich ein paar Meilen zwischen mich und diese Stadt bringen wollte, bevor jemand herausfand, dass ich weg war.
Ich hätte gehen sollen, als das FBI vor über einem Monat nach meinem Vater gesucht hatte. Ich hatte gewusst, dass noch so viel mehr los war. Spätestens vor zwei Tagen hätte ich gehen sollen, als meine Mutter und meine Schwester zu einem Treffen mit Damons Vater gerufen worden waren und Arion verlobt zurückgekehrt war.
Aber ich ging jetzt. Ich würde keine einzige Nacht mit ihm in diesem Haus verbringen.
Meine Tasche wurde mir aus den Händen genommen, und ich wusste, dass Ethan sie genommen hatte, um sie auf den Rücksitz zu legen.
»Beeil dich, es ist kalt«, sagte er.
Ich schob den Hund auf den Rücksitz, stieg vorne ein, schloss die Tür und schnallte mich schnell an. Eine Haarsträhne, die sich aus meinem Pferdeschwanz gelöst hatte, streifte meine Lippen, bevor ich sie einatmete, weil ich so schwer keuchte. Ich strich sie zur Seite.
»Bist du dir wirklich sicher, dass du das willst?«, fragte Ethan.
»Ich kann nicht in diesem Haus bleiben«, sagte ich zu ihm. »Sollen sie doch ihre kranken Spielchen ohne mich spielen.«
»Er wird dich nicht gehen lassen.« Ich konnte hören, wie er den ersten Gang einlegte und der Motor lauter wurde. »Er wird keine von euch gehen lassen. Nicht deine Mutter, nicht deine Schwester, nicht dich … Für ihn gehört ihr jetzt alle ihm. Vor allem du.«
Das Auto fuhr los, ich drückte mich an die Lehne, und mit jedem Meter, den wir uns von meinem Elternhaus entfernten, wurde der nicht existierende Atem in meinem Nacken heißer. Ich hatte schon seit langer Zeit nicht mehr gut geschlafen, aber von diesem Moment an würde ich immer über meine Schulter blicken.
Vor allem du. Ethan war einer meiner besten Freunde, und er kannte die ganze Geschichte und wusste, wie schlimm das für mich war.
»Er konnte Arion nur heiraten, weil sie leichte Beute war. Sie hat Ja gesagt«, warnte Ethan mich. »Aber du bist es, die er will.«
Ich sagte nichts und presste die Zähne so fest aufeinander, dass sie schmerzten.
Damon wollte mich nicht. Er wollte mich quälen. Er wollte, dass ich ihn jede Nacht im Zimmer nebenan mit meiner Schwester hörte. Er wollte sehen, wie ich still am Frühstückstisch saß, nervös war, mit den Knien zitterte und mich fragte, ob er mich gerade ansah und was er als Nächstes tun würde. Er wollte jeglichen Seelenfrieden in mir zerstören, den ich in den letzten Jahren, in denen er im Gefängnis gewesen war, erlangt hatte.
Ich stieß die Luft aus. »Es ist mir egal, ob er hinter mir her ist. Ich bin einundzwanzig. Ob ich in diesem Haus bleibe oder nicht, ist nicht seine Entscheidung.«
»Aber er hat die Macht, dich nicht gehen zu lassen«, entgegnete Ethan. »Er wird sich Leute besorgen, wenn es sein muss. Wir müssen bereit sein.«
Ich wusste, dass er recht hatte. Rechtlich gesehen konnte ich tun, was immer ich wollte, aber Damon wäre das egal. Mit oder ohne meine Zustimmung würde er mich dort festhalten, wo er mich haben wollte. Aber ich musste es trotzdem versuchen. Und nie damit aufhören.
»Ich habe keine Angst vor ihm«, murmelte ich. »Nicht mehr.«
»Und deine Mom und deine Schwester? Was er mit ihnen machen wird, wenn du nicht nach Hause kommst …«
Ist nichts anderes, als er sowieso vorgehabt hat, beendete ich seinen Satz in Gedanken.
»Sie wussten, was mit mir passiert ist, als wir Kinder waren. Und was er mir vor fünf Jahren angetan hat«, sagte ich. »Und trotzdem haben sie ihn in unser Leben zurückgeholt. Sie haben mich wegen des Geldes mit ihm konfrontiert. Nicht nur, dass sie mich nicht beschützt haben, nein, sie haben uns alle wieder in Gefahr gebracht. Damons Familie ist böse.«
Arions Verhalten überraschte mich nicht. Wir waren unser ganzes Leben lang wohlhabend gewesen, und sie hatte ihn schon immer gewollt. Wieder Geld zu haben und seine Frau zu sein – selbst wenn er der Grund für unsere ganzen Schwierigkeiten war –, war mehr, als sie sich erhofft hatte. Vielleicht war sie sogar froh, dass das alles überhaupt erst passiert war.
Aber meine Mutter war eine andere Geschichte. Sie hatte gewusst, was es bedeuten würde, ihn wieder in unser Leben zu lassen. Sie kannte das Ende dieses Spiels, und sie hatte mich nicht beschützt.
Und obwohl Ari und ich uns nicht gut verstanden, wollte ich nicht, dass sie litt.
Damon würde ihr das Leben zu Hölle machen. Was er im Auto gesagt hatte, war zweifellos keine Lüge gewesen. Sie würde früher oder später Tabletten nehmen, weil sie sein Verhalten nicht mehr ertrug. Wie konnte meine Mutter das zulassen? Hatte sie wirklich so viel Angst, ihr Zuhause zu verlieren? Machte sie sich solche Sorgen, wie wir überleben würden? Oder ergab dieser intime Blick, den ich zwischen ihr und Damons Vater gesehen hatte, als ich noch ein kleines Mädchen gewesen war, endlich Sinn?
Meine Mutter hatte eine Affäre mit ihm gehabt, oder? Vielleicht war es nicht nur Angst, die sie kontrollierte.
Und trotz allem, was sie zu ertragen bereit waren, würde ich sie diese Entscheidung nicht für mich treffen lassen.
»Wir könnten heiraten«, sagte Ethan, und seine normalerweise lockere und verschmitzte Stimme nahm einen zweideutigen Unterton an.
Obwohl ich nervös war, prustete ich los. »Das würde ihn nicht aufhalten. Es würde uns nicht mal Zeit verschaffen.«
Nicht einmal ein Ehemann könnte mich vor Damon Torrance beschützen.
»Ach, Scheiße«, sagte Ethan leise.
»Was?«
»Cops. Hinter mir.«
Cops? Wir waren erst ein paar Minuten unterwegs. Ich hatte noch nicht einmal gespürt, wie wir auf den Highway abgebogen waren, also waren wir immer noch auf der Landstraße. Hier draußen waren nie Cops. Das wusste ich, weil meine Schwester als Teenager unzählige Male mit mir im Auto auf dieser Straße zu schnell gefahren und nie erwischt worden war.
»Ist das Blaulicht an?«, fragte ich.
»Ja.«
»Sind wir immer noch auf der Shadow Point?«
»Ja.«
»Bleib nicht stehen.« Ich schüttelte den Kopf. »Du bist nicht zu schnell gefahren. Sie haben keinen Grund, uns anzuhalten.«
»Ich muss anhalten.«
Er machte sich keine Sorgen, aber ich steckte meine Hände in die Mitteltasche meines Hoodies und ballte sie zu Fäusten. Hier draußen waren nur Cops unterwegs, wenn sie jemand gerufen hatte.
Irgendetwas stimmte nicht.
»Bitte fahr weiter«, flehte ich ihn an.
»Ist schon okay, Babe.« Ich spürte, wie das Auto langsamer wurde. »Wir sind erwachsen und haben nichts Falsches getan. Wir stecken nicht in Schwierigkeiten.«
Ich fasste an die Stelle, von der ich wusste, dass dort der Türgriff sein musste, und stellte das Radio ab. Meine Ohren konzentrierten sich jetzt auf jedes Geräusch von draußen. Kies knirschte unter den Reifen, und ich wusste, dass Ethan an den Straßenrand fuhr. Er trat auf die Bremse, und mein Körper wurde nach vorne gedrückt. Ich legte meine Hände auf das Armaturenbrett, um mich abzustützen, als er stehen blieb.
Scheiße. Ich hatte nur ein einziges Mal in meinem ganzen Leben in einem Auto gesessen, das angehalten worden war. Und jetzt, gerade heute Nacht …
Eine Autotür wurde geschlossen, und ein leises Geräusch verriet mir, dass Ethan sein Fenster runterfuhr. Der Klang seines schnellen Atems erfüllte das Auto. Er war auch nervös.
»Guten Abend«, sagte eine männliche Stimme. »Wie geht es euch?«
Ich erkannte die Stimme. Kleine Stadt, wenige Polizisten, aber ich hatte noch nicht genug mit ihm zu tun gehabt, um mich an seinen Namen zu erinnern.
»Hey! Ja, uns geht’s gut«, sagte Ethan zu ihm und rutschte auf seinem Ledersitz umher. »Stimmt was nicht? Ich glaube nicht, dass ich zu schnell gefahren bin, oder?«
Stille. Ich stellte mir vor, wie sich der Beamte bückte, um durch Ethans Fenster zu schauen. Ich verhielt mich ganz ruhig.
»Etwas spät, um draußen zu sein, oder?«, sagte er schließlich und ignorierte die Frage völlig.
Sämtliche Härchen auf meinen Armen stellten sich auf. Was ging ihn das an?
Ethan lachte nervös auf. »Kommen Sie, Mann. Sie klingen ja wie meine Mom.«
»Winter?«, sagte der Cop. »Ist alles okay?«
Hitze schoss mir ins Gesicht. Er richtete seine Taschenlampe auf mich.
Schnell nickte ich. »Ja, alles klar bei uns.«
Aber meine Hände begannen zu zittern. Wir hätten nicht anhalten sollen. Wenn wir es nur in den Ort geschafft hätten … unter Leute …
»Kannst du den Kofferraum für uns öffnen?«, fragte der Cop mit schroffem Tonfall. »Ein Rücklicht geht nicht. Ich werde mir das mal ansehen.«
Für uns. Sie waren zu zweit.
»Wirklich?« Ethan rutschte wieder auf seinem Sitz umher. »Das ist ja seltsam.«
Der Kofferraum ging auf, und Ethan atmete aus, während ich still wartete und immer noch die Hitze der Taschenlampe auf meinem Gesicht spürte.
»Wenn Sie dahinten irgendwelche Leichen finden, die sind nicht von mir!«, rief Ethan dem zweiten Cop, der an seinem Kofferraum stand, scherzhaft zu.
Das Auto bewegte sich etwas unter mir, als der zweite Polizist um den Kofferraum herumging, und ich legte meine Hände in den Schoß.
»Gratulation an deine Schwester, Winter«, sagte der Polizist, der immer noch am Fenster stand. »Sieht so aus, als hätte deine Familie endlich mal wieder ein bisschen Glück. Du bist bestimmt sehr dankbar.«
Ich presste die Lippen aufeinander.
»Wo wollt ihr zwei denn hin?«, fragte er.
»In meine Wohnung in der Stadt«, antwortete Ethan.
Eine Pause entstand, die Hitze verließ meine Wange, dann fuhr er fort. »Hast du vor, länger wegzubleiben, Winter?«, fragte der Polizist. »Ist das deine Tasche auf dem Rücksitz?«
Ich schluckte, und plötzlich schlug mein Herz wie wild.
Dann hörte ich die leise tadelnde Stimme des Cops. »Ts, ts, ts … das wird Damon aber gar nicht gefallen.«
Ich drehte mein Gesicht zum Beifahrerfenster. Scheiße. Ich hatte es doch gewusst.
»Wie bitte?«, rief Ethan.
Aber er wurde von dem Polizisten unterbrochen, der von hinten rief: »Ich habe etwas gefunden!«
»Was?«, rief Ethan.
Ich drehte meinen Kopf wieder in ihre Richtung. Sie haben etwas gefunden? In seinem Kofferraum?
»Steigen Sie bitte aus dem Auto aus, Mr Belmont.«
Nein.
»Was haben Sie gefunden? Was ist hier los?«, wollte Ethan wissen.
Aber da wurde schon seine Tür geöffnet, und ich spürte, wie er aus dem Auto stieg. Ich wusste nicht, ob der Cop ihn rauszog oder ob er aus freien Stücken aus dem Wagen kletterte.
Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen. »Ethan …« Aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Jetzt hatten sie ihn.
Ich hörte Geraschel und Gemurmel, und ich konnte spüren, wie sich das Auto unter mir bewegte, als sie sich wieder am Kofferraum zu schaffen machten.
Dann …
»Was?«, rief Ethan. »Das gehört mir nicht!«
Ich drehte mich im Sitz um und hörte Mikhail leise wimmern, als ich versuchte zu hören, was sie redeten.
»Kokain«, sagte einer der Polizisten. »Das ist ein Verbrechen.«
Ich riss die Augen auf. Kokain? Richtiges Kokain? Nein. Schnell schnallte ich mich ab, öffnete die Tür und stieg aus. Ich ließ die Tür offen und legte meine Hand ans Auto, um sie als Stütze zu verwenden, während ich nach hinten ging. Ich sollte nicht aussteigen. Sie würden mich anschreien, aber …
»Sie wollen mich doch verarschen«, knurrte Ethan. »Das haben Sie da reingetan!«
Ich hörte Grunzgeräusche und schnappte nach Luft.
»Woah, woah«, sagte einer der Polizisten. »Stehst du gerade unter Drogeneinfluss?«
Was geschah gerade?
Mehr Grunzen, Kies unter ihren Füßen, und dann wusste ich, dass sie ihn angegriffen hatten.
»Aufhören!«, rief ich und ließ meine Hände nach unten gleiten, als ich beim offenen Kofferraum angekommen war. »Er würde nie Drogen nehmen. Was tun Sie da?«
Ich hörte schweres Atmen – vermutlich Ethan –, während mir die kalte Nachtluft in die Nase drang.
»Wir haben hier mindestens fünfzehn Beutel«, sagte ein Cop.
»Wir haben es wohl mit Dealerei zu tun«, fügte der andere hinzu.
Dealerei. Zwei mögliche Verbrechen? In meinem Kopf drehte sich alles.
»Ihr Mistk…«, knurrte Ethan, wurde aber zum Schweigen gebracht.
»Warten Sie!«, rief ich. »Bitte hören Sie auf. Das ist meine Schuld.«
Das war alles gestellt. Auf keinen Fall hatte er Drogen in seinem Kofferraum gehabt. Diese Cops hatten uns aus einem bestimmten Grund aufgehalten, und das war kein kaputtes Rücklicht.
Ich trat näher. »Ich habe ihn angerufen«, sagte ich, wollte die Schuld auf mich nehmen. »Was soll ich tun? Bitte … tun Sie ihm nichts.«
Einen Augenblick herrschte Schweigen, aber dann hörte ich ein Klicken. Jemand tippte auf sein Handy.
»Sir?«, sagte einer der Cops. »Ich habe sie.«
Damon. Das war er. Ihn hatte der Cop angerufen.
Eine kühle Hand berührte meine, und ich zuckte zurück. Dann wurde mir klar, dass der Polizist das Handy in meine Hand gelegt hatte. Meine Angst und Verwirrung wichen purer Wut. Ich atmete tief ein und presste die Zähne zusammen. Dann hielt ich das Handy an mein Ohr.
»Ich bin sehr enttäuscht, dass du wirklich gedacht hast, das würde funktionieren«, hörte ich eine eisige Stimme sagen. »Obwohl es mich auch überrascht, dass du es überhaupt aus dem Haus geschafft hast.«
Das war nicht Damon.
»Gabriel?«, murmelte ich schockiert.
Damons Dad hatte das alles arrangiert? Ich war mir ziemlich sicher, dass er nicht auf der Hochzeit gewesen war. Ich wusste, dass er alles, was Damon tat, vollkommen unterstützte, aber ich hatte nicht erwartet, dass er ihm auch helfen würde. Er hatte mich beobachtet.
»Mach dir keine Sorgen«, fuhr er fort. »Sie werden ihn morgen gehen lassen.«
»Sie werden ihn jetzt gehen lassen!«, knurrte ich.
Ich würde nicht zulassen, dass mein Freund wegen mir leiden musste. Das war dumm gewesen. Ich hätte es besser wissen müssen. Selbst wenn ich es rausgeschafft hätte, ich hätte Ethan trotzdem auf Damons Abschussliste gesetzt, indem ich ihn involviert hatte.
»Oder wir können ihn bis zur Verhandlung im Knast lassen«, fuhr Mr Torrance fort. »Deine Entscheidung.«
Ich knirschte mit den Zähnen und war zu wütend, um nachzudenken. Ethan war nicht tough. Ich liebte ihn, aber eine Nacht im Gefängnis wäre nicht gut für ihn. Noch schlimmer wären Wochen, Monate oder Jahre. Tränen traten mir in die Augen, aber ich versuchte, sie zu unterdrücken.
»Was willst du?«
»Ich will, dass du deinen kleinen Arsch wieder nach Hause und in dein Bett bewegst«, zischte er.
Ich schüttelte den Kopf und wusste, dass er mich hatte – zumindest jetzt.
Aber nicht für immer.
»Denkst du, ich bin leichte Beute?«, fragte ich ihn herausfordernd.
»Natürlich nicht.« Sein Tonfall wurde sanfter, und er klang fast amüsiert. »Deshalb will er dich ja, Winter. Versuch das nächste Mal nur, nicht so vorhersehbar zu handeln.«
»Was interessiert es dich überhaupt? Ihr habt Arion.«
»Arion ist Mrs Torrance«, stellte er klar. »Das Gesicht seiner Familie und die Frau, die seine Kinder großziehen wird. Aber du?« Er hielt inne, sein Tonfall wurde finsterer, und meine Nackenhaare stellten sich auf. »Du bist sein Sahnehäubchen obendrauf.«
Ich lege meinen Arm um sie, ziehe sie an mich und halte mich an ihr fest, während ich meine Nase in ihren Haaren vergrabe. Die rauen kleinen Juwelen, die an ihr Kostüm genäht sind, schneiden mir in den Arm. Sie ist so klein und zerbrechlich wie ein Zahnstocher in meiner Spirale.
Der Brunnen sprudelt um uns herum, als sie ihre Zähne in meiner Hand vergräbt, aber ich ziehe meinen Arm nicht weg. Stattdessen erfüllt der Schmerz ihres scharfen kleinen Bisses meine Adern mit Wärme, und meine Augenlider flattern. Es kribbelt unter meiner Haut, und ich atme aus.
Es fühlt sich nicht schlecht an. Es tut nicht so weh, wie es sollte.
Ich blicke in ihr kleines Gesicht und weiche nicht zurück, als der Druck fester wird. Ich bin mir sicher, die Haut ist gerissen.
Ja.
Ich werde nicht zurückweichen.
Niemals.
Ich hielt sie fester im Arm, und die Kurven ihres Körpers verschmolzen mit meinem, als ich mich weigerte, sie loszulassen. Selbst als ich langsam aufwachte, der Brunnen verschwand und sich ihr Duft nach Blumen in den Geruch meiner Seife verwandelte. Das Kostüm, das sie jetzt anhatte, war weich wie Baumwolle, und ihre nackten Beine ohne weiße Strumpfhose lagen neben meinen.
Es war anders. Etwas war anders.
Ich blinzelte, das Gewicht des Schlafs lag noch schwer auf mir, als der Traum verschwamm und ich den Raum erkannte. Genau wie den Körper neben mir.
Leider war es nicht das Mädchen aus dem Traum.
Ich starrte auf den Hinterkopf meiner Schwester, deren Haare über dem Kissen lagen und fast so schwarz wie meine waren. Ich konnte sie atmen spüren, während sie in meinen Armen schlief, und ich ballte die Hand, die auf ihrem Bauch lag, zur Faust.
Ich hatte sie im Schlaf umarmt.
Das hatte ich noch nie getan. Wir teilten uns jetzt seit vier Jahren ein Bett. Schon zu wissen, dass sie da war, genügte mir.
Als ich meine Faust wieder öffnete, berührte ich aus Versehen ihre Haut am Bauch, wo ihr Hemd nach oben gerutscht war. Ich hielt inne und runzelte die Stirn, als ein ungutes Gefühl in mir aufstieg.
Ich hob die Decke an, schaute darunter und sah die ausgeprägte Rundung ihrer Hüfte – ausgeprägter, als ich sie in Erinnerung hatte – und ihren runden Hintern, der gegen meinen Unterleib drückte.
Ihre Oberschenkel waren jetzt definierter, und ihre Haut sah so weich aus.
Fuck. Ich schloss die Augen, das schöne Gefühl aus dem Traum war längst weg.
Sie begann, wie andere Mädchen auszusehen. Mädchen, die alt genug waren, damit Jungs ganz bestimmte Dinge mit ihnen taten. Sie fühlte sich an wie die Mädchen, mit denen ich ausgegangen war.
»Damon«, sagte sie plötzlich, leicht schlaftrunken. »Ich bin es, Banks.«
Wahrscheinlich hatte meine Berührung am Bauch sie geweckt. Sie dachte wahrscheinlich, ich hielt sie für eine andere.
Ich öffnete die Augen, knirschte mit den Zähnen und zog mich von ihr zurück. »Ja, ich weiß, wer du bist.«
Ich warf die Decke zurück, stand auf und nahm mein Handy vom Ladegerät. »Ich dachte, ich hätte dir gesagt, du sollst dich einbandagieren«, murmelte ich, entsperrte mein Display und scrollte durch meine Nachrichten.
Sie sagte nichts, aber ich hörte, wie sie sich aufrichtete. »Auch wenn ich schlafe?«, jammerte sie. »Es ist wie ein Korsett, Damon. Ich kann kaum darin atmen.«
Du wirst dich daran gewöhnen.
Nachdem ich ein paar Nachrichten von Will überflogen und ein paar Kommentare zu meinen Posts gelesen hatte, legte ich das Handy auf dem Schreibtisch ab und machte auf dem Computer Musik an. Dann ging ich zum Schrank, holte eine lange Hose und ein weißes T-Shirt heraus und ließ meinen Blick zu meiner schwarzen Jeans schweifen, die neben meinem schwarzen Hoodie hing. Nächste Woche war Devil’s Night, und eine vertraute Euphorie durchflutete meine Adern.