Bismarck von unten - Waldemar Paulsen - E-Book

Bismarck von unten E-Book

Waldemar Paulsen

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Beschreibung

Die besten Krimis sind immer Reportagen. Das heißt: Der Autor war dabei. Man denke nur an den Klassiker Dashiell Hammet, einen Ex-Detektiv, Stig Larsson, einem Militärausbilder, oder an das Prinzip der TV-"Tatorte". Keiner war näher dran als Waldemar Paulsen, die St.Pauli- Legende, Kommissar in Europas einzigem staatlich lizensierten Unterweltsumpf. Nach seiner Pensionierung hat er sich endlich entschlossen, den Giftschrank seiner Erinnerungen und Erfahrungen zu öffnen-und den Leser mitzunehmen in die Welt der Mörder und Zuhälter, Straßenhuren und Dominas, der Korrupten und Schamlosen, der Puffs und Striplokale. "Bismarck von unten ist Fiktion, sagt Paulsen, aber er hätte diesen Krimi nie schreiben können, ohne den geheimen Aktenschrank in seinem Kopf, ohne das, was er -oft in Todesgefahr- erlebt hat als Zivilfahnder in HH. Nichts ist erfunden, alles ist einmal passiert, und so wie ein Komponist aus Tonfolgen eine Sinfonie schafft, hat Paulsenaus seinen gesammelten Fakten einen authentischen Roman verfasst, den nur er schreiben konnte, denn er war dabei. Es ist ein unterhaltsamer, spannender , teilweise erschütternder Krimi geworden- in zwei Sprachen, weil die Fahnder so reden und die Ganoven so. Aber wenn sie aufeinander treffen, benötigen sie keinen Dolmetscher, eine kugelsichere Weste wäre dann ganz nett...

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Bismarck von unten

Ein St. Pauli-Krimi

Eine scheinbar normale Woche im Rotlicht-Milieu auf dem Kiez in Hamburg-St. Pauli – wenn Kriminalkommissar Max Herbst und seine Praktikantin Nicole Dewitz vom Sittendezernat nicht immer wieder auf die verzweifelten Schicksale naiver Mädchen stoßen würden, die in die Fänge von brutalen Zuhältern geraten sind. Konnte sich eine von ihnen, Corinna Mielke, aus der Gewalt der sogenannten „Geräuschlosen Kaufleute“ befreien? Wo tauchte der aus der Untersuchungshaft geflüchtete Bordellbesitzer Emil Berg unter? Was passierte im Bismarck-Denkmal? Schwierige Aufgaben für die beiden Polizisten im Rotlichtviertel, wo Geld das einzige Gebot ist, die Faust die Paragrafen ersetzt und der perverseste Sex nicht als Todsünde gilt.

Ähnlichkeiten mit vielleicht noch lebenden Personen sind nicht beabsichtigt, aber scheinen manchmal unvermeidbar...

Waldemar Paulsen, Jahrgang 1947, war Kriminalhauptkommissar bei der Hamburger Kripo. Er war in den Siebzigern und Achtzigern des vorigen Jahrhunderts Zivilfahnder auf der Davidwache. Seine Aufgabe bestand in der präventiven und repressiven Bekämpfung von Prostitution und Zuhälterei, als auch in der Einhaltung der ehernen Kiezregeln. Nach 41 Jahren und 150 Tagen Dienstzeit wurde Paulsen in den Ruhestand versetzt.

Mehr Informationen zum Autor unter www.waldemar-paulsen.de und/oder bei Facebook unter „Meine Davidwache-Geschichten vom Kiez“

Die besten Krimis sind immer Reportagen. Das heißt: Der Autor war dabei. Man denke nur an den Klassiker Dashiell Hammett, einen Ex-Detektiv, Stig Larsson, einen militärischen Ausbilder, oder an das Prinzip der TV-„Tatorte“. Aber keiner war näher dran als Waldemar Paulsen, die St. Pauli-Legende, Kommissar in Europas einzigem staatlich lizensierten Unterweltsumpf. Und nun, in Pension in einem kleinen Fischerdorf an der Nordsee, hat er sich endlich entschlossen, den Giftschrank seiner Erinnerungen und Erfahrungen zu öffnen – und uns mitzunehmen in die Welt der Mörder und Zuhälter, Straßenhuren und Dominas, der Korrupten und Schamlosen, der Puffs und Striplokale. „Bismarck von unten“ ist Fiktion, sagt Paulsen, aber er hätte diesen Krimi nie schreiben können ohne den geheimen Aktenschrank in seinem Kopf, ohne das, was er – oft in Todesgefahr – erlebt hat als Zivilfahnder in Hamburg. Nichts ist erfunden, alles ist irgendwann passiert, und so wie ein Komponist aus Tonfolgen eine Sinfonie erschafft, so hat Paulsen aus seinen gesammelten Fakten einen authentischen Roman verfasst, den nur er schreiben konnte, denn er war dabei. Es ist ein unterhaltsamer, spannender, teilweise erschütternder Krimi geworden – in zwei Sprachen, weil die Fahnder so reden und die Ganoven anders. Aber wenn sie aufeinander treffen, benötigen sie keinen Dolmetscher, eine kugelsichere Weste wäre dann ganz nett …

Bismarck von unten

Ein St. Pauli-Krimi

Waldemar Paulsen

Keiner kann vor seiner Vergangenheit fliehen, aber

Einige können sie ziemlich gut verstecken

Inhaltsverzeichnis

Titel

Buchinhalt:

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Impressum:

Kapitel 1

An einem Sonntag war es, 3.August, 1:45 Uhr:

„Berliner-Benno“ fuhr nicht übereilt, weil er nicht vor Mitternacht am Ziel sein wollte; die Verkehrslage auf den Autobahnen ärgerte ihn dennoch. Auch darüber redete er gelegentlich vor sich hin, wie um seine Absichten vor sich selbst zu begründen.

Endlich…, Mannheim, dachte er.

Per Telefon hatte er von seinen Rotlicht-Jungs erfahren, dass seine Mannheimer Partie, die Inge, am Vortag von „Mannheimer-Klaus“ aus dem Bordell von „Grübel-Otto“ entführt worden war. Wieder einmal hatte dieser Schläger seine Geschäfte gestört. Die beiden verband seit Jahren eine intime Antipathie. Benno schnaubte verächtlich:

„Der Sauhund Klaus, dieser alte Seibelfreier, -seibelt mehr als zehn Frisöre- soll sie nach woandershin verkauft haben“, unterhielt er sich während der Fahrt mit sich selbst. „Den Typen hol ich mir, sind eh alle mit einverstanden! So was darf der nicht machen. Der hat den Bogen überspannt! Sollte der wirklich glauben, dass er schneller als eine Patrone laufen kann? Wohl eher nicht. Der wird hüpfen wie ein Stepptänzer auf einer Showbühne, ha, ha. Otto meinte, der „Mannheimer-Klaus“ ist jede Nacht zwischen zwölf und zwei in der Diskothek „Barbados“. Na, mal sehen…“. Das Zeiteisen zeigte gerade zwei Uhr, als Benno mit seinem Jaguar auf den Parkplatz der Diskothek rollte. Den Schlitten parkte er in einer dunklen Ecke.

Dann griff er – noch im Sitzen – nach der Pistole, die er unter seinem Sitz deponiert hatte, schraubte den Schalldämpfer auf, prüfte das mit sieben Patronen gefüllte Stabmagazin der 45-er und lud die Pistole durch, sodass eine Kugel schussbereit im Patronenlager steckte. Mit der Waffe in der rechten Hosentasche, schlurfte er über den schwach beleuchteten Platz, kneisterte nach der Karre vom „Mannheimer-Klaus“ und vor seinem geistigen Auge spulten sich die kommenden Ereignisse ab: Da, ja – Glück gehabt. Da steht ja die Karre. Der rote Mercedes 500 SL mit einem ätzenden Spoiler auf der Heckklappe. Scheißfarbe, der Schlitten. Die Autonummer stimmt, hat „Grübel-Otto“ richtig gereunt. Der Mannheimer scheint hier zu sein. Na gut, ich warte hier hinten, bis er kommt. Dann ist endlich Sense. Was erlaubt sich dieser Hartgeld-Lude eigentlich? Greift mir meinen besten Traber, die Inge, ab, die umsatzstärkste Stiefelfrau, die ich je hatte. Bohrt sie einfach an. Nee, nicht mit mir. Den Haubentaucher putz ich von der Platte! Der wird sich die Radieschen von unten ansehen. Meinen einträglichsten Geldautomaten so mir nichts dir nichts ohne Ansage und ohne Abstecke abfegen. Nein, nicht mit mir. Inge machte es ja Spaß, auf zwei Hengsten gleichzeitig zu reiten. Jeder Muskel ihres Körpers schrie nach mehr bei den lüsternen Freiern. Die Krumme war dann jeweils entsprechend.

Der Jaguar stand jetzt im Schatten einer mächtigen Brombeer-Hecke in der Nähe des roten 500-ers und er hatte den Hinterausgang der Diskothek, der direkt auf den Parkplatz führte, genau im Auge. Sein Herz hämmerte vor wachsender Erregung, und der Mund wurde spontan trocken vor selbstauferlegter Furcht. Er sog zweimal rasch nacheinander kräftig an dem Zigarillo, so tief, als wäre das Nikotin Sauerstoff pur.

Die feisten Wangen schoben sich hoch, und die Mundwinkel hoben sich zu einer Grimasse. Nervös war er, ja, hatte gerade am Abzug der Pistole herumgefummelt und sich fast in den Oberschenkel geschossen. Vorsichtshalber zog er die Hand aus der Hose; sie war schweißnass, ebenso das Polohemd unter den Achseln.

Auch die Schweißperlen auf der Stirn nahmen rapide zu. Er wischte sich mit breiten Händen über das Gesicht, wie immer, wenn ihn etwas sehr erregte und er noch nicht wusste, wie das Ende ausfallen würde. Aber er würde den Mannheimer, diesen Schmock, einfach in die Falle tappen lassen. Der Loser sollte keinen Abend mehr zu zweit verbringen…

Mann, hoffentlich kommt der Heiermann-Lude nun bald! Die anderen Gäste, die Spaken, rennen auch noch immer hier rum, soll’ n die doch einen Satz machen, die Flockenbeutel! Hoffentlich ist das ist hier bald alles vorbei, dachte er und ein Blick auf seine Rolex mit Brillantkranz zeigte ihm, dass es 2:30 Uhr geworden war. Er liebte dieses Zeiteisen, es war sein bestes Schmuckstück. Jetzt war Showtime angesagt…

Gerade als der Parkplatz menschenleer zu sein schien, verließ der „Mannheimer-Klaus“, ein kraftstrotzender Hüne, mit hochgezogenen Schultern, federndem Gang, wippendem Hals und nickendem Kopf die Disko und ging zu seinem Auto. All seine Bewegungen sahen aus wie die Offenbarung einer gewaltigen Körperkraft. Sie kannten sich seit Jahren persönlich, hatten ständig Protest, wenn er „Grübel-Otto“ in Mannheim besuchte. Auch der Mannheimer lungerte immer wieder mal bei Otto herum – und war stets ausgemistet. Nein, er hatte keinen Igel in der Tasche, war einfach nur klamm und nicht in der Lage, sich über eine ordentliche Abstecke selbst

einen Stall mit Trabern aufzubauen. Die Jungs erzählten, dass er schon seit Jahren geputzt sein soll, er filmte nur rum. Alles an seiner Show war reine Figine. Aber jetzt musste endlich Schluss damit sein. Für eine Aufmische war der Hamburger ihm allerdings nicht gewachsen. „Der Typ ist mir einfach zu kräftig. Hab keine Chance, ihm eine auf die Zwölf zu ticken. Bleibt eben nur die Wumme“, flüsterte er sich ins Ohr, während er hart schluckte, weil er die Trockenheit in seinem Rachen spürte. Benno läutete seine große Runde ein. Mit einem leicht spöttischen Lächeln auf seinen Lippen, dachte er:

„So, du Schmock, das Warten hat ein Ende, nun bist du fällig“, sinnierte der Hamburger, als „Mannheimer-Klaus“ sich zum Türschloss runter beugte.

Es war die Stille vor dem Tod … – und dann machte es plopp, plopp, plopp. Die Pistole verursachte drei stille Schüsse aus einer Entfernung von maximal drei Metern. Der Schalldämpfer auf der Rohrmündung hatte seinen Zweck erfüllt. Alle Geschosse trafen fast lautlos die Rückenpartie des „Mannheimer-Klaus“, der sofort in die Knie ging und wie ein Sandsack auf den Schotterboden fiel. Außer einem knappen Röcheln hatte er kein Sterbenswörtchen mehr von sich hören lassen. Rosa Bläschen sammelten sich auf seinen Lippen. Zwei Kugeln waren unterhalb des rechten Schulterblatts eingedrungen und hatten die Lunge durchschlagen.

Der Täter wartete einen Moment ungeduldig, bis sich der „Mannheimer-Klaus“ nicht mehr rührte, dessen stark hervorquellende Augen starr auf den Sternenhimmel gerichtet waren und die Spitzen seiner weißen Turnschuhe ebenfalls in dieselbe Richtung zeigten. Glück gehabt. Scheint keiner gesehen zu haben.

Nun aber schleunigst die Platte putzen, dachte der Schütze, während er sich in seinen Jaguar setzte, die Wagentür zuknallte und mit einem lauten, sonoren Sound von über hundert Dezibel rasant und eine Staubwolke hinter sich lassend, von dem fast vollbesetzten Parkplatz der Disko fuhr. Eine Welle verächtlichen Lachens fegte über ihn hinweg.

Es war schnell gegangen, als wäre es gar nicht passiert, blitzschnell. In der Ferne hörte er ganz schwach das Signalhorn mehrerer Polizeifahrzeuge.

Er konnte die Signale zwischen Polizei und Feuerwehr unterscheiden. Man hatte ihm einmal gesagt, dass bei den Polizeifahrzeugen zuerst die tiefen und dann die hellen Töne aufeinander folgen würden. Bei der Feuerwehr war es umgekehrt: Zuerst den hellen und dann den tiefen Ton.

Eine segensreiche Erkenntnis, die einem gelegentlich dienlich sein kann, dachte der Hamburger und schmunzelte.

Nachdem eine Zeit vergangen war, wie lange, dass konnte er aufgrund seines hektischen Zustandes nicht verifizieren, parkte er in einigen Kilometern Entfernung für einen Moment zwischen zwei Lagerhallen in der völligen Dunkelheit eines Industriegebiets, um tief Luft zu holen. Er schaltete die Scheinwerfer aus, schloss die Augen und sank vor Schwäche im Fahrersitz zusammen. Sein Adrenalin-Spiegel schien ihm das Hirn zu sprengen. Er hatte starkes Herzklopfen und massierte seine pochenden Schläfen. Die Situation hatte ihn extrem kurzatmig gemacht, aber nach etwa fünfzehn Minuten ließen die Schmerzen nach und auch die Kurzatmigkeit war überstanden.

Auch dieser Hanseatische Vermieter von weiblichen Geschlechtsteilen war ein von Selbstliebe beherrschter

Narziss, wie fast alle Zuhälter im Rotlichtmilieu. Sie waren selbstbezogene Menschen, deren Geltungsbedürfnis ihr ausgeprägtes Wesensmerkmal war. Ihr exzentrisches Verhalten diente dazu, das brüchige Selbstwertgefühl mit einem überhöhten Konzept von scheinbarer Überlegenheit und häufig gewalttätiger Verachtung gegenüber anderen Menschen zu kompensieren. Es war stets ihre eigene Unzulänglichkeit, und die unterbewusst tickende Unzufriedenheit darüber, die immer mehr in Enttäuschung über sich selbst mündete und sie deshalb kriminell werden ließ. Zudem stammten sie fast alle aus sozial auffälligen Milieus, wo nur das nackte Überleben zählte.

Fast alle waren denkfaule Analphabeten, die meinten, wer Muskelkraft hat, braucht keinen Verstand.

Den Müll in ihrem Kopf konnte man nur als innere Umweltverschmutzung werten.

Es war bei dem Hamburger durchaus nicht so, dass er jeden umbringen würde, den er nicht mochte. Dann wären die Straßen mit Leichen gepflastert gewesen. Eine flächendeckende Bleivergiftung sollte es auch nicht werden, aber Ausnahmen bestätigten die Regel. Wäre der Barackenelvis aus Mannheim, dieser Schmalzflockengangster, eine Wanze gewesen, hätte er ihn längst unauffällig totgetreten. Aber was sollte es, redete er sich ein. War es nicht so, dass man das, was da eben auf dem Parkplatz passiert war, als natürliche Auslese verstehen konnte? Es war doch nichts weiter als ein bloßer Showdown, für den er nicht verantwortlich gemacht werden konnte; und wo die Nächte lang sind, ist das Leben oft kurz. War es nicht so? Gefühle hatte er sich abgewöhnt. Gerechtigkeit verlangt nun mal gewisse Konsequenzen. Die Kunst des guten Lebens wollte er in vollen Zügen genießen; natürlich nur nach seinem Dogma. Die Konversation „Na, wie geht’s, Alter?“ – „Ach Scheiße, so solala!“, gab es bei ihm nur noch in der Vergangenheit. Er sah die Welt eben neu und wollte sie auf diese Weise verstehen. Als alleiniger Herr seines Lebens. Es war schon eine Herausforderung der besonderen Art, auf die er sich einließ …„Ha, gut geklappt. Die Sau, der Verräter, sowas macht man nicht unter uns Jungs. Das ist Verrat!“

Es war bisher alles perfekt; einfach spitzenmäßig und reibungslos verlaufen, bildete sich der Hamburger ein. Auf keinen Fall durfte die Verbindung Mannheim-Hamburg hergestellt werden. Nun aber ab zu den Pfeffersäcken nach Hamburg, dachte er, als er den Motor startete und mit dem Lenkrad den Heimweg einschlug. Tief in Gedanken immer noch. Und tatsächlich, die zweite Ampel passierte er bei Rot, einfach so.

Es war keine Absicht, er war wohl woanders mit seinem Kopf. „Scheiß-Bullen“, schrie er, fuhr gemächlicher weiter und warnte sich: „Nur nicht auffallen und womöglich von einer Streife angehalten werden.“ Erschöpft parkte er gegen Morgen den Jaguar vor seiner Haustür, holte die Pistole unter dem Fahrersitz hervor, roch nach dem Abschrauben des Schalldämpfers an der von Pulverschmauch behafteten Rohrmündung und ging ins Haus. Die Dunkelheit war gewichen. Die ersten Sonnenstrahlen schoben sich am Himmel an den Wolken vorbei.

Nein, Achille*? , iss nich, krieg eh keinen Happen runter, sinnierteer mit einem leichten Würgereiz und tiefem Seufzer im Hals, als er nach einer Flasche Johnny Walker Black Label griff.

*Essen

Mit einer Cola mixte er sich einen Drink und lümmelte sich auf die Couch. Rosa könnte auch etwas mehr Gas geben, dachte er. Die Krumme war schon mal erheblich besser. Selbst ein gefrorenes Huhn aus dem Supermarkt würde seine Schenkel weiter auseinander kriegen, als sie mittlerweile. Sie ruiniert mich, wenn ich keinen Fleiß erkennen kann, dachte Benno.

Stolzieren sollte sie, nicht marschieren wie ein Malocher im Hafen. Das törnt die Freier ab. Naja, sie kommt halt in die Jahre. Ne alte Frau ist eben kein Turnierpferd, sie fängt langsam an zu lahmen. Obwohl, auf alten Schiffen lernt man doch segeln. Sie hatte stets einen feuchten Keller. Wo war der Fleiß der vergangenen Jahre geblieben, wo denn, ging es Benno durch den Kopf.

Nachdem die Whiskyflasche bis auf einen Viertelrest leer war, warf er sich in vollen Klamotten auf das Bett und fiel sofort schnarchend in Tiefschlaf. „Der Geräuschlose Kaufmann“, wie er sich gerne nennen ließ, nahm die fordernden Hungerlaute von Alfred, wie er seinen Kater nannte, nicht mehr wahr…

Kapitel 2

Sonntag, 3. August, zur selben Zeit auf St. Pauli:

Es war bereits halb acht am Abend, als die Prostituierten der Tagschicht des Bordells „Emil & Konsorten“ ihre letzten Freier bedient hatten und ihre Schicht beendeten. Die ersten Frauen der Nachtschicht waren bereits eingetroffen. „Braunschweiger-Willy“ übergab die Tagschicht an Bordellbesitzer Emil Berg, der als sogenannter „Wirtschafter“ die Nachtaufsicht übernahm. Berg prüfte die eher dürftigen Umsätze der Tagschicht und Willy klagte, dass so wenig Freier unterwegs waren. „Frisch sein“ war was anderes. Wer frisch war, hatte stets eine gute Kuppe, der Nettoverdienst würde dann schon beruhigend sein. Wenn sich nicht bald was änderte, würden sie in die Miesen gehen. Man müsste sich einen zusätzlichen Geschäftszweig suchen, waren sie sich einig.

„Es liegt wohl an der Ferienzeit. Die Familienväter sind mit ihren Torten verreist; jeden Sommer wieder das leidige Thema. Mal sehen, was die Nachtschicht bringt“, war von Emil Berg zu hören. „Vielleicht sollten wir zusätzlich mit Obszönitäten ordentlich unsere Portokassen füllen. Pornos in allen Sex-Variationen wären doch was, auch wenn wir sie momentan nur unter dem Ladentisch verkaufen können, sind ja immer noch verboten. Scheiß-Gesetz. Oder wir gründen ein Inkassobüro. Wir ziehen den Strom von den Zockern ein, die ihre Schuldscheine nicht einlösen; notfalls eben mit dem Baseballschläger. Von den Straßenpuffs am Hans-Albers-Platz könnten wir Pflastergeld für ihre Traber verlangen, die ab zwanzig Uhr auf den Bürgersteigen kobern.

Im Übrigen, Willy, heute Abend rief mich der „Münchener-Ferdi“ an. Er ist zurzeit in Hamburg und hielt sich nachmittags in Hagenbecks Tierpark auf, um nach neuen Bräuten zu suchen. Ihm lief der armselige kleine Schnüffler Herbst von der Sitte über den Weg. Der hat den Ferdi richtig angemacht, ihn sozusagen provoziert. Er meinte zu ihm, dass er ihn unter Wind hätte und er die Mädels in Ruhe lassen solle. Eine Frechheit, was der Herbst sich da rausnimmt. Ständig hören wir nur Drohgebärden von dem. Wir müssen uns langsam mal was einfallen lassen, der Typ wird lästig. Unser Leben wird weniger von Gesetzen der Soliden geregelt, als vielmehr von althergebrachten Sitten und Gebräuchen, eben den St. Pauli-Gesetzen. Es gilt doch immer noch das gute alte Kiez-Gesetz: Wir regeln alles unter uns. Dazu brauchen wir die von der Schmiere nicht.“ „Wie, was meinst du, Emil?“

„Naja, vielleicht sollte man mal versuchen, ihm ein paar Scheine zu stecken. Dann haben wir ihn in der Hand und er spurt.“ „Glaub ich nicht, ich hörte, dass er vermögende Eltern haben soll. Außerdem soll er von einem besonderen Ehrgeiz beseelt sein. Wird wohl deshalb nicht klappen“, erwiderte „Braunschweiger-Willy“.

„Hm…, sollte er das ablehnen, müssten wir mal prüfen, welche von unseren Bräuten geeignet wäre, mit ihm in die Kiste zu steigen. Währenddessen ein paar aussagekräftige Fotos zu schießen, wäre nicht von Nachteil. Funktioniert auch das nicht, könnte das Gerücht gestreut werden, die Betreffende ackere für ihn. Was hältst du davon, Willy?“

„Gute Idee, Emil . Das wär schon eher was. Dann wären wir ihn los, wenn die Bullen im Schmieren-Präsidium davon erfahren würden, die haben Meure vor Gerüchten.“

„Wie Meure, Willy?“

„Na, sagt man hier so für Angst. Plan B wäre, dass man auch einen Autounfall haben könnte. Die Bremsen sind nicht immer von bester Qualität. Was für einen Schlitten fährt der Typ eigentlich, und wo parkt der?“, fragte Willy.

„Ilonka, hau ab! Du hast Nachtschicht, runter auf den Hof, oder weshalb spielst du hier den Langohr-Hasen? Geht dich nichts an, was wir hier dibbern!“, war der scharfe Befehl von Emil Berg.

Bergs Grobschlächtigkeit täuschte über seine Raffinesse hinweg. Er tyrannisierte die bei ihm tätigen Geldmaschinen auf übelste Weise und hatte im Übrigen Prokura von den anderen Luden, seine Methodik auch bei deren Bräute anzuwenden. Er kam dem personifizierten Bösen erschreckend nah, nannte sein Tun „Gewinnmaximierung“ nach dem Abgabenprinzip. Emil Berg war nun mal der Strippenzieher unter den Alphatieren im Rotlichtmilieu St. Paulis und hätte nichts dagegen gehabt, wenn er endgültig als Silberrücken anerkannt werden würde; überfällig war er allemal, dachte er. Emil musste unisono für sämtliche Tätigkeiten da sein; eben als Kalkulator, Aufkäufer, Einkäufer, Vermittler und letztlich als Verkäufer. Er war der Dirigent dieses gewinnträchtigen Orchesters, war zumindest seine Meinung. Die hohe Kunst war es doch, den Schlüssel zwischen Erfolg und Misserfolg zu finden, sonst würde man den Arsch nicht hochbekommen, und er hatte den Animus dafür, meinte Berg aus tiefster Überzeugung. Sie waren keine Outcasts, also Ausgestoßene. Das wollten die Soliden ihnen zwar ständig einreden, aber nicht mit ihnen. Sie waren eine verschworene Gemeinschaft, die keiner, auch nicht die Schmiere, auseinander bringen konnte. Unter dem Strich würde gezählt werden.

Die Meute hatte ihre Betten gemacht und schlief gut darin. Nein, sie hatten eine weitaus geschicktere Lebensform für sich gefunden. Und er hatte genug Leidenschaft für neue Ideen, obwohl ihm mehr Verantwortung auch gelegentlich mehr Kopfschmerzen bereitete. Emil Berg lachte. Er rubbelte mit dem Zeigefinger der rechten Hand nachdenklich über die Unterlippe. Die Zeit würde es schon bringen.

„Ist ja gut, geh ja schon“, maulte Ilonka Harmsen, sichtlich verstimmt, das Gespräch nicht weiter verfolgen zu können, während sie lässig mit den Fingern in ihrem langen Haar spielte und gleichzeitig einen flüchtigen Blick auf Emil Berg warf.

„Weiß ich nicht“, sagte Emil auf Willys Frage nach dem Auto des Fahnders, „aber das können wir schnell rauskriegen! Er soll ein Mercedes-Cabrio gehabt haben. Ha, ha, das lebte nur 50 Meter, dann hatte er es an die Wand gesetzt. Totalschaden und keine Vollkasko. Ha, ha, echt geil…, dieser Stümper! Ich überlege nur gerade: Wenn das mit dem Unfall nicht klappen sollte, müssen wir als letzte Maßnahme jemanden suchen, der ihn liquidiert.“

„Emil, das können wir nicht machen. Wir können keinen Bullen umlegen lassen.“

„So?“, brummte Emil und versank für einen längeren Moment in Nachdenken. „Willy, bleib locker. Hast du moralische Bedenken? Hast du einen Eid abgelegt? Bist du ein Pfadfinder in einem Baumhaus? Moral, was soll das denn? Das ist doch nur was für die Soliden, aber nicht für uns, mein Freund.

Du weißt doch auch, dass man sich von etwas trennen muss, wenn man ein größeres Ziel vor Augen hat.“

„Nein, nein, Emil, es geht mir nicht um Moral. Das gibt für den Fall richtig Ärger – und wir haben über Monate oder Jahre mit Umsatz-Einbußen zu rechnen. Die Patte wird dann noch dünner. Es wäre eine Kriegserklärung an die Schmiere und die würde uns ständig auf den Füßen stehen und den ganzen Kiez umdrehen. Von einem gezielten Schlag wären wir weit entfernt, eher könnte man dann von einem Kollateralschaden sprechen- einfach aus dem Ruder gelaufen. Die fahren dann das ganz große Gedeck auf. Einen bezahlten Killer …? Einen Typen mit solchen Fähigkeiten? Na, ich weiß nicht“, grunzte Willy. Emil Berg hob eine Augenbraue und sagte schmunzelnd: „Willy, du bist ein Weichei. Wir wären zwar alle gern moralischer, aber du weißt doch, erst kommen das Fressen und dann die Moral. Ist ja auch nur für den Notfall gedacht. Ich wüsste da schon jemanden.“

„Wie …, wen denn?“, fragte „Braunschweiger-Willy“, der unsicher die Schultern hob und nach einer Erklärung suchte. „Das könnte richtig teuer werden. Das macht derjenige nicht zum Nulltarif. Da müsste man bestimmt dreißig Mille oder noch mehr löhnen, weil es ein Schmiermichel ist.“ „Berliner-Benno“. Ich glaube, der ist zu ganz anderen Taten fähig. Ein Typ mit ‘ner extrem kurzen Zündschnur, der Konflikte nicht mit dem Hirn, sondern mit den Fäusten oder der Kanone löst. Einfach aggressiv und brutal. Der hat Hände wie Grillpfannen, achte mal drauf. Er ist einer von den Typen, denen man nicht im Dunkeln begegnen möchte, wenn man Stress mit dem hat. Der ist die Bosheit in Person“.

„Ach, den meinst du?“, erwiderte Willy.

„Ja, der richtige Enforcer für uns, der keinem Streit aus dem Weg geht und für uns die Drecksarbeit erledigt. Jeder muss doch seine Ziele verfolgen und das ist eben meins. Momentan scheint er mir sehr flippig zu sein. Ständig schaltet er zu bestimmten Zeiten das Radio oder die Flimmerkiste ein und horcht nach den Nachrichten“, sagte Berg. „Muss ja nichts heißen, oder an was denkst du?“ „Muss nicht, aber hast du mal gesehen, mit welchen dicken Packungen Zeitungen der rumläuft? Hat er sonst doch nie getan. Irgendetwas scheint da nicht zu stimmen.“ „Das ist wohl wahr, er ist hypernervös“, entgegnete Willy, „fiel mir auch schon auf. Das kann nicht allein der Stress mit seiner Rosa zu sein, die immer weniger anschafft.

Die kommt einfach nicht mehr in die Hufe; in einigen Nächten kommt sie nur noch mit Schmalz* nach Hause.“

„Na, mal sehen, wie sich alles weiter entwickelt. Wir behalten den Herbst von der Luden-Schmiere mal im Auge. Der soll uns unsere Geschäfte nicht kaputt machen, da müssten schon andere kommen. Spitz die Ohren, wie wir mal an ein paar Ballermänner kommen können. Der Siegeszug über den Kiez kann beginnen.“

„Du weißt doch, dass der ‚Kieler-Pitt‘ ein guter Knacki ist, der könnte uns bestimmt ein paar günstige Eisen besorgen. Keine Sorge Emil, ich kümmere mich drum“, war Willys Kommentar.

„So…, ich hab Feierabend. Meine beiden Ladys dürfen nach Hause; ab in die Pove, die müssen morgen wieder fit sein. Ich mach jetzt auch den Abflug.“

* Trinkgeld

„Wo willst du denn hin, Willy?“ „Ich kurve noch durch die Gegend, will einige Diskotheken abklappern und nach neuen Bräuten Ausschau halten. Vielleicht ist was für uns dabei. Du weißt doch, ordentlich poussieren ist die halbe Miete.“

„Ja, mach das, guter Nachwuchs ist immer bare Kasse. Du und ich, wir zwei werden es ihnen zeigen, nicht wahr?“, war der begeisterte Kommentar von Bordellwirt Emil Berg, der Willy fast genießerisch zugehört hatte.

„So ändern sich die Zeiten, Emil. Früher haben wir zusammen geschnitzt und heute sind wir die erfolgreichen, Geräuschlosen Kaufleute, ha, ha.“

Emil war der Überzeugung, dass keiner besser anwerben und durch seichtes Poussieren verpflichten konnte als Willy. Der Braunschweiger besaß ein gnadenloses Talent, seinen Salon voll zu kriegen. In Fachkreisen hatte er schon einen zweiten Spitznamen bekommen; sie nannten ihn „Schmusi“.

„Braunschweiger-Willy“ wollte natürlich in der Hauptsache für seine Rente sorgen; ein paar junge, naive Mädchen aufreißen und sie dann meistbietend auf den Markt bringen.

Die Abstecke richtete sich nach Alter, körperlichem Zustand, Vitalität und Leistungsbereitschaft der Geldmaschinen. Am liebsten würde er sie auf einer Messe, ähnlich dem Sklavenmarkt im 19. Jahrhundert in Amerika, zur Schau und zum Verkauf stellen. Nach einer einheitlichen Norm, wo jeder Interessent meistbietend zuschlagen könnte, um an ein Vermögen zu gelangen. Der Phantasie sollte man da keine Grenzen setzen; man könnte es als eine Art Freie Marktwirtschaft bezeichnen. Willy sah es als WinWin-Situation an. Das war seine Meinung zu dem Thema, während er dazu tonlos mit dem Bauch lachte. Sein Motto war eben, im Leben nie etwas zu tun, ohne einen Vorteil davon zu haben. Manchmal muss man die Menschen zu ihrem Glück zwingen, dachte Willy und grinste selbstverliebt in sich hinein. Er erwartete Lob, der nicht kam.

„Emil, geil ist ja, dass die Regierung seit diesem Jahr das Volljährigkeitsalter von einundzwanzig auf achtzehn runter gesetzt hat, da haben wir jetzt mehr Material zur Auswahl.“

„Wohl wahr, Willy…“ „Solche Bräute sind auch noch nicht so renitent wie die 21-Jährigen, die etwas mehr Lebenserfahrung haben. Die kleinen Dummchen biegen wir uns leichter hin. Ein Hoch auf die Bundesregierung– Also, bis Morgen, ich übernehme um zehn die Tagschicht.

Nächste Woche möchte ich auch mal wieder frei haben, dann kann „Berliner-Benno“ unsere Bräute auf Trab bringen“, verabschiedete sich Willy.

Nachdem er auf der untersten Stufe des Treppenhauses zum Hof hin angelangt war, kam ihm Ilonka Harmsen entgegen, untergehakt mit dem ersten Freier des Tages, der ihr Handgeld bescheren würde, und sagte seltsam betont: „Tschüss, Willy!“

Es waren die ständigen Demütigungen und Quälereien, die Ilonka Harmsen abgestumpft hatten. Ihr Frustpegel hatte fast die oberste Sprosse der Gemütsleiter erreicht und trotzdem musste sie die Freier mit einem ständig lächelnden Gesicht für sich gewinnen. Wie ungerecht, dachte sie, sie war doch stets fleißig.

Zweifellos wusste niemand besser als sie, dass sie ein Spiel spielte, das sehr wenig mit ihrer tatsächlichen Realität des Lebens zu tun hatte oder doch? Pokern war angesagt, vielleicht würde sie irgendwann einmal auf der Siegerseite stehen, nur einmal.

Ilonka hatte die Härte des Alltags frühzeitig kennen gelernt. Weder eine mütterliche Geborgenheit noch der Schutz ihrer Geschwister hatte sie jemals, ohne zu klagen, erfahren können. Der trunksüchtige Vater hatte sich frühzeitig aus dem Staub gemacht. Resignation hatte sich bei ihr ausgebreitet; Heiterkeit und Freude waren für sie nicht vorstellbar. Ilonka spürte fortan keine Kraft mehr zu opponieren, sondern sie spielte die Rolle einer gehorsamen Befehlsempfängerin.

Kapitel 3

Wochenanfang. Montag, 4. August, 7:45Uhr:

Um diese Zeit befand sich Max Herbst mit seinem schwarzen, klapprigen VW-Käfer Cabrio auf dem Weg zur Dienststelle in St. Pauli. Der Wert der Tankfüllung überstieg fast den Zeitwert dieses Vehikels. Der Motor machte es wohl auch nicht mehr lange. Mal kam schwarzer, mal weißer Qualm aus beiden Auspuffrohren. Die Mühle fraß ja bald mehr Öl als Benzin. Regen mochte die Karre auch nicht. Überall prasselte er durch die Dachhaut.

„Oh, Mann“,seufzte Max, währender seinen Gedanken nachhing.

Nun kurvte er mit der alten Gurke durch die Gegend und sein schönes Mercedes-Cabrio befand sich auf dem Schrottplatz. Wie konnte er nur so leichtsinnig, so blöd sein!

Nachdem er das Auto in Empfang genommen hatte, war er hastig vom Gelände des Autohauses nach links verkehrswidrig in den mit vier Insassen besetzten Ford gedonnert und hatte ihn voll auf die Hörner genommen. Sechzig Meter war er mit dem Schmuckstück gefahren, sechzig! Er konnte es nicht fassen und jetzt juckelte er mit dieser überdachten Zündkerze herum. Der Blödmann von der Versicherung hatte irrtümlich die Deckungskarte einer fremden Versicherung ausgestellt und nicht die passende verwendet, für die er den Vertrag abgeschlossen hatte.

So war das tolle Cabrio nur haftpflichtversichert und er hatte keinen Vollkaskoschutz, wie es vereinbart war.

Max wollte prüfen, ob eine Klage gegen den Versicherungsagenten Erfolg haben könnte. Vierzigtausend hatte er so einfach in den Sand gesetzt. Es dauerte wohl noch etwa fünf Jahre, bis er den Kredit getilgt haben würde.

Max Herbst sinnierte: Was hatte am Sonntag im Tierpark Hagenbeck der Lude „Münchener-Ferdi“ zu ihm gesagt, als sie sich im Cafe begegneten? „Moin Herr Herbst. Auch mal bei den Natur-Affen die Zeit vertreiben?“

„Und Sie, Herr Becker? Mal wieder auf der Suche nach Nachschub?“

„Naja…, mal schaun. Hier ist ja immer hübsches Material zu finden!“

„Passen Sie man auf, dass es Ihnen anschließend nicht wieder abhandenkommt!“

„Keine Sorge, Herr Herbst! Sie wissen doch, wenn da mal ein Huhn die Biege macht, obwohl es noch Blockschulden hat, dann ist es schnell wieder da.

Die werden von sonst wo zurückgeholt. In deutschen Puffs kann niemand arbeiten, der Schulden hat.“

„Ist das so?“

„Ja, lieber Herr Herbst, das geht in Ihr solides Beamtenhirn sowieso nicht rein. Wir haben so etwas wie Anstand. Außerdem gibt es klare Gesetze auf dem Kiez. Das müssten Sie mittlerweile mitbekommen haben. Wo wir sind, ist vorne, ha, ha, ha…! Es wird euch nichts nützen, ha, ha, ha!“ Diese miese Aussage hatte der Ferdi ihm doch tatsächlich an den Kopf geworfen. Arbeitsscheue, kriminelle Subjekte. Sie waren wie achtarmige Kraken in der Jauchegrube. „Nun, mal sehen, wessen Gesetz den längeren Arm hat, Herr Becker!“, hatte Max dem Loddel als letzten Kommentar mit scheinbarer Überzeugung auf den Weg gegeben.

Es war auch Max` Meinung, dass es zeitweilig so aussah, als sei das Gefüge des Hamburger Stadtteils St. Pauli ins Wanken geraten und das Verbrechertum auf dem besten Wege, die Macht an sich zu reißen. Der Silberrücken unter den Luden, Mörder, Räuber, Einbrecher, Erpresser und pädophiles Geschmeiss diktierten die Geschehnisse auf dem Kiez. Das Ergebnis lag auf der Hand. Man hatte es versäumt, personenorientiert zu arbeiten; die Fallbearbeitung lediglich nach der Deliktsform verteilt und nicht nach den besonders auffälligen Tätern. So gingen wertvolle Erkenntnisse über diese Täterklientel verloren. Die täglichen Ereignisse waren erschreckend und nicht mehr zu stoppen, falls der Senat sich nicht entschließen würde, finanzielle Mittel für eine kriminalpolizeiliche Speerspitze in Form einer schlagkräftigen Truppe gegen das organisierte Verbrechen zur Verfügung zu stellen…

Ja, das war die Begegnung der besonderen Art am gestrigen Sonntag. Nicht mal bei Hagenbeck konnteman unbeobachtet ausspannen. Im Radio hörte Max den Song von Frank Sinatra: „That‘ s Life!“ Vor der Polizeistation an der Davidstraße fuhr er in die Tiefgarage. Der Himmel bewölkte sich immer mehr, ein dickes Wolkenband schob sich vor die frühe Sonne und die Luftfeuchtigkeit nahm spürbar zu. Kriminalkommissar Max Herbst betrat fast pünktlich das Dienstgebäude. Mit freudigem Elan begrüßte er die im Wachraum befindlichen letzten Kollegen der Nachtschicht mit ihren grauen Gesichtern, ohne ihnen dabei die Hand zu reichen.

Er lehnte Händeschütteln aus hygienischen Gründen ab. Von dem Wachhabenden Fiete Meier erfuhr er, dass der festgenommene Zuhälter und Bordellpächter Emil Berg aus dem Palais d’ Amour in den Kellerräumen in Zelle vier saß. „Was hat unser Spezi denn verbrochen, Fiete?“

„Der Vorwurf gegen den um 4:30 Uhr festgenommenen 36-jährigen Luden lautet auf gefährliche Körperverletzung und dirigistische Zuhälterei zum Nachteil einer in dessen Bordell tätigen achtzehnjährigen Prostituierten, die sich momentan unter Bewachung zum eigenen Schutz im Hafenkrankenhaus in stationärer Behandlung befindet.“ Fiete redete gern amtlich.

„Gut, mal schauen, gib schon her“, antwortete Herbst, während er dachte, dass das wieder mal ein Batzen Arbeit werden könnte. Mit den Unterlagen ging er über das Treppenhaus in die zweite Etage, wo sich sein Büro befand.

Wie jeden Morgen öffnete er vom großen, zweiflügeligen Fenster eine Seite wegen des schon wieder beißenden Bohnerwachs-Geruches, der ihm stets den Atem stocken ließ. Die Putzfrau hatte keine Veränderungen auf dem Schreibtisch vorgenommen, wie es mit Herbst vereinbart war.

„Was ist das bloß für ein perverser Mief?“, dachte er. Der intensive, würzige Geruch seines Aftershaves reichte gerade noch aus, um die Übelkeit bekämpfen zu können. Dann ging er zum Aquarium, das sich in der Ecke neben seinem Schreibtisch befand und nahm die Dose mit dem Fischfutter, um seinen Tierchen eine Freude zu machen. Nachdem sich pünktlich die Zeitschaltuhr des Oberlichts im Aquarium eingeschaltet hatte, folgte ein Kontrollblick. Das Paar „Küssende Gurami“ war wohlauf. Das weibliche Tier stand kurz vor dem Laichen.

Max blickte kritisch in den Wandspiegel. Trotz seiner 42 Jahre sah er ganz schön kaputt aus.

Was hatte ihm seine Ex-Freundin Anita gesagt, als sie sich nach einem Jahr Zusammenlebens von ihm trennte?

„Max, ich möchte so mit dir nicht mehr zusammenleben. Du hast die typische Bullenkrankheit. Du arbeitest zu hart und zu viel, und dazu kommen noch die unberechenbaren Zeiten. Ich habe keine Lust mehr, fast täglich auf dich warten zu müssen. Kennst du es, wenn jemand ganz allmählich verschwindet, obwohl er eigentlich noch da ist? Ich habe es erkannt. Anscheinend haben wir uns nicht mehr viel zu sagen, du scheinst ja eh nur deinen Dienst im Kopf zu haben, du Workaholic. Wie soll es werden, wenn wir eine Familie gründen? Nicht mit mir. Tschüss… du hast ab heute Hausverbot in meinem Kopf“, hatte sie mit tief enttäuschter Stimme gesagt.

Es war das letzte Mal, dass sie miteinander gesprochen hatten. Sie hatten sich auf Sylt kennengelernt. Anita war Studienrätin in Hamburg und nach kurzer Zeit der Bekanntschaft zu ihm gezogen. Sie lebten dann fast ein Jahr zusammen, ehe sich gefühlsmäßige Routine ins Miteinander schlich. Die Trennung war hart für ihn, er litt Monate wie ein Hund. War Liebe ein Klebstoff, der nur kurzweilig hielt? Immer nur die üblichen Floskeln wie „Ich liebe dich.“ Es waren alles nur Phrasen, sollten sie es doch einfach tun! Sich lieben ... Naja, aber das Leben war zu kurz, um es allein zu verbringen. Schluss mit den alten Erinnerungen, dachte Max.

Danach hatte er seine große Liebe Ina geheiratet, die ihm einen tollen Sohn, den kleinen Jonas, schenken wollte und bei einem unverschuldeten Verkehrsunfall samt dem ungeborenen Sohn getötet wurde. Lange Zeit hatte er getrauert und wollte sich nie wieder hinter das Lenkrad eines Autos setzen.

Es kam jedoch anders, als er Billy Berger kennen gelernt hatte.

Ein Top-Weib, er fühlte tiefe Zuneigung zu ihr, aber Liebe war etwas Anderes. Liebe und Leidenschaft – was war das denn schon?

Alles nur Geseier, nichts wirklich Greifbares seit dem Tod seiner Ina. Wehmut ergriff ihn. Wieder einmal. Er war noch nicht in der Lage gewesen, sich emotional von Ina zu trennen. Es schien alles nur ein großes Missverständnis zu sein. So wollte er weiter nach der idealen Partnerin suchen. Max wollte nie auf sich wetten. Es war wie es war, er war wie er war. Vielleicht war er auch etwas seltsam? Er wollte erneut seine Erwartungen prüfen. Verlieben war doch das reinste Glück, wenn es nur nicht so verdammt schwierig sein würde.

Seit dem Tod von Ina kam er nicht mehr aus den Miesen auf seinem Emotionskonto raus. Es ging bei ihm wie bei einer Temperaturkurve auf und ab; immer und immer wieder. Gab es einen oder den Ort, der Glücksgefühle in einem auslösen könnte? Vollkommenes Glück sollte doch kein Moment sein, sondern ein dauerhafter Zustand. Brauchten Frauen mehr Anerkennung und wenn ja, welche? Er war sich nicht sicher. In so einer Phase hatte er bei einem Spaziergang in einem Autohaus das tolle schwarze Mercedes-Cabrio gesehen, in das er sich sofort verliebte.

Nachdem seine Bank ihm die Hälfte des Kaufpreises als Kredit gewährte, kaufte er das schöne Gefährt, gab sich einen Ruck, fuhr wieder selbst – und da, einen Augenblick, einen klitzekleinen Moment, und es machte Bums. Tja, und nun hatte sich sein tolles Mercedes-Cabrio in ein altersschwaches Käfer-Cabrio verwandelt, das Mühe hatte, aus eigener Kraft die steile Ausfahrt aus der

Tiefgarage zu bewältigen. Max setzte sich auf seinen Bürostuhl, lehnte seinen Oberkörper mit einem tiefen Seufzer zurück und schloss die Augen.

Da nahm er laute, schnelle Schritte wahr, die aus dem Flur kamen. Er sah auf seinen Schreibtisch. Die Tageszeitungen lagen bereits neben dem Telefon. Ines Schnoor, die gute Seele des Geschäftszimmers, sorgte an den fünf Werktagen dafür, dass auch er seine Zeitungen morgens parat hatte. Plötzlich wurde die Bürotür aufgestoßen.

Im Türrahmen stand seine hochgewachsene Praktikantin, die Kriminalobermeisterin und Kriminalkommissar-Anwärterin Nicole Dewitz. Sie trug einen sandfarbenen Hosenanzug, der ihr erstklassig passte. Wie üblich kam sie wieder mal zu spät und überspielte diese Nachlässigkeit mit einem überschäumenden, lauten und freundlichen: „Hei, Max, geht es dir gut?“

Im selben Augenblick erreichte ein Schwall ihres Parfums seine Nase. Sie hatte unwissend sein Lieblings-Parfum „Coco“ von Chanel benutzt, das seine Sinne beflügelte. Seiner Meinung nach war diese intensive Parfumwolke im Dienst unpassend und zu aufdringlich, er würde deshalb noch einmal mit ihr sprechen, einfach der Konzentration wegen – oder weshalb sonst…?

Nicole war eine hübsche Frau von neunundzwanzig Jahren, hoch gewachsen mit großen grünen Augen, die weit auseinander standen; ihre mittelblonden Haare waren zu einer flotten Kurzhaar-Frisur gestylt.

Die schlanke Gestalt wies wohlgeformte Rundungen auf; obendrein war sie auch noch blitzgescheit und von hervorragender Beobachtungsgabe. Außerdem sprach sie fließend drei Fremdsprachen.

Trotz allem ermahnte er sie schweigend, in Zukunft pünktlich zu sein, indem er demonstrativ auf seine Armbanduhr schaute. Sie ignorierte seinen Blick und hängte ihren Blouson in den Garderobenschrank. Dann verließ sie das Büro, kam mit einem Stapel Akten zurück und legte den Packen auf ihren Schreibtisch, der sich gegenüber dem von Max Herbst befand. Der gab ihr die Strafanzeige zum festgenommenen Bordellbesitzer Emil Berg.

Es war eine Welt voller abscheulicher Verbrechen und roher Gewalt; es sind die Abgründe der menschlichen Seele, die so etwas möglich machen, wie erneut in diesem Fall, dachte Max.

St. Pauli hatte sich mittlerweile immer mehr zu einem Tummelplatz des organisierten Verbrechens entwickelt, der alle Deliktbereiche betraf. Ein exzellentes Haifischbecken. Das Problem war, das zu allen Zeiten die Kriminellen über eine Infrastruktur verfügten, die alle technischen Mittel der Polizei übertraf. Die Polizei hinkte stets machtlos hinterher. Eine nicht mehr zu kontrollierende Hydra schien über St. Pauli zu regieren. Verdammt nochmal, dachte Max, weshalb setzt man keine Verdeckten Ermittler ein und schaltet mehr Telefonüberwachungen. Man könnte dann zumindest die Spitze des Eisberges bei diesem Kriminalitätsphänomen abschneiden und so den Kartellen die Machtstellung nehmen oder zumindest erschweren.

„So, Nicole, welche Maßnahmen sollten wir zuerst treffen?“ Sein Telefon meldete sich.

„Hier Herbst, wer da?“ „Udo Polski, Wachhabender der Frühschicht. Max, wie lange braucht ihr da oben? Eine Peterwagen-Besatzung ist immer noch im Hafenkrankenhaus und bewacht die verletzte Prostituierte. Wir brauchen den Wagen für die anfallenden Einsätze.

Du weißt doch, dass wir bei Regen viele Verkehrsunfälle zu fahren haben und dann dieses Sauwetter, es scheppert an allen Ecken und Enden!“

„Ja, ja, es dauert noch einen Moment, wir beeilen uns“, war brummig von Max Herbst zu hören, bevor er den Hörer auf die Gabel legte. Eben war doch noch strahlender Sonnenschein, dachte er, während er einen Blick aus dem Fenster warf. Tatsächlich, es schüttete. Max hatte plötzlich Kopfschmerzen. Er war am Abend zuvor auf einer Junggesellen-Abschiedsparty seines Freundes Dennis gewesen. Die Party war heftig, er hatte reichlich Whisky-Cola getrunken und nun fühlte er die Nachwehen. Nicole sah es ihm an, nahm ein Aspirin aus ihrer Handtasche und reichte es ihm mit einer kleinen Flasche Selters, die sie immer als Reserve in ihrem Schreibtisch liegen hatte. Eigentlich bedauerlich, dachte Max.

So eine hübsche Frau, gebildet und ausgestattet mit Manieren und allen weiblichen Reizen, die der Mann mag, und dennoch hatte sie ständig Pech mit ihren Liebschaften. Sie sollen alle wie Adonis aussehen, waren dann aber meist echte Flunkies und zu nichts zu gebrauchen.

Arbeitsscheues Gesindel, texten nur rum und holen ihr die letzte Kohle vom Konto. Max hatte den Eindruck, dass Nicole ständig klamm war, zumindest hatte sie nie Barschaft dabei.

Wahrscheinlich hatten die Kerle sie bereits ausgenommen. Zuhälter würden sagen: „Sie ist geputzt!“

Naja, wenn es mal passen sollte, suche ich ihr einen Galan aus meinem Bekanntenkreis aus. Vielleicht klappt es dann ja besser mit ihrem Etat. Zu wünschen wäre es ihr...

„Nicole, weshalb wolltest du eigentlich Polizistin werden?“

Die Praktikantin versuchte ein Lächeln: „Hm, keine Ahnung, die Bösen bestrafen? Die Menschen fühlen sich durch jegliches Fehlen von Ordnung beunruhigt.

Es würde im Chaos enden. Man hat es doch in Montreal gesehen, als die Polizei 24 Stunden streikte. Was war das Ergebnis? Plünderungen, Vergewaltigungen, Raubüberfälle und Einbrüche. Nein, so etwas brauchen wir nicht und deshalb fühle ich mich berufen, meinen Teil auf diese Weise beizutragen. Polizist zu sein, ist weder ein Job noch ein Beruf, sondern eine Berufung. Intuitiv fühle ich mich der Tätigkeit hingezogen“, erwiderte Nicole mit überzeugter Stimme, aber einer Mimik, die mit ihrer Aussage konträr ging …

„Aha! Aber merke dir, wer viel redet, erfährt nichts. Hör erst mal geduldig zu, werte die Aussagen und geh erst dann zum Gegenangriff über!“

„Danke, ich werde versuchen, deinen Rat zu beherzigen, Max.“, entgegnete sie, ohne von der Papierlage auf ihrem Schreibtisch hochzusehen.

Kapitel 4

Am selben Tag, fünf Uhr am Morgen, Hamburg-Steilshoop.

Nach einem intensiven Klingeln griff Willy mit geschlossenen Augen tastend zum Telefonhörer und grunzte ein schwaches „Was ist?“

„Hier ist Ilonka von der Nachtschicht. Willy, hör zu! Die Schmiere hat eben Emil verhaftet, er hatte Probleme mit seiner widerspenstigen Corinna. Kannst du dich mal kümmern?

Corinna haben die Sanitäter ins Krankenhaus mitgenommen. Emil ist vermutlich auf der Polizeistation.

Er wird wohl einen Anwalt brauchen. Hol ihn da raus, er ist schließlich der Chef hier!“

„Hm, ich kümmere mich“, waren die einzigen Worte, die von „Braunschweiger-Willy“ zu hören waren, bevor er auflegte. Willys Gedanken kreisten. Er konnte nicht mehr schlafen und wälzte sich nach einer halben Stunde aus dem Bett, nachdem er sich mit feucht-verschwitztem Handrücken über die Augen gewischt hatte. Punkt neun Uhr griff er zum Telefon.

„Hier Kanzlei Hagemann, Beate Schröder, was kann ich für Sie tun?“

„Moin, hier Willy Böhmert, ist Anwalt Hagemann schon da?“ „Worum geht es?“ „Laber mich nicht voll, Schnecke. Es ist dringend, verbinde mich einfach!“, schrie Willy in die Telefonmuschel.

„Jaja … warten Sie, bitte“,hörte Willy den eingeschüchterten Ton von der Rechtsanwaltsgehilfin Beate Schröder.

„Rechtsanwalt Hagemann, guten Morgen.“

„Brauschweiger- Willy“, Moin. Können Sie meinen Freund Emil Berg vertreten? Die Schmiere hat ihn letzte Nacht eingesperrt. Er soll angeblich eine seiner Frauen geschlagen haben.“

„Kommen Sie bis zehn Uhr in meine Kanzlei und zahlen Sie bei Frau Schröder einen Vorschuss von Dreitausend in bar ein, dann kümmere ich mich um die Sache. Wer bearbeitet den Fall bei der Sitte?“ „Weiß ich nicht, müssen Sie fragen. Ich komme gleich und löhne die drei Mille.“

Für einen Moment herrschte lastende Stille, bis es aus Willy herausbrach: „Enttäuschen Sie uns nicht“, warnte Willy, bevor er den Hörer auf die Gabel knallte. Ewig der neue Ärger. Willy verstand es nicht. Was ging nur in diesen Bräuten vor? Sie konnten doch letztlich dankbar sein, bei ihnen dienen zu dürfen. Es war doch nicht mit den strengen Regeln der Soliden zu vergleichen, wenn sie sich dort als Verkäuferin in einem Kaufhaus den ganzen Tag für Peanuts die Beine in den Leib standen und darüber hinaus stets überpünktlich sein mussten. Sie alle kannten doch das Gesetz: Solange sie Geld verdienten, mussten sie sich beleidigen lassen. War nun mal so. Es war doch die reinste Zwangsarbeit. Sie waren einfach nicht frei. Nein, bei ihnen hatten sie eigentlich keine Chefs, war die Doktrin der Luden. Naja, ein bisschen aufpassen und die Dienste sinnvoll einteilen, dass mussten die Jungs schon. Man konnte es mit den Tally-Männern im Hafen vergleichen.

Ohne deren Arbeitseinteilung lief doch auch nichts. Ganz ohne Regeln klappte ja nirgendwo was.

Scheiße, Emil hatte erst mal wieder drei Mille in den Sand gesetzt, nur weil die Lampenbraut Corinna nicht spurte. Unter Dankbarkeit verstand Willy etwas Anderes und er war froh, dass er diesen störrischen Traber gegen eine stattliche Abstecke an Emil losgeworden war. Emil war ein Glatter*, er hatte ihm die Patte bar in die Pranke gelegt. Aber die drei Mille für den Advokaten Hagemann waren wohl nötig, dachte Willy: Am Anwalt sparen nur die Narren…

*einer, der okay ist

Kapitel 5

Derselbe Tag, vormittags, um 09:30 Uhr, Büro Herbst: