Bürde der Lust - Waldemar Paulsen - E-Book

Bürde der Lust E-Book

Waldemar Paulsen

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Beschreibung

St.Pauli 1975. Das einträgliche Geschäft mit Lust und Laster hat Hochkonjunktur. Kommissar Max Herbst wird die Aufklärung eines Tötungsdeliktes in einem Nobelbordell in Hamburg-Blankenese übertragen. Die Edelprostituierte Sabrina wird auf dem Parkplatz hinter dem Etablissement tot aufgefunden. Herbst findet ein brisantes Tagebuch mit den Namen ihrer Freier. Sie sind allesamt Vertreter der feinen Gesellschaft. Die Ermittlungen führen zu "Hubsi", dem "hinkenden Mann von der Behörde." Er war Sabrinas Stammfreier. Es gelingt Herbst, den ominösen "Mann von der Behörde" zu ermitteln und den Mord aufzuklären. Kommissar Herbst suspendiert seinen Praktikanten Anton Meyer, der sich als "Maulwurf" verdingte. Meyer wird von den Zuhältern als mutmaßlicher Verräter entlarvt und auf bestialische Weise entsorgt. PS gegen PS ist Toni Meyers Verhängnis.

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Waldemar Paulsen

Bürde der Lust

Ein St. Pauli-Krimi

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Bürde der Lust

Ein St. Pauli-Krimi

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Impressum neobooks

Bürde der Lust

St. Pauli 1975. Das einträgliche Geschäft mit Lust und Laster hat Hochkonjunktur. Kommissar Max Herbst wird die Aufklärung eines Tötungsdeliktes in einem Nobelbordell in Hamburg-Blankenese übertragen.

Die Edelprostituierte Sabrina wird auf dem Parkplatz hinter dem Etablissement tot aufgefunden. Herbst findet

ein brisantes Tagebuch mit den Namen ihrer Freier. Sie sind allesamt Vertreter der feinen Gesellschaft.

Eine nächtliche Razzia in dem Bordell wird ein Fehlschlag.

Ganz offensichtlich hat ein Maulwurf die geplante Aktion verraten.

Die Mordermittlungen führen zu Hubsi, dem hinkenden „Mann von der Behörde“.

Er war Sabrinas Stammfreier.

Herbst` s Praktikant Anton Meyer entpuppt sich als Maulwurf.

Teenie-Franz, ein Lude aus dem Kreis des Bordellbesitzers Kalle Bis, verliert wenig später im Drogenrausch die Kontrolle. Er verprügelt eine entwichene Minderjährige so schwer, dass sie stirbt.

Es gelingt Kommissar Herbst, den ominösen Stammfreier „Hubsi“ zu ermitteln.

Die Lebensgefährtin des suspendierten Praktikanten meldet Anton Meyer als vermisst.

Meyer wird von den Zuhältern als mutmaßlicher Verräter entlarvt und auf bestialische Weise entsorgt.

PS gegen PS ist Toni Meyer` s Verhängnis.

Ein St. Pauli-Krimi

Kein Mensch hat die Vergangenheit gern, wenn man sie ihm von der Stirn ablesen kann.

Kapitel 1

Club „Marita“ in Hamburg-Blankenese

“Ich geh’ mal kurz auf den Hof eine rauchen“, waren die letzten Worte, die in den frühen Morgenstunden des Montags, am 14. Juli 1975, um 02:45 Uhr, von der Edel- Prostituierten Sabrina zu hören waren.

Die üppige Bardame Biene bestätigte Sabrinas Bemerkung mit einem leichten Kopfnicken, während sie die Dirne durch die eiserne Notausgangstür nach hinten in die Dunkelheit verschwinden sah. Es waren nur noch vier Gäste in dem Nobelbordell anwesend, die Reihen lichteten sich bereits zunehmend.

Sabrina ging ein paar Schritte in Richtung der Sitzbank, die auf dem Parkplatz unter einem mächtigen Bergahorn stand. Der Baum hatte seine 200 Jahre auf dem Buckel. Ein laues Lüftchen wehte. Es würde wohl wieder ein angenehmer Sommertag werden.

Sie wollte einen Moment allein sein und ihre Gedanken ordnen. Dieses zarte Geschöpf war zwanzig Jahre alt und von kindlicher Statur. Ihre pechschwarzen Haare waren zu einem Zopf gebunden. Sabrina hatte eine sehr elegante Erscheinung, ihre geheimnisvolle Aura und der leicht slawische Akzent, trug zu einer erheblichen Gewinnmaximierung des Club Marita bei. Der Bordellbesitzer Karl-Heinz Bis, genannt Puff-Kalle, schmeichelte ihr gern damit, dass sie die Top eins seines Etablissements sei. Sie war eben das Superweib in dieser Dienstleistungsfiliale.

Während die Prostituierte etwa zwei Meter vor der Bank stand und sich eine Zigarette anzündete, sah sie einen schmier bauchigen Mann in einem weißen Feinrippunterhemd hinter einem beleuchteten, geöffneten Fenster in der dritten Etage der neben dem Parkplatz befindlichen Villa stehen. Aus dem Fenster drang weißer Zigarettenrauch nach außen, der sich über das Dach des Wohngebäudes verflüchtigte.

Sabrina dachte an ihren großzügigen „Hubsi“ und dass dieser sie wie ein zu eng geschnürtes Korsett immer mehr einengte.

Plötzlich spürte sie, dass irgendetwas hinter ihr ihre Kehle zuschnürte und sie schlagartig kaum noch Luft bekam. Ihre Atemnot wurde immer bedrohlicher und ging in ein mühsames Gurgeln über.

Ihre Augen wölbten sich nach außen, die zarten Lider mit den dichten Wimpern bedeckten sie nicht mehr ganz, es blieben zwei weiße Streifen übrig. Es war der Blick des Todes, der sie ergriffen hatte.

Sowohl die Zigarettenschachtel, die sie in der Hand hielt, als auch die noch zwischen ihren Lippen befindliche Kippe, fielen zu Boden. Sie rang ein letztes Mal keuchend nach Luft, dann knickten ihre Beine kraftlos ein. Schwarze und weiße Sterne explodierten wie ein Feuerwerk in ihrem Kopf. Ein unerträglicher Schmerz raste vom Hals in ihr Herz und dann hoch in ihr Hirn, wo er wie tausende Glassplitter explodierte. Verzweifelt stöhnend griff sie hinter sich, um sich an den fremden auf- und abschwingenden Körper an ihrem Rücken zu klammern. Dabei krallte sie sich mit der linken Hand an der Kleidung ihres Angreifers fest, um irgendeinen letzten Halt zu finden.

Jetzt war nur noch ein ersticktes Röcheln von der Prostituierten zu hören, die verzweifelt krampfte und dabei langsam zu Boden sackte. Ihre letzten Laute waren ein leises Pfeifen, bevor sie ein für alle Mal verstummte. Jemand hatte ihr blitzschnell eine Schlinge um den Hals gelegt und diese kräftig zugezogen. Als Letztes hörte sie nur noch im Todeskampf ein schwaches Flüstern: „Auf Wiedersehen in der Ewigkeit.“

Mit ausgestreckten Armen, angewinkelten Beinen und weit aufgerissenen Augen lag die Nummer eins des Bordells rücklings auf dem dreckigen Parkplatz und bekam nicht mehr mit, wie die heimtückisch handelnde Person leise mit widerlichem Gelächter zischte: „Wer nicht hören will, der muss fühlen!“

Der Kopf der Leiche war zur Seite gedreht und die linke Hand zu einer Faust verkrampft.

Der Täter war bei dem Kampf mit dem rechten Fuß in einer Senke des asphaltierten Parkplatzes umgeknickt. Er war der Länge nach auf den harten Boden gestürzt. Hektisch hatte er sich mit einem leisen Fluchen erhoben. Die heftigen Schmerzen im Sprunggelenk waren kaum noch auszuhalten. Beide Handrücken wiesen deutlich erkennbare Hautabschürfungen auf, die ein starkes Brennen verursachten. Es fehlte noch, dass diese Verletzungen dazu beitragen würden, nicht mehr dem Tatort entrinnen zu können.

„Weg hier, einfach nur weg“, dachte der Täter. Deutlich hinkend und schmerzverzerrt schleppte sich die hasserfüllte Gestalt in gebeugter Haltung vom Tatort in Richtung Straße, nicht ohne zuvor einen letzten Blick auf das leblose Opfer zu werfen.

Die Wolken am Himmel rasten aufeinander zu, als wollten sie sich gegenseitig auffressen. Für einen kurzen Moment war der Mond zu sehen, der hell durch die Blätter der nahestehenden Bäume leuchtete.

Dann war nur noch ein tiefes Brummen zu hören, gepaart mit dem sonoren Sound eines Achtzylinders, der sich mit quietschenden Reifen von dem Tatort entfernte.

Die männliche Gestalt am geöffneten Fenster der Nachbarsvilla war ebenfalls verschwunden, das Fenster geschlossen und die Innenbeleuchtung ausgeschaltet.

Kapitel 2

Der Bordellbesitzer Karl-Heinz Bis, genannt Puff-Kalle, kam aus seinem Büro und ging in den Barbereich, wo Biene Gläser spülte, nachdem der letzte Gast das Haus verlassen hatte.

„So, Biene, Feierabend, es ist vier Uhr. Wir machen Schluss. Wo steckt denn eigentlich Sabrina? Ihr Freier von der Behörde ist doch schon um halb drei gegangen.“

„Weiß ich nicht, hast du eigentlich Recht. Gegen drei habe ich sie auf den Parkplatz gehen sehen. Sie wollte eine rauchen. Danach hab ich sie nicht mehr gesehen.“

„Hm, komisch… - ich seh’ mal nach“, sagte Kalle Bis und verschwand nach draußen auf den Hinterhof.

Der Parkplatz war leer. Im schwachen Licht der Straßenbeleuchtung sah Kalle seine einträglichste Geldmaschine unmittelbar vor der Sitzbank auf dem geteerten Boden liegen. Mit einer dunklen Vorahnung eilte er mit großen, unsicheren Schritten über den jahrzehntelang strapazierten und mit Löchern versehenen Asphalt auf die am Boden liegende Gestalt zu. Nachdem er einen Arm der Dirne angehoben hatte und dieser sofort wieder schlaff auf den Asphalt zurück fiel, als er ihn losließ, schlug er ihr zwei kräftige Ohrfeigen in das hübsche Gesicht. Kalle stöhnte laut auf:

„Schnitte, Schnitte, was ist?“ Er zerrte mit angstvoller Miene weiter an ihr. Keine Reaktion…Panisch rannte er zurück ins Bordell und schrie:

„Biene, Biene, Sabrina…, oh, eine Scheiße ist das!“

„Was ist?“, fragte die Bardame Biene erstaunt, während sie eine Whiskyflasche ins Regal stellte.

„Die…, also die, sie scheint tot zu sein, tot. Kapierst du das?

Liegt da so einfach im Hof mit einem dünnen Kabel um den Hals… und ihre Augen, ihre Augen! Wusste gar nicht, dass die so große Augen hat“, stammelte Kalle und begann, an Armen und Händen zu zittern.

Der Geschmack des Todes war immer noch in seinem Mund. Seine Wangenfalten bebten unkontrolliert und gaben ihm ein furchtsames Aussehen.

„Oh, mein Gott; und nun…? Wir müssen die Bullen rufen, war ja keiner von uns“, rief die Bardame Biene erregt.

Woher wollte sie denn wissen, ob der Täter nicht dem Rotlicht-Milieu zugehörig war?

„Nein…, nicht sofort!

Erst mal müssen Eva und Vera weg, sind doch erst siebzehn und vierzehn. Wenn die Schmiere sie hier entdeckt, gibt’s gleich wieder eine dicke Lampe für mich wegen Förderung der Prostitution Minderjähriger und ich kann womöglich den Laden dichtmachen…Sind doch mein bestes Kapital. Die Freier stehen auf Junghühner!“

Kalle` s Stimme klang in diesem Moment hohl und leer. Er schien die Situation und die daraus resultierenden Folgen noch nicht gänzlich begriffen zu haben.

„Kalle, bleib ruhig, die kriegen meinen Wohnungsschlüssel. Ich bestell eine Taxe und die können bei mir wohnen, bis sich die Lage entspannt hat.“

„Okay, Biene, dann mach hinne!“

Nach etwa fünf Minuten hielt ein Taxi vor dem Bordell.

Leck-Hans, der Türsteher des Etablissements, gab in der Bar Bescheid: „Euer Taxi ist da!“

Die beiden minderjährigen Prostituierten rannten auf Kalles Kommando zum Wagen. So schnell wie das Mietauto gekommen war, war es auch schon wieder verschwunden.

„Hans, komm rein!“, herrschte Kalle den Türsteher in barschem Ton an, nachdem er sich etwas gefangen hatte.

„Sabrina ist tot! Hast du irgendeinen Typen draußen gesehen, der hier ums Haus geschlichen ist?“, fragte Kalle Leck- Hans.

„Nee, nichts gereunt“, sagte Leck-Hans, während er seine Zungenspitze über Ober- und Unterlippe kreisen ließ. „Hab’ nur mal kurz zwischendurch ein kräftiges Brummen und Quietschen gehört, das wohl von einer fetten Karre kam. Gesehen hab ich nichts. Was ist denn passiert? Sag doch mal!“, fragte Hans mit erstauntem Gesicht.

„Später. Also, Hans…, du hältst die Schnauze, denk an deinen Arbeitsplatz! Gleich wird es hier von Bullen nur so wimmeln. Die Schmiere ist penetrant neugierig, enttäusch mich nicht“, gab Kalle Leck-Hans mit auf den Weg.

„So, ich starte jetzt. Biene…, reich` mir das Telefon!“

Kalle Bis drehte auf der Wählscheibe des schwarzen Telefonapparates zweimal die Eins, dann die Null und wartete auf das Freizeichen.

„Polizei-Einsatzzentrale, Stöver, bitte melden Sie sich!“

„Hm, ja…, hier Bis, Kalle, nee, ich meine… Karl-Heinz Bis. Ich habe den Club Marita in der Bernsteinstraße 14 auf St. Pauli. Nee, nee…, ich meine, hier, in Blankenese. Hier liegt eine To…Tote im Garten, hier, bei uns. Wollt ich nur melden!“, stammelte Puff-Kalle.

„Okay, bleiben Sie bitte vor Ort. Ich schicke einen Peterwagen vorbei. Nicht weglaufen, Herr Bis, wir sind gleich da!“, wies Stöver den Bordellbesitzer in ruhigen Ton an.

Eine Minute später erhielten zwei Funkstreifenwagen des Polizeireviers Blankenese den Einsatzbefehl: “Bernsteinstraße 14, Club Marita, angeblich Leichenfund. Normale Fahrt aufgehoben, Sonderrechte zugelassen!“ Die Peterwagenbesatzungen quittierten der Funkzentrale im Polizeipräsidium den Einsatz und rasten mit zuckenden Blaulichtern und lautem Martinshorn durch die dunkle Nacht in Richtung des ihnen bekannten Bordells.

Kapitel 3

Es war Viertel nach acht an diesem Morgen, als der 42jährige Kriminalkommissar Max Herbst sein Büro im Sittendezernat für Spezielle Milieudelikte im Polizeigebäude an der Davidstraße auf St. Pauli betrat.

Eigentlich ein Morgen wie jeder andere, sinnierte Herbst. Er würde einfach abwarten, wie der Tag sich entwickelte. Das war ja gerade das Spannende an seinem Beruf. Nichts war planbar.

Na, was machen meine Akten? Sind ja keine Hasen, laufen nicht weg, dachte Herbst. Er schaltete erst einmal das Radio ein und hörte den Top eins Hit der deutschen Singlecharts „Paloma Blanka.“ Während Max Herbst den Stapel Akten nach Dringlichkeit ordnete, betrat die Geschäftszimmersekretärin Ines Schnoor sein Büro.

„Moin, Max, du möchtest bitte mal sofort zum Chef kommen. Er hat Besuch, es scheint eilig zu sein!“

„Danke, Ines, geht gleich los. Und…, Ines, er ist kein Chef, nur ein Vorgesetzter. Wir erhalten alle unser Gehalt aus demselben Topf.“

Wortlos verließ Ines, die gute Seele der Dienststelle, Max Büro in Richtung Geschäftszimmer.

Max Herbst legte die Akten beiseite und ging in das Büro des Dienststellenleiters Dieter Wiese, dem 58jährigen Bundesbedenkenträger, wie Herbst ihn in Gedanken gern betitelte. Wiese war entscheidungsfreudig wie sieben Meter Waldweg.

Bei Betreten des Dienstraumes sah Herbst neben Wiese eine weitere männliche Person. Sie drehte sich ihm zu und Herbst erkannte seinen Lehrgangskollegen Viktor Lange. Lange war seiner Kenntnis nach Leiter der dritten Mordbereitschaft des Mordkommissariats im Landeskriminalamt.

„Moin, ihr zwei“, grüßte Max Herbst die beiden Männer in ahnungsvollem Ton.

„Guten Morgen, Max“, antworteten beide im Chor.

„Max, der Kollege Lange hat eine Bitte an meine Dienststelle und ich meine, du bist der richtige Mann für die Angelegenheit.

So, Herr Lange, dann legen Sie mal los!“, sagte Wiese zu Viktor Lange.

„Max…, du weißt ja, dass ich Leiter der dritten Mordbereitschaft bin.

Wir hatten in der Nacht auf heute ein Tötungsdelikt in einem Nobelbordell in Hamburg-Blankenese. Eine Prostituierte wurde ermordet. Wir stehen vor einer Mauer des Schweigens. Die Leiche sah aus wie eine weggeworfene Schaufensterpuppe. Nach den Spuren am Tatort muss noch ein kurzer Kampf stattgefunden haben. Es sind aber keine Anzeichen für ein Sexualdelikt erkennbar. Die Kleidung war geordnet. Bei dem Opfer fanden wir eine Hirschgrandel, das ist so eine Art länglicher Knopf, der sich häufig an groben Dufflecoats oder Jacken befindet. Es sind meist diese Kleidungsstücke mit einer Kapuze.

Die Getötete muss kurzzeitig erhebliche Gewalt angewendet haben, weil der Knopf mit einer kleinen Lederschlaufe aus der Jacke oder dem Mantel des Täters herausgerissen wurde und sich noch in der verkrampften linken Hand der Leiche befand.

Die Tatortarbeit ist gerade beendet und wir haben ein Spurenbild erstellt. Der Fotograf und der Zeichner sind eben mit meinen Männern abgerückt.

Der Diensthundeführer teilte mit, dass sein Hund die Spur des Täters aufgenommen hatte. Der Täter flüchtete zu Fuß durch die Ausfahrt vom Parkplatz, also dem Tatort, nach vorn in Richtung Straße.

Die Leiche befindet sich auf meine Anordnung hin in der Rechtsmedizin in Hamburg- Eppendorf zur Sektion.

Nach jetzigem Ergebnis gibt es eindeutige Hinweise, dass das Opfer erdrosselt wurde. Ein Raubmord scheint unwahrscheinlich. Die Prostituierte hatte lediglich eine Packung Zigaretten mitgeführt, die auf dem Erdreich lag. Der Täter muss blitzschnell dem Opfer heimtückisch, also ahnungslos, ein dünnes Kabel um den Hals gelegt haben.

Tatmittel ist also ein dünnes Stromkabel, das durch Zuziehen einer Schlinge zum Tod führte. Die Schlinge wurde mit Hilfe eines kleinen Eisenstabes gedreht. Die Blutzufuhr zum Hirn war somit unterbrochen. Der Tod trat unmittelbar ein. Striemen im Halsbereich lassen einen deutlich sichtbaren Bluterguss im unteren Bereich zwischen Kinn und Kehlkopf erkennen. Der Leichenstarre nach fand der Tod zwischen zwei und vier Uhr in der Nacht statt, wie der diensthabende Notarzt vor Ort mitteilte.

Um die Leiche herum gibt es zwei Arten von Spuren. Nämlich diejenigen, die von der Leiche stammen und die des Täters.

Auch in diesem Fall dürfte, wie so oft, eine enge Verbindung zwischen Täter und Opfer bestehen.“

„Gut, Viktor, aber weshalb erzählst du mir das alles?“, fragte Herbst seinen Kollegen.

„Wir sind personell an unsere Grenzen gestoßen, haben aus derselben Nacht noch einen Doppelmord an zwei Angehörigen eines Generalkonsulates in der Rothenbaumchaussee zu bearbeiten. Das BKA und der MAD sind auch involviert. Scheint einen politischen Hintergrund zu haben.

Mein Dienststellenleiter und ich bitten euch sozusagen, den Fall zu übernehmen, weil ihr euch ja ohnehin besser im Zuhältermilieu auskennt. Also Max, finde den Täter oder die Täterin. Wer weiß es schon so genau?

Bei dieser Art der Tötungsdelikte handelt es sich in der Regel um eine Beziehungstat. Täter und Opfer werden sich vermutlich gekannt haben. Nur, wer ist diese Beziehung? Die Tatort-arbeit haben wir ja schon für euch erledigt. Dürfte eine schnelle Sache werden.

Herr Wiese hat schon zusagt.“

„Na ja, wenn das so ist“, sagte Max Herbst und dachte, „Wiese, dieser Armleuchter, mal wieder muffe, nein zu sagen.“

„Also, ich muss los, bin in Eile“, verabschiedete sich Viktor Lange.

„Tschüss, und viel Erfolg !“

Nachdem Lange verschwunden war, sagte Wiese zu Herbst: „Max, eine große Herausforderung für dich, könnte ein Baustein zum Oberkommissar sein, bist ja langsam mal fällig.“

„Fällig hin, fällig her. Weshalb hast du Hauptkommissar Weber oder Oberkommissar Ahlers nicht mit dem Fall beauftragt?“

„Bitte lass solche Fragen!“, jammerte Wiese und setzte eine Leidensmiene auf.

„Du weißt doch selbst, dass die so einen komplexen Fall nicht packen. Die kann man nur als Müllfresser für die Kleinkriminalität gebrauchen. Bleibt aber unter uns!

Und noch was, Max.

Um neun kommt ein Kommissarsanwärter von der Polizeischule, der hier sein Praktikum im dritten Semester absolvieren soll. Ich hatte die Wahl zwischen einer Kollegin und eben diesem Mann. Ich habe mich diesmal für den Mann entschieden, gibt vielleicht weniger Probleme. Er heißt Anton Meyer und ist 34 Jahre alt. Nimm ihn an die Hand, kannst ihn wahrscheinlich gut gebrauchen.“

Max Herbst nickte und ging wortlos mit gesenktem Kopf in sein Büro. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass Dieter Wiese ja nur noch zwei Jahre bis zur Pensionierung in den Ruhestand benötigen würde. Welch eine Freude.

Während Herbst die aktuellen Tageszeitungen las, klopfte es kräftig an seiner Bürotür. Ein Blick auf die Wanduhr zeigte ihm, dass es bereits neun Uhr fünfzehn war.

„Herein!“, rief Max Herbst.

Forsch wurde die Tür aufgerissen und mit zackigem Schritt stürmte ein junger Mann herein. Er baute sich mit ausgestrecktem Arm vor Max auf und schüttelte ihm überschwänglich die Hand zum Gruß. Max wechselte widerwillig den Händedruck, der ein unangenehmes Gefühl bei ihm auslöste.

Er mochte das ewige Händeschütteln mit Menschen, die ihm fremd waren oder mit denen er nicht intim war, nicht besonders. Er konnte die Körperpflege dieser Personen nicht beurteilen. Immer wieder hatte Max auf der Herrentoilette und auch anderswo festgestellt, dass ihre Hygiene mangelhaft war. Entweder wuschen sie sich nicht die Hände, wenn sie vom großen Geschäft oder Pinkeln kamen oder sie fummelten sonst wo herum. Zum Beispiel in den Zähnen oder am Arsch und reichten dann ganz selbstverständlich ihre ungewaschene Hand. Sie bezeichneten das Händeschütteln dann kurioser Weise als besondere Wertschätzung dem anderen gegenüber.

Nein, das war nicht Max Herbst Welt.

Er liebte diesbezüglich die Skandinavier und Amerikaner, die bei einer täglichen oder gelegentlichen Begegnung lediglich ein lässiges He oder Hello von sich gaben.

Die Person, die Max das morgendliche Unbehagen bereitet hatte, war um die dreißig Jahre alt, hatte eine wallende weizenblonde Mähne und einen kleinen Oberlippenbart.

Besonders auffällig war die enge knallrote Lederhose, kombiniert mit hochhackigen Westernstiefeln und einer beigen Lederjacke mit langen Fransen an den Ärmeln. Das Oberhemd war fast bis zum Bauchnabel geöffnet und um den Hals baumelte eine goldene Kette mit einem Kreuzanhänger.

Der junge Mann schien in billigem After Shave gebadet zu haben.

Der Geruch des penetranten Rasierwassers stieg Max Herbst in die Nase und füllte innerhalb kürzester Zeit den gesamten Raum.

„Jetzt kommen die Luden schon unangemeldet zur Tür herein“, dachte der Kriminalist bei sich im Stillen.

„Moin! Anton Meyer, 34 Jahre alt. Kannst ruhig Toni zu mir sagen.

Ich bin der neue Praktikant. Ledig, dynamisch und momentan noch erfolglos, ha, ha. Wird sich hoffentlich bald ändern, ha, ha.

Seit einem Jahr bei der Bullerei. War vorher einige Jahre als Global- Player unterwegs.

Mann, was bin ich froh, hier aufräumen zu dürfen“, stellte sich der junge Mann glucksend vor.

Aua, dachte Max Herbst, der für einen Moment fassungslos war.

„Ja, dann nehmen Sie mal Platz“, sagte Max und wies dem forschen jungen Kollegen den Bürostuhl an dem ihm gegenüber liegenden Schreibtisch zu, während er seine rechte Handfläche automatisch zweimal an seiner Hose rieb.

„Ich nehme Ihr Angebot an und nenne Sie Toni, aber das Duzen lassen wir vorerst einmal“, sagte Max mit befehlsgewohnter Stimme, dessen Klang den Praktikanten zusammenfahren ließ.

„Mein Name ist Herbst, Max Herbst, Ihr Ausbilder für die nächsten sechs Monate.

Vorab, Toni… Ihre Kleidung gefällt mir nicht. Dieses Outfit können Sie in der Freizeit tragen oder wenn Sie später einmal als Verdeckter Ermittler im passenden Milieu tätig sein sollten, aber nicht in Ihrer jetzigen Funktion. Sie sehen wie ein Heiermannlude aus.

Also, morgen anders! Und noch etwas, Toni... Merken Sie sich das.

Wer viel redet, erfährt nichts. Sie sollen neugierig sein, einfach kritisch. Sehen Sie den Vernehmenden direkt in die Augen, denn Sie sind der Spiegel der Seele. Verharren Sie einen Moment dabei, dann kommen Sie der Lösung näher.

Hören Sie erst einmal geduldig zu, werten Sie die Aussagen und gehen Sie dann zum Gegenangriff über. Das nennt man kriminalistische List.

Unser Grundsatz ist, dass alles, was hier geschieht, topsecret behandelt wird, damit wir uns verstehen.

Und noch eines, Toni! Wenn Sie Ihren Aal wässern wollen, überall, aber nicht hier auf dem Kiez! Haben wir uns verstanden?

Außerdem, Herr Meyer, das mit dem Aufräumen lassen Sie erst einmal, können Sie eh nicht beurteilen, wo es wie Sinn macht. Jetzt sind Sie eingenordet. Ich hoffe, Sie enttäuschen mich nicht.“

Nachdenklich setzte sich Toni mit eingezogenem Hals und starrer Miene auf den ihm zugewiesenen Platz vor den Schreibtisch.

„Toni, wir haben ein ordentliches Stück Arbeit vor uns. Ich ermahne Sie! Wir arbeiten momentan an einer äußerst sensiblen Angelegenheit und alles hier unterliegt der Geheimhaltung, der totalen Verschwiegenheit. Jegliche Auskunft darüber geht ausschließlich über mich, damit wir uns verstanden haben! Ist das klar, Toni? Wenn Sie indiskret sind, feuere ich Sie und Sie können auf dem Jungfernstieg den Straßenverkehr regeln.

Ich rede immer Tacheles!“, war der Kommentar, den Max im Befehlston an seinen neuen Praktikanten richtete.

Mit einem kühlen Lächeln antwortete Toni Meyer:

„Ja…, ist ja schon gut, natürlich, selbstverständlich, das ist aber harter Tobak hier“, murmelte Toni und sah dabei verlegen auf die Tischplatte.

Max hatte den Eindruck, dass die hastige Antwort von Toni mehr der Oberflächlichkeit, als einer verinnerlichten Überzeugung in der Sache gedient war.

„Holen Sie bitte als erstes einmal eine Tatort- und Ermittlungsakte von unten aus dem Wachraum. Der Stafettenfahrer soll sie soeben als Eilsache überbracht haben. Dann sehen wir weiter.“

„Okay, Befehl verstanden. Ich geh dann mal“, sagte Toni und verließ mit hängenden Schultern das Büro.

Max war froh, für einen kurzen Moment allein zu sein und in Ruhe über seinen neuesten Fall zu grübeln.

Wenn man einen Mord hat, gibt es auch ein Motiv dafür, aber was könnte das sein?

Könnte man den Täter typisieren? Man bräuchte ein Täterprofil. Weshalb musste gerade dieses Opfer daran glauben? Würden weitere folgen?

Max wusste es nicht.

Doch es war schon wieder vorbei mit Ruhe.

„Hier ist die Akte“, rief Toni viel zu laut und stürmte freudestrahlend ins Büro.

„Nun will er wohl auch noch ein Lob für den fehlerfreien Botengang haben“, dachte Herbst. Ein sehr spezieller Kollege.

„Lesen, und dann möchte ich als erstes wissen, wie das Opfer tatsächlich heißt. Sabrina wird mit Sicherheit nur ihr Hausname sein“, bemerkte Herbst.

„Nee, der Name der Leiche ist nicht bekannt. Wusste dort keiner. Am Tatort waren nur noch die Bardame Biene Schmidt und der Bordellbesitzer Karl-Heinz Bis anwesend, als die ersten Kollegen vor Ort waren.“

„Gut, Toni. Wir müssen uns den Tatort noch einmal ganz genau ansehen“, sagte Herbst.

„Bevor wir in das Bordell fahren, erteilen Sie bitte der KTU den schriftlichen Auftrag, dass ein Daktyloskop in der Rechtsmedizin während der Obduktion Fingerabdrücke an der Leiche sichert. Die werden dann in Hamburg und im Bundeskriminalamt in Wiesbaden durch die Maschine gejagt.

Mal sehen, vielleicht liegen identische Abdrücke mit Personendaten vor.“

Toni, zu dessen Stärke Taktgefühl nicht unbedingt gehörte, sagte:

„Warum wird denn so ein Aufwand betrieben, nur wegen einer Nutte? Wenn ein Mann seine Hand in deren Keksdose steckt, weiß sie genau, worauf sie sich ein lässt. Dann soll sie doch auch die Konsequenzen tragen.“

„Ich höre wohl nicht recht“, erwiderte Max, der seinen Blick starr mit bestimmender harter Stimme geradeaus auf Toni gerichtet hatte.

Max wusste, dass dieser Praktikant eine besondere Herausforderung für ihn werden sollte.

„Vergreifen Sie sich nicht im Ton, Herr Meyer. Und außerdem möchte ich die Bezeichnung „Nutte“ in diesem Haus nicht mehr hören. Es sind Prostituierte, Dirnen oder von mir aus Huren. Lassen Sie sowohl dieses geringschätzige Wort als auch Ihre Einstellung zu solchen Personen.“

Max hätte es noch eine Spur derber ausdrücken können, unterließ es aber zu diesem frühen Zeitpunkt. Toni sollte sich erst einmal die Hacken ablaufen.

„Entschuldigung, wird erledigt, Chef“, ruderte Toni nach einigen Minuten des Schweigens zurück und setzte sich mit eingeschnapptem Gesicht auf seinen Platz.

Kapitel 4

Es war der Vormittag eines warmen, sonnigen Tages, als Toni um 13:00 Uhr den zivilen Dienst-Pkw, einen Ford Granada in braun mit schwarzem Vinyldach, direkt vor dem Bordell in der Bernsteinstraße 14 in Hamburg- Blankenese parkte.

Die in diesem Stadtteil befindliche Immobilie lag in einer Durchgangsstraße im Villenviertel Blankenese` s, wo ausschließlich die vermögenden und reichen Bürger der Hansestadt eines ihrer Domizile hatten.

Trotz diverser Bürgerinitiativen war es den Bewohnern des Stadtteils bislang nicht gelungen, die Behörden von der Schließung des Bordells zu überzeugen.

Das Bordell sah ansprechend und prachtvoll aus. Von außen zeugte nichts darauf hin, dass dort der Lust gefrönt wurde. Der vermögende Bauherr hatte es Ende des neunzehnten Jahrhunderts als Chalet in Deutschland gebaut, wo er sich gelegentlich aufgehalten hatte und Geschäftsfreunde empfing, obwohl er hauptsächlich in Übersee wohnte, bevor er starb.

Über Beziehungen war es Karl-Heinz Bis gelungen, die Immobilie von den Erben zu erwerben. Bis hatte 30 Prozent des Kaufpreises in bar gezahlt, die restliche Summe war die Hypothek, die er bei seiner Hausbank finanzierte. Den Barbetrag konnte Kalle Bis locker aus dem Ärmel schütteln, nachdem er zum Zeitpunkt des Erwerbs zwei hohe Versicherungssummen ausgezahlt bekam. Es waren die Gelder von zwei Lebensversicherungsgesellschaften, die zu seinen Gunsten von zwei seiner damaligen Dirnen abgeschlossen worden waren.

Die Frontdiseusen waren bei einem Verkehrsunfall und einem Fenstersturz aus der achten Etage eines Wohnhauses ums Leben gekommen. Trotz akribischer, kriminalpolizeilicher Ermittlungen gelang es nicht, Fremdverschulden bezüglich der Todesfälle nachzuweisen. Die Versicherungen hatten zu zahlen.

Die Außenmauern der Immobilie waren aufwändig im Fachwerkstil der damaligen Zeit mit hundertjährigen Eichenbalken und hart gebrannten Rotklinkerziegeln gebaut worden. Die zur Front gerichteten Fenster waren eher klein. Zwischenzeitlich hatte man die dünnen Glasscheiben durch Butzenscheiben ersetzt. Die grünen Fensterläden aus Eichenholz mit deutlicher Patina-Anhaftung versehen, wurden jeweils bei beginnender Dämmerung geschlossen.

Innen hatte Karl-Heinz Bis zusätzlich schwere, rote Samtvorhänge anbringen lassen, die stets zugezogen waren, sodass man nicht ins Innere des Gebäudes sehen konnte.

Das Dach war reetgedeckt und passte zum Stil der umliegenden Immobilien. Es machte jedoch einen ungepflegten Eindruck. Seit Jahren hatte man versäumt, es zu kämmen. Durch ständigen Schatten der nahestehenden Kastanienbäume und Regenschlag hatte sich ein starker Moosbefall gebildet, der die Feuchtigkeit im Ried hielt, das dadurch verrottete.

Dieses Etablissement hatte Priorität eins in der honorigen, hanseatischen Männerwelt.

Sie alle liebten die Abgeschiedenheit von dem Rotlichtmilieu, die gewisse Anonymität, die für sie entscheidend war.

Dort konnten die Hanseaten nach einem harten Arbeitsalltag oder Familienstress ihren Gelüsten freien Lauf lassen, ihre phantasievollen Vorlieben ausleben und für Stunden ein anderer Mensch sein.

Die Damen des Hauses waren ausnahmslos aparte, gepflegte hübsche Geschöpfe mit ausgezeichneten Manieren. Es gab unter ihnen welche, mit denen eine anspruchsvolle Konversation durchaus möglich war.

Je nach Mentalität trieben die Freier Sado-Maso-Spiele oder vergnügten sich mit griechischen, französischen, englischen, russischen, Natursekt- oder weiteren Sexpraktiken bei den Dirnen, die sie für Stunden mieteten.

Einige wenige unter ihnen standen auf blutjunge Prostituierte, andere wiederum suchten nur das Gespräch. Es waren dann hauptsächlich Männer, deren Testosteron Spiegel bereits an dem unteren Level angelangt war. Das Milieu nannte sie deshalb Seibelfreier.

Materielle Dinge spielten bei all diesen Freiern wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle. Sie alle wollten den ultimativen Kick, um damit ihre Batterien aufladen zu können, damit die täglichen Pflichten sowohl am Arbeitsplatz als auch zu Hause in einem erträglichen Maß ausgehalten werden konnten. Sie waren nun einmal gestresste Manager mit hoher Verantwortung, die es zu kanalisieren galt…

„So, Toni, nun kommen Sie. Mal sehen, was der Lude Bis uns zu sagen hat“, forderte Herbst seinen Praktikanten auf.

Als Antwort kratzte sich Toni plötzlich ausgiebig am Kinn und rieb sich den Hinterkopf.

Irgendwie ungewöhnlich, was für ein komischer Vogel, dachte Max Herbst, dem das seltsame Verhalten nicht entgangen war.

In der mächtigen Eingangstür aus Eichenholz befand sich auf Augenhöhe eine kleine Klappe, die zur Gesichtskontrolle der Gäste diente, wenn es dem Türsteher draußen zu kalt wurde. Neben der Tür entdeckte Herbst eine auffällige Türklingel.

Der Bereich war durch eine mannshohe Rotbuchenhecke verdeckt. Unterhalb der Klingel war ein weiterer, winziger Klingelknopf zu sehen, der kaum wahrnehmbar war. Es handelte sich um eine Art Alarmknopf für den Türsteher, wenn er vor unliebsamen Gästen warnen wollte.

Vor Betreten des Bordells war Max aufgefallen, dass Toni nun auch noch ein nervöses Zucken im Gesicht bekam. Max konnte keine Erklärung dafür finden, aber es machte ihn trotzdem stutzig. Konnte das etwa die Aufregung sein, das erste Mal in ein Bordell zu gehen, auch wenn gar kein Betrieb herrschte?

Max Herbst klingelte dreimal, während Toni hinter ihm stand. Nach einer Weile hörten sie schlurfende Schritte und plötzlich öffnete sich die Türklappe. Herbst sah in das Gesicht eines müden Mannes, der mürrisch fragte:

„Was wollt ihr? Mit wem habe ich die Ehre, mit wem kann ich rechnen?“

Max schnappte nach Luft. Diese Fratze hatte auch noch die Frechheit, ihm ins Gesicht zu lügen. Dieser Schleimer. Habe die Ehre… was sollte das? Diese blödsinnige Floskel. Am liebsten hätte er diesem Luden eins auf die Zwölf gegeben.

Oberflächlich betrachtet hatte Karl-Heinz Bis, genannt Puff-Kalle, eine fast blütenreine Weste. Allerdings war er ein skrupelloser Typ, der über Leichen ging. Man sagte, dass man sich ihm nicht widersetzen sollte.

Wollte er einen Puff, so sollte man ihm besser gleich den Schlüssel geben. Das war zwar nicht verboten, aber wenn man tiefer sinnierte, konnte man durchaus zu dem Ergebnis kommen: einmal ein Lump, immer ein Lump. Ist halt so.

Mit äußerster Beherrschung und einem verbindlichem Lächeln erwiderte Max: „Herbst, Kripo St. Pauli, das ist mein Kollege Meyer. Sind Sie Karl-Heinz Bis?“

„Ja…, kommt rein!“, sagte Kalle mit einladender Handbewegung, während er sich über die feuchte Oberlippe wischte. Dazu hatte er untypisch ein zerknülltes Stofftaschentuch benutzt, das er anschließend sofort wieder in der Hosentasche verschwinden ließ.

„Nehmt Platz, ihr hättet ruhig etwas später kommen können, bin noch hundemüde. Lasst euch durch die Putzfrau nicht stören“, brummelte Kalle, während Max dessen vom Schlafmangel blutunterlaufenen Augen auffielen.

„Danke, Herr Bis. Ein Tötungsdelikt duldet keinen Aufschub, sollten Sie schon wissen. Was starren Sie meinen Kollegen so an, hat er sich verwandelt? Oder ist es seine Hose?“, fragte Herbst.

„Nee, nee, ist nichts, ich dachte nur…Darf ich euch etwas anbieten.

Wollt ihr was trinken? Eine Cola mit Schuss oder so?“, fragte Puff- Kalle.

Toni nickte eifrig und sagte laut und vernehmlich; „Gerne, hätte nichts dagegen einzuwenden.“

„Nein, danke, Herr Bis, wir sind im Dienst!“, fuhr Max Herbst mit strengem Blick zu Toni dazwischen, dessen Kinn herab sackte. „Bieten Sie uns zur Abwechslung vielleicht einmal die Wahrheit an, Kalle!

Herr Bis. Sie haben dieses Bordell jetzt seit etwa zwei Jahren, waren ja vorher im Eros- Center im Haus Pardon als Wirtschafter tätig.

Bereits nach einem Jahr Bordellbetrieb haben Sie sich eine Lampe eingefangen, weil Sie hier eine Neunzehnjährige ackern ließen...“

Kalle zuckte mit den Schultern und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Darüber ist noch gar nicht gerichtlich entschieden“, war die scheinbare Empörung des Bordellbesitzers, während er sich vor Max aufbaute wie ein Gockel.

„ Heute kann ich euch mehrere Achtzehnjährige vorführen, die ihre Dienste anbieten.

Ich bin erfreut, dass der Gesetzgeber seit erstem Januar das Volljährigkeitsalter von einundzwanzig auf achtzehn runter gesetzt hat.

Und dann soll ich dafür bestraft werden, weil ich letztes Jahr hier eine Neunzehnjährige ackern ließ? Das ist doch einfach lächerlich… die ganze Sache wird wohl eingestellt. Und wir haben jetzt endlich mehr Material zur Verfügung, ha, ha.“

„Reden wir doch über die Nacht, als Sabrina getötet wurde.

Sagen Sie, wie würden Sie Ihr Verhältnis zu dem Opfer beschreiben?“, war die erste Frage von Herbst, den das schmierige Grinsen des Bordellbesitzers störte.

„Tja, was soll ich sagen? Sie hat eben halt hier gearbeitet und gewohnt. War ein nettes Mädchen, eben unser Glamourgirl. Ich hatte nie Probleme mit ihr, niemals.“

„Gut, Herr Bis, lassen wir das mal. Gab es hier Ärger im Haus. Was spricht man so in Ihren Kreisen?“

„Nichts, kein Ärger oder sonstige Probleme. Alles im grünen Bereich“, erwiderte Kalle, wobei er sich bemühte, eine überzeugende Miene aufzusetzen.

„Wer hat Sabrina umgebracht?“

„Weiß ich doch nicht… Wenn es einer von uns war, hätte ich doch nicht die Schmiere gerufen. Dann hätten wir sie einfach auf andere Art entsorgt. Ist doch logisch, oder? Im Übrigen, ist Ihr Job, das rauszufinden.“

Kalle` s Blick wirkte gespannt und von wachsendem Zorn erfüllt.

„Wie sind denn Sabrinas tatsächliche Personalien?“, fragte Herbst, während Toni mit gleichgültigem Gesicht den Dialog zwischen Bis und Herbst verfolgte.

„Weiß ich nicht… Sie ackert seit erstem Januar hier. War mein bestes Pferd im Stall.

Sie kam aus einem Club am Berliner Tor. Sie durfte dort zwar nicht arbeiten, weil sie noch keine einundzwanzig war, aber es war nie Schmiere zur Kontrolle da, fiel also nicht weiter auf“, brummelte Kalle Bis, während er lautstark gähnte.

Er tastete nach einer Zigarette, nahm sie und zündete sie an. Das Dupont-Feuerzeug machte ein lautes kratzendes Geräusch. In dem Augenblick klingelte das Telefon. Kalle hob den Hörer ab und lauschte ein paar Sekunden, sagte dann:

„Hallo…, ja, ja, ich melde mich später“, bevor er das Gespräch beendete.

„Wo wohnte Sabrina?“, führte Max die Unterredung fort.

„Hab ich doch schon gesagt, nur hier im Haus, hatte oben ein Zimmer für sich“, raunzte Kalle ihn an.

„Wer war letzte Nacht an Personal und Gästen hier anwesend?“, fragte Herbst.

„Es muss doch keiner wissen, wer mit wem oder so! Diskretion ist angesagt…ist ja auch das Motto des Hauses, Herr Kommissar“, erwiderte Kalle Bis mit schwerem Atem.

Max hatte den Eindruck, dass Kalle` s larmoyantes Gerede einfach nur gekünstelt und theatralisch von ihm in Szene gesetzt wurde.

„Herr Bis. Wir sind nicht von der Konzessionsbehörde, aber auch nicht blöd, wie Sie vermuten. Also, klare Kante, sonst…!“

„Was sonst?“, war der lachende, flapsige Kommentar von Kalle, dessen Lachen übermütig klang und Max Mühe hatte, ihn zu verstehen.

Max änderte seinen Tonfall und versuchte es mit Strenge:

„Beleidigen Sie nicht meinen Scharfsinn, Karl-Heinz Bis. Wenn Sie nicht kooperieren, werden Sie mich dafür verantwortlich machen können, dass hier Razzien ohne Ende stattfinden werden. Danach können Sie feststellen, ob sich unsere Maßnahmen umsatzfördernd auf Ihre Geschäfte ausgewirkt haben, Herr Bis. Also, entscheiden Sie sich!

Das hier ist der Ort des Verbrechens.

Wir behalten uns vor, Ihnen jederzeit lästig zu sein, solange, bis wir zum Erfolg gekommen sind. Damit das klar ist, Herr Bis!“

Kalle, dessen gute Laune und Siegesgewissheit schlagartig verflogen war, bemühte sich um Schadensbegrenzung.

„Mensch, Jungs. Es sind doch nur hochkarätige Gäste hier, die sich in ihrem Licht sonnen wollen. Es ist ein Salon der besonderen Art, wo jedermann seine speziellen Neigungen ausleben kann. Eben ein Prominentenclub erster Sahne.

Macht ihn mir doch bitte nicht kaputt oder wollt ihr mir Schwierigkeiten bereiten? Ich habe große Pläne mit diesem Club. Außerdem strebe ich einen Öko-Puff an. Hier werden in Zukunft nur noch Bräute aus der Region arbeiten, Herr Kommissar, ha, ha.

Hole doch nur die erwerbslosen Damen von der Straße, damit sie dem Sozialamt nicht zur Last fallen. Ist quasi so eine Art Unterstützung für den Staat“, säuselte Kalle mit einem schmierigen Grinsen.

„Ich brauche einfach Frauen, die Stil und Klasse haben. Solche, die in der Lage sind, halbwegs sinnvolle Sätze in deutscher Sprache herauszubringen. Konversation nennt man so was wohl. Dabei sollen sie Champagner saufen und die Freier animieren. Wir suchen stets hochklassige Bräute, die sich hier verwirklichen können. Sie müssen aber spezielle Typen sein, die meinem Club die unverwechselbare, reizvolle Atmosphäre geben.

Aber, die kann man leider nicht so leicht finden. Da müssen wir schon gegenhalten, sonst schwinden die Umsätze und wir sind mause. Ich mache keine öffentliche Werbung für meinen Club. Alles regelt sich durch Mund-zu-Mund-Propaganda.

Wir brauchen hier keine Internationale Gartenausstellung oder einen militärischen Flottenverband, der auf einmal 3000 Matrosen ausspuckt. Das ist eh nicht unsere Klientel. Wir sind kein Matrosenpuff.

Nein, wir haben die Großverzehrer dieser Stadt, die hanseatische Gesellschaft im Visier, die nicht auf die Mark schaut. Sie sind es, die wir haben wollen und auch bekommen. Aber, Verschwiegenheit ist das Motto des Hauses. Dafür müsst ihr doch Verständnis haben“, jammerte Puff-Kalle mit aufgesetzter Leidensmiene, während er Max Herbst stramm in die Augen sah und auf Zustimmung wartete.

„Ich wiederhole mich nicht gern, Herr Bis. Reden Sie nicht solch einen Blödsinn und hören Sie auf zu schleimen!“

Kalle schluckte schwer und schnaufte. „Tja…, wenn’s dann sein muss“, stöhnte er theatralisch mit einem hörbaren Seufzer und kam endlich zur Sache:

„Also, die Bardame Biene Schmidt, Leck-Hans, also Hans Knappe, Helma März, Angelika Maurer und wie gesagt Sabrina, mehr nicht - waren nur schwach besetzt“.

„Und die Freier…, waren Stammgäste darunter?“, fragte Herbst.

„Muss das sein? Hm, ja, einer…, der von Sabrina. Der ist aber schon um halb drei gegangen. Er kommt seit einem Jahr regelmäßig, meistens mittwochs gegen Mitternacht.

Gestern war eher die Ausnahme. Soll einer von der Behörde sein, wie ich aufgeschnappt habe“, antwortete Kalle zögerlich.

„Geht’s auch etwas präziser, Herr Bis?“

„Ich weiß nicht, kenne den nicht…Er kommt immer sehr scheu und stiekum hier rein.

Hat dann meistens einen schwarzen Mantel an und trägt einen schwarzen Hut tief ins Gesicht gezogen. Ist auch nur so klein wie Sabrina. Er verschwand dann immer sofort in Sabrinas Zimmer. Die Gäste laufen hier ja alle nackt rum.

Der Typ zieht sich bei ihr aus und wenn die mal an die Bar gehen, dann trägt er eine Maske wie andere Freier übrigens auch. In der Regel war er nach gut drei Stunden verschwunden. Soll ein großzügiger Gast gewesen sein.

Sabrina klagte mir einmal, dass er sich total in sie verknallt hätte und ihr die Besuche langsam lästig würden.“

„Kalle, haben Sie etwas gehört? Stimmen, einen Streit, ein Handgemenge?“

„Nein, nichts von alledem. Ich war ja auch nicht in der Nähe, war drinnen. Ich hatte im Lagerraum den Bestand an Spirituosen geprüft, wenn Sie verstehen? Wie soll ich da was hören können? Die Tür war zu und außerdem hat der Raum kein Fenster.“

„Hm, weiter Kalle.“

„Sabrina…, sie fehlt mir so. Sie war jung, schön, jetzt ist sie tot“, flüsterte Kalle, während er sich einmal theatralisch mit dem Handrücken über die Augen wischte.

Max hörte das Geplapper und dachte:

Arschloch, dieser widerliche Lude. „Wir wollen doch alle wissen warum, oder nicht, Karl-Heinz Bis?“, sagte Max mit scheinbarer Anteilnahme in der Stimme.

„Ja natürlich, Herr Kommissar. Nicht nur warum, sondern auch, wer es war.“

„Ach ja, Kalle. Hätte ich fast vergessen“, beendete Max Herbst den kleinen Schlagabtausch.

„Gut, Karl-Heinz Bis. Herr Meyer wird jetzt vier Zeugenvorladungen für die Frauen Schmidt, März, Maurer und Herrn Knappe ausfüllen und hier lassen. Sie überreichen den Frauen und Ihrem Türsteher bitte heute Abend die Ladungen. Wir möchten sie morgen zur Vernehmung in unserem Büro sehen. Nun gehen wir beide einmal nach oben und Sie werden mir das Zimmer von Sabrina zeigen.“

„Hm…, dann kommen Sie!“

Kalle Bis ging die steile Treppe hinauf in das Zimmer mit den schrägen Wänden, Max folgte ihm.

Es war schon eine Luxusabsteige mit Hochbetrieb jede Nacht. Das besondere an diesem Etablissement war, dass sogar in den kleinsten Zimmern ein Bidet installiert wurde. Wenn die Dirnen vor ihrem Einsatz diese Art der Spülbecken benutzten, konnte man durch die dünnen Zimmerwände stets das Rauschen des Wassers hören.

Der Bordellbesitzer Puff-Kalle betätigte den Lichtschalter und eine grelle Deckenlampe erleuchtete den Raum. Dieses war also der einzige private Zufluchtsort des Opfers.

Der Fußboden war mit einem graumelierten Flokati-Teppich bedeckt, der nach minderer Qualität aussah und einen leicht muffigen Geruch von sich gab.

An den beiden Fenstern befanden sich dunkelrote, schwere Vorhänge, die zugezogen waren und die Sicht nach draußen versperrten. Die horizontal verlaufenen Falten der Vorhänge reichten bis auf den Teppich.

Die Wände waren mit englischen Samttapeten, auf denen sich ein dunkelgrünes Rosenmuster befand, tapeziert. Das Mobiliar bestand aus einem runden Tisch aus Mahagoniholz. Die vier Stühle waren passend dazu ausgewählt worden.

Das Sofa, fast schon eher eine Ottomane, war mit einem rosafarbenen Blumenstoff bezogen. Auf dem Tisch befanden sich eine Tiffany-Lampe und ein Ascher aus Kristallglas.

„Machen Sie, machen Sie“, drängelte Kalle. „Ich weiß zwar nicht, was Sie hier suchen oder finden wollen, aber nur zu“, war der mürrische Kommentar von dem Bordellbesitzer.

Gelangweilt ging er zu einem der Fenster, schob den Vorhang beiseite und sah scheinbar teilnahmslos nach draußen, obwohl er schon reges Interesse an den Amtshandlungen des Mordermittlers hatte.

Max schaltete die Deckenbeleuchtung wieder aus und ging zu dem Mahagoni-Sideboard, das sich neben dem Sofa befand. Er zog die oberste Schublade auf und sah nach einem flüchtigen Blick, dass ganz oben eine Art Notizkalender mit ledernem schwarzen Einband lag. Nachdem er ihn aufgeklappt hatte, las er „Tagebuch“. Die Buchstaben waren in Goldfarben gedruckt.

Max Herbst blätterte hastig auf die nächste Seite und registrierte sofort, dass es sich um ein sogenanntes Tagebuch mit den Kontakten ihrer Freier handelte. Es sah wie ein penibel geführtes Clubregister aus.

Höchstbrisant. Die Freier stammten fast alle aus den höheren Kreisen der hanseatischen Kaufmannsgilde. Was für ein Skandal, wenn diese Informationen in falsche Hände gerieten. Max beschloss, dieses Beweismittel erst einmal allein in aller Ruhe zu sichten.

Von den Namen eines Verlegers und bekannter Schauspieler, waren auch Reeder, ein stellvertretender Bezirksamtsleiter und ein Autohausbesitzer aufgeführt. Also ein bunter Querschnitt gehobener Berufe, aber wem stand es schon auf die Stirn geschrieben?

Einige Seiten fehlten ganz offensichtlich und waren wohl herausgerissen worden. Max klappte das Tagebuch zu und steckte es von Kalle unbemerkt in seine Jackentasche.

Hinweise auf Verwandte oder Bekannte des Opfers waren nach flüchtiger Durchsicht nicht vorhanden. Behutsam schob er die Schublade wieder zu. Der Fund war für Max eine äußerst sensible Angelegenheit. Er würde mit niemandem darüber reden. Im Zweifelsfall könnte es sein Ass, ein bedeutender Trumpf, bei diesem üblen Verbrechen sein.

„Gibt es Sparbücher oder Bargeld, Herr Bis?“

Kalle riss sich von dem Fenster los und wandte sich wieder Max zu.

„Sparbücher nicht, Geld gab sie mir zur Aufbewahrung. Ist aber nicht mehr viel übrig. Sie hat ja immer teure Klamotten gekauft und die Miete…und, und, und“, gab Kalle weinerlich Auskunft.

Dieser Schweinehund. Hat sie bis zum Letzten ausgebeutet. Andererseits dürfte er wohl kein Motiv gehabt haben, sie zu töten oder doch…? Warum wurde gerade sie zum Opfer? Hatte sie sich mit den falschen Leuten eingelassen?, dachte Max.

Nach etwa fünfzehn Minuten verließen Herbst und Bis das Zimmer des Opfers.

„Na, sehen Sie, Herr Herbst, nichts gefunden. Den Weg hätten wir uns sparen können“, war der lakonische Kommentar von Kalle.

„Ist ja gut, Herr Bis. Man weiß ja nie. Immer nach dem Sprichwort: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, antwortete Max.

Als Herbst und Bis wieder unten im Salon eintrafen, hatte Toni gerade die letzte ausgefüllte Vorladung auf den Tisch gelegt.

„So, Herr Bis! Wir nehmen Rücksicht auf die Damen und Herrn Knappe, haben sie erst für nachmittags vorgeladen. Frau Schmidt beginnt, dann Frau März, danach Frau Maurer und zum Schluss Leck-Hans.

Wiedersehen. Wenn wir weitere Fragen haben, hören Sie von uns.

Halten Sie sich bitte zur Verfügung!“ verabschiedete sich Herbst und sah Puff-Kalle noch einmal scharf in die Augen, während Toni schon kommentarlos auf dem Weg nach draußen war.

„Und, Herr Herbst, was gefunden. Beweismittel oder so?“, fragte Toni mit Blick auf Max, während er den Ford-Granada startete.

„Nein, nichts“, log Max, während er den Kopf schüttelte und absichtlich einen geistesabwesenden Eindruck erkennen ließ, als er eine Eintragung in seinem Merkbuch vornahm.

„Fahren Sie schon, Herr Meyer, unsere Zeit ist begrenzt“, sagte Max.

Kapitel 5

Nachdem Max Herbst und Anton Meyer in ihrem Büro eingetroffen waren, stand Ines bereits erwartungsvoll auf der Matte.

„Max, der Sachverständige der KTU hat sich gemeldet.

Er hat die Fingerabdrücke der Leiche sofort als Eilsache gecheckt und einen Treffer gelandet.

Die Sabrina heißt Miranda Genc, ist zwanzig Jahre alt und wurde in Pristina im Kosovo geboren. Sie kam als Sechzehnjährige als unbegleiteter Flüchtling über die DDR nach Westdeutschland und wurde mit Fingerabdrücken in der Flüchtlingsunterkunft Zirndorf registriert. Die Prints wurden im Ausländer- Zentral- Register erfasst und an das BKA weitergeleitet, wo sie in dem automatischen Fingerabdruck- System gespeichert wurden. Es gibt keine Zweifel. Ansonsten ist sie noch nie kriminalpolizeilich aufgefallen. Aber, sie ist, beziehungsweise war, illegal. Es gab damals nur eine Duldung, die zweimal verlängert wurde und nach einem weiteren Jahr sollte sie zurückgeführt werden. Das war nicht möglich, weil sie untertauchte.

Der Bericht folgt“, ratterte Ines herunter.

„Ja, in der BRD gibt es für Illegale nur drei Möglichkeiten zu überleben. Erstens putzen, zweitens Puff und drittens einen deutschen Mann heiraten in der Hoffnung, dass er sie in kein Bordell steckt.

Danke für die Info, Ines“, sagte Herbst, während Ines bereits wieder auf dem Weg in das Geschäftszimmer war.

„So, Toni.

Sie fahren jetzt in das Polizeipräsidium am Berliner Tor zur Kriminalaktenhaltung und werden sich einmal die Kriminalakte von Kalle Bis ansehen.

Notieren Sie die Delikte, in die er involviert war mit den entsprechenden Daten und eventuellen Mittätern. Ich möchte einen präzisen kriminellen Lebenslauf dieses Mannes haben. Normalerweise rufe ich dort an und lasse mir die Akte telefonisch vorlesen. Aber für den Buchstaben B ist eine Angestellte verantwortlich, die ein unverständliches Deutsch spricht. Sie scheint aus dem Ostblock zu stammen. Es kam in letzter Zeit immer wieder zu Missverständnissen. Deshalb fahre ich ständig rüber, wenn ich Beschuldigte aus diesem Buchstabenbereich habe, auch wenn es zeitaufreibender ist.

Wenn der Auftrag erledigt ist, fahren Sie noch einmal zum Klinkenputzen in Tatortnähe. Stellen Sie sich an den Fundort des Opfers und prüfen Sie die umliegenden Hausfassaden. Wer könnte etwas gesehen haben? Dann klingeln Sie bei den Personen, die als mögliche Zeugen in Betracht kommen könnten und vernehmen diese gegebenenfalls.“

„Gut, Max, äh…, ich meine, Herr Herbst.“

„Na, dann gehen Sie schon!“

„Behörde, Behörde“, überlegte Max Herbst. Ein Stammfreier von einer Behörde. Wer sollte das sein? Kommt meistens mittwochs in der Nacht. Wer war dieser Mann von der Behörde. Wer zum Teufel war er eigentlich. Wie hing er in der Sache drin? Könnte noch interessant werden. Hoffentlich keine hochgestellte Persönlichkeit oder war das nur eine Trugspur aus dem Rotlichtmilieu?

Max fragte sich, ob er tatsächlich auf der richtigen Spur war oder wollten die Luden ihn lediglich auf eine falsche Fährte locken, einfach von sich ablenken. Gab es einen Haken bei der Geschichte?

Er schweifte in Gedanken ab zu seinem neuen Praktikanten, den er wohl erst noch zurecht stutzen musste:

Diese rote Hose! Einfach ein absolutes No-Go. Wenn der morgen wieder so kommt, dann raste ich aus. Übermorgen kommt er womöglich in kurzer Hose und Badelatschen zum Dienst, wenn die Temperaturen weiter steigen. Aber nicht mit mir.

Kriminalkommissar Max Herbst versuchte, seinen Ärger herunter zu schlucken und seine Gedanken auf das Wesentliche zu konzentrieren:

Wir könnten zur Beweissicherung bei dem Bordell in Blankenese eine stationäre Observationsstelle einrichten lassen. Nur für etwa zwei Wochen. Vielleicht tut sich ja etwas. Gästemäßig beispielsweise. Vielleicht landen wir so einen Volltreffer. Hoffentlich hat das LKA Kapazitäten für so was frei. Na, nochmal bis morgen warten.

Und schon wieder war Herbst mit den Gedanken woanders.

Ihm fiel ein, dass er sich bei seiner Freundin Billy Berger noch melden musste und griff zum Hörer. Nach dem dritten Freizeichen hörte er:

„Hier Berger.“

„Hallo Billy-Maus, hier Max. Ich habe heute einen dicken Fall bekommen und muss den erst einmal auf die Reihe kriegen. Deshalb komme ich heute Abend nicht zu dir, tut mir leid. Melde mich morgen, wenn du zu Hause bist.“

„Ich liebe dich, Max“, hörte er die enttäuschte Stimme von Billy Berger.

„Ja, ich dich auch Billy, Ciao!“

Max fühlte sich unbehaglich.

Liebe, Liebe... Die Liebe ist ein ständiges Fragen und eine ansteckende Krankheit. Die Bedingung war doch, dass sich bekanntlich zwei Menschen in dasselbe Bett legen müssen. Und was daraus wird, weiß man nie.

Max Herbst hatte die 30jährige Billy vor etwa einem Jahr beim Joggen um die Außenalster kennengelernt.

Seine große Liebe, seine Ina, mit der er vier Jahre verheiratet war, kam vor zwei Jahren im hochschwangeren Zustand bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Der ungeborene Sohn Jonas wurde ebenfalls bei dem Supergau getötet.

Der Verkehrsrowdy, ohne Fahrerlaubnis, war zugekifft bei Rotlicht mit einem gestohlenen Porsche mit 150 km/h auf der Kennedy-Brücke über die Kreuzung gebrettert und hatte Inas Citroen 2 CV so heftig erwischt, dass ihre Ente in der Außenalster landete und Ina ertrank.

Immer wieder hatte Herbst sie zuvor gebeten, sich ein anderes Auto zuzulegen, aber sie hing an der alten Kiste.