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Tatort Hansestadt: ein nordisch-frischer Krimi der Bestsellerautorin Nur im eBook mit Bonus-Epilog erhältlich, der ein Wiedersehen mit Kommissar Sander und Nachlasspflegerin Friedelinde Engel bietet! Als die Anwältin Theresa Sommer und Kommissar Lukas Kampmann in einen beschaulichen Hamburger Vorort ziehen, ahnen sie noch nicht, welches Natternnest sich hinter der Idylle verbirgt. Doch dann wird der Fußballtrainer der Jugendmannschaft ermordet und Kampmann muss ermitteln. Warum erhielt der Trainer monatliche Geldzahlungen von Karsten Beeken, einem Gönner des Vereins? Und gibt es eine Verbindung zu einem dreißig Jahre zurückliegenden Vermisstenfall? Währenddessen erhält auch Theresa einen neuen Auftrag: Beekens Frau will sich von ihrem Mann scheiden und ihn dabei bluten lassen. Schon bald beschleicht die Anwältin das Gefühl, dass jeder in diesem Ort etwas zu verbergen hat – und eine tief vergrabene Schuld weitere Tode fordern wird … Der fünfte Fall für die eigenwillige Anwältin Theresa Sommer und Lukas Kampmann, einen Kommissar mit außergewöhnlichen Ermittlungsmethoden. Top-Spannung für die Fans von Henrik Siebold und Svea Jensen!
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Seitenzahl: 510
Über dieses Buch:
Als die Anwältin Theresa Sommer und Kommissar Lukas Kampmann in einen beschaulichen Hamburger Vorort ziehen, ahnen sie noch nicht, welches Natternnest sich hinter der Idylle verbirgt. Doch dann wird der Fußballtrainer der Jugendmannschaft ermordet und Kampmann muss ermitteln. Warum erhielt der Trainer monatliche Geldzahlungen von Karsten Beeken, einem Gönner des Vereins? Und gibt es eine Verbindung zu einem dreißig Jahre zurückliegenden Vermisstenfall? Währenddessen erhält auch Theresa einen neuen Auftrag: Beekens Frau will sich von ihrem Mann scheiden und ihn dabei bluten lassen. Schon bald beschleicht die Anwältin das Gefühl, dass jeder in diesem Ort etwas zu verbergen hat – und eine tief vergrabene Schuld weitere Tode fordern wird …
Über die Autorin:
Angela Lautenschläger arbeitet seit Jahren als Nachlasspflegerin und erlebt in ihrem Berufsalltag mehr spannende Fälle, als sie in Büchern verarbeiten kann. Ihre Freizeit widmet sie voll und ganz dem Krimilesen, dem Schreiben und dem Reisen. Sie lebt mit ihrem Mann und drei Katzen in Hamburg.
Bei dotbooks und Saga Egmont veröffentlichte Angela Lautenschläger ihre Bestsellerreihe um SOMMER UND KAMPMANN, die im eBook, Print und Hörbuch erhältlich ist:
»Kalter Neid«
»Blendende Gier«»Fatale Lüge«»Bitterer Hass«
Weitere Bände sind in Planung.
Bei dotbooks und Saga Egmont erscheint außerdem ihre ENGEL UND SANDER-Krimireihe, die als eBook-, Printausgaben und Hörbücher erhältlich ist:
»Stille Zeugen«
»Geheime Rache«
»Tödlicher Nachlass«
»Blindes Urteil«
»Gerechte Strafe«
»Brennende Angst«
»Stummer Zorn«
Die ersten drei Bände der Engel-und-Sander-Reihe sind außerdem im eBook-Sammelband »Das dunkle Herz von Hamburg« erhältlich. Eine weihnachtliche Kurzkrimigeschichte zur Reihe ist in der eBook-Anthologie »Ein Weihnachtswunder kommt selten allein« erschienen.
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Originalausgabe Januar 2025
Copyright © der Originalausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Redaktion: Philipp Bobrowski
Titelbildgestaltung: © HildenDesign unter Verwendung eines Motives von Shutterstock.com
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-98952-661-7
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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!
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Angela Lautenschläger
Bitterer Hass
Der fünfte Fall für Sommer und Kampmann
dotbooks.
Als sie von zu Hause weggegangen war, dämmerte es bereits. Hier im Wald war es schon ein ganzes Stück dunkler, obwohl nicht viel Zeit vergangen war. Das Zwielicht ließ manchen Busch als ein gefährliches Wesen erscheinen, Geräusche, die man tagsüber kaum beachtete, wirkten jetzt Furcht einflößend. Sie fröstelte ein wenig. Aber es war wichtig, dass sie aushielt und wartete. Wichtig und richtig. Das, was geschehen war, konnte nicht so bleiben. Es musste aufgeklärt und richtiggestellt werden. Sie hatte sich nichts vorzuwerfen. Bisher hatte sie alles versucht und war gescheitert. Das hier war ihr letzter Versuch einer Klärung.
Sie schlang die Arme um den Körper, um sich selbst zu wärmen und auch ein wenig zu trösten. Eigentlich lebte sie gern in Hamburg, aber überall stieß sie nur noch auf Ablehnung. Lediglich, weil sie alles versuchen wollte, hatte sie diesem Treffpunkt zugestimmt. Seit einer Viertelstunde saß sie auf dem Stamm der umgestürzten Fichte. In diesem Bereich waren die Bäume vor Kurzem gefällt worden. Vermutlich würden neue gepflanzt werden.
Erschrocken wandte sie sich um, als sie hinter sich einen Ast knacken hörte. Ausgerechnet diese Stelle im Wald als Treffpunkt zu wählen, war verrückt. Alle möglichen Übeltäter konnten ihr hier auflauern. Aber als sie die Gestalt erkannte, die auf sie zukam, entspannte sie sich. Jetzt würde ihr nichts mehr passieren, und sie konnte endlich alles klären.
Erschöpft ließ sich Theresa auf einen Umzugskarton sinken. Auf den etwa eine millionsten Karton. Sie schüttelte den Staub aus ihren Haaren und versuchte den Dreck an ihren ehemals weißen Sneakern zu ignorieren. Das hier war kein gewöhnlicher Umzug. Dies war der Umzug von drei Haushalten in ein einziges Haus. Sie hatte keine Ahnung, ob das eine gute Sache war. Vor drei Monaten noch hatte sie es dafür gehalten, aber in dieser Zeit konnte viel passieren. Beispielsweise konnte einem aufgehen, dass man es allein in seinem Einfamilienhaus ruhig und beschaulich hatte. Ohne Schwiegereltern in spe, die nicht ganz gesund waren, und ohne zukünftigen Schwager, dessen Beziehungen nie länger andauerten als die durchschnittliche Haltbarkeitsdauer eines Joghurts.
»Hi, woran denkst du?« Marc ließ sich neben ihr auf den Karton sinken.
Theresa sah ihn an. »Dass ich wirklich gespannt bin auf unser Projekt. Zwei Generationen unter einem Dach. Das klappt nicht immer.«
»Mit anderen Worten: Du hast Muffensausen.«
»Ich versuche, meine Ängste zu unterdrücken.«
»Ich mache den ganzen Tag nichts anderes«, erklärte Marc. »Du musst wissen, dass ich schon zwei Jahrzehnte mit meinen Eltern zusammengelebt habe. Für mich ist das praktisch ein Déjà-vu.«
Theresa betrachtete das große Backsteinhaus. Es musste wirklich eigenartig sein, wieder mit seinen Eltern zusammenzuziehen. Wenn auch nicht in das frühere Elternhaus.
»Das bedeutet, dass meine Mutter wieder auf mich aufpassen wird.« Marc schüttelte den Kopf. »Ich muss verrückt gewesen sein, mit dieser Nummer einverstanden gewesen zu sein.«
»Es war deine Idee.«
Marc grinste. »Ach so. Und weißt du, was ich wirklich scharf finde?«
»Sag es mir lieber nicht.«
»Dass wir zwei künftig zusammenwohnen werden.«
»In getrennten Wohnungen.«
»Türen sind kein Problem für mich.«
Theresa sah den Bruder ihres Freundes an. »Baggerst du mich gerade an?«
»Natürlich nicht. Ich will nur eine gute Stimmung schaffen.«
Aus dem Haus hörte Theresa leise den Klingelton von Lukas’ Handy. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass sie den Rest der Kartons mit Marc und ohne Lukas ins Haus tragen würde. Eine Sekunde später kam Lukas aus dem Haus und zog sich im Gehen die Jacke an.
»Es tut mir echt leid.« Lukas gab Theresa einen Kuss auf den Scheitel. »Ich muss los. Marc wird dir helfen.«
Marc legte Theresa den Arm um die Schultern. »Genau meine Worte.«
Man konnte es als glückliche Fügung betrachten, dass die Leiche einen knappen Kilometer entfernt von Lukas’ künftigem Zuhause gefunden worden war. Als künftigem Bewohner des Ortes konnte es allerdings unter Umständen zu Problemen führen, wenn man zugleich der ermittelnde Kommissar in einem Mordfall war. Vermutlich machte er sich nicht allzu beliebt, wenn er sich seinen zukünftigen Nachbarn im Rahmen eines Mordermittlungsverfahrens vorstellte. Aber er konnte es nicht ändern. Lukas schwang sich auf sein Rennrad, winkte Theresa und seinem Bruder zu und fuhr vom Hof. Wenn er Glück hatte, war der Mann eines natürlichen Todes gestorben. Vielleicht war es hier am Stadtrand von Hamburg alltäglich, die Polizei zu rufen, wenn man einen Toten fand.
Ihr neues Zuhause lag am Ende einer langen Zufahrt. Lukas fuhr die asphaltierte Straße hinunter und bog dann nach rechts in die Straße ab, die am Wald entlangführte. Über die Natur freute sich Lukas sehr. Für jemanden, der jahrelang in den engen Straßen Eppendorfs gewohnt hatte, war es hier draußen wie eine Befreiung. Nach etwa dreihundert Metern hatte er das Ziel erreicht. Er bog links auf den Parkplatz des FC Wohldorf ein und sah sich vergeblich nach einem Fahrradständer um. Also stellte er sein Rad neben fünf Fahrrädern ab, die vor dem Eingang des Vereinsheims standen. Erstaunlicherweise hatte sich hier draußen keine Schar Schaulustiger eingefunden. Auf dem Parkplatz befand sich nur ein etwas schief eingeparkter roter Fiesta. Außer ein paar Vögeln, die auf dem Drahtseil saßen, das über den Parkplatz gespannt und in dessen Mitte eine Lampe befestigt war, konnte er nichts hören. Lukas’ Blick fiel auf eine Gruppe Jugendlicher, die auf dem Rasen des Fußballfeldes saßen. Ihre mageren Körper steckten in Trikots und Sporthosen. Sie hatten die Unterarme auf den aufgestellten Knien abgelegt, drei von ihnen hielten den Kopf gesenkt, und die beiden anderen wirkten auch nicht besonders fröhlich. Sie unterhielten sich, sprachen aber so leise, dass er nichts verstand.
Lukas ging durch das Tor in dem hohen Drahtgitter, das das Spielfeld einrahmte, auf die Gruppe zu.
»Hallo, Jungs. Ich bin von der Polizei. Habt ihr uns angerufen?«
Die Jungs hoben den Blick und sahen ihn stumm an. Einer von ihnen machte eine Kopfbewegung zu seinem Nachbarn zur Rechten. »Das war seine Mutter.«
»Und wo ist deine Mutter?«
Der Junge deutete auf das Vereinsheim. »Da drinnen. Die kotzt wahrscheinlich.«
»Okay.« Lukas stemmte die Hände in die Hüften und sah sich um. Am gegenüberliegenden Ende des Fußballfeldes lag etwas oder vermutlich eher jemand. »Liegt da hinten ein Toter?«
Die Jungs nickten stumm.
»Kennt ihr den Mann?«
»Das ist der Trainer.«
»Euer Fußballtrainer?«
Wieder nickten alle fünf.
»Wart ihr zum Training verabredet?«
Diesmal schüttelten alle die Köpfe. »Nö«, sagte der Erste. »Wir wollten nur ein bisschen kicken.«
»Stimmt, ist ja Sonntag«, erinnerte sich Lukas. Weil er den ganzen Tag einen Umzugstransporter gefahren und Sachen geschleppt hatte, war ihm sein Zeitgefühl völlig abhandengekommen. »Und ein Spiel hattet ihr heute auch nicht?«
»Nee, erst nächsten Samstag wieder.«
»Also, ihr seid mit euren Rädern angekommen und dann gleich auf den Platz?«
»Yo.«
»Und dann?«
»Dann wollte Lennart in das Tor da hinten, na ja …« Der Junge hob die Schultern.
»Dabei hast du euren Trainer entdeckt. Und dann habt ihr deine Mutter angerufen?« Lukas sah den Jungen rechts neben dem Wortführer an.
»Wir wussten nicht, was wir machen sollen. Also, ob wir die Polizei rufen oder so. Und da haben wir lieber seine Mum angerufen.«
Lukas hörte eine Tür zufallen, und als er sich umwandte, sah er eine Blondine, die etwas derangiert aussah, über den Parkplatz herankommen.
»Gut. Ist das deine Mutter?«
»Hm.« Der Junge nickte stumm.
Es war natürlich möglich, dass das Vereinsheim der Tatort war oder die Spuren dort eine Rolle für die Ermittlungen spielten, andererseits war das Vereinsheim eines Fußballvereins, in dem Jugendliche verkehrten, von Natur aus schon ein Tummelplatz für Bakterien und Keime. »Bitte geht mit deiner Mutter ins Vereinsheim und setzt euch dort zusammen an einen Tisch. Ich komme gleich nach.«
»Gucken Sie sich noch den Trainer an?«
»Ja, das muss ich wohl.«
Die Jungs erhoben sich und schienen erleichtert zu sein, aus der Nähe der Leiche zu kommen. Die Frau legte den Arm um ihren Sohn und kehrte mit ihnen um. Lukas überquerte den Platz. Der Mann lag auf dem Rücken wie ein gefällter Baum. Auf seiner Stirn war eine schwere Verletzung zu sehen, die stark geblutet hatte. Er trug Jeans und eine geschlossene dunkelblaue Trikotjacke mit dem Vereinsemblem auf der Brust. Lukas schätzte ihn auf etwa fünfzig. Er war nicht besonders groß und ziemlich stämmig. Auf Lukas wirkte er wie ein ehemaliger Sportler, bei dem nach seiner aktiven Zeit Muskeln und Gewichtszunahme einen Kampf miteinander ausfochten. Sein kurz geschnittenes Haar war rotblond, die geöffneten Augen waren blau und vom Tod eingetrübt. Lukas sah sich nach der Tatwaffe um, konnte aber im näheren Umfeld nichts entdecken. Lukas nahm an, dass der Fundort der Tatort war, denn unter dem Kopf des Toten hatte sich eine ziemliche Blutlache gebildet. Das Blut war bereits in den Erdboden versickert.
Der Mann schien einen Schlag gegen den Schädel bekommen zu haben und war dann nach hinten umgekippt. Dabei machte der Tote auf Lukas nicht den Eindruck, als würde er sich widerspruchslos niederschlagen lassen. Vielleicht gab es unter den Jackenärmeln Abwehrspuren auf den Unterarmen. Lukas nahm sein Smartphone aus der Tasche und machte Fotos von der Leiche und noch eines von ihrem Gesicht. Er zögerte, den Platz zu verlassen. Man wusste ja nicht, ob vielleicht gleich andere Jugendliche vorbeikamen und mit der Schuhspitze gegen den Toten stießen, um nachzusehen, ob er wirklich tot war. Andererseits war außer den Vögeln immer noch niemand zu sehen und zu hören.
Er überquerte den Parkplatz und zog die Tür zum Vereinsheim auf. Wie in einer rustikalen Gaststätte gab es mehrere Tische, gegenüber dem Eingang befand sich ein Tresen mit einer Bierzapfanlage. Über den Zapfhahn war ein Geschirrhandtuch gehängt. An den Wänden hingen gerahmte Porträtfotos von sportlich aussehenden Männern.
Die Jungen und die blonde Frau saßen an dem Tisch vor dem Tresen. Lukas zog sich einen Stuhl vom Nebentisch heran.
»Also, ich muss mich erst mal vorstellen. Mein Name ist Lukas Kampmann, Kriminalhauptkommissar.« Er wandte sich an die Frau. »Vielleicht können Sie mir auch Ihren Namen sagen.« Er schaute zu den Jungs. »Und ihr mir eure auch.« Lukas nahm ein Notizbuch aus der Brusttasche seiner Jacke. Es war sein Notfallnotizbuch, von denen er immer einige vorrätig hatte. Später konnte er immer noch eines finden, dass zu diesem Mordfall passte.
Die Frau räusperte sich. »Mein Name ist Nora Gansler. Und das ist mein Sohn Finn.« Sie deutete auf den Jungen, der auf dem Rasenplatz neben dem Sprecher gesessen hatte.
»Und du?«, wandte sich Lukas an den Sprecher der Gruppe.
»Ich heiße Florian Schröder.«
»Wie alt bist du?«
»Fünfzehn.«
»Und du Finn?«
»Vierzehn.«
»Und ihr?«
»Max Schmidt, 13.«
»Christoph Berg, 14.«
»Lennart Krüger, 14.«
»Lennart, wir kennen uns doch. Du bist der Sohn der Krügers, von denen wir unser Haus gekauft haben, richtig?«
»Mh.«
Lukas betrachtete die Jungs. Sie hatten alle geantwortet, aber für ihn wirkte das Szenario nicht wie ein Fußballclub, sondern wie ein strenges Bootcamp. Außerdem fand er es merkwürdig, dass die Jungs beim Kicken am Sonntagnachmittag nicht in Freizeitkleidung, sondern Vereinstrikots auftauchten.
»Gut. Dann erzählt mal, was passiert ist.«
Die Jungs tauschten stumme Blicke. Das unausgesprochene Ergebnis war offenbar, dass Florian berichten sollte.
»Also, viel können wir gar nicht sagen. Wir sind heute Nachmittag hergekommen und wollten ein bisschen kicken.«
»Wie spät war es da?«
»Keine Ahnung. Halb drei?«
»Habt ihr jemanden gesehen?«
Die Jungs schüttelten wieder die Köpfe.
»Dann wolltet ihr euch aufstellen und du hast den Trainer entdeckt.« Lukas wandte sich an Lennart. »Kannst du ein bisschen beschreiben, wie das war?«
Lennart hob die schmalen Schultern. »Ich bin da so über den Platz gegangen, und dann dachte ich, da liegt was. Und als ich näher rangegangen bin, hab ich den Trainer gesehen.«
Lukas nickte. Er wusste immer noch nicht, wie der Mann hieß. Keiner der Jungs hatte bisher seinen Namen genannt.
Er wandte sich an Nora Gansel. »Wie heißt denn der Trainer?«
»Schramm. Sebastian Schramm.«
»Geht es Ihnen besser, Frau Gansel?«
»Ja, geht schon.« Die Frau schluckte. »Als Finn mich angerufen hat, war ich total fertig und bin wie eine Irre hergerast. Und dann liegt der tatsächlich da auf dem Rasen.«
»Tatsächlich?«, fragte Lukas. »Haben Sie es bis zu dem Augenblick, in dem Sie Schramm dort tot liegen sahen, nicht geglaubt?«
»Na ja, ich …« Sie legte die Hände in den Schoß und senkte den Blick. »Ich weiß nicht, was ich genau gedacht habe. Ich wollte einfach nur schnell herkommen.«
»Verstehe«, sagte Lukas, der ihr kein Wort glaubte. Es musste einen Grund dafür geben, warum die Jungs ziemlich schnell darauf gekommen waren, ausgerechnet Finns Mutter anzurufen und nicht die Mutter eines der anderen Jungs. »Sie haben alles richtig gemacht, als Sie gleich die Polizei anriefen.« Er sah die Jungs an. »Und ihr habt auch alles richtig gemacht.«
Eine Weile hielten sie alle seinem Blick stand, der Jüngste, Max, senkte als erster den Blick.
»Ihr seid alle eine Altersgruppe, ist das Zufall?«
»Nö.« Florian schüttelte den Kopf. »Wir spielen alle in der C-Gruppe, da muss man so alt sein wie wir.«
»Die Jungs müssen vierzehn und fünfzehn sein«, erklärte Nora Gansel und deutete auf Max. »Max wird in diesem Jahr vierzehn, deshalb darf er schon dabei sein.«
»Verstehe. Und seid ihr nur Mannschaftskumpels oder auch Freunde?«
Interessanterweise sahen die Jungs zu Finns Mutter hin, die die Beziehung der Jungs offenbar besser einschätzen konnte als sie selbst. »Sie sind auch Freunde. Sie machen außerhalb des Trainings viel zusammen und laden sich zu den Geburtstagen ein und so.« Sie lächelte ein wenig gequält. »Wie Freunde das so machen.«
»Aber das gilt dann nicht für die übrigen Spieler der Mannschaft, oder wie?«
Frau Gansel schüttelte den Kopf. »Nein, wohl nicht. Die fünf sind der harte Kern.«
»Ich muss noch mal auf das Opfer zurückkom…«
»Da kommt wer«, verkündete Max und deutete nach draußen.
Lukas wandte sich zum Fenster um, wo zwei Polizeiwagen, der Transporter der Spurensicherung und ein Leichenwagen vorfuhren. Aus einem der Streifenwagen stiegen seine beiden Kollegen aus. Er stand auf.
»Krass«, sagte Florian.
»Ich muss kurz raus und die Kollegen einweisen. Bitte bleiben Sie noch hier drinnen. Wir unterhalten uns gleich weiter.«
Lukas ging nach draußen und seinen Kollegen Kai Lehmann und Jessica Stiehl entgegen. Jessica war gefahren und machte einen ausgeruhten Eindruck. Kai wirkte wie jemand, den man aus dem Sonntagnachmittagsschlaf gerissen hatte. Zur Bestätigung dieser Vermutung gähnte er herzhaft.
»Hi. Hallo, Jessica.«
»Hallo, was gibt es denn?«, fragte sie.
»Wir haben einen toten Trainer auf dem Fußballplatz.« Lukas deutete zum Platz hinüber. »Im Vereinsheim sitzen fünf junge Fußballer, die den Toten gefunden haben, und Frau Gansel, die Mutter eines der Jungen, die uns angerufen hat.«
»Warum bist du eigentlich schon da?«, fragte Kai.
»Weil ich hier wohne.«
»Ernsthaft? Das hier ist dieser Ort, in den du gezogen bist?«
»Das ist kein Ort, sondern ein Stadtteil von Hamburg. Und ich bin hier hergezogen, ja.«
Jessica atmete zufrieden ein und aus. »Herrlich. Frische Luft und Ruhe.«
»Und ein Toter«, bemerkte Kai.
»Man kann nicht alles haben. Habt ihr keinen Rechtsmediziner dabei?«
Kai verzog das Gesicht. »Hornecker hat heute Dienst, und als ich ihn angerufen habe, war er nicht erfreut. Ich meine, er sagte etwas davon, dass er mich dafür zur Rechenschaft ziehen würde, dass ich ihn an einem Sonntagnachmittag vom Bridgeturnier wegrufe. Er kommt so bald wie möglich.«
»Ich würde sagen, Kai, du gehst mit der Spurensicherung aufs Fußballfeld, und Jessica kommt mit mir.«
Lukas sah den Kollegen hinterher, die zum Fußballplatz gingen.
»Ist das das Auto des Opfers?« Jessica deutete auf den roten Fiat, der schräg und auf dem weißen Streifen zwischen zwei Stellplätzen und offensichtlich in Eile abgestellt war.
»Nein, ich nehme an, er gehört Nora Gansel, der Mutter eines der Jungen. Nachdem die Jungs ihren Trainer gefunden haben, war sie die Erste, die ihnen einfiel.«
»Und sie scheint hastig aufgebrochen zu sein.«
»Und gebrochen zu haben«, nahm Lukas den Begriff auf. »Der Anblick des Toten scheint sie so erschreckt zu haben, dass sie auf dem Klo des Vereinsheim verschwunden ist.«
»Ein Verhältnis?«
»Ich weiß nicht. Irgendwas stimmte mit dem Kerl nicht. Bis ich mich ausdrücklich nach seinem Namen erkundigt habe, nannten ihn alle nur Trainer. Selbst seine Fußballjungs.«
»Klingt wie eine merkwürdige Distanz«, sagte Jessica.
Lukas lächelte ihr zu. »Ich wusste, dass Sie das so sehen würden, und deshalb kommen Sie jetzt mit rein. Vielleicht können Sie sich mit Frau Gansel unterhalten, ich mache dann mit den Jungs weiter.«
Jessica bewegte den Kopf hin und her und ließ ihren Pferdeschwanz schwingen. »Sie meinen Mädchen- und Jungsgespräche?«
»Vermutlich meine ich so etwas, ja.«
Das Getuschel im Vereinsheim hörte auf, als Jessica und Lukas hereinkamen. Jessica bat Frau Gansel, sich mit ihr an einen Tisch am anderen Ende des Raumes zu setzen. Lukas kehrte an seinen alten Platz zurück.
»Ich wollte gern mehr über euren Trainer wissen. Über Sebastian Schramm.« Lukas sah in die Runde. Diesmal hielt keiner der Jungs seinem Blick stand.
Eines musste man Marc lassen. Er war sich nicht zu fein dazu, ordentlich mit anzupacken. Die Ladefläche hatte er im Nullkommanichts allein leergeräumt, während Theresa im Haus die Kartons in die entsprechenden Räume schob und auspackte. Außerdem war er nicht anspruchsvoll, was seine Wohnsituation betraf. Marc würde das Dachgeschoss des Hauses bewohnen, dessen drei Wohnräume, Küche und Bad er eigenhändig renovierte. Im Augenblick lag dort nur eine Matratze, und in der Küche gab es ein wenig Geschirr. Seine Wohnung wollten sie als letzte einrichten. Als Erstes war die Wohnung von Marianne und Herwig Kampmann dran. Lukas Eltern waren nicht übermäßig begeistert davon, ihr eigenes Haus, in dem sie Jahrzehnte lang gelebt hatten, zu verlassen. Denn es bedeutete, dass sie sich von einigen Möbelstücken trennen mussten. Mit der Einrichtung der Wohnung der beiden wollten sie heute unbedingt fertig werden, weil sie am Montagmorgen einziehen sollten. In einer Art feierlicher Zeremonie wollte Theresa sie zu Hause abholen und in ihre neue Wohnung bringen, in der Marc sie empfangen würde. Eigentlich hatte Lukas an dem Vorgang beteiligt sein wollen, aber Theresa rechnete nicht damit, dass das auch klappte. Lukas war bei der Polizei. Und er hatte einen neuen Fall.
»So, das war’s.« Marc lehnte sich in den Türrahmen.
Sie hatten einige Umbauten an dem Haus vornehmen lassen, das bisher lediglich über eine Wohnung im Ober- und eine im Untergeschoss verfügt hatte. Von der Wohnung im Erdgeschoss hatten sie zwei Räume abgeteilt und eine Küche und ein Bad eingebaut. Hier würden Marianne und Herwig künftig leben. Die restlichen vier Räume einschließlich des Rundbaus am Ende des Gebäudes bildeten Theresas und Lukas’ gemeinsame Wohnung. In den Rundbau, in dem ihr künftiges Wohnzimmer war, hatten sie eine vierflügelige Terrassentür eingebaut. Von hier aus konnte sie in ihr Arbeitszimmer hinübergehen, das sie in einem kleinen Nebengebäude untergebracht hatte. Jetzt fehlte nur noch die Modernisierung der Küche.
»Okay.« Theresa richtete den schmerzenden Rücken auf und stemmte die Hände in die Hüften. »Das Bad ist geputzt, das Schlafzimmer eingerichtet. Jetzt müssen noch die Bücher ins Regal im Wohnzimmer und das Geschirr in die Küchenschränke.« Sie seufzte. »Die restliche Kleidung bringe ich morgen mit, wenn ich die beiden hole.«
»Meinst du, es ist richtig, was wir machen?«, fragte Marc.
»Ja. Es gefällt ihnen im Augenblick nicht, aber ich wette mit dir, dass sie sich hier schnell einleben werden. Es wird ihnen gefallen, ihre Söhne ständig um sich zu haben. Und wenn es ihnen schlechter gehen sollte, müssen sie sich nicht umgewöhnen. Wir sind ja da, um zu helfen.«
»Lukas hat wirklich verdammtes Glück mit dir. Dass du diese Sache mitmachst, also ich muss sagen …«
»Das hättest du nicht gedacht?«, fragte Theresa.
Marc nickte verschmitzt. »Ich hab dich für ’ne verwöhnte Modetussi gehalten.«
»Ich bin eine verwöhnte Modetussi. Und dass ich da draußen ständig durch die Kacke dieser Laufenten latschen muss, hebt meine Laune nicht besonders.«
»Die Übernahme der Enten war Vertragsbedingung.«
»Das weiß ich.«
»Aber vielleicht landet ja auch mal eine versehentlich im Topf. Bald ist schließlich Weihnachten.«
Theresa ging dicht an ihn heran. »Wenn du das machst, ziehst du am nächsten Tag wieder aus.«
»Würde ich nie tun.« Marc sah sich um. »Okay, was soll ich machen?«
»Bücher einräumen.«
»Nach Autoren sortiert?«
»Nach Farben.« Theresa klappte die Laschen eines Umzugskartons auf. »Und anschließend fährst du irgendwohin, wo es irgendwas zu essen zu kaufen gibt.«
»Tja, da muss ich dich enttäuschen. Es ist Sonntagnachmittag, und du bist nicht in der Innenstadt, sondern ganz weit draußen auf dem Land, wo sich Hase und Igel gute Nacht sagen«, rief Marc aus dem Wohnzimmer.
Theresa ging zu ihm hinüber. »Ich sag es nur einmal, mein Lieber. Du bringst mir gleich etwas zu essen, sonst wird es ein ganz ungemütlicher Abend für dich.«
»Alles klar. Notfalls überfalle ich einfach jemanden. So schlimm kann es schon nicht werden. Schließlich ist mein Bruder bei der Polizei.«
Lukas warf einen Blick zum Nachbartisch, wo Jessica in ein Gespräch mit Nora Gansel vertieft war. Es wirkte weniger wie ein Polizeiverhör als wie eine Unterhaltung zwischen Freundinnen.
»Also?« Lukas tippte mit dem Radiergummi am Ende seines Bleistifts auf die Tischplatte. »Warum sprecht ihr nicht über euren Trainer? Ich will einfach nur die Wahrheit hören. Und jemandem, der die Wahrheit sagt, passiert nichts. Und wenn die Wahrheit nicht schön ist, dann ist das so.«
Er stand auf und ging hinter den Tresen. In einem Kühlschrank mit Aluminiumtür fand er eine Flasche Cola. Er nahm einen Stapel Gläser aus dem Regal und versorgte die Jungs mit Getränken. Sie griffen jeder nach einem Glas und waren sichtlich froh, etwas zu tun zu haben. Florian leerte sein Glas als Erster.
»Gut, dann frage ich euch mal was. Ihr habt gesagt, ihr wart heute Nachmittag einfach zum Kicken hier. Warum tragt ihr dann Trikots?«
Max unterdrückte einen Rülpser, was vielleicht üblicherweise der Belustigung der anderen diente. Aber nur Christoph musste sich ein Kichern verkneifen.
»Der Trainer hat gesagt, dass auf dem Platz nur gespielt wird, wenn wir das Trikot tragen«, erklärte Florian.
»Immer?«
»Immer. Er hat gemeint, dass wir das Spiel dann ernster nehmen würden. Wenn wir in Jeans und Shirt hier rumeiern, dann versaut das unsere Taktik.«
»Hm«, machte Lukas. »Klingt, als sei da was dran.«
»Ja, verdammte Scheiße.«
»Und warum habt ihr dann nicht woanders gekickt? Irgendwo auf der Wiese?«
Florian sah ihn an, als wäre er nicht ganz normal. »Wissen Sie, was dann los gewesen wäre? Wenn er das mitgekriegt hätte, hätte der Trainer uns rausgeschmissen.«
Ehrgeizig, distanziert notierte Lukas in seinem Notizbuch. »Habt ihr immer Trainer zu ihm gesagt? Niemals seinen Namen?«
»Oder Scheißkerl«, murmelte Lennart.
»Heißt das, dass ihr ihn nicht gemocht habt, oder habt ihr ihn respektiert?«
Der Umstand, dass sie der Anordnung des Trainers in ihrer Freizeit Folge leisteten, bedeutete vermutlich, dass die Spieler ihn respektiert hatten.
»Er hat dafür gesorgt, dass Leon in die Regionalliga kommt. Kürzlich hat ein Scout Leons Eltern angerufen. Der kommt in die Nachwuchsliga.«
»Und ist das gut?«, fragte Lukas, der keine Ahnung hatte, wovon die Rede war.
»Das ist krass gut. Bundesliga?«
Erfolgreich, schrieb Lukas. Dunkel erinnerte er sich daran, dass die Verkäufer ihres Hauses erzählt hatten, dass ihr Sohn ausgezogen und das Haus nach dem Tod der Eltern von Joachim Krüger zu groß sei. Dann war Leon vermutlich der ältere Sohn der Krügers, der jetzt wegen seiner beginnenden Fußballkarriere ausgezogen war.
»Verstehe. Kann es sein, dass sich ein Spieler aus eurem Verein an ihm gerächt hat, weil er ihn nicht so protegiert hat wie Leon Krüger?«
Florian kniff die Augen zusammen. »Protewas?«
»Gefördert, meint er«, erklärte Finn. »Bisher hat er seine ganze Zeit in das Training mit Leon gesteckt.«
»Mit anderen Worten geht’s jetzt darum, der neue Stern am Himmel zu werden.« Lukas sah in die Runde.
Die fünf machten unbeteiligte Gesichter.
»Und? Gibt’s da jemanden? Oder mehrere Favoriten?«
»Das wissen wir nicht.« Max hob das Kinn.
»Gut, das kann ich auch mit dem Vereinsvorstand besprechen. Ich würde sagen, ihr geht jetzt erst mal nach Hause. Und wenn ihr meint, dass ihr psychologische Hilfe braucht, meldet ihr euch bei mir.« Lukas legte fünf Visitenkarten auf den Tisch. »Und sonst auch. Wenn euch etwas einfällt oder ihr etwas fragen wollt.«
»Ist gut, machen wir.« Florian schnippte die Karten zu seinen Freunden. »Einen Psycho brauchen wir aber nicht.«
Lukas stand auf. »Alles klar. Überlegt es euch.«
Er warf Jessica einen kurzen Blick zu, als er das Vereinsheim verließ, aber sie war immer noch in ihr Gespräch vertieft. Auf dem Parkplatz traf er mit Kai zusammen.
»Ah, da bist du ja. Hornecker fragt, ob du die Leiche noch brauchst.«
Lukas schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe sie gesehen. Hat er etwas Besonderes festgestellt?«
Kai grinste. »Er hat festgestellt, dass er aus seiner Bridgerunde weggerufen wurde, obwohl er am Gewinnen war, und dass er den Verlust seines Einsatzes bei dir anmelden wird.«
»Ich dachte eher zum Todeszeitpunkt und zur Tatwaffe.«
»Weiß ich doch. Tatwaffe war vermutlich etwas Schweres mit einer scharfen Kante.«
»Ein Eisen oder so etwas?«, fragte Lukas.
»Ja, oder so ein weiß-rotes Ding vielleicht, mit dem man genervte Autofahrer davon abhält, sein Auto auf einen Parkplatz zu stellen oder durchzufahren. Haben wir aber nicht gefunden. Ich fürchte, wir müssen da drüben im Wald suchen.« Kai sah Lukas an. »Oder suchen lassen. Soll ich Leute anfordern?«
»Ich weiß nicht. Der Platz und die Zuschauerplätze sind durch einen hohen Zaun begrenzt. Selbst wenn der Täter ein guter Werfer war, hätte er die Eisenstange vier Meter hoch werfen müssen. Dann schafft er es nicht, sie auch noch die zehn Meter bis in den Wald zu werfen.«
»Also suchen wir nicht?«
»Doch, Kai. Wir suchen, aber das machen wir selbst. Dafür brauchen wir keine Leute. Was sagt Dr. Hornecker zur Tatzeit?«
»Ich konnte den Begriff Mittagszeit aus ihm herauskitzeln, aber auf meine Argumentation, dass jeder Mensch zu einer anderen Zeit isst, ist er nicht näher eingegangen.«
»Warten wir also den Obduktionsbericht ab.«
»So sagte er: ›Warten Sie den Obduktionsbericht ab.‹« Kai streckte sich. »Ist ja nicht viel los hier draußen. Wie viele Einwohner hat dieses Kaff? Zehn? Und seit du mit deiner ganzen Truppe hier hergezogen bist zwanzig?«
»Finden wir es raus, Kai. Wir sollten alle Einwohner befragen. Und am besten fangen wir mit der Ehefrau an.« Lukas sah sich um. »Die sich noch nicht eingefunden hat, oder?«
»Nope. Scheint nicht sehr an ihrem Gatten zu hängen.«
»Oder sein Tod hat sich doch noch nicht rumgesprochen.«
Die Tür des Vereinsheims wurde geöffnet, und eine tränenüberströmte Nora Gansel kam heraus, an der Hand ihren Sohn Finn. Jessica, die ihr folgte, blieb in der Tür stehen, und sie sahen Frau Gansel zu, wie sie ihren Fiesta, der schräg über der weißen Linie zwischen zwei Plätzen abgestellt war, rückwärts ausparkte und davonfuhr.
»Da bekommt der Begriff Frauenparkplatz eine ganz neue Bedeutung«, stellte Kai fest.
»Ich nehme an, als ihr Sohn angerufen hat, um ihr zu erzählen, dass er einen toten Trainer gefunden hat, wollte sie sich nicht mit unnötigen Formalitäten aufhalten.« Lukas wandte sich zu Jessica um. »Was haben Sie herausgefunden?«
»Nicht viel, nur dass dieser Schramm ein ziemliches Arschloch gewesen sein muss.«
»Na, da haben wir doch ein klassisches Motiv. Das Arschlochmotiv«, sagte Kai.
Jessica zog eine Grimasse. »Da fragt man sich ja, warum dich noch keiner umgelegt hat, Kai.«
»Witzig.«
»Was hat Frau Gansel erzählt?«, fragte Lukas.
»Viel.« Jessica zeigte auf ihren Notizblock. »Sie hat etwa einhundert fiese Bemerkungen zitiert, die er zu den Spielern und den Eltern gemacht hat. Soll ich mal vorlesen?«
»Ja bitte. Vielleicht kann ich noch was lernen«, bat Kai.
»Schieß den Ball ins Aus, dann muss Kevin ihn holen. Der ist ohnehin zu dick. Das Tor ist der Kasten mit den weißen Pfosten. Ihr vier stellt euch da drüben auf, und wir gehen nachher zum Optiker. Jeder braucht einen Führerschein, um Auto zu fahren, Kinder darf jeder in die Welt setzen.« Jessica sah auf. »Noch mehr?«
»Nein danke, ich denke, wir haben einen Eindruck.« Lukas klappte sein Notizbuch auf. »Frau Gansel hat vermutlich keinen Grund mehr gesehen, ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Die Jungs, mit denen ich gesprochen habe, sind noch so eingeschüchtert, dass sie auch jetzt nicht mit der Sprache rausrücken wollten. Andererseits habe ich den Eindruck, dass Schramm ein guter Trainer war. Für mich klingt es so, dass er das strenge Training mit einer guten Portion Mobbing verbunden hat.«
»Nicht schön, aber erfolgreich«, fasste Kai zusammen.
»Hat Schramm diese Dinge auch zu den Eltern der Spieler gesagt?«, fragte Lukas.
»Frau Gansel sagt ja. Es gab eine Reihe von Eltern, die sich gar nicht mehr getraut haben, ihn anzusprechen. Und mit denen, die sich getraut haben, hat er sich üble Wortgefechte geliefert. Der einzige Grund, warum sich die Leute diese Behandlung gefallen lassen haben, war Schramms Erfolg. Er hat gerade einen der Jungen als Nachwuchsspieler für die Bundesliga untergebracht.« Jessica blätterte in ihren Notizen. »Irgendwas mit L.«
»Leon Krüger. Der Sohn der Verkäufer unseres Hauses.«
»Dann bist du also auch verdächtig, Lukas.«
»Ich habe ein Alibi, Kai. Ich habe den ganzen Tag Kartons geschleppt. Aber mich interessiert etwas anderes. Es gibt doch bei diesen zwei Eigenschaften, die der Trainer hatte, einen Kipppunkt. Die verbale Schlacht steigert sich immer mehr, und die Eltern beginnen sich zu fragen, ob sie die Behandlung trotz der erfolgreichen Tätigkeit des Trainers länger hinnehmen wollen. Vielleicht waren nicht alle Eltern scharf darauf, dass ihr Sprössling der nächste Bundesligastar wird. Abgesehen davon, dass vielleicht auch nicht alle Kinder geeignet sind für eine höhere Liga. Möglicherweise waren sie eher daran interessiert, dass sich ihr Kind gesund entwickelt und keinen psychischen Schaden davonträgt.«
»Also vernehmen wir jetzt alle Eltern?« Kai blies die Backen auf.
»Ich würde sagen, wir müssen den Vereinsvorstand befragen und uns eine Liste der Mitglieder geben lassen. Kannst du das machen, Kai? Ich würde gern mit Jessica zu Schramms Ehefrau fahren.«
»Verstehe. Mein Fingerspitzengefühl reicht gerade für ein paar Fußballer, aber nicht für die trauernde Witwe.«
»Ich hätte es nicht schöner sagen können, Kai. Aber du lernst es noch.« Lukas, der ein paar Schritte gemacht hatte, wandte sich noch einmal um. »Und denk dran, noch nach der Tatwaffe zu suchen.«
Kai zog eine Grimasse.
Lukas stieg auf der Beifahrerseite in Jessicas Auto ein. Sie fuhr einen kleinen Flitzer, der so ausgestattet war, dass sie frisch gestylt am Tatort eintreffen und längere Observationen überstehen konnte. Auch heute klapperte ein Schminkset in der Mittelkonsole neben einer offenen Coladose.
»Habe ich Sie von etwas Wichtigem weggeholt?«, fragte er, während er sich anschnallte.
»Von meinem Sofa. Was ich Ihnen echt übel nehme. Ich hatte mir gerade eine Tafel Schokolade aufgemacht und einen Film mit Hugh Grant aufgerufen.«
»Tut mir leid.«
»Können Sie ja nix für. Wo wohnt denn unser Toter?« Jessica war vom Parkplatz gefahren und hielt das Fahrzeug kurz an.
Lukas studierte die Notizen, die er sich gemacht hatte, als die Zentrale anrief. »Sandweg 7.«
»Und wo ist das?«
»Ich habe keine Ahnung.«
Jessica lachte und gab die Adresse in ihr Navi ein. »Dann wollen wir mal Ihre neue Heimat erkunden.«
Es lohnte sich kaum, die Strecke mit dem Auto zurückzulegen. Auf dem Grundstück im Sandweg stand ein kleines Einfamilienhaus, das schon bessere Tage gesehen hatte. Lukas, der seit dem Hauskauf einen Blick für Immobilien entwickelt hatte, fielen sofort die fehlenden Dachziegel ins Auge. Solche Reparaturen waren aufwendig und kompliziert, aber auch notwendig. Vermutlich musste ein Gerüst aufgestellt werden, und oft blieb es ja nicht bei einer kaputten Stelle auf dem Dach, und als Nächstes erklärte einem der Dachdecker, dass es nur noch die große Lösung tat.
»Chef?« Jessica stand auf dem Gartenweg und sah ihn fragend an.
»Sorry. Ich war in Gedanken.«
Insgesamt machte das Haus keinen besonders guten Eindruck. Der Vorgarten war ungepflegt, und die Fenster konnten einen neuen Anstrich gebrauchen.
Lukas war heute langsam. Jessica hatte geläutet, und in der Tür stand bereits eine kleine Frau.
»Kommen Sie rein«, sagte sie.
Als er an ihr vorbeiging, konnte Lukas sehen, dass sie geweint hatte.
»Sie wissen Bescheid?«, fragte Jessica.
»Miriam hat mich angerufen.« Silke Schramm schloss die Haustür. »Sie hat das kleine Café am Bahnhof.« Sie deutete auf die offen stehende Küchentür. »Bitte.«
Auf dem Küchentisch stand ein Karton mit Kleenex, daneben lagen zerknüllte benutzte Tücher.
»Was hat Ihnen diese Miriam denn erzählt?«, fragte Jessica, als sie zu dritt am Tisch saßen.
»Dass Sebastian tot ist. Die Jungs haben ihn auf dem Fußballplatz gefunden. Und dass da Blut war.« Frau Schramm schluchzte.
»Und woher wusste ihre Freundin Bescheid?«
Die frisch gebackene Witwe sah auf. »Sie hat ein Café.«
»Und hat sie die Neuigkeit von einem Gast erfahren?« Lukas hörte ein bisschen Ungeduld aus Jessicas Stimme heraus, was ungewöhnlich war.
»Ich weiß es nicht. Was ist denn eigentlich passiert?«
»Frau Schramm. Wie heißen Sie mit Vornamen?«
»Silke. Ich heiße Silke Schramm.«
»Also, Frau Schramm, Ihr Mann wurde auf dem Fußballplatz gefunden. Er wurde erschlagen. Mehr wissen wir noch nicht.« Jessica sah kurz zu Lukas rüber, der ihr kurz zunickte.
Informationen, auf die die Witwe ein Anrecht hatte, mit denen aber kein Täterwissen verraten wurde.
»Können Sie uns sagen, wann Ihr Mann heute das Haus verlassen hat?«
»Ich habe nicht auf die Uhr gesehen. Nach dem Mittagessen war ich im Garten. Sebastian hat mir nur kurz zugewunken, als er ging.«
»Und hat er nicht gesagt, wohin er geht?«
»Das musste er nicht. Sebastian hat jede freie Minute auf dem Platz verbracht.«
»Das heißt, dass er häufig sonntagnachmittags auf dem Fußballplatz war?«, fragte Jessica.
»Wie gesagt, jede freie Minute.«
Jessica nickte und machte sich eine Notiz, auch wenn ihre Frage nicht richtig beantwortet worden war.
»Frau Schramm, Ihr Mann wird gerade in die Rechtsmedizin gebracht, und wir müssen Sie bitten, ihn zu identifizieren.« Jessica legte die Hände auf den Tisch. »Trauen Sie sich das zu?«
»Natürlich. Außerdem möchte ich ihn noch mal sehen. Kann man eine Verletzung erkennen?«
Jessica wechselte einen kurzen Blick mit Lukas. War das eine verständliche persönliche Frage oder wollte Silke Schramm von der Verletzung auf den Täter schließen?
»Das wissen wir alles noch nicht genau, Frau Schramm«, sagte Jessica. »Können Sie mir noch sagen, was Sie im Garten gemacht haben?«
»Laub geharkt. Wir haben diese vielen Linden und eine Eiche im Garten stehen. Und jetzt kommen die ersten Herbststürme.«
»Haben Sie mit einem Nachbarn gesprochen? Oder einen Nachbarn gesehen?«
Silke Schramm, die den Blick gesenkt gehalten und ihr Taschentuch zerknüllt hatte, sah auf. »Fragen Sie mich nach meinem Alibi?«
Jessica legte den Kopf schief. »Das kennen Sie doch aus dem Fernsehen, Frau Schramm. Wir fragen jeden nach seinem Alibi.«
»Und besonders die Ehefrau. Ich weiß.« Silke Schramm reckte das Kinn vor. »Ich hatte keinen Grund, meinen Mann umzubringen. Ich habe ihn geliebt.«
»Das beantwortet noch nicht meine Frage, Frau Schramm.«
»Vielleicht hat mich ein Nachbar gesehen. Gesprochen habe ich mit niemandem.«
»Gut, haben Sie Kinder?«
Silke Schramm schüttelte den Kopf. »Nein, wir haben keine Kinder.«
»Gut.« Jessica schlug ihren Notizblock zu. »Wir stehen auch noch ganz am Anfang unserer Ermittlungen. Wenn Sie sich umziehen möchten, können Sie das jetzt machen. Wir können Sie in die Rechtsmedizin bringen.«
Silke Schramm nickte, dann schob sie ihren Stuhl zurück. »Mache ich.«
Jessica verdrehte die Augen, nachdem Frau Schramm die Küche verlassen hatte. Lukas war etwas verwirrt. Silke Schramm hatte etwas Bärbeißiges, Ruppiges an sich, aber trotzdem glaubte er ihr, dass sie ihren Mann geliebt hatte. Vielleicht war er auch zu erschöpft, um klar denken zu können. Schon auf dem Fußballplatz hatte seine Intuition versagt. Üblicherweise hatte er beim ersten Betreten des Tatorts ein Gespür für die Emotionen, die zuletzt dort geherrscht hatten, aber heute hatte er, was das anbetraf, einen Totalausfall.
Der Sonntagnachmittag war Hedwig Fröhlichs liebste Zeit der Woche. Die Klagen ihrer immer weniger werdenden Freundinnen, dass sie Angst vor der Langeweile am Sonntag hatten, konnte sie nicht nachvollziehen. Natürlich lag das zum großen Teil daran, dass sie in ihrem Alter Ende siebzig noch berufstätig war. Jeden Wochentag schmiss sie für einige Stunden das Anwaltsbüro ihrer Nichte Theresa in der Hamburger Innenstadt. Da blieb am Nachmittag noch mehr als genug Zeit, ihre Wohnung in Ordnung zu halten und einzukaufen. Und am Wochenende hatte sie wie jeder Arbeitnehmer schließlich frei.
Hedwig hatte es sich gerade mit einer Kanne Earl Grey, zwei Petit Fours und ihrem aktuellen Puzzle auf dem Sofa gemütlich gemacht, als es an der Tür läutete.
»Ach nein.« Kurz überlegte sie, das Klingeln zu ignorieren, aber ein solches Verhalten widersprach ihrem Naturell. Sie stand auf und ging zur Wohnungstür, wo sie den Hörer der Gegensprechanlage abnahm.
»Ja bitte?«
»Frau Fröhlich, Mustafa Yildirim hier. Haben Sie Zeit?«
Hedwig drückte den Knopf mit dem aufgedruckten Schlüssel. »Kommen Sie rein.« Sie öffnete die Wohnungstür und ging in die Küche, um eine weitere Teetasse zu holen. Mit der Tasse in der Hand begrüßte sie den Taxifahrer.
»Herr Yildirim, kommen Sie rein.«
Der großgewachsene Mann schloss die Wohnungstür. »Tut mir leid, wenn ich Sie überfalle, aber ich brauche Ihre Hilfe.«
»Setzen Sie sich.« Hedwig deutete auf einen Sessel. »Tässchen Tee?«
»Kann ich auch eines von diesen fies aussehenden rosa Dingern haben?« Mustafa Yildirim ließ die Hand über dem Teller mit den Petit Fours schweben.
»Können Sie. Die Dinger heißen Petit Fours.«
»Macht nichts«, sagte Yildirim kauend. »Bisschen süß.« Er nahm eine Teetasse von Hedwig entgegen.
»Also? Wo drückt der Schuh?« Hedwig strich ihren Rock glatt und setzte sich.
»Sie machen wieder ein Puzzle?«
»Ich wollte gerade damit beginnen, als es an der Tür läutete. Wie war Ihre Fortbildung?«
»Super. Ich bin jetzt Fachkraft Detektiv. Geprüft und geeicht.«
»Herzlichen Glückwunsch, Herr Yildirim. Dann sind Sie jetzt Taxifahrer und Detektiv.«
»Taxifahrer war ich schon immer, und seit ich Sie kenne, bin ich auch Detektiv. Aber jetzt bin ich geprüfter Detektiv.« Yildirim beäugte den zweiten Petit Fours. »Brauchen Sie das noch?«
Hedwig schob ihm den Teller hin. »Bedienen Sie sich. Wobei benötigen Sie jetzt meine Hilfe?«
Yildirim zog einen Stapel aufgerollter Papiere aus der Innentasche seiner Jacke. »Ich muss hier eine Menge Kram ausfüllen. Irgendwelche Nachweise, Auskünfte und so. Und dann muss ich mich noch für eine Unternehmensform entscheiden.« Er betrachtete den leeren Teller. »Haben Sie vielleicht noch Kekse?«
»Im Küchenschrank über der Spüle.« Hedwig nahm den Stapel Unterlagen und ging zum Sekretär hinüber. Sie rückte den Bilderrahmen mit dem Foto ihres verstorbenen Mannes Karl zurecht. »Es gibt immer was zu tun, Karl. Die Zahl meiner fertiggestellten Puzzles ist auf nahezu null zurückgegangen, seit ich wieder bei Theresa arbeite.«
»Was haben Sie gesagt?« Mustafa Yildirim kehrte mit einer Schachtel Kekse zurück.
»Ich habe mit meinem Mann gesprochen.« Hedwig setzte ihre Lesebrille auf.
»Ich denk, der ist tot.«
»Holen Sie sich mal einen Küchenstuhl, Herr Yildirim. Und dann können Sie sich mal merken, dass man mit den Toten die besten Gespräche führt.«
»Tatsächlich?« Etwas verwirrt ging Yildirim in die Küche zurück. »Ich hätte gedacht, dass das eine sehr einseitige Unterhaltung ist«, sagte er, als er mit einem Stuhl zurückkehrte.
»Es hilft einem, die Gedanken zu ordnen, Herr Yildirim. Wenn sich die Gedanken nur im eigenen Kopf abspielen, gibt es häufig ein unauflösliches Durcheinander. Aber wenn man etwas ausspricht, muss man den Gedanken in Worte fassen. Und außerdem weiß ich sowieso, was mein Karl geantwortet hätte.«
»Nämlich?«
»Liebes, du machst ohnehin, was du willst. Also frag mich nicht.«
Mustafa Yildirim betrachtete das Foto des verstorbenen Karl Fröhlich. »Ich glaub, ich unterhalte mich auch mal mit Ihrem Mann. Ein gutes Gesprächsthema hätten wir schon mal.«
»Jetzt setzen Sie sich mal hin und konzentrieren Sie sich, Herr Yildirim. Also, Sie müssen sich für eine Unternehmensform entscheiden. Sie sollten eine Form mit beschränkter Haftung wählen.«
»Wieso? Denken Sie, dass ich als Erstes einen Schaden produziere?«
»Nein, aber was ist, wenn Ihnen jemand etwas unterstellt oder anhängt? Wir wollen doch nicht, dass Ihre Existenz bedroht ist.«
»Wollen Sie nicht doch Partner in meiner Detektei werden?«
Hedwig nahm ihre Brille ab und sah ihn strafend an. »Sie haben das abgelehnt. Ich hatte Ihnen eine Partnerschaft angeboten. Allein wegen der Buchstaben F und Y. Sie haben gesagt, dass es keine Auswirkungen haben wird, dass Ihr Nachname mit dem vorletzten Buchstaben des Alphabets beginnt.«
»Schon gut. Sie haben ja recht.«
»Und krümeln Sie nicht auf meinen Teppich.«
»Tschuldigung.«
Hedwig arbeitete sich geduldig durch die Unterlagen, machte Kreuze und Eintragungen.
»Haben Sie denn schon einen Auftrag?«, fragte sie, als sie ihm die Unterlagen zurückgab.
»Normalerweise haben Sie die Aufträge für mich. Wie sieht’s damit aus?«
»Ganz, ganz schlecht, Herr Yildirim. Theresa ist mit ihrem Umzug beschäftigt, und im Augenblick haben wir keine neuen Mandate. Für das Kind ist das ganz gut. Sie ist Rechtsanwältin und hat sich in der letzten Zeit mehr als einmal in Gefahr gebracht, weil ich sie in schwierige Geschichten hineingezogen habe.«
»Soweit ich weiß, zieht sie gerade mit ihren zukünftigen Schwiegereltern zusammen.« Yildirim steckte die Papiere zurück in seine Jacke. »Für mich ist das die größte Gefahr, in die man sich bringen kann.«
Lukas sah Jessicas kleinem Auto hinterher, mit dem seine Kollegin Silke Schramm in die Rechtsmedizin begleitete. Er wollte das, was ihm vorhin nicht gelungen war, nachholen und ein bisschen die Schwingungen am Ort des Geschehens aufnehmen.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Lukas wandte sich um. In der Tür des Vereinsheim stand ein hochgewachsener Mann Mitte dreißig.
»Guten Tag, Kriminalhauptkommissar Lukas Kampmann.«
»Ach, Polizei.« Der Mann streckte ihm die Hand entgegen. »Helge Klein. Ich bin Vorstand dieses Vereins.« Er deutete hinter sich. »Ich hoffe, es war okay, dass ich hier reingegangen bin.«
»Das war okay. Die Spurensicherung hat die Räume des Vereinsheims schon unter die Lupe genommen. Können wir wieder reingehen?«
Kai hatte die Arbeit der Spurensicherung begleitet und Lukas eine kurze Nachricht aufs Handy geschickt. Erwartungsgemäß hatten die Kollegen sehr viele Spuren gefunden, deren Untersuchung einige Zeit in Anspruch nehmen würde. Was man nicht gefunden hatte, waren Blutspuren oder Anzeichen eines Kampfes, sodass sie im Augenblick davon ausgingen, dass sich die Tat nicht in den Räumen des Vereins ereignet hatte.
»Ja, natürlich.« Klein wandte sich um und verschwand hinter dem Tresen. »Kann ich Ihnen etwas anbieten?«
»Ich nehme ein Wasser.«
»Sie haben schon mit Silke gesprochen, wie?«, fragte Helge Klein, als er mit einer Flasche Wasser und zwei Gläsern an den Tisch kam, an dem Lukas einige Stunden zuvor mit den Jungs zusammen gesessen hatte. »Wie nimmt sie es auf?«
»Ein bisschen schwer zu sagen. Sie wirkt zugleich gefasst und schwer getroffen.«
»Meiner Meinung nach dürfte Sebastians Tod sie sehr schwer getroffen haben. Die beiden waren ein sehr spezielles Paar, müssen Sie wissen. Beide nicht gerade charmant, Sebastian außerdem ziemlich streitsüchtig, aber zwischen die beiden passte kein Blatt, wie man so sagt.«
»War es für beide die erste Ehe?«
Helge Klein grinste. »Verständliche Frage. Ja, war es. Wir haben gerade vor Kurzem ihre Silberhochzeit gefeiert. Letztes Jahr, glaube ich. Aber das müsste ich nachsehen. Ich kriege die Jahre immer so schnell durcheinander.«
»Engagiert sich Frau Schramm auch im Verein?«
»In gewisser Weise schon. Sie leitet den Waldkindergarten und hat mit Sebastian über die Kinder aus ihrer Gruppe gesprochen, die sie für geeignet hielt, bei uns einzusteigen.«
Lukas trank einen Schluck Wasser und stellte das Glas ab. »Bedeutet das, dass der Verein nicht jeden aufnimmt?«
Helge Klein seufzte schwer und rieb sich über das Gesicht. »Sie kommen aber direkt zum Punkt.«
»Das war keine Absicht. Was ist der Punkt?«
»Der Punkt ist, dass mein erstes Gefühl, als ich von Sebastians Tod hörte, eine gewisse Erleichterung war.« Klein sah Lukas an. »Die Erleichterung wurde gleich abgelöst von Existenzängsten, was den Verein anbetrifft und einer gewissen Verwirrtheit, weil Sebastian jetzt tot ist. Vermutlich Trauer. Bis Sie hier eingetroffen sind, habe ich hier am Tisch gesessen und versucht, meine Gefühle zu sortieren.«
»Wissen Sie, was ich vermisse?«, fragte Lukas. »Ich hätte erwartet, dass Sie in einem kleinen Ort wie diesem, wo jeder jeden kennt, nicht allein am Tisch sitzen und über den Verlust Ihres besten Trainers grübeln. Ich hätte eher erwartet, dass die Vereinsmitglieder und andere Menschen hier zusammenkommen, um den Tod des Trainers zu betrauern. Dass die Menschen vor dem Tor Blumen ablegen oder vielleicht Fußbälle.«
»Ich sage doch, dass Sie gleich zur Sache kommen. Sebastian war kein einfacher Mensch. Einen Tag ohne Streit mit ihm zu erleben, war praktisch unmöglich. Ständig musste ich ihn daran erinnern, dass wir hier kein Bootcamp sind, sondern ein Fußballverein. Und ich hätte mir gewünscht, dass wir mehr Mitglieder haben, aber die ›Alte Herren‹ ist uns ausgestorben, weil die Männer keine Lust mehr hatten, sich von ihm schlecht behandeln zu lassen. Und ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass ich mich darauf freue, nicht jeden Tag ein Elternteil am Telefon zu haben, das sich über Sebastian beschwert.«
»Er war also ein schwieriger Mensch?«
»Er war ein erfolgreicher Trainer. Sein Drill hat viele Spieler verschreckt und dafür gesorgt, dass einige gar nicht erst den Weg zu uns gefunden haben. Aber er hat auch eine erfolgreiche Bilanz hinterlassen, was die Bundesligareife von Spielern anbetrifft.«
Lukas drehte sein Wasserglas in den Händen. »Schwierige Situation. Wenn Sie Schramm rausgeworfen hätten, wäre die eine Hälfte der Vereinsmitglieder Ihnen dankbar gewesen, die andere gram. Richtig?«
»Richtig.«
»Also müsste bei Ihnen die Erleichterung überwiegen, weil das Problem gelöst ist, ohne dass man Ihnen etwas vorwerfen kann. Oder?«
»Oh Mann, das klingt wie ein Motiv.« Helge Klein lächelte unsicher.
»Wo waren Sie denn heute?«
»Wann denn?«
Lukas lächelte. »Das weiß ich noch nicht so genau. Wir müssen den Obduktionsbericht abwarten.«
»Gut, also ich habe heute spät gefrühstückt. Mit meiner Familie. Meiner Frau und meinen drei Kindern. Anschließend waren wir bei meinen Schwiegereltern und sind etwa gegen fünf nach Hause gekommen. Meine Drei haben mir dann Geld abgeluchst für ein Eis und als sie vom Café am Bahnhof zurückkamen, hatten sie drei Eis und eine neue Nachricht im Gepäck.«
Lukas machte sich Notizen und erkundigte sich nach den Namen der Schwiegereltern, der Ehefrau und der Kinder. »Müssen wir alles überprüfen.«
»Natürlich. Ist nicht witzig, wenn das eigene Alibi gecheckt wird. Wieder ein Punkt auf der Negativseite der Liste meiner Schwiegereltern.«
»Das tut mir leid, aber wenn Ihre Frau Sie liebt, bleibt sie trotzdem bei Ihnen?« Lukas schmunzelte.
»Ich denke schon.«
»Fällt Ihnen jemand ein, der sich Schramms Umgang nicht länger gefallen lassen wollte?«
Klein hob den Kopf. »Und ihn deshalb umbringt?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich kenne niemanden, dem ich eine solche Tat zutrauen würde. Will ich auch gar nicht. Überhaupt will ich solche Vorkommnisse nicht in unserem Verein haben. Aber dafür dürfte es wohl zu spä...«
In einem der Räume im hinteren Bereich des Gebäudes läutete ein Telefon. Klein stand auf und deutete auf eine Tür. »Darf ich?«
»Natürlich.«
Klein verschwand vermutlich in seinem Büro. Nach einer Weile hörte Lukas ihn leise sprechen. Er stand auf und ging zu den Bilderrahmen an der Wand hinüber. Dafür, dass sie sich in einem kleinen Stadtteil am äußersten Rand Hamburgs befanden, hingen hier eine Menge weltbekannte Fußballstars an der Wand. Messi, Ronaldo, Sané, Pelé und irgendwer, den Lukas nicht kannte. Daneben hingen Fotos von jugendlichen Spielern. Lukas nahm an, dass es sich um Mitglieder des FC Wohldorf handelte. Tatsächlich erkannte er Leon Krüger wieder, woraus Lukas den Schluss zog, dass den potenziell zukünftigen Weltstars die Ehre zuteilwurde, neben Lionel Messi an der Wand zu hängen. Ganz am Ende der Reihe hing ein ungewöhnliches Bild, das einen älteren Herrn mit gutmütigem Gesichtsausdruck zeigte.
Als neben ihm die Tür aufging, musste Lukas einen Schritt zur Seite treten, um nicht vom Türblatt erwischt zu werden.
»Oh, Entschuldigung.« Helge Klein zog die Tür wieder ein kleines Stückchen zu, sodass Lukas aus der Ecke heraustreten konnte.
»Ich habe mir Ihre zukünftigen Weltstars angesehen.« Lukas kehrte zum Tisch zurück.
»Tut mir leid wegen der Unterbrechung.« Kleine zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor. »Aber das war jetzt tatsächlich so etwas Ähnliches wie eine Beileidsbekundung.«
»Etwas Ähnliches?«
Klein hob die Augenbraue. »Eine Mutter wollte wissen, ob das Training morgen wie gehabt stattfindet. Tja, so drückt man hier bei uns sein Beileid aus.«
»Sagen Sie, Herr Klein, haben Sie meinen Kollegen mit Listen der Spieler und Trainer versorgt?«
»Habe ich erledigt.«
Lukas deutete auf die Aufnahmen an der Wand. »Die Spitzenfußballer habe ich erkannt. Bei den anderen nehme ich an, dass es Ihre Hoffnungsträger sind. Aber wer ist der ältere Herr ganz außen?«
Klein drehte sich auf dem Stuhl um. »Das ist August Beeken. Schon lange verstorben, aber er war seinerzeit ein großer Gönner unseres Vereins. Der Verein hat ihm viel zu verdanken, und heute wacht er über das Geschehen im Verein.« Klein wandte sich wieder zu Lukas nach vorn. »Heute allerdings muss er im entscheidenden Augenblick geschlafen haben.«
»Gönner? Er hat den Verein finanziell unterstützt?«, fragte Lukas.
»Heute wäre er eine Art Sponsor.« Klein faltete die Hände auf der Tischplatte. »Ich habe ihn persönlich nicht mehr kennengelernt. Als meine Eltern mit mir herzogen, war er schon verstorben. Aber sein Andenken wird immer noch geehrt.«
»Schön.« Lukas klappte sein Notizbuch zu und steckte es ein. »Ihnen fällt niemand ein, der als Täter in Betracht kommt?«
Klein schüttelte den Kopf. »Sie können mir glauben, dass ich darüber nachdenken werde. Natürlich geht mir der Mord nicht mehr aus dem Kopf.«
Lukas stand auf und warf noch einen kurzen Blick auf die Pokale, die in einem Regal hinter dem Tresen standen.
»Wir bleiben in Kontakt. Vielen Dank für Ihre Zeit.«
»Ist doch selbstverständlich, der Polizei zu helfen.«
Theresa war überrascht, Lukas neben sich im Bett vorzufinden, als der Wecker um halb sieben klingelte.
»Musst du nicht deinen Mord aufklären?«, fragte sie, nachdem sie ihm einen Kuss auf die Stirn gegeben hatte.
Lukas streckte sich und knurrte ein bisschen dabei. »Ich habe fast den ganzen Sonntag gearbeitet, und außerdem hoffe ich, dass Jessica und Kai schon ordentlich vorgearbeitet haben, wenn ich eintreffe.«
Sie gab ihm einen Knuff gegen den Oberarm. »Ich stelle eine gewisse Amtsmüdigkeit bei Ihnen fest, Herr Kampmann. Liegt das an der Landluft?«
»Kommt mir auch so vor.« Lukas kämpfte sich unter der Bettdecke hervor und stand auf. »Sonst habe ich früher Yoga gemacht.« Er hielt sich den unteren Rücken. »Aber heute tut mir alles weh von diesen verdammten Kartons.«
»Soll ich dich ins Büro fahren?«
Lukas beugte sich nach vorn und berührte mit den Händen den Boden. »Nein, ich werde die Bahn nehmen. Kann mich schon mal dran gewöhnen.«
»Ich könnte dich hinfahren und auf dem Rückweg deine Eltern abholen.«
»Nein, das ist wirklich ein bisschen zu spät für mich.« Er richtete sich ächzend wieder auf. »Dieser Fall birgt eine Menge Ermittlungsarbeit. Wir müssen die ganzen Leute aus dem Verein vernehmen«, erklärte Lukas und verschwand im Bad.
Theresa zog ihren Morgenmantel an. »Das kannst du doch nun wirklich hier vor Ort machen. Quasi Homeoffice«, rief sie.
»Und Recherche und die Rekonstruktion des Tatverlaufs.«
»Klingt nach scheußlich viel Arbeit«, sagte sie, als sie an der Badezimmertür vorbeiging. »Ich möchte nicht mit dir tauschen.« Sie ging in die Küche und schaltete den Kaffeeautomaten ein.
Den Plan, dieses Mehrgenerationenhaus zu beziehen, hatten sie ziemlich kurzfristig gefasst. Nachdem Marc die Immobilie entdeckt und den Plan entwickelt hatte, wollten sie sich das Haus nicht vor der Nase wegschnappen lassen. Zumal Lukas’ Eltern in der letzten Zeit stark abgebaut hatten und früher oder später eine Lösung gefunden werden musste. Deshalb nahmen sie noch mit der alten Küche der Voreigentümer vorlieb, die aus den Siebzigerjahren stammte. Die Schränke waren hellblau, und in der Ecke stand eine aufklappbare Eckbank. Ihr moderner Kaffeeautomat wirkte, als sei ein Ufo bei den Waltons gelandet.
Mit einem Espresso setzte sie sich auf die Eckbank und genoss die Ruhe vor dem Sturm. Nur, um einen Besuch bei Lukas’ Eltern zu überstehen, brauchte man Nerven aus Stahl. Wenn sie künftig hier zusammenleben würden, mussten sie alle vielleicht Tabletten nehmen, um zu überleben. Und auch wenn sie sich das nie hätte vorstellen können, freute sie sich ein wenig auf ihr neues Leben. Es bewahrte sie davor, ein einsames Dasein zu fristen. In ihrem Einfamilienhaus in Wellingsbüttel und mit Arbeitstagen von mindestens zehn Stunden.
»Krieg ich auch einen?« Lukas stand frisch geduscht in der Küchentür und hatte seine körperlichen Beschwerden offenbar schnell überwunden.
»Natürlich.« Theresa stellte eine kleine Tasse unter die Düse und drückte auf den Knopf.
»Möchtest du Toast?«, fragte Lukas.
»Erst mal nicht, danke.«
»Ihr habt schon ziemlich viel geschafft«, stellte Lukas fest, als er sich am Tisch ein Marmeladentoast genehmigte.
»Ja, Marc hat ganz schön geschuftet.«
»Hast du ihn heute schon gesehen?«
Theresa richtete den Blick zur Decke und schüttelte den Kopf. »Ist es nicht merkwürdig, dass wir jetzt immer genau über all das Bescheid wissen, was er tut?«
»Tja, ich fürchte, das nennt sich Familienleben. Fütterst du die Enten?«
Theresa kicherte. »Ich hätte nie gedacht, dass das mal ein Mann zu mir sagen wird.«
Nachdem Lukas weg war, ging Theresa noch einmal durch alle Räume, rückte hier etwas zurecht oder stellte dort etwas um. Anschließend ging sie in den Garten, um die Laufenten zu füttern. Die fünf stromerten zwar den ganzen Tag durch den Garten, aßen Insekten, Würmer und Löwenzahn, aber daneben bekamen sie noch ein Futter, das viel Getreide enthielt. Sie entwickelte tatsächlich nach der kurzen Zeit eine gewisse Beziehung zu den Tieren, die ihr wie eine aufgeregte Schar alter Damen vorkamen, wenn sie gemeinsam aufrecht durch die Gegend patrouillierten. Auch eine Eigenschaft, die sie nie bei sich vermutet hätte.
Als sie eine halbe Stunde später das Haus verließ, war von Marc noch nichts zu sehen und zu hören. Für die Fahrt hatte sie sich Marcs Transporter ausgeliehen, weil ihr kleiner Flitzer nicht dazu geeignet war, zwei ältere Herrschaften nebst Gepäck zu transportieren.
Als sie vor dem Haus von Marianne und Herwig Kampmann stand, atmete sie einmal tief ein. Für sie war das nur einer der Punkte auf ihrem heutigen Tagesplan, der erledigt werden musste. Für die beiden war es eine große Veränderung in ihrem Leben. Sie läutete und wartete einen Moment.
»Ah, da bist du ja. Komm rein, Theresa.« Herwig zog die Tür weiter auf und ließ sie herein. »Wir sitzen schon auf gepackten Koffern.«
Tatsächlich standen entlang der Wand im Flur vier Koffer in verschiedenen Größen. Und zwei Reisetaschen und eine Zimmerpalme. Marianne saß am Küchentisch vor einer leeren Tasse.
»Ach«, sagte sie. »Das ist nett, dass Sie kommen. Bitte bringen Sie mir noch eine Tasse Kaffee.«
»Marianne.« Theresa ging neben Marianne in die Knie. »Ich bin Theresa. Und wir fahren jetzt in unser neues Zuhause. Das mit den Enten.«
»Enten.« Mariannes faltiges Gesicht erhellte sich. »Wie schön.«
Lukas betrat das Präsidium um kurz vor acht.
»Mahlzeit!«, rief Kai, der an seinem PC arbeitete.
Jessica, die telefonierte, sah kurz auf und winkte.
Lukas hängte seine Jacke über die Rückenlehne seines Bürostuhls und ging in die Teeküche, um grünen Tee aufzusetzen. Er stellte die Kanne auf seinen Schreibtisch. Währenddessen las er den Obduktionsbericht. Sebastian Schramm, am 12. Februar 1973 in Hamburg geboren, war 178 cm groß und wog zuletzt 85 kg. Der Rechtsmediziner bezeichnete seinen Gesundheitszustand als altersgemäß. Schramm starb durch ein schweres Schädel-Hirn-Trauma aufgrund stumpfer Gewalteinwirkung gegen den Kopf, was Lukas Einschätzung bestätigte. Außerdem war sein linker Unterarm angebrochen, was die Vermutung nahelegte, dass Schramm einen ersten Schlag abwenden konnte. Zu der Tatwaffe hatte Dr. Hornecker keine genauen Angaben machen können. Er beschränkte sich auf die Verwendung des Begriffs stumpfe Gewalteinwirkung.
Lukas nahm das Teesieb aus der Kanne und legte es auf einer Untertasse ab. Schramm war auf dem Fußballplatz auf seinen Mörder getroffen. Ob es zu einem Streit gekommen war? Jedenfalls musste der Täter das spätere Tatwerkzeug bei sich gehabt haben. Er hatte auf Schramm eingeschlagen. Der hatte den ersten Schlag mit dem Unterarm abwenden können, aber er dürfte wegen des angebrochenen Unterarms in der Bewegung eingeschränkt gewesen sein. Abgesehen davon hatte er Schmerzen gehabt. Und dann hatte der Täter ein zweites Mal zugeschlagen. Und diesmal hatte er Schramm am Kopf getroffen und ihm den tödlichen Schlag versetzt.
»Habt ihr den Obduktionsbericht schon gelesen?«, fragte Lukas.
Kai drehte sich in seinem Stuhl zu ihm um. »Yes. Schramm muss von einem Riesen erschlagen worden sein.«
»Du meinst, weil der tödliche Schlag die Schädeldecke getroffen hat?« Lukas schüttelte den Kopf. »Nein, ich denke eher, dass Schramm nach dem ersten Schlag angezählt war. Vermutlich hat er sich ein wenig gekrümmt, um seinen linken Arm zu schützen. Und der Täter hat seine akute Schwäche ausgenutzt und noch einmal zugeschlagen, als Schramm schon am Boden lag oder jedenfalls nicht mehr aufgerichtet vor ihm stand.«
»Ziemlich skrupellos.« Jessica drehte ihre Haare zu einem Knoten zusammen und steckte ihren Bleistift hindurch. »Hat sich Schramm vor den Schlägen mit dem Täter gestritten?«
»Liegt nahe«, sagte Lukas. »Der Vereinsvorstand sagt, dass sich Schramm praktisch mit jedem gestritten hat, der ihm quer kam. Allerdings stellt sich die Frage, wer dieses Mal gleich die Tatwaffe dabei hatte, um den Streit ein für alle Mal zu beenden.«
»Und das auf dem Fußballplatz«, fügte Kai hinzu.
Lukas überflog den Bericht noch einmal zu den Eigenschaften der Tatwaffe. Aber außer den Merkmalen scharfkantig und schwer war darin nichts zu finden. »Gibt der Bericht der Spurensicherung etwas zur Tatwaffe her?« Lukas grinste Kai an. »Oder hat deine Suche im Wald etwas ergeben?«
Kai schüttelte den Kopf. »Hab nur ein paar Pilze gefunden. Ich sag doch, wir brauchen eine Hundestaffel. Und der Bericht der Spusi liegt noch nicht vor.«
»Nein. Ruf Hinnerk an und frag ihn, ob sie die Pokale im Vereinsheim untersucht haben. Die haben alle einen schweren Marmorfuß. Ich finde, das gäbe eine hübsche Tatwaffe ab.«
»Wie kriegen wir diesen Fall am besten in den Griff?«, fragte Jessica.