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Ein reiches Erbe, zwei Tote – und zahlreiche Verdächtige: Der fesselnde Hamburg-Krimi »Stummer Zorn« von Angela Lautenschläger als eBook bei dotbooks. Die düsteren Abgründe einer Familie … Als Nachlasspflegerin Friedelinde Engel die Erbschaft einer verstorbenen alten Dame sichten will, stößt sie in deren Villa auf den Schauplatz eines bisher unentdeckten Familiendramas: Der Neffe der Toten hat sich auf dem Dachboden erhängt – hat er seine Tante ermordet und sich dann selbst gerichtet? Während Friedelindes Lebenspartner, Kommissar Nicolas Sander, versucht, die undurchsichtige Familie der Toten zu durchleuchten, steht die Nachlasspflegerin nun vor der schwierigen Frage: Wer ist zuerst gestorben, Neffe oder Tante – und wer hat wen beerbt? Friedelinde ahnt nicht, dass ihre Nachforschungen sie schon bald in die Nähe einer dunklen Wahrheit führen, die für immer begraben bleiben sollte … Das furiose Finale der Bestsellerreihe um die eigenwillige Nachlasspflegerin Friedelinde Engel und Kommissar Nicolas Sander! Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der packende Kriminalroman »Stummer Zorn« von Angela Lautenschläger – der siebte Band der Bestsellerserie. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 494
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Nachwort
Lesetipps
Über dieses Buch:
Die düsteren Abgründe einer Familie … Als Nachlasspflegerin Friedelinde Engel die Erbschaft einer verstorbenen alten Dame sichten will, stößt sie in deren Villa auf den Schauplatz eines bisher unentdeckten Familiendramas: Der Neffe der Toten hat sich auf dem Dachboden erhängt – hat er seine Tante ermordet und sich dann selbst gerichtet? Während Friedelindes Lebenspartner, Kommissar Nicolas Sander, versucht, die undurchsichtige Familie der Toten zu durchleuchten, steht die Nachlasspflegerin nun vor der schwierigen Frage: Wer ist zuerst gestorben, Neffe oder Tante – und wer hat wen beerbt? Friedelinde ahnt nicht, dass ihre Nachforschungen sie schon bald in die Nähe einer dunklen Wahrheit führen, die für immer begraben bleiben sollte …
Das furiose Finale der Bestsellerreihe um die eigenwillige Nachlasspflegerin Friedelinde Engel und Kommissar Nicolas Sander!
Über die Autorin:
Angela Lautenschläger arbeitet seit Jahren als Nachlasspflegerin und erlebt in ihrem Berufsalltag mehr spannende Fälle, als sie in Büchern verarbeiten kann. Ihre Freizeit widmet sie voll und ganz dem Krimilesen, dem Schreiben und dem Reisen. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Katzen in Hamburg.
Bei dotbooks erschienen in der »Engel und Sander«-Reihe bereits folgende Kriminalromane:
»Stille Zeugen«
»Geheime Rache«
»Tödlicher Nachlass«
»Blindes Urteil«
»Gerechte Strafe«
»Brennende Angst«
Der Auftakt einer neuen Hamburg-Krimireihe, rund um die Anwältin Theresa Sommer und Kriminalkommissar Lukas Kampmann, wird im Juli 2021 erscheinen:
»Kalter Neid – Der erste Fall für Sommer und Kampmann«
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Originalausgabe Dezember 2020
Copyright © der Originalausgabe 2020 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Redaktion: Philipp Bobrowski
Titelbildgestaltung: © HildenDesign unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock.com
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-96655-442-8
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Angela Lautenschläger
Stummer Zorn
Ein Fall für Engel und Sander
dotbooks.
Das Licht ging wieder an.
Friedelinde schloss die Augen, aber der Lichtschein erhellte das ganze Schlafzimmer. Sie schlug die Augen auf. In diesem Augenblick ging das Licht erneut aus. Seufzend stützte sie sich auf den Ellenbogen. »Tut mir leid, Cäsar«, erklärte sie ihrem Kater, der am Fußende des Bettes lag, »aber ich kann bei dieser Lightshow nicht länger schlafen.«
Das war ärgerlich, denn sie hätte bis halb acht Uhr im Bett bleiben können, und jetzt war es erst halb sechs. Ächzend ließ sie sich in die Kissen fallen. So unruhige Nachbarn wie in dieser doch angeblich ruhigen Wohnstraße hatte sie nicht einmal im quirligen Ottensen erlebt, wo sie bis zum letzten Jahr gewohnt hatte. Ihre früheren Nachbarn zur Linken hatten die Bewohner der Straße mit Baulärm auf Trab gehalten. Wobei der Krach sich nicht als das größte Problem herausstellte. Stärker ins Gewicht fiel der Umstand, dass sie im Garagenfußboden zwei Leichen versteckt hatten. Die Nachbarn saßen jetzt im Gefängnis, und das Haus hatte eine Weile leer gestanden. Seit einigen Wochen wohnten Theresa und Tim Sommer im Nachbarhaus. Sie waren nette Leute, und Friedelinde hatte nichts an ihnen auszusetzen, aber Theresa litt unter einer Art Einbrecherphobie und sicherte das Haus mit einer Vielzahl von Sicherungsvorkehrungen. Jetzt ging regelmäßig die akustische und optische Alarmanlage los. Das bedeutete, dass der gesamte Garten mit einer Art Flutlicht erhellt wurde, selbst wenn nur ein Hase übers Gras hoppelte. Friedelinde nahm an, dass der Zeitungsjunge den jüngsten Lichtalarm ausgelöst hatte.
Draußen fuhr der Müllwagen vor und begann, klappernd die Restmülltonnen zu leeren. Nebenan ging das Licht wieder an. Friedelinde schlug die Decke beiseite. »Wahnsinn!«, schimpfte sie. »Wir müssen dringend blickdichte und geräuschabweisende Rollläden anbringen.« Sie kletterte aus dem Bett und ging von Cäsar gefolgt die Treppe hinunter. Mit nackten Füßen tappte sie über den Küchenfußboden. Das Deckenlicht musste sie nicht einschalten, die Küche war durch die Beleuchtung des Nachbargrundstücks hell genug. Nicolas hatte Kaffee gekocht, bevor er das Haus verlassen hatte.
Friedelinde nahm einen Becher aus dem Küchenschrank und wollte zur Kaffeemaschine zurückkehren. In diesem Moment ging das Licht nebenan aus. Dummerweise wählte Cäsar genau diesen Augenblick, um seinen Napf anzusteuern. Friedelinde stolperte über den Kater und konnte sich in letzter Minute am Esstisch auffangen. Allerdings rutschte ihr der Becher aus der Hand und zerbrach auf dem Küchenfußboden.
»Scheiße!« Vorsichtig tappte sie auf Zehenspitzen zum Lichtschalter.
Cäsar hatte sich unter dem Tisch verkrochen und sah sie aus großen Augen an.
»Ja, tut mir leid.« Friedelinde stieg in ihre Stiefel und holte Handfeger und Schaufel unter der Spüle hervor. »Dieser Tag fängt so verkackt an, der kann praktisch nicht mehr schlimmer werden.«
Zehn Minuten später saß sie am Küchentisch und trank Kaffee. Cäsar leerte seinen Futternapf, und in dieser idyllischen Situation erinnerte nichts mehr an das morgendliche Chaos. Mittlerweile war es hell. Drüben ging das elektrisch gesteuerte Garagentor auf, und Theresa lenkte ihren Wagen aus der Garage. Sie war Rechtsanwältin und arbeitete in ihrer eigenen Kanzlei in der Innenstadt. Ihr Mann Tim war Autor von Fantasyromanen und arbeitete zu Hause. Er war der bedeutend ruhigere Teil des Paares und mit der von Theresa eingebauten Haustechnik überfordert. Bei der Einweihungsparty waren ständig Licht und Musik ausgegangen, weil die Gäste den Takt klatschten und Tim den Schalter nicht fand, um die Automatik für den Geräuschimpuls abzustellen.
Cäsar beendete seine Mahlzeit und begann mit seiner Katzenwäsche. Friedelinde leerte ihren Kaffeebecher und ging duschen.
Eine Dreiviertelstunde später lief sie die Treppe hinunter und suchte im Arbeitszimmer ihre Sachen zusammen. Sie wollte eben das Haus verlassen, als das Telefon läutete.
»Engel.«
»Ha, so förmlich? Ich bin’s«, klang die Stimme ihrer Freundin Marie aus dem Hörer.
»Förmlich? Ich habe mich mit meinem Namen gemeldet.«
»Stimmt, genau betrachtet habe ich schon ganz andere Telefonate mit dir erlebt.«
»Marie, ich bin ein kleines bisschen in Eile.«
Friedelinde wusste zwar nicht, wie das geschehen konnte, aber obwohl sie eine halbe Stunde früher aufgestanden war als geplant, war ihr die Zeit irgendwie zwischen den Fingern zerronnen.
»Deshalb rufe ich an.«
»Um mich von meiner Arbeit abzuhalten?«
»Um dich daran zu erinnern, dass es noch etwas anderes als Arbeit gibt.«
»Das weiß ich, aber im Augenblick passt es deshalb nicht, weil ich um neun einen Termin habe und für den Weg eine Dreiviertelstunde brauche und es jetzt zwanzig nach acht ist.«
»Was?«, fragte Marie. »Egal, ich wollte dir einen Vorschlag machen. Ich bin inzwischen kugelrund und will gern nach Deutschland kommen, solange ich noch auf einen Flugzeugsitz passe.«
»Das ist echt toll, Marie.« Friedelinde warf einen Blick auf die Uhr. Fünf vor halb neun. »Ich muss jetzt los. Ich ruf dich heute Nachmittag noch mal an.« Friedelinde warf den Hörer auf die Gabel und verließ das Haus.
Sie schloss eben die Haustür ab, als sie hinter sich eine bekannte Stimme hörte. »Ah, guten Morgen, auf dem Weg zur Arbeit?«
Die Nachbarin von gegenüber, Else Bürger, stand mit ihrem Hackenporsche auf dem Gehweg vor dem Haus und wartete darauf, dass ihr Mann Egon seinen Wagen aus der Garage fuhr.
Friedelinde lief zu ihrem Auto, das sie auf dem kleinen Stellplatz vor ihrem Haus abgestellt hatte. »Richtig, Frau Bürger, und ganz schrecklich in Eile.« Sie stieg ein, schlug die Wagentür zu und setzte zurück, wobei sie sich bemühte, Else Bürger nicht zu überfahren.
Mit etwas zu viel Gas verließ sie den Meisenstieg und fuhr Richtung Autobahnauffahrt. Sie war wirklich gespannt, was der Tag noch für sie bereithielt. Wegen der morgendlichen Hektik konnte sie sich noch nicht so richtig darüber freuen, Marie bald wiederzusehen. Früher in Ottensen waren sie Nachbarn gewesen, aber seit einer Weile lebte Marie in Spanien, und ihr Kontakt bestand im Wesentlichen aus Telefonaten und Gesprächen per Skype. In Spanien lebte Marie mit ihrem Ehemann und den Zwillingen Raphael und Gabrielle, jetzt erwartete sie ihr drittes Kind. Möglicherweise löste das eine Art Torschlusspanik bei Marie aus, die vor der Geburt noch einmal nach Deutschland reisen wollte.
In Gedanken versunken kam Friedelinde ihrem Vordermann ziemlich nahe, und als dessen Bremslichter aufleuchteten, musste sie ebenfalls auf die Bremse steigen. Sie sollte sich dringend auf den Tag konzentrieren und ihre Pläne für Marie auf später verschieben.
Vor dem Gerichtsgebäude stellte sie den Wagen auf den letzten freien Platz, der sich neben einem Glascontainer befand und den die früher eingetroffenen Besucher verschmäht hatten. Sie flitzte in das Gericht, nahm zwei Stufen auf einmal und kam außer Atem vor der Tür des Rechtspflegers an. Die Hand bereits auf der Türklinke atmete sie noch einmal tief durch.
»Guten Morgen«, grüßte sie beim Eintreten.
»Morgen, Frau Engel.« Der Rechtspfleger Zinn sah sie hinter einem Aktenberg hervor an. »Geht’s Ihnen gut? Sie sehen ein wenig mitgenommen aus.«
»Mir geht’s prima. Danke.« Mit ihren morgendlichen Erlebnissen wollte sie den armen Mann wirklich nicht behelligen. Friedelinde setzte sich.
»Schön.« Herr Zinn sortierte ein paar Akten auf seinem Tisch und schlug dann eine dünne Akte auf. »Das ist eine etwas merkwürdige Sache«, begann er.
Merkwürdige Sachen sind meine Spezialität, dachte Friedelinde.
»Gestorben ist Gertrud Heinemann. Der Pflegedienst sagt, dass es einen Neffen gibt, Erich Mattfeld. Der kommt wohl als Erbe in Betracht, ist aber irgendwie vom Erdboden verschwunden.«
»Verschwunden?«, wiederholte Friedelinde.
»Ja, der hat sie wohl immer besucht, aber auf mein Schreiben reagiert er nicht. Und da es ein nicht unbeträchtliches Vermögen gibt, besteht Handlungsbedarf.« Herr Zinn reichte Friedelinde das Verpflichtungsprotokoll, auf dem sie mit ihrer Unterschrift bestätigte, dass sie die Nachlasspflegschaft ordnungsgemäß abwickeln würde. Anschließend erhielt sie eine Kopie der Gerichtsakte, und damit war ihre Verpflichtung zur Nachlasspflegerin abgeschlossen.
Sie steckte die Kopie ein und erhob sich. Herr Zinn warf ihr einen Blick zu, der sie einen Augenblick innehalten ließ. Sie hatten, was nicht ganz unkomplizierte Nachlasspflegschaften anbetraf, eine gemeinsame Vergangenheit. Aber dann war der Moment vorüber, und er wünschte ihr viel Spaß bei der Arbeit.
Gertrud Heinemann hatte eine zweistöckige Villa in Othmarschen bewohnt. Das Haus war weiß gestrichen, an beiden Ecken der Front waren Erker angebracht. Durch einen gepflegten Vorgarten führte ein leicht geschwungener, gepflasterter Weg zum Eingang. Friedelinde stellte ihren Wagen in die Zufahrt vor einer geschlossenen Garage. Den Schlüssel hatte Friedelinde beim Pflegedienst abgeholt und zog ihn aus der Jackentasche. Es war jedes Mal eine spannende Sache, das Haus eines Verstorbenen zu betreten. Man wusste nie, was einen hinter der Tür erwartete. Immerhin machte der Garten einen guten Eindruck, und die Erblasserin war von einem Pflegedienst betreut worden, was sie hoffen ließ, dass es sich weder um einen Messiehaushalt noch um ein vermülltes Haus handelte. Friedelinde legte den Kopf in den Nacken und sah an der Fassade empor. Allerdings war es ein großes Haus, was bedeutete, dass sie eine Weile brauchen würde, um das Innere in Augenschein zu nehmen. Friedelinde steckte den Schlüssel ins Türschloss.
Das Haus war ein Traum. Als Erstes betrat man eine großzügige Eingangshalle mit gefliestem Boden. Große weiße Fliesen wurden von kleinen schwarzen Fliesen, die auf der Spitze standen, verbunden. Auf einem antiken runden Tisch stand eine große Porzellanvase mit verblühten weißen Lilien. Von der Eingangshalle gingen vier Türen ab.
Links lag ein elegant eingerichteter Wohnraum. Staub bedeckte die Möbel. Offenbar war der Raum lange nicht genutzt worden.
Die Küche war mit cremefarbenen Möbeln aus den Siebzigern möbliert, auf der Schranktür oberhalb der Spüle klebte ein Essensplan, auf dem der Pflegedienst notiert hatte, was Gertrud Heinemann zu den Mahlzeiten zu sich nahm. Morgens hatte sie Weißbrot mit Honig bekommen, wobei die Rinde abgeschnitten werden sollte. Mittags gab es Brühe und eine Banane, abends Weißbrot mit Leberwurst. Alternativ Hüttenkäse. An der Schranktür daneben hing der Medikamentenplan, der morgens sechs, mittags vier und abends noch einmal vier Tabletten vorsah. Für Friedelinde ein krasses Missverhältnis zwischen der Menge von Nahrungsmitteln und Medikamenten.
Das Schlafzimmer im ersten Stock glich einem Krankenzimmer. Dort stand ein Pflegebett, und auf dem Buffet waren ein angebrochener Karton mit Latexhandschuhen, Tüten mit Windeln für Erwachsene, Medikamente und einige Pflegemittel aufgereiht.
Im ersten Stock gab es noch zwei weitere ungenutzte Räume. Friedelinde durchstöberte die massiven Eichenschränke und Betten nach wichtigen Dokumenten und Bargeld. Sie hatte schon an den absonderlichsten Plätzen Testamente oder bündelweise Geldscheine gefunden. Man konnte nie sicher sein, alle Verstecke Verstorbener zu finden, aber die üblichen Stellen wie Wäschestapel und Backöfen durchsuchte sie jedes Mal.
Nach zwei Stunden hatte sie sämtliche Schränke im Erdgeschoss und im ersten Stock abgesucht. Während einer solchen Durchsuchung war Friedelinde aufmerksam bei der Sache, und es kam ihr auch gar nicht merkwürdig vor, sich allein in einem fremden Haus zu befinden. Sie war viel zu sehr damit befasst, wichtige von unwichtigen Dokumenten zu unterscheiden, festzustellen, welche Unterlagen sie benötigte, und möglichst keine Ecken zu übersehen, in denen sich etwas für sie Nützliches befinden konnte. Aber wenn alles getan war und sie ihre Aktentasche schloss, dann spürte sie plötzlich die Abgeschiedenheit von der Außenwelt und sehnte sich danach, einem lebendigen Menschen gegenüberzutreten.
Das war auch heute so, aber als sie die Eingangshalle auf dem Weg zur Haustür durchquerte, erinnerte sie sich wieder an die Erker an den Hausecken. Keiner der Räume im oberen Stockwerk verfügte über solche Erker. Das hieß, dass die Erker vielleicht nur eine Art Zierrat waren oder dass es ein weiteres Geschoss geben musste. Dieser Frage wollte sie schon noch nachgehen. Also stellte sie ihre Tasche neben der Treppe ab und ging noch einmal nach oben.
Die beiden äußeren Räume hatten tatsächlich keine Erker, aber hinter einer Tapetentür im Schlafzimmer entdeckte sie eine aus kaum bearbeitetem Holz bestehende Stiege, die auf einen Dachboden führte. Einen Lichtschalter fand sie nicht, aber sie schaltete die Taschenlampe an ihrem Smartphone an und stieg hinauf.
Dort oben war es ziemlich staubig und unordentlich, und es roch merkwürdig. Ein ihr eigentlich nur allzu gut vertrauter Geruch, den sie aber nicht wahrhaben wollte.
Das Erste, was Friedelinde sah, als sie das Ende der Treppe erreichte, waren eine Menge Kartons und ein zerschlissenes Sofa. Ächzend schob sie das Sofa ein Stück beiseite, um den Boden betreten zu können. Hier oben gab es zwei Dachfenster, durch die Sonnenlicht fiel, sodass sie abgestellte Möbel und noch mehr Kartons sehen konnte. Dazu, das alles zu sichten, hatte sie heute keine Lust. Das würde sie später machen.
Nachdem sie sich besser orientiert hatte, entdeckte sie auch die Erker an zwei Ecken des Dachbodens.
Friedelinde wollte eben zur Treppe zurückkehren, als ihr Blick von etwas gefangen wurde, das sie erschauern ließ. Erschrocken schlug sie sich eine Hand vor den Mund. Vermutlich hatte sie gerade Gertrud Heinemanns Neffen gefunden.
Kriminalhauptkommissar Nicolas Sander legte die Füße auf seinen Dienstschreibtisch und verschränkte die Hände im Nacken. »Sag das noch mal.«
»Was?« Sein Kollege Gernot Hagemann schichtete sorgfältig einen Stapel Ausdrucke aufeinander.
»Was du eben gesagt hast.«
»Hast du das nicht verstanden, oder warum?«, fragte Gernot und schob den Papierstapel in seinen Locher. »Waren doch nur fünf Wörter.«
»Ja, aber was für welche.«
»Wie, was für welche.« Vergeblich versuchte Gernot, den Hebel des Lochers runterzudrücken. »Ganz normale Wörter.«
»Ganz normal finde ich die nicht. Also, schon normal, aber doch mit einer gewaltigen Sprengkraft.«
Gernot stand auf, schob seinen Stuhl ein Stück zurück und stützte sich mit beiden Händen auf dem Hebel ab. Grinsend verfolgte Sander, wie Gernot sich abmühte. Er setzte die ganze Kraft seines Oberkörpers ein, der Hebel sauste nach unten, das Gerät stanzte zwei Löcher in den Papierstapel, und der Hebel schnellte wieder nach oben. Erschöpft ließ sich Gernot auf seinen Stuhl fallen.
»Ich bin nicht sicher, ob du deine Eheschließung noch erleben wirst, Gernot. Immerhin übst du einen ausgesprochen gefährlichen Beruf aus. Und ich spreche da nicht von Schießereien.«
Gernot rieb sich die Handflächen. »Ich werde einen Antrag auf einen elektrischen Locher stellen. So was gibt es doch, oder?«
»Ich hab keine Ahnung, Gernot. Und du brauchst jetzt auch nicht das Thema zu wechseln.«
Gernot griff mit beiden Händen nach der Tischkante und zog sich an den Schreibtisch heran. »Ich werde dir den Gefallen tun. Ich sagte, dass Betty und ich heiraten werden.«
Sander verstärkte sein Grinsen. »Das ist so eine starke Nachricht, dass alle vor Begeisterung kopfstehen werden. Wenn ich das Friedelinde erzähle, wird sie mir sofort Löcher in den Bauch fragen. Wann, wie, was soll ich anziehen und so.«
»Eigentlich hatte ich ja gedacht, dass ihr beide noch vor uns heiraten werdet«, erklärte Gernot. »Aber bis du dich endlich durchringst, darauf kann ja kein Mensch warten.«
»Mit dem Heiraten ist das so eine Sache, Gernot. Ich weiß das. Ich war schon mal verheiratet. Und Friedelinde ist eben etwas Besonderes. Da will ich nichts falsch machen.«
Gernot sah auf. »Und deshalb heiratest du sie nicht?«
Sander kniff die Augen zusammen. »So, wie du es sagst, klingt es irgendwie merkwürdig.«
»Das liegt daran, dass es merkwürdig ist. Wenn man eine Frau nicht heiratet, um nichts falsch zu machen, ist das genau genommen die Definition von merkwürdig.«
Sander seufzte. »Okay, können wir also wieder zu deiner Eheschließung zurückkehren? Wann und wie heiratet ihr?«
»Oh, wir heiraten im Herbst. Betty macht gerade Karten für alle Gäste fertig. Du weißt schon. Save the date. Dann können wir sicher sein, dass sich die Leute bis dahin nichts anderes für den Termin vornehmen. Und unsere Planung können wir dann in aller Ruhe machen. Wir dachten an einen etwas außergewöhnlichen Ort und eine große Gesellschaft.«
»Hm.« Gernots Pläne brachten ihn irgendwie in Zugzwang. Nicht nur, dass er sich überhaupt mal dazu durchringen musste, Friedelinde einen würdigen Heiratsantrag zu machen, sie würden ebenfalls Pläne machen müssen. Und er konnte wirklich nur hoffen, dass er sich beim zweiten Mal als ein besserer Ehemann erweisen würde.
»Würdest du das machen?«
Sander sah auf. Er war so in Gedanken gewesen, dass er Gernot nicht richtig zugehört hatte. »Was?«
»Junggesellenabschied, du weißt schon. Wir Jungs ziehen um die Häuser.«
»Da bin ich dabei.«
»Wenn du den Junggesellenabschied planst, bist du natürlich dabei.« Gernot klappte einen leeren Aktendeckel auf.
»Planen?« Sander nahm die Füße vom Tisch. »Ich?«
»Das war es, worum ich dich gebeten habe.« Gernot heftete den Papierstapel ein.
»Oh.« Sander sah sich schon mit Gernot und ein paar anderen Kerlen über den Kiez ziehen, in Oben-ohne-Bars zu viel Geld ausgeben und im Morgengrauen sternhagelvoll ins Bett fallen.
»Und ich würde mich freuen, wenn dir etwas anderes einfällt als irgendwelche Tittenbars und Besäufnisse bis zum Morgengrauen.«
Sander blinzelte. »Hast du eben Tittenbars gesagt?«
Gernot klappte die Akte zu. »Hab ich. Wenn dich der Begriff schockiert, können wir auch gern Oben-ohne-Bars sagen. Aber da wir in solche Dinger nicht reingehen, ist es letztlich auch egal, wie wir sie nennen.«
»Kann ich dich noch was fragen?«, fragte Sander.
»Sicher. Was möchtest du wissen?«
»Was genau verstehst du unter etwas anderes als Tittenbars und Besäufnisse? Ich dachte immer, das gehört zu einem Junggesellenabschied dazu.«
Gernot lächelte. »Das herauszufinden ist deine Aufgabe.«
»Aber …« Sander wurde vom Läuten seines Handys unterbrochen. Das Display zeigte Friedelindes Namen an. »Hi. Was gibt’s?«
»Erinnerst du dich noch daran, wie wir uns kennengelernt haben?«
Selbstverständlich erinnerte er sich. An jede Einzelheit. Damals war ein Anruf in der Zentrale eingegangen, dass eine Nachlasspflegerin eine Leiche gefunden habe. Er hatte keine Ahnung gehabt, was eine Nachlasspflegerin war und was sie so machte. Vorgefunden hatte er eine entzückende junge Frau mit viel zu großer Mütze auf dem Kopf, einer Nase, rot von einer beginnenden Erkältung und dem Schnaps, den die Nachbarin ihr gegen den Schock eingeflößt hatte. Ein bisschen zickig war sie gewesen. Okay, und anschließend hatte er die Dinge erst mal versemmelt, aber inzwischen war er sehr glücklich mit ihr.
»Also, wenn es so lange dauert, bis du dich erinnerst, kann es ja nicht so toll gewesen sein«, beklagte sich Friedelinde.
»’tschuldigung, ich war in Gedanken. Also?«
»Na ja, ich hab doch damals diese Leiche gefunden.«
Die Härchen auf seinen Unterarmen stellten sich auf. »Und?«
»Tja, damals lag sie im Keller.«
»Und?«
»Diesmal ist sie auf dem Dachboden.«
»Friedelinde!«
»Ja, entschuldige, kann ich doch nichts für. Außerdem sollte ich ihn doch finden.«
»Wen?«, fragte er ungeduldig.
»Den Neffen. Und ich glaube, ich habe ihn gefunden.«
Sander ließ sich die Adresse geben und legte auf.
»Irgendetwas Ungewöhnliches?«, erkundigte sich Gernot.
»Nein.« Sander schob seine Schreibtischschublade zu. »Friedelinde hat eine Leiche gefunden.«
Sander regte sich auf, als sie mit dem Fahrstuhl ins Untergeschoss des Präsidiums fuhren, wo sie in ihren Dienstwagen einstiegen, er motzte auf der Fahrt nach Othmarschen vor sich hin, und er war immer noch aufgebracht, als sie vor der Villa von Gertrud Heinemann hielten.
»Sander?«, sagte Gernot, bevor sie ausstiegen.
»Was!«, schnauzte Sander ihn an.
Gernot legte ihm die Hand auf den Arm.
Missmutig sah Sander auf Gernots Hand. »Wird das jetzt irgend so eine verdammte Achtsamkeitsübung, oder was?«
»Nein, das ist nur eine übliche Methode, um einen wütenden Menschen auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Friedelinde kann nichts dafür. Wenn sich auf dem Dachboden eine Leiche befindet, hat sie sie nur gefunden. Sie hat sie nicht da hingehängt, um dich aufzuregen.«
»Da bin ich mir inzwischen nicht mehr so sicher«, schnaubte Sander. »Hat uns schon mal irgendein anderer Nachlasspfleger angerufen und einen Leichenfund gemeldet?«
»Nicht in der letzten Zeit.«
»Siehst du. Und davor auch nicht. Das ist doch nicht normal! Irgendwas macht sie doch, damit gerade sie die Pflegschaften kriegt, bei denen irgendwo eine Leiche rumliegt.«
»Wie soll das denn gehen? Das Gericht sucht den Nachlasspfleger aus, und das Gericht weiß doch auch nicht, dass da eine Leiche rumliegt.« Gernot nahm seine Hand von Sanders Arm und öffnete seinen Gurt.
»Das ist ja vermutlich auch eher so eine mentale Sache. Der Rechtspfleger sitzt da in seiner Amtsstube, und dann denkt er, in dieser Sache stimmt doch irgendwas nicht, da bestellen wir mal lieber gleich die Engel.« Sander zog den Schlüssel aus dem Zündschloss. Als Gernot keine Anstalten machte auszusteigen, warf Sander ihm einen Blick zu.
»Meinst du das jetzt ernst?«, fragte Gernot.
»Das ist doch die einzige Erklärung. Oder fällt dir sonst ein Grund dafür ein?«
»Zufall«, sagte Gernot und stieg aus.
Sander folgte ihm.
Friedelinde stand in der geöffneten Gartenpforte und sah ihnen entgegen. Es war doch nicht normal, dass er morgens seine schlafende Freundin im Bett zurückließ und sie dann ein paar Stunden später irgendwo antraf, wo sie gemeinsam eine Leiche betrachteten.
Sie öffnete den Mund, aber Sander hob den Zeigefinger. »Sag jetzt nichts.«
Friedelinde klappte den Mund wieder zu.
Sander steuerte das Haus an und legte die Hand auf den Türknauf. Die Tür ließ sich nicht öffnen. »Die Tür ist zu!«, rief er über seine Schulter.
Friedelinde trat wortlos neben ihn, schob den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Haustür.
Sander stürmte an ihr vorbei in die Eingangshalle und die Treppe hoch. Was hatte sie noch gesagt? Letztes Mal lag die Leiche im Keller, diesmal auf dem Dachboden. Wo war jetzt dieser verdammte Dachboden? Es gab keinen Dachboden! Sander lief durch alle Räume und suchte eine weitere Treppe, aber er fand keine.
»Wo ist dieser verdammte Dachboden?«, rief er über das Geländer in die Halle hinunter, wo Friedelinde und Gernot standen.
Gernot legte den Kopf in den Nacken und sah zu ihm hoch. »Ich vermute mal, da oben.«
Sander schickte ihm einen bösen Blick. »Also?«, fragte er Friedelinde.
»Ich darf nichts sagen.«
Er kniff die Augen zusammen. »Wo?«
»Im Schlafzimmer gibt’s eine Tapetentür, dahinter liegt die Treppe.«
Sander stützte sich vom Geländer ab und ging ins Schlafzimmer, dann kehrte er wieder zurück. »Du fährst jetzt sofort nach Hause und bleibst da. Und du gehst nach draußen und wartest auf die Kollegen von der Spurensicherung.«
Die beiden Spaßvögel in der Halle wechselten Blicke.
»Ich glaube, er meint, du sollst nach Hause fahren«, sagte Friedelinde zu Gernot.
»So, genug rumgekaspert, ihr beiden. Gernot!«
»Jawohl.« Gernot fasste Friedelinde und verließ mir ihr das Haus.
Sander zog Latexhandschuhe aus der Jackentasche und stieg die Treppe auf den Dachboden hinauf. Oben sah es aus, wie es auf einem durchschnittlichen Dachboden eben so aussah. Sander blieb auf der letzten Treppenstufe stehen. Auf den staubbedeckten Bodendielen konnte er erkennen, dass das Sofa verschoben worden war. Von der Treppe führten Fußspuren einer Frau weg. Er hätte ein Monatsgehalt darauf verwettet, dass die von Friedelinde stammten. Den Toten konnte er von hier aus mehr ahnen als sehen. Er sah ein Seil an einem Dachbalken hängen und daran einen Männerkopf. Den Blick auf den Körper versperrte ihm ein Stapel Kartons. Aber er wollte jetzt den Spuren nicht noch weitere hinzufügen und würde sich gedulden, bis die Spurensicherung da gewesen war.
Er stieg die Treppe wieder hinunter und sah sich im Schlafzimmer um. Es war eingerichtet wie das seiner Großeltern, die Schranktüren des riesigen Kleiderschranks mit cremefarbenen Kunststoffplatten verblendet und alle Möbel viel zu wuchtig. Die Matratzen waren nackt, und überhaupt sah der Raum ungenutzt aus. Er musste Friedelinde dringend fragen, wer hier alles wohnte. Der Tote vermutlich. Was hatte sie noch gesagt: Sie hätte den Neffen gefunden. Wenn das da oben ein Neffe war, musste es hier irgendwo eine Tante oder einen Onkel geben. Verwandtschaftliche Beziehungen aufzudröseln gehörte nicht gerade zu seinen Kernkompetenzen, aber für Onkel und Neffe reichte es gerade noch.
Sander verließ das Schlafzimmer und lief die Treppe hinunter in die Eingangshalle. Er fand Gernot auf dem Gartenweg vor dem Haus. Allein.
»Wo ist Friedelinde?«
»Nach Hause gefahren.« Gernot beugte sich vor und schnupperte an einer blühenden Rose.
»Nach Hause? Sie muss noch eine Zeugenaussage machen.« Sander deutete auf das Haus. »Wessen Hütte ist das, wer hängt da oben auf dem Dachboden herum, und was hat sie hier alles angegrabbelt.«
Gernot richtete sich wieder auf. »Hätte ich auch gedacht, dass wir sie erst mal befragen, meine ich. Aber du meintest ja, sie solle auf direktem Wege nach Hause fahren.«
Sander fuhr sich durchs Haar. »Sie macht doch sonst auch nicht, was ich ihr sage.«
Gernot sah ihn an. »Du hast gesagt, sie soll nach Hause fahren, weil du wolltest, dass sie hierbleibt? Heißt das im Umkehrschluss, dass, wenn du gesagt hättest, sie solle hierbleiben, sie sofort nach Hause gefahren wäre?«
»Was?« Sander zog sein Smartphone aus der Tasche. »Du machst das doch auch nicht erst seit heute. Du weißt doch, dass sie unbedingt aussagen muss.«
Gernot wippte auf den Zehenspitzen. »Wie gesagt, ich hätte sie hierbehalten.« Er betrachtete seine Fingernägel. »Aber du sagtest, dass sie sofort nach Hause soll.«
»Gernot?«
»Hm?«
»Wenn du noch einmal sagst, dass ich gesagt hätte, dass Friedelinde sofort nach Hause gehen soll, dann …«
»Was dann?«
»Dann schreie ich.«
Gernot grinste. »Ehrlich?«
Sander drückte auf Friedelindes Eintrag in seinem Handy.
Friedelinde stieg in ihr Auto, zog die Fahrertür zu und lehnte die Stirn gegen das Lenkrad. Was stimmte nicht mit ihr? Es war zwar nicht so, dass sie jeden zweiten Tag auf eine Leiche stieß, aber es war nicht das erste Mal, dass es ihr passierte. Bisher hatte sie diese Erlebnisse einigermaßen verkraftet, aber diesmal steckte ihr der Anblick in den Knochen.
Ein Erhängter auf einem Dachboden. Und vermutlich der Mann, der eigentlich etwas geerbt hätte. Wenn man so ein schönes Haus erbte, war das eigentlich kein Grund, Selbstmord zu begehen. Aber vielleicht hatte er vorher die Tante umgebracht. Oder vielleicht war er selbst umgebracht worden. Und wer steckte wieder mal mittendrin in diesem Kuddelmuddel? Friedelinde Engel, Nachlasspflegerin. Normal war das nicht. Und normal war es auch nicht, dass ihr die Sache derart zu schaffen machte. Als Nicolas und Gernot eintrafen, war sie wirklich sehr erleichtert gewesen. Und als Nicolas gesagt hatte, dass sie sofort nach Hause fahren sollte, war sie noch viel erleichterter gewesen.
Plötzlich sehnte sie sich danach, nach Hause zu kommen, Cäsar zu kraulen, sich einen heißen Tee zu kochen und sich aufs Sofa zu hauen. Sollte die ganze Arbeit doch warten. Sie durfte ja ohnehin nichts unternehmen, weil die polizeilichen Ermittlungen Vorrang hatten. Das hieß nicht, dass sie nicht die Unterlagen aus dem Haus mitgenommen hatte, die sie für ihre Arbeit benötigte. Aber das lag eigentlich nur daran, dass sich die Sachen schon in ihrer Aktentasche befunden hatten. Es war sozusagen eher ein Versehen gewesen, dass sie sie mitgenommen hatte.
Als sie eine Dreiviertelstunde später den Wagen vor dem Haus abstellte, läutete ihr Telefon. Nicolas rief an.
»Wie geht es dir?«
»Mir ist schlecht, und ich muss mich dringend hinlegen.«
»Hm. Bist du zu Hause?«
»Ja.«
»Tut mir leid, dass ich dich eben angeschnauzt habe. Ich hab nur irgendwie so ein Gefühl.«
»Was für ein Gefühl?«, fragte Friedelinde und hoffte auf die Antwort Liebe.
»Ein mulmiges«, lautete die ernüchternde Antwort. »Dass du vielleicht nicht immer so viel Glück hast. Vielleicht steht eines Tages der Täter noch hinter der Tür, wenn du so ein Haus betrittst.«
»Vielen Dank. Jetzt fühle ich mich schon viel besser.«
»Du weißt schon, was ich meine.«
»Willst du mir noch was über deine Gefühle erzählen, oder kann ich ins Haus gehen?«
»Du kannst reingehen und drinnenbleiben. Wenn wir hier fertig sind, kommen Gernot und ich vorbei und nehmen deine Aussage auf.«
»Von mir aus. Bis später.« Friedelinde drückte das Gespräch weg. Sie stieg aus und schlug die Fahrertür zu.
»Ach, Frau Engel. Schon wieder zurück?« Else Bürger zog ihren sichtlich schweren Hackenporsche über den schmalen Weg von der Garage zum Haus, während Egon Bürger den Škoda Octavia in die Garage stellte.
Vielleicht sollte Theresa Sommer Else Bürger auf einen Aussichtsturm in ihren Garten setzen. Dann bräuchte sie weder einen Bewegungsmelder noch einbruchsichere Schlösser.
»So isses«, bestätigte sie. »Und selbst? Ordentlich eingekauft?«
»Ich sag es Ihnen. Die haben drüben im Discounter Schattenmorellen im Angebot.«
»Und da haben Sie richtig zugeschlagen?«
»Ja, sicher.« Else Bürger stellte den Einkaufswagen ab. »Passt ja zu so vielem. Milchreis, Pfannkuchen, und mein Egon liebt ja Schwarzwälder Kirschtorte. Da nehm ich den Saft, dick den ein bisschen mit Geliermittel an, und die schönsten Kirschen kommen oben auf die Torte.«
»Hm«, machte Friedelinde nachdenklich. Sie hatte schon seit Ewigkeiten nicht mehr gebacken. Könnte sie eigentlich mal tun. Außer für den Weihnachtsbraten hatte sie den Backofen ihres funkelnagelneuen Herdes so gut wie nie benutzt. Sie war nicht so der Typ fürs Plätzchenbacken, und das vergangene Weihnachtsfest war auch nicht dazu geeignet gewesen, damit anzufangen. Zum einen hatte ihr Fuß in Gips gesteckt, zum anderen war sie auf der Jagd nach Mördern gewesen. Überhaupt verbrachte sie ziemlich viel Zeit mit der Suche nach einem Täter. Vielleicht sollte sie umsatteln und häuslicher werden. »Alles klar, Frau Bürger. Dann wünsch ich Ihnen einen angenehmen Nachmittag. Schönen Gruß an Ihren Egon.«
»Richte ich aus, meine Liebe. Richte ich aus.«
Friedelinde schloss die Haustür auf und betrat den Flur. Wenn Cäsar den ganzen Tag allein gewesen war, kam er ihr immer mit Mitleid heischender Miene entgegen, um sich für einen einsamen Tag entschädigen zu lassen. Wenn sie so kurz wie heute weg gewesen war, machte sich der Faulpelz nicht einmal die Mühe, von seinem Lieblingssessel aufzustehen. Er öffnete ein Auge, als Friedelinde ihn hinter dem Ohr kraulte, aber bewegte sich ansonsten nicht mehr als nötig.
Sie ging in die Küche und stellte den Wasserkocher an. Ein Blick in den Küchenschrank sagte ihr, dass sie eine angebrochene Tüte Mehl und einen Rest Zucker hatte. In einer Schachtel fand sie ein Tütchen Backpulver, das nur drei Monate über die Zeit war. Das würde keinen allzu spektakulären Kuchen ergeben, aber vielleicht konnte sie das Puddingpulver verwenden, das sie neulich hinten im Schrank entdeckt hatte. Weder sie noch Nicolas aßen Pudding, aber für eine Kuchenfüllung wäre es vielleicht geeignet.
Sie gab die Zutaten für den Kuchenteig in eine Rührschüssel, wobei sie die Mengenverhältnisse schätzte, heizte den Herd vor und fettete eine Backform ein. Als sie zehn Minuten später den Kuchen in den Ofen schob, merkte sie sich die Uhrzeit und verließ das Haus.
Ihr Nachbar Tim arbeitete zu Hause und trank Milch. Und anders als Else Bürger gehörte er nicht zu der eher neugierigen Art Nachbarn, weshalb Friedelinde sich dafür entschieden hatte, ihn um Milch zu bitten.
Sie läutete und hörte schlurfende Schritte im Flur, dann öffnete Tim. Er sah aus, als hätte er drei Nächte unter der Brücke geschlafen.
»Oh, sorry, hab ich dich geweckt?«
»Wie?« Tim fuhr sich durch die zerzausten Haare. »Nee, ich sitz am Schreibtisch, aber ich häng fest. Komm rein.«
Friedelinde betrat das Haus. Früher, als es noch Magda Werdermann gehört hatte, waren die Fliesen alt und die Optik unmodern gewesen. Theresa mit ihrem Faible für eine moderne, elegante Einrichtung hatte im Innern des Hauses keinen Stein auf dem anderen gelassen. Die Böden waren mit cremefarbenem Marmor ausgelegt, die Wände weiß gestrichen, und der alte Schuhschrank war einer Glasvitrine gewichen, die eine blaue Glasvase beherbergte. Für Friedelinde waren das zwei Gefahrenquellen auf einmal: Bei ihr wären ständig Fußspuren auf dem Boden zu sehen, und die Vitrine hätte sie schon mehrfach versehentlich umgestoßen.
»Kann ich dir was anbieten?«
»Ein bisschen Milch. Also nicht zum Trinken, sondern zum Backen.« Friedelinde seufzte. »Hast du einen halben Liter Milch für mich?«
»Kein Problem.«
Sie folgte Tim in die Küche, wo er die Kühlschranktür öffnete. Darin waren die Lebensmittel ordentlich aufgereiht. Friedelinde nahm es Theresa übel, dass sie es schaffte, einen perfekten Haushalt zu führen, obwohl sie noch weniger zu Hause war als Friedlinde. Der chaotische Tim dürfte für die Ordnung eher nicht verantwortlich sein. Er nahm eine Packung Milch in die Hand und schüttelte sie ein bisschen, dann griff er nach einer anderen.
»Nimm mal lieber die. Die ist noch voll. Brauchst du sonst noch was? Eier oder so?«
»Nee, den Rest habe ich selbst. Danke.« Friedelinde betrachtete die Milchpackung. Das Mindesthaltbarkeitsdatum war noch fünf Tage entfernt. Dieses MHD war irgendwie bezeichnend für den Unterschied zwischen ihr und Theresa: Bei Theresa lag es fünf Tage in der Zukunft, bei ihr läge es fünf Tage zurück. Wenn sie denn überhaupt Milch im Haus hätte.
»Alles in Ordnung mit dir? Du siehst ein bisschen mitgenommen aus.«
»Hm. Hab wieder eine Leiche entdeckt.«
»Echt? Erzähl.« Tim zog einen weiß gestrichenen Küchenstuhl im Shabby-Chic-Design unter dem Esstisch in schwedischer Optik hervor. »Setz dich. Kaffee?«
Friedelinde ließ sich auf den Stuhl plumpsen. »Ja, gern.«
Tim drückte ein paar Knöpfe an seinem Kaffeeautomaten und stellte Friedelinde eine Tasse hin.
»Also?« Er setzte sich ihr gegenüber und wirkte plötzlich überhaupt nicht mehr verschlafen. Friedelinde hatte eher den Eindruck, dass er gleich seinen Laptop holen und mitschreiben würde.
»Tja, viel zu erzählen hab ich noch nicht. Eine sehr alte Dame ist gestorben, und auf ihrem Dachboden hängt ein Toter am Balken.«
»Ja, wie? Die Geschichte muss doch noch weitergehen?«
»Ja, klar geht die noch weiter, aber mehr weiß ich noch nicht. Kann sein, dass es der Neffe der alten Dame ist. Das Gericht hat ihn gesucht und mehrfach angeschrieben, aber er hat nicht reagiert.«
»Ist er denn ihr Erbe?«
»Vermutlich.«
Tim nahm einen Salzstreuer aus Edelstahl vom Tisch und spielte damit herum. »Na ja, wo er jetzt tot ist, kann er ja nicht mehr erben.«
»Dann nicht, aber wenn er noch gelebt hat, als die alte Frau starb, hat er sie noch beerbt.«
»Aha? Aber jetzt ist er doch tot.«
»Aber jetzt hat der Neffe Erben.«
»Und dann erben die alles?« Tim wollte den Streuer abstellen, der aber umfiel und einen Teil seines Inhalts auf der Tischplatte verstreute. Theresa würde auch dafür eine Lösung haben. Vermutlich verwahrte sie irgendwo einen praktischen Tischstaubsauger.
»Wenn das Erbe der Tante in den Nachlass des Neffen fällt, erben die Erben des Neffen das Erbe.«
Tim warf ihr einen Blick zu, der den Blicken ähnelte, mit denen Nicolas sie bedachte, wenn er an ihrem Verstand zweifelte.
»Ich erklär es dir lieber ein andermal. Jetzt hab ich einen Kuchen im Ofen.«
»Tatsächlich?«
Friedelinde erhob sich. So weit war es schon gekommen, dass die Leute sie für seltsam hielten, wenn sie einen Kuchen backte.
Tim stützte sich auf dem Tisch ab und stand auf. »Und ich setz mich wieder an den PC.«
»Schreibblockade aufgehoben?«, fragte Friedelinde.
»Wie? Nee. Mit meinem Fantasyroman weiß ich im Augenblick nicht weiter, aber du hast mich eben auf eine Idee gebracht. Du hast doch nichts dagegen, wenn ich deinen Fall für einen Plot verwende?« Tim drängelte sich an ihr vorbei aus der Küche. »Vielleicht muss ich einfach mal einen Krimi schreiben. Ich kann dich doch zu ein paar Punkten noch was fragen?« Er war beinahe an seinem Arbeitszimmer angekommen. »Du findest allein raus?«
»Klar. Tschüss.«
Friedelinde kehrte in ihr eigenes Haus zurück. Der Kuchen war schön aufgegangen und verströmte einen leckeren Duft im ganzen Haus. Friedelinde kochte den Vanillepudding, nahm den Kuchen aus dem Ofen, schnitt ihn auf und bestrich die Böden, nachdem sie ausgekühlt waren. Und weil ihr Werk optisch nicht besonders ansprechend war, schmolz sie einen Rest Schokolade und ließ sie darüberlaufen. Sie stellte den Wasserkocher noch einmal an. Als sie nach Hause gekommen war, hatte sie keinen Tee getrunken, aber das würde sie jetzt nachholen und sich an den Kuchen machen, sobald er abgekühlt war.
Der Gerichtsmediziner schnaufte schon, als er die Treppe bewältigt und den ersten Stock erreicht hatte. Sander sah schwarz, was die schmale Stiege auf den Dachboden anbetraf. Er wusste nicht, ob die eher lieblos zusammengezimmerte Treppe das Gewicht des Mediziners tragen würde. Und ob er nicht deutlich zu breit dafür war. Er nahm dem Mann erst mal die Arzttasche aus der Hand.
»Danke«, keuchte Dr. Hornecker.
»Danken Sie mir nicht zu früh. Wir sind noch nicht bei der Leiche angekommen.«
Dr. Hornecker sah sich um. »Nicht? Wo liegt die denn? Auf dem Dach?«
Sander ging ins Schlafzimmer. »Die liegt nicht, die hängt. Und zwar auf dem Dachboden.«
»Also noch ’ne Treppe.« Dr. Hornecker folgte Sander und blieb dann vor der Tapetentür im Schlafzimmer stehen. »Hier durch?«
»Wenn’s Ihnen nichts ausmacht.« Sander trat auf die unterste Stufe der Stiege.
Sander erwartete beinahe, dass es Plopp machte, als der dicke Arzt seinen Körper durch die Tür zwängte.
Tatsächlich ächzte er, als er am Fuß der Treppe stand. Argwöhnisch sah er die Stufen empor. »Da hoch?«
»Tja, da oben ist der Dachboden. Sollen wir lieber einen Kollegen von Ihnen unterrichten? Eventuell einen mit etwas geringerem Körperumfang?« Sander fuhr sich durchs Haar.
»Das nützt nichts«, stellte Dr. Hornecker fest. »Sie brauchen den Besten.«
»Auch wieder wahr.« Leichtfüßig lief Sander die Treppe hoch.
Die Spurensicherung hatte zwischenzeitlich ihre Arbeit getan, und Sander hatte bereits das Sofa und die Kartons beiseitegeräumt, um einen besseren Durchgang zu gewähren. Jetzt lauschte er auf das Seufzen der Treppenstufen und das Ächzen des Mannes, der sich die Treppe hochquälte. Als Sander hier oben gewesen war, nachdem die Spuren gesichert worden waren, hatte er sich nicht bis zu dem Toten vorgewagt. Er hatte schon unzählige Leichen gesehen und an einigen Obduktionen teilgenommen, aber Erhängte waren ihm ein Gräuel. Sie sahen entsetzlich aus mit den heraushängenden Zungen, den hervorquellenden Augen und den blau angelaufenen Gesichtern. Sander erschien das Erhängen die grausamste aller Methoden, um sein Leben zu beenden, aber was wusste er schon. Außerdem war es ja nicht ausgeschlossen, dass der Mann umgebracht worden war. Das würde Dr. Hornecker schon herausfinden. Wenn er denn jemals den Dachboden erreichte. Außer einem Schnaufen war von ihm nichts zu hören. Vermutlich machte er auf halber Strecke eine Verschnaufpause.
Sander sah sich derweil um, konnte aber nichts entdecken. Zwischen den Dachbalken war eine mit Silberfolie ummantelte Dämmung angebracht, es gab einen gemauerten Schornstein, vier erneuerungsbedürftige Dachfenster und zwei Erker, die vermutlich von außen Eindruck schinden wollten, aber keinen Zweck zu haben schienen. Seit sehr langer Zeit konnte hier oben niemand gewesen sein, denn der Boden war bis auf die Fußspuren der Kollegen von einer Staubschicht bedeckt, und die Luft selbst war staubgeschwängert.
Sander wandte sich um. »Kann ich heute noch mit Ihnen rechnen?«
Ein Schnaufen zeigte an, dass der Gerichtsmediziner sein Ziel erreicht hatte. »Leichen, die im Keller liegen, sind mir bedeutend lieber«, japste er.
»Brauchen Sie einen Arzt?«
»Witzig.« Der Anblick des Leichnams schien die Lebensgeister des Mediziners wiederzuerwecken. »Das ist er?«
Sander betrachtete den Erhängten. »Würde ich sagen, ja.«
»Sie haben heute wieder einen Clown gefrühstückt, wie?«
»Ich habe heute überhaupt nicht gefrühstückt.« Sander steckte die Hände in die Hosentaschen und deutete mit dem Kinn auf die Arzttasche. »Ihre Tasche.«
»Hm.« Dr. Hornecker trat vor den Toten und betrachtete sein Gesicht, dann umrundete er ihn einmal. »Wissen wir, wer er ist?«
»Nein, wir haben ihn alle noch nicht berührt. Wir wollten Ihnen nicht vorgreifen.«
»Sehr aufmerksam.« Dr. Hornecker öffnete seine Tasche, nahm eine winzige Stabtaschenlampe heraus, leuchtete in das Gesicht und die Augen des Toten. »Wir müssten ihn mal abnehmen.«
»Okay, ich rufe die Kollegen.«
Ohne die Knoten des Seils um den Hals und um den Dachbalken zu beschädigen, nahmen die uniformierten Kollegen den Leichnam ab und legten ihn auf dem Boden ab. Dr. Hornecker stützte sich schwer auf seinem Arztkoffer ab, als er sich auf den Boden kniete, wo er die Leichenschau fortsetzte.
Ungeduldig wartete Sander die Prozedur ab, die von einigen Hms und Ahas des Arztes begleitet wurde. »Haben wir auch eine Diagnose, oder erfreuen Sie sich nur an Ihren morbiden Feststellungen?«
Dr. Hornecker hob den Blick. »Ich korrigiere mich. Sie haben keinen Clown gefrühstückt, sondern einen Wecker. Soll ich hier meine Arbeit machen, oder möchten Sie lieber eine voreilige Diagnose hören?«
»Ich möchte zügig eine Diagnose hören.«
»Der Mann ist tot, und ich kann Ihnen noch nicht sagen, ob wir hier einen Fall von typischem oder atypischem Erhängen haben.«
»Und wozu ist das wichtig? Ich will nur wissen, ob er sich selbst aufgeknüpft hat, oder ob es ein anderer für ihn erledigt hat.«
Dr. Hornecker legte den Kopf in den Nacken und sah zu Sander hoch, was ihn einige Mühe zu kosten schien. »Genau darum geht es beim typischen oder atypischen Erhängen, Sie Klugscheißer. Der Knoten des Seils liegt ziemlich mittig im Nacken.« Dr. Hornecker hob den Kopf des Toten vorsichtig an. »Sehen Sie das?«
»Hm.«
»Das spricht für typisches Erhängen, weil die beiden Seilenden symmetrisch im Nacken verlaufen und der Knoten in der Mitte liegt. Wenn er vor dem Ohr liegt, würde es sich um atypisches Erhängen handeln.«
Sander zog die Hände aus den Hosentaschen und schlug sich gegen die Oberschenkel. »Alles klar, bin im Bilde. Dann hat sich der Kerl also selbst aufgeknüpft.«
»Gemach, gemach.« Dr. Hornecker machte eine Bewegung in Richtung der Stelle, an der der Tote kurz zuvor hing. »Sehen Sie hier irgendetwas, worauf der Mann hätte steigen können, um das Seil über den Dachbalken zu hängen und sich gleich mit? Ich nicht. Und wir haben wohl beide gesehen, dass seine Füße frei in der Luft hingen.«
»Dann hat also doch jemand nachgeholfen?«
»Können Sie mal mit diesem nervtötenden Gefrage aufhören? Ich fasse gerade die Fakten zusammen, damit wir eine Entscheidungsgrundlage haben. Aber solange ich den Mann nicht obduziert habe, kann ich ohnehin nichts Genaues sagen.«
»Ich will nur wissen, ob wir es hier mit Mord oder Selbstmord zu tun haben.«
»Das weiß ich. Und genau dafür brauchen wir die Obduktion. Die Lage des Knotens und der Verlauf der Strangmarke am Hals sprechen für Selbstmord, der Umstand, dass kein Hocker oder Stuhl in der Nähe stand, spricht für Mord.« Dr. Hornecker nahm eine Pinzette mit abgerundeten Enden aus dem Koffer und schlug ein Augenlid des Toten um, sodass das Bindegewebe zu sehen war. »Sehen Sie das?«
»Allerdings, und ich finde das ziemlich eklig.«
»Sie Warmduscher. Von da oben sehen Sie ohnehin nichts. Sie müssen dichter herankommen.«
»Ich kann mich beherrschen. Erzählen Sie einfach, was Sie Schlaues entdeckt haben.«
»Es ist eher so, dass interessant ist, was ich nicht entdeckt habe.«
Sander seufzte.
»Stauungsblutungen, mein Lieber. Und das wiederum spricht für Mord. Ich muss den armen Kerl wirklich aufschneiden, um herauszufinden, ob er vor dem Erhängen stranguliert wurde.« Dr. Hornecker streckte Sander die Hand entgegen. »Wären Sie mal so freundlich?«
»Ich soll Sie da hochwuchten?« Sander packte die fleischige Hand des Rechtsmediziners und zog.
Der dicke Mann bewegte sich kein Stück von der Stelle.
»Was ist? Haben Sie keine Kraft?«
»Ich war lange nicht beim Training. Bis vor Kurzem konnte ich noch eine Hantelstange mit hundert Kilo anheben. Hundertdreißig Kilo standen lange nicht mehr auf meinem Trainingsprogramm.« Sander zog fester.
»Ich wiege keine hundertdreißig.« Plötzlich löste sich der dicke Mann vom Boden und fiel Sander beinahe in die Arme.
Sander taumelte ein wenig und fing sich dann. »Stimmt. Sie wiegen mindestens hundertfünfzig.«
»Sie sind wirklich ein ungehobelter Klotz.« Dr. Hornecker klopfte sich den Staub von den Knien. »Bitte sorgen Sie dafür, dass der Leichnam in die Rechtsmedizin transportiert wird. Mich entschuldigen Sie bitte. Ich habe zu tun.«
Dr. Hornecker ging zur Treppe hinüber und machte sich an den Abstieg.
»Ihre Tasche«, rief Sander ihm nach.
»Vielen Dank, dass Sie sie mir hinterherbringen.«
Klar, der Mann war jetzt beleidigt. Vermutlich würde er auch die Obduktion ganz ans Ende seiner To-do-Liste setzen. Sander blies die Backen auf und warf dann doch noch einen Blick auf den Toten. Ihm war nicht anzusehen, was geschehen war. Seine Miene war starr, Dr. Hornecker hatte seine Augen geschlossen. Ob er Todesangst ausgestanden oder aus freiem Willen in den Tod gegangen war, konnte man seinem Gesichtsausdruck nicht entnehmen. Zur Sicherung etwaiger Spuren unter den Fingernägeln des Toten hatte die Spurensicherung ihm Tüten über die Hände gezogen.
Sander nahm Latexhandschuhe aus seiner Jackentasche und zog sie an. Vorsichtig inspizierte er den Inhalt der Jackentaschen des Toten. Eine dunkelblaue Winterjacke, deren Reißverschluss zugezogen war. Das fand Sander merkwürdig. Er hätte gedacht, dass man Bewegungsfreiheit brauchte, um sich zu erhängen, und die Jacke entweder öffnen oder sogar ausziehen würde. Auf beiden Seiten waren schräg angesetzte Taschen eingelassen, in die man seine Hände stecken konnte. In der linken Tasche befand sich nur ein zusammengeknülltes benutztes Papiertaschentuch, in der rechten befanden sich ein paar Münzen und ein Tablettenblister. Drei Tabletten waren herausgedrückt, auf dem unversehrten Teil der rückseitigen Folie war die Bezeichnung Citalopram zu lesen. Sander steckte alles zurück in die jeweiligen Jackentaschen und sah in den vorderen Hosentaschen der Jeans nach, die der Tote trug. Außer einem weiteren benutzten Taschentuch fand er jedoch nichts. In der rechten Gesäßtasche steckte ein kleines Lederportemonnaie. Darin waren ein paar Geldmünzen, fünfzehn Euro in Scheinen, eine Busfahrkarte und eine Hälfte eines durchgebrochenen Bierdeckels, die Sander genauer inspizierte, aber es war nichts daraufgeschrieben worden. Ein Hinweis auf die Identität des Toten fand sich nicht. Vermutlich blieb ihm nichts anderes übrig, als Friedelinde nach dem Namen des vermissten Neffen zu befragen.
Sander griff sich die Arzttasche und stieg die Treppe hinunter. Dr. Hornecker hatte es gerade geschafft, die Eingangshalle zu erreichen, wo er sich erschöpft auf einen ledernen Lehnstuhl fallen ließ. Sander stellte ihm die Arzttasche vor die Füße und machte sich daran, Gernot zu suchen. Er fand seinen Kollegen in einem nach hinten hinaus gelegenen Wintergarten.
»Ich habe dich auf dem Dachboden vermisst, Gernot. Kein Interesse an unserem Toten?«
»Hält sich in Grenzen.« Gernot beugte sich über ein gemauertes Hochbeet, das wie der Boden des Wintergartens in blasstürkisfarbene Fliesen eingefasst war. »Mich interessieren diese Orchideen viel mehr. Sind das nicht tolle Gebilde? Sie wirken eher wie Kunst als wie eine Pflanze.«
»Orchideen? Können wir uns jetzt wieder mit dem Mordfall befassen?«
»Das tue ich gerade. Orchideen sind sehr empfindliche Pflanzen. Jemand muss sich darum kümmern.«
Sander fasste Gernots Schulter. »Wir können uns nicht um alles kümmern, Gernot. Aber worum wir uns kümmern sollten, ist die Aufklärung dieses Falles.«
Gernot richtete sich auf. »Ich meinte eher etwas anderes. Die Orchideen sind top in Schuss, und die Hausherrin war doch offensichtlich bettlägerig und pflegebedürftig. Es muss also regelmäßig jemand hergekommen sein, um sich darum zu kümmern.«
Sander gab Gernot einen Kuss auf die Stirn. »Schade, dass du schon an Betty vergeben bist. Sonst würde ich dich heiraten. Du bist so klug.«
Gernot wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. »Ich bin ziemlich froh darüber, dass ich Betty heiraten werde und nicht dich. Die küsst nicht so feucht.«
»Verstehe ich gar nicht. Kommst du?«
»Wohin?«
»Zu Friedelinde. Zeugenvernehmung.«
Eine halbe Stunde später stellte Sander seinen Wagen in den heimischen Carport und ging zur Haustür.
»Hm, hier riecht es ja lecker«, stellte Gernot beim Eintreten fest.
»Stimmt«, bestätigte Sander. »Es riecht, als hätte jemand gebacken.«
»Jemand? Eigentlich kommt doch nur Friedelinde dafür in Betracht, oder?«
Sander legte die Stirn in Falten. »Theoretisch schon, aber ich weiß gar nicht, ob sie backen kann.«
Sie gingen in die Küche, wo ein Kuchen auf dem Tisch stand. Außerdem standen dort drei Kuchenteller, auf denen gefaltete Servietten lagen, und drei Kaffeetassen. Die Kaffeemaschine blubberte leise vor sich hin, aber von Friedelinde war nichts zu sehen.
»Sieht aus, als hätte sie uns erwartet«, stellte Gernot fest und betrachtete den Kuchen. »Schokolinsen. Hübsch.«
Sander ließ ihn stehen und machte sich auf die Suche nach Friedelinde. Er fand sie auf dem Sofa, zugedeckt mit einer Wolldecke, Cäsar hatte es sich in ihren Kniekehlen gemütlich gemacht. Sander beugte sich über sie und gab ihr einen Kuss.
Sie schlug die Augen auf. »Hi.«
»Hi. Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Ja, geht wieder. Ich hab gebacken.«
»Das habe ich gesehen.« Er trat ein Stück zurück, damit sie aufstehen konnte. »Deshalb frage ich. Dass du gebacken hast, beunruhigt mich ein wenig.«
»Darauf hat Else Bürger mich gebracht. Sie hat Schattenmorellen en gros gekauft und von Schwarzwälder Kirsch gesprochen. Das hat mich auf die Idee gebracht, dass ich auch mal was backen könnte.«
»Aha.«
»Kaffee ist durch«, rief Gernot aus der Küche.
»Wir kommen«, rief Friedelinde zurück.
Gernot schenkte bereits Kaffee ein, und sie setzten sich an den Tisch. Gernot versenkte seine Kuchengabel in Friedelindes Kuchen.
»Sieht gut aus und ist ziemlich lecker«, lobte er. »Kann ich das Rezept haben?«
»Nee.« Friedelinde stellte ihre Kaffeetasse ab. »Gibt keins. Guck einfach zu Hause in deine Schränke, leih dir beim Nachbarn einen halben Liter Milch, und fertig ist der Kuchen.«
»Interessant. Ich bin ja eher der Rezeptbäcker«, erklärte Gernot. »Ich befürchte immer, dass mir der Kuchen nicht gelingt, wenn ich mich nicht an die Mengenangaben halte.«
»Mir gelingt er besser, wenn ich mich nicht an die Mengenangaben halte.« Friedelinde fummelte eine Schokolinse von ihrem Kuchenstück.
»Ich will euch auf gar keinen Fall von eurer Kaffeestunde abhalten, aber könnten wir noch mal auf die heutigen Ereignisse zu sprechen kommen?«, warf Sander ein.
Gernot sah auf. »Stimmt, du hattest ja noch gar keine Gelegenheit, Friedelinde die Neuigkeiten zu erzählen.«
»Welche Neuigkeiten denn?«, fragte Friedelinde.
»Eigentlich war das jetzt nicht das Thema«, stellte Sander klar. »Wir ermitteln schließlich in einem Mordfall.«
»Ach. Steht das schon fest?«, fragte Gernot.
»Ich hab keine Ahnung«, gab Sander zu. »Dr. Honecker hat die ganze Zeit von typischem und atypischem Erhängen gesprochen. Das ist wieder mal typisch für ihn.«
»Und was bedeutet das nun?«, fragte Friedelinde.
»Das heißt, entweder hat sich der Mann selbst erhängt oder es hat jemand anders getan.«
»Kann man jemand anders erhängen?«, fragte Gernot. »Heißt es nicht, sich erhängen?«
Sander schloss die Augen. »Wenn ihr beiden so weitermacht, setzen wir die Vernehmung auf dem Präsidium fort.«
»Kein Problem«, erklärte Gernot. »Wir können den Kuchen ja mitnehmen.«
»So, gut jetzt.« Sander schob seinen Teller von sich. »Jetzt erzähl mal«, forderte er Friedelinde auf.
»Also, der Tag hat schon völlig verrückt angefangen«, begann Friedelinde. »Ich hätte mir gleich denken können, dass er nicht besser wird. Wir müssen unbedingt mit Theresa sprechen. Ihre Flutlichtanlage und der Alarm machen mich krank. Hab ich total vergessen zu sagen, als ich drüben bei Tim war.«
»Tim ist doch dieser Fantasyautor«, merkte Gernot an. »Hast du von dem schon mal was gelesen?«
»Gernot!« Sander warf ihm einen bösen Blick zu. »Entschuldige. Erzähl weiter«, forderte er Friedelinde auf. »Aber lass den Teil mit deinen morgendlichen Erlebnissen im Meisenstieg mal weg. Das kannst du mir heute Abend erzählen.« Sander griff nach seiner Kaffeetasse.
»Okay. Dann erzähl ich dir auch erst heute Abend, dass Marie angerufen hat. Sie will nach Deutschland kommen. Sie ist nämlich wieder schwanger.«
»Ach, das ist ja nett. Ich erinnere mich noch gut an sie«, stellte Gernot fest. »Ein bisschen verrückt, aber wirklich witzig. Und ihre Hochzeit im Waschsalon war auch echt originell.«
»Leute!« Sander verbarg das Gesicht in den Händen. »Wollen wir uns jetzt Geschichten erzählen, oder was?«
»Tut mir leid. Also, ich lass mal weg, dass ich Else Bürger heute Morgen schon getroffen hab, und fang damit an, dass ich zum Gericht gefahren bin.«
Sander seufzte.
»Also, in dem Haus lebte Gertrud Heinemann. Sie war siebenundneunzig Jahre alt, verwitwet und kinderlos. Ich hab das noch nicht überprüft, aber Rechtspfleger Zinn meint, dass ihr Neffe Erich Mattfeld Erbe geworden ist.« Friedelinde sah Sander an. »Ist der Tote Erich Mattfeld?«
»Das weiß ich nicht. Er hatte keinen Ausweis bei sich. Wir wissen nicht zufällig, wie der Mann aussieht?«
»Nee, das weiß ich nicht.« Friedelinde schob ihren Stuhl zurück und verschwand in ihrem Arbeitszimmer. Kurz darauf kehrte sie mit ihrer Akte zurück. »Aber ich kann dir sagen, wo er wohnt.«
»Kannst du mir deine Akte kopieren?«
»Klar.«
»Und kannst du mir auch mal sagen, warum du den Mann auf dem Dachboden gefunden hast?«, fragte Sander.
»Den hab ich gefunden, weil ich auf den Dachboden gegangen bin.«
»Ja, aber warum bist du auf den Dachboden gegangen?«
»Weil ich wissen wollte, was es mit den Erkern auf sich hat.«
Sander sah Friedelinde an. »Das heißt, wenn dieses Haus keine Erker hätte, würden wir uns hier nicht über Erich Mattfeld unterhalten?«
»Richtig. Aber vermutlich in den nächsten Tagen, weil ich Herrn Heine gebeten hätte, auf den Dachboden und in den Keller zu gehen, um zu gucken, ob er dort irgendwas wegräumen muss. Tote Tiere oder alte Lebensmittel.«
Sander streckte sich. »Eigentlich müsste den doch auch irgendwer vermissen, oder nicht?«
Friedelinde stützte das Kinn auf. »Angenommen, der arme Mann hat sich wirklich auf dem Dachboden erhängt und niemand hat seinen Tod bisher bemerkt?« Sie seufzte schwer. »Das wäre doch furchtbar.«
»Ja«, bestätigte Gernot. »Wenn man niemanden hat, der überhaupt bemerkt, dass man nicht mehr da ist.«
»Genau, oder dass es einem schlecht geht. Ich meine, der Mann muss doch Symptome gezeigt haben. Ich behaupte, dass ich es sofort bemerken würde, wenn Nicolas lebensmüde wäre.«
»Ich auch.« Gernot steckte sich eine rote Schokolinse in den Mund. »Wenn man tagtäglich mit einem Menschen zusammenlebt, fällt einem doch sofort jede Veränderung auf. Ich meine, sieh ihn dir an. Er sieht doch total glücklich aus. Er liebt dich, er kommt jeden Abend gern nach Hause. Und seine Arbeit. Seine Arbeit macht ihm doch viel Spaß. Jeder neue Mordfall stachelt seinen Ehrgeiz an.«
Friedelinde nickte.
»Hallo?«, rief Sander. »Ich sitze hier. Ich bin weder lebensmüde noch ist mein Ehrgeiz besonders angestachelt. Ich schlage vor, dass du die Akte kopierst, und dann gehen Gernot und ich ins Präsidium und tun mal so, als ob wir hier ermitteln.«
»Ich hätte wirklich gern noch ein Stück Kuchen gegessen«, wandte Gernot ein. »Und wir können doch erst mal abwarten, bis Dr. Honecker die Obduktion abgeschlossen hat. Das dauert ja auch seine Zeit.«
»Dr. Hornecker«, korrigierte Sander automatisch.
Gernot ignorierte ihn und nahm sich noch ein Kuchenstück. »Friedelinde muss ja ohnehin noch die Akte kopieren.«
»Richtig«, bestätigte Friedelinde. »Und das kann dauern.«
»Ich weiß ja nicht, was das hier alles soll, aber ihr fangt langsam an, mir auf die Nerven zu gehen.«
Friedelinde und Gernot wechselten einen Blick.
»Ich geh dann mal kopieren.«
Sander wartete ab, bis beide ihre Beschäftigungen abgeschlossen hatten, und trank eine Tasse Kaffee. Es war wirklich merkwürdig, dass Friedelinde einen Kuchen gebacken hatte. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass das schon mal vorgekommen war. Musste aber nicht schlimm sein. Wenn sie anfangen würde, Bäume zu umarmen oder Forellen zu züchten, würde ihn das stärker beunruhigen.
Nach zehn Minuten kehrte Friedelinde mit einem Stapel Kopien in die Küche zurück.
Sander blätterte sie durch. »Das ist ja nicht viel.«
»Nee.« Friedelinde setzte sich wieder und zog einen Fuß auf den Sitz. »Kann ich dann jetzt den Nachlass weiterbearbeiten, oder wie?«
»Erst mal nicht.« Sander kniff die Augen zusammen. »Hast du wieder Sachen aus dem Haus mitgenommen?«
»Bei dir klingt das so, als ob ich unrechtmäßig etwas hätte mitgehen lassen. Ich habe die notwendigen Unterlagen mitgenommen, ja.«
»Kann ich die mal sehen?«
»Oh Mann, ey!« Friedelinde stand wieder auf und verschwand im Arbeitszimmer. Diesmal kehrte sie mit ihrer Aktentasche zurück, die sie Sander hinstellte.
»Hm. Ist da jetzt alles so unsortiert drin, oder wie?«, fragte er stirnrunzelnd.
»Richtig. Mehr oder weniger.«
»Dann würde ich sagen, du sortierst das. Gernot und ich fahren jetzt zu der Adresse von Erich Mattfeld.« Er nahm eine Kopie und reichte sie Gernot. »Ruf mal Gabler an, dass er die Ausweisdaten von diesem Erich Mattfeld prüft und dir ein Foto von dem Mann aufs Handy schickt. Damit wir wissen, ob es sich bei dem Toten überhaupt um diesen Neffen handelt.«
»Dann kann ich also doch erst mal weiterarbeiten«, stellte Friedelinde fest. »Ich muss mich ja um den Nachlass kümmern. Solange keiner weiß, wer von den beiden zuerst gestorben ist, weiß ich überhaupt nicht, wer wen beerbt hat.«
»Ich denk, dieser Neffe hat jetzt die Gertrud Heinemann beerbt?«, fragte Sander.
»Weiß ich ja eben nicht. Um sie zu beerben, hätte er länger leben müssen als sie. Deshalb muss ich wissen, wann Erich Mattfeld gestorben ist. Wenn er es denn ist. Also nicht gestorben, sondern Erich Mattfeld.«
»Also, wenn der seine Tante beerbt hat, hätte er sich doch nicht auf dem Dachboden erhängt«, sinnierte Sander. »Da wäre er ja schön blöd.«
»Es sei denn, er hat seine Tante umgebracht und ein schlechtes Gewissen bekommen.«
»Fang jetzt nicht damit an, dass diese alte Frau keines natürlichen Todes gestorben ist«, entgegnete Sander. »Das hatten wir alles schon.«
»Heißt ja nicht, dass sich die Dinge nicht wiederholen. Geschichte wiederholt sich immer.«
»Jetzt gucken wir erst mal, ob es sich um Erich Mattfeld handelt, und dann, ob er sich selbst umgebracht hat oder ob es ein anderer war.« Sander stand von seinem Stuhl auf. »Gernot, kommst du dann?«
Gernot warf einen sehnsüchtigen Blick auf den restlichen Kuchen.
»Ich kann dir ein Stück einpacken«, bot Friedelinde an. »Wenn du willst, auch eines für Betty.«
Friedelinde holte eine Plastikdose aus dem Schrank und verstaute ein Viertel des Kuchens darin. Dann verabschiedeten Sander und Gernot sich von ihr.
Im Wagen rief Gernot den Kollegen Gabler im Präsidium an und bat ihn um Überprüfung der Personalien von Erich Mattfeld.