Bitteres Blut - Voss - E-Book
SONDERANGEBOT

Bitteres Blut E-Book

Voss

0,0
3,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Kriminalist Lorinser, aus der Großstadt auf ´s platte Land versetzt, sieht sich mit einem Selbstmord konfrontiert. Problem: Die Leiche des mutmaßlichen Selbstmörders ist verschwunden. Lorinser wittert einen Fall, denn der junge Thorsten Böse war alles andere als ein Unschuldslamm und sein Stiefvater so etwas wie die Nemesis des Ortes. Ein verbitterter alter Mann, der dörflichen Gemeinschaft durch seine wortkarge Schroffheit, seine Klagefreudigkeit unangenehm aufstieß. Und den Alteingesessenen wegen seiner Standhaftigkeit im Dritten Reich, die Böses Familie nur unter Schikanen und mit viel Glück halbwegs heil überstand, als lebendes Mahnmal ein Dorn im Auge. Lorinser ermittelt, tritt seinen Mitmenschen auf die Füße, muss sich gegen seine Vorgesetzten behaupten, die ihn von dem anscheinend nicht vorhandenen Fall abziehen wollen. So dauert es rund 150 Seiten, in denen wir Menschen begegnen, die sich spinnefeind sind, belauern und stets auf der Fehlersuche, natürlich bei anderen, sind, ehe Böse Juniors Leiche auftaucht und mit ihr der begründete Verdacht, dass es sich bei Böses Tod keineswegs um Suizid, sondern um Mord handelt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

BÖHSES BLUT

MEDIAPROVO

BÖHSES BLUT

Roman

Willi Voss

MEDIAPROVO

© mediaprovo

Am Anger 7 31737 Rinteln [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

„Ach Gott, wissen Sie, eine Mutter hält ihr Kind immer für unschuldig – schließlich werden selbst Mörder von ihren Familien geliebt.“

DBC Pierre

„Jesus von Texas“

Mancher wird sich wie Rudolf Jung zu erinnern glauben. Das kann aber nicht sein. Denn dies ist ein Roman, der in der zauberhaften, manchmal melancholischen Landschaft rund um den Dümmer angesiedelt, aber sowohl hinsichtlich der Handlung als auch der Personen frei erfunden ist.

1

„Ich versteh das nicht“, murmelte Hollenberg verstört. „Aber ich schwör, dass der da gehangen hat, Herr Kommissar!“

Verlegen und trotzig zugleich knetete der Bauer sein soeben benutztes Taschentuch, als könnte er in ihm den Beweis seiner Behauptung ertasten. Seine Blicke wanderten von dem verwitterten Gedenkstein über die hölzerne Flussbrücke und hinüber auf die von Zäunen in unregelmäßige Quadrate geteilten sattgrünen Weiden, an deren Horizont träge drehende Windräder aus dem morgendlichen Dunst ragten. Aber auch da lag keine Leiche.

„War es denn noch dunkel, als Sie hier eintrafen?“

„Dämmerung, sag ich mal, noch keine Sonne …“ Geradezu weinerlich die Stimme. „Ich werde doch nicht die Polizei anrufen und sagen, dass da ein Toter ist, wenn da keiner hing!“

Kann sein, dachte Kriminalobermeister Lorinser. Aber es gibt Leute, die sehen grüne Männchen auf der Gardinenstange. Und in Lemförde hatte er während der Durchfahrt die unverkennbaren Zeichen eines Schützenfestes bemerkt. Gut möglich, dass Hollenberg sich am Wochenende einen zu viel auf die Lampe gegossen hatte.

„Waren Sie auf dem Volksfest?“

„Meinen Sie, ich wäre noch beschickert und seh Gespenster?“

„Manche brauchen dazu noch nicht mal Alkohol.“

„Nee, nee, was ich gesehen habe, habe ich gesehen, Herr Kommissar!“

„Erstens Kriminalobermeister und zweitens sollten Sie mal drüber nachdenken, ob die Dämmerung Ihnen eine Leiche vorgegaukelt hat“, sagte Lorinser. Nach einem skeptischen Blick auf die Stele. “Das Seil kann auch schon länger hängen.“

„Gestern war er jedenfalls noch nicht da“, behauptete Hollenberg. „Ich geh jeden Morgen auf die Weide, um das Vieh zu kontrollieren. Ich war gerade am Siel, als ich den Toten sah. Ich also wie angestochen auf den Trecker und rüber zu Farnebecks, und von da aus hab die Polizei alarmiert.“

Um genau 6 Uhr 15. Nur zwei Minuten später hatte Polizeihauptkommissar Bredeker Lorinser mit seinem Anruf aus dem Schlaf gerissen und in seiner schadenfroh-groben Art vom Fund der Leiche im Ochsenmoor berichtet. Lorinser war widerwillig aus dem Bett gestiegen, im Kopf die vage Erinnerung an eine überaus attraktive Paula, die ihn von dem Widersinn der Betonierung des Dümmerufers zu überzeugen versucht hatte und ihm trotz deutlicher Avancen in der feuchtfröhlichen Nacht abhandengekommen war. Er hatte sich einen Instantkaffee aufgegossen und ihn während des hektischen Ankleidens schubweise in sich hineingeschüttet.

Feiner Landregen war über Nacht niedergegangen und hatte die B 51 nach Lemförde fingerhoch überschwemmt. Auf dem Deichweg hatten ihn zwei Tee trinkende, heiter plaudernde Uniformierte und Hollenberg erwartet.

„Fehlanzeige“, hatte der junge Streifenführer gesagt und sich an die Stirn getippt. „Ein verständliches Missverständnis, wenn Sie mich fragen. Manche sehen halt Sachen, die anderen verborgen bleiben.“

Aber Irrtum ausgeschlossen, darauf hatte Hollenberg mit erhobener Schwurhand bestanden. Trotz der fehlenden Leiche. Und weil es keine gab, hatte Lorinser seinen Vorgesetzten in der Polizeiinspektion Diepholz angerufen, um zu verhindern, dass sich die gesamte Mordkommission auf den Weg machte. Dennoch: Der am überwucherten Denkmal baumelnde Strick ließ sich nicht wegdiskutieren. Und auch nicht der durchweichte, schwarze Sportschuh, einige von der Nässe aufgelöste Papiertaschentücher und ein blaues Einwegfeuerzeug.

„Sie sagten, der Tote sei ein gewisser Böhse gewesen. Was wissen Sie von ihm?“

„Was alle wissen.“

„Und was wissen alle?“

Hollenberg schob mit sichtbarer Verdrossenheit die Hände in die ausgebeulten Taschen seines blauen Over­alls.

„Kein gutes Blut, das sagen sie.“

„Das heißt?“

„Dass der Alte ihn an Sohnes Stelle angenommen hat.“

„Adoptiert also?“

Hollenberg senkte den Kopf. Über den buschigen Brauen zog sich plötzlich ein Gitternetz tiefer Falten, das von einer dünnen, dem Haaransatz zustrebenden Narbe durchschnitten wurde. Offensichtlich versuchte er herauszufinden, wie weit er in Anwesenheit eines ihm noch nicht bekannten Polizisten die Regeln der politischen Korrektheit interpretieren durfte.

„Ist wohl schlecht gelitten, wie?“

Hollenberg blickte auf, bellte ein abgehacktes Lachen in die frische Morgenluft und reckte das Kinn.

„Ein echter Schweinehund, das isser! Was der hier schon für Unglück angerichtet hat! Mit Saufen, mit Rauschgift, mit den Weibern! Wie der mit seinem Porsche die Straßen unsicher macht! Der hätte schon längst in den Knast gehört. Aber der alte Böhse bügelt die Schweinereien aber immer wieder aus. Fragen Sie den mal, was der sich ins Haus geholt hat.“

„Wo finde ich ihn?“

Hollenberg drehte sich um, umfasste mit einem Blick das weite, von einzelnen Bäumen durchsetzte Land und deutete mit seiner ruckartig zustechenden rechten Hand in Richtung einer aus dem Dunst aufragenden Baumreihe.

„In Stemshorn, gleich hinter der Haldemer Straße, da hat der seine Festung. Aber mit dem ist nicht gut Kirschen essen.“ Zögernd herausgehustete, ungedul­dig Worte, ganz so, als bereute er, Böhse überhaupt erwähnt zu haben. „Brauchen Sie mich denn noch, Herr Kommissar?“

„Nein. Ich hoffe für Sie, dass Sie mir keinen Bären aufgebunden haben.“

„Ich habe den gesehen, und davon lass ich mich auch nicht abbringen!“ Hollenbergs rechter Stiefel matschte im morastigen Untergrund. Seine ineinander verschränkten Hände knackten. „Der Bruder ist ja auch umgekommen. Fünfundsiebzig ist das gewesen, als der hier zu Tode kam.“

„Fünfundsiebzig? Wie alt ist denn der junge Böhse?“

„Um die fünfundzwanzig, glaub ich.“

„Wie kann der einen Bruder haben, der Jahrzehnte älter ist?“

„Ich mein doch nicht den, ich mein den vom Alten.“

„Und der ist hier umgekommen?“

„Aufgehängt.“ Hollenberg deutete mit dem Kinn auf das Denkmal. „Genau wie der da. Die gönnten dem Anderen nicht den Ohrschmalz. Soll ja Selbstmord gewesen sein, aber vielleicht fehlten ja nur die richtigen Beweise.“

„Für Mord?“

Hollenberg nickte.

„Manche glauben, dass es der Alte war. Aber das kann man ja nicht wissen, nich? Wo selbst die Polizei nichts finden konnte. Ein Satan war er schon immer, der Pestbock, und mit der Meinung stehe ich nicht alleine.“

Vermutlich eine der Geschichten, welche die Fantasie der Menschen zum Gerücht verdichtet hatte. Und Gerüchte sind hartnäckig, werden immer wieder aufge­kocht, bis sie sich gerundet und den Wert einer Legende angenommen haben. Daran konnte man dann glauben oder auch nicht. Wenn etwas daran war, gab es sicherlich Akten. Und in die, beschloss Lorinser, würde er einen Blick werfen. Falls sie nicht längst geschreddert worden waren.

Hollenberg ließ sich trotz Lorinsers hartnäckigen Fragen nicht weiter auf „Hinrichs Fall“ ein. Er entließ ihn, nachdem er seine Daten aufgenommen und ihn für den nächsten Tag zum Protokoll in die Inspektion geladen hatte. Sichtlich erleichtert humpelte der Bauer im davon, schwang sich auf seinen Trecker und fuhr in Richtung Hüde ab.

Lorinser strich sich mit der linken Hand über den Hals, ertastete den schwellenden Einstich eines Mückenrüssels und fixierte das hin- und her schwingende Seil. Seinen ersten Kriminalfall hatte er sich so nicht vorgestellt. Der hatte viel mit geraubten Juwelen, komplizierten Recherchen und Verfolgungsjagden zu tun, ganz sicher nichts mit verschlammten Schuhen und der bangen Frage, ob er ein von den Kollegen bespötteltes Opfer einer imaginären Denkmalsleiche werden würde.

Die beiden jungen Streifenbeamten beobachteten ihn. Ihren Gesichtern war anzusehen, dass Hollenbergs Erzählungen sie nicht überzeugt hatten.

„Glauben Sie wirklich“, fragte der Jüngere der beiden, „dass hier jemand rumläuft, der ´ne Leiche klaut?“

Der grinsenden Skepsis der Uniformierten hielt Lorinser ein vages Schulterzucken entgegen. Was heißt schon glauben? Tatsachen entschieden und sonst nichts. Tatsache war, dass die Sonne zu wärmen begann. Und der hielt er, während er über die nächsten Schritte nachdachte, sein noch immer winterblasses Gesicht entgegen. Den alten Böhse hatte er aufzusuchen. War dessen Sohn anwesend, war der Fall abgeschlossen. Wenn nicht, wurde er zu einem. So einfach war das.

Er deutete auf das im Gebüsch kaum zu erkennende Denkmal.

„Wer ist das? Und wieso hat man ihn so verkommen lassen?“

„Weißt du was, Gerd?“

Der ältere der Polizisten schüttete den Kopf.

„Wusste gar nicht, dass der hier steht. Wahrscheinlich haben die in der Gemeinde kein Geld für die Pflege.“

„Wie auch immer“, sagte Lorinser. „Passen Sie gut auf ihn auf. Bis die Spurenkollegen hier sind. Sagen Sie ihnen, dass ich mich bei Herrn Böhse nach seinem Sohn erkundige.“

„Jawohl, Herr Kommissar.“

„Zu viel der Ehre“, korrigierte Lorinser. „Kriminalobermeister.“

2

Das zweigeschossige, aus doppelt gebrannten Klinkern errichtete Haus ließ Lorinser an eine Festung denken. Kleine, gardinenlose Fenster, die seltsamerweise mit einem Netzwerk aus Weidedraht gesichert waren. Regellos auf dem Gelände verteilt schwarzstämmige Espen mit Moos bewachsener Rinde. Auf der Mauer ein zusätzlicher Zaun aus Maschendraht, dessen oberes Drittel mit Stacheldraht durchzogen war und wie der Verhau eines Schützengrabens aus den verkratzten Filmdokumenten des ersten Weltkriegs wirkte.

Vor dem schmiedeeisernen Tor bremste Lorinser ab, stieg aus und warf einen Blick in den mit Backsteinen ­belegten Hof. Nirgendwo ein Hinweis auf den oder die Bewohner des Hauses, ein angeschlagenes Emailleschild: „Betteln und Hausieren verboten!“ Darunter im Mauerwerk der Torsäule eine mit Grünspan überzogene und wohl selten benutzte Klingel. Lorinser legte den Daumen darauf. Entfernt das schrille Kichern einer Glocke, das jedoch Minuten lang keine Wirkung zeitigte. Er versuchte es wieder, länger, ausdauernder. Oberhalb der Treppe wurde ein Fenster aufgesto­ßen. Der kahle Vogelkopf eines misstrauisch aus dicken Brillengläsern äugenden Mannes schob sich kampflustig ins Freie.

„Haben Sie Klodeckel auf den Augen?!“

Die Stimme war kräftig und artikulierte klar. Schmale, kno­chige Hände umklammerten den Fensterrahmen.

„Nein, eher nicht. Ich will auch nicht betteln oder etwas verkaufen. Ich bin von der Polizei und möchte Thorsten Böhse sprechen.“

„Den Thorsten? Was hat die Polizei mit Thorsten zu tun?“

„Ist er zu Hause?“

Der Alte drehte sich um und sprach einige Worte, die Lorinser nicht verstand. Sekunden später tauchte neben ihm der Kopf eines Rottweilers auf. Große, dunkle Augen, ein mit scharfen Zähnen bewehrtes Maul, aus dem Speichel tropfte.

„Nein, ist er nicht. Was wollen Sie?“

„Wann war er zuletzt hier?“

Eine Unmutsfalte wuchs auf der Stirn des Mannes im Fenster, der vermutlich Wolfhardt Böhse war. Die dünnen Lippen verzogen sich in der gleichen Sekunde, als der Rottweiler ein unterdrücktes Knurren hören ließ. Böhse legte ihm die linke Hand zwischen die Ohren. Der Hund beruhigte sich. Abrupt schloss der Alte das Fenster.

Auch eine Antwort, dachte Lorinser und spürte Zorn in sich aufsteigen. Böhse schien seinen Ruf verdient zu haben. Ein „Börger“, wie sich die alt eingesessenen Lemförder stolz nannten. Sie galten selbst in Diepholz als selbstgefällig, verschlossen und abweisend. Soviel hatte Lorinser bereits herausgefunden. Nicht nur, dass sie glaubten, vom lieben Gott bereits vor der Errichtung des Paradieses erschaffen worden zu sein: Gegen die Naturgewalten, das Amt und Zugereiste hielt man hier seit ewigen Zeiten die Reihen fest geschlossen.

Lorinser presste den Finger erneut auf den Klingelknopf und bemerkte durch das Gittertor rechts vom Haus zwischen immergrünen Pflanzen einen grauen Volvo-Kombi. Auf den roten Steinen waren schlammige Reifenspuren zu sehen. Offensicht­lich war das Fahrzeug länger nicht bewegt worden.

Riegel polterten, ein Schlüssel drehte sich im Schloss, schar­rend wurde die Haustür aufgedrückt. Der Alte erschien auf der Schwelle. Er war bedeutend kleiner, als Lorinser ihn eingeschätzt hatte, erschreckend mager und mit stark gebeugtem Rücken. Er warf dem Polizisten einen strafenden Blick zu und hakte den Rottweiler an die Kette, die links neben dem Eingang im Mauerwerk verankert war. Vortastend, als traute er seinen Gliedern nicht mehr, stieg er vorsichtig hinunter. Er trug eine dunkelbraune, an den Knien ausgebeulte Gabardinehose mit breiten Umschlägen und eine blassgrüne, zottelige Strickjacke, in deren Ausschnitt ein mit gelben Flecken übersätes, zerknittertes Leinenhemd nach der Lauge einer Waschmaschine schrie. Die nackten Füße steckten in hellgrünen Plastiklatschen. Vor dem Tor blieb er stehen. Das Horngestell der Brille war im Laufe der Zeit gelb geworden. Die graugrünlichen Augen zerliefen in den Schleifringen der Gläser. Gut Kirschen essen ist mit dem wohl wirklich nicht, vermutete Lorinser.

„Was wollen Sie von Thorsten?“

„Mich überzeugen, dass er hier ist. Sie sind sein Vater, nicht wahr?“

Lorinser zeigte ihm den Dienstausweis. Böhse blickte verächtlich darüber hinweg und demonstriert mit der abwinkenden rechten Hand, die Lippen hart aufeinander gepresst, stumme Abwehr.

„Ja, das bin ich. - Was hat der Kerl wieder angestellt?“

Der Hund zerrte knurrend an der Kette. Lorinser umfasste die feuchten Gitterstäbe des Tores. Der Atem des Alten schlug ihm entgegen. Eine penetrant ätzende Knoblauchwolke, die ihn zurückweichen ließ.

„Was?“ fragte Böhse fordernd.

„Es geht um eine Meldung“, formulierte Lorinser vorsichtig, „nach der er von einem Unglück betroffen sein könnte. Konkretes haben wir bisher allerdings nicht.“

Die haarlosen Brauenwülste zogen sich über der Nasenwurzel zusammen. Die rechte Hand fuhr auf Lorinser zu.

„Warum kommen Sie nicht zur Sache? Sieht ja fast so aus, als wollten Sie mir etwas schonend beibringen.“

Lorinser entschloss sich, Klartext zu reden. Böhse hörte sich seine kurze Schilderung regungslos an. Nur seine Augen schlossen sich für einen kurzen Moment. Er ver­schränkte die knochigen Arme, nickte und starrte den Beamten, mit der scheinbar entzündeten, gelblich-weiß verpelzten Zunge die papiernen Lippen befeuchtend, einige Sekunden lang wie lästiges Ungeziefer feindselig an.

„Ungutes Blut“, stieß er bitter hervor. „Ein Tunichtgut! Will und kann nicht standhalten. Ein furchtbar dummer Junge!“

„Ist er nun hier oder nicht?“

„Saufen und die verdammten Weiber! Kein Charakter, immer auf der Flucht! Nein, hier ist er nicht … Ist er tot?“

„Wenn die Beobachtung des Zeugen stimmt, muss damit gerechnet werden, Herr Böhse.“

Der Alte fixierte den Polizisten. Die wie ein Raubvogelschnabel gebogene Nase war von einem Geflecht geplatzter Äderchen überzogen. Die dünnen, nassen Lippen zuckten. Lorinser war sich nicht sicher, ob das ein Zeichen aufgewühlter Gefühle oder schlicht altersbe­dingt war. Es hatte den Anschein, als habe der Alte durchaus mit dem Tod seines Sohnes gerechnet. Wie auch immer, das Verhält­nis zwischen den beiden war sicherlich nicht von inniger Zuneigung bestimmt gewe­sen.

„Wann haben Sie Ihren Sohn zuletzt gesehen?“

„Gestern. Er kam wenige Minuten vor Mitternacht. Betrunken natür­lich. Er brauchte Geld. Ich habe ihm gegen Unterschrift zweihun­dertfünfzig Euro gegeben.“ Böhse registrierte Lorinsers Erstaunen. Mit einer herrischen Handbewegung schnitt er ihm das Wort ab. „Klare Verhältnisse“, fuhr er harsch fort. „Besitz muss verdient werden!“

„Er ist Ihr Sohn.“

„Er trägt lediglich meinen Namen.“

Mitleidlosigkeit war in seiner Stimme, eine Härte, die Lorinser erschreckte. Er selbst war zwar auch in einer zerrissenen Familie aufgewachsen und hatte unter der oberlehrerhaften Strenge seines vom hoch bezahlten Bauingenieur zum Bauarbeiter abgestürzten Vaters gelitten, aber trotz des harten Panzers der Verbitterung Verlässlichkeit, Fürsorge und Liebe erfahren. Dieser alte Mann schien seelisch durch und durch erkaltet.

War es das, was Wolfhardt Böhse verbitterte: Dass der Angenommene nicht angenommen hatte und – wenn er denn unter der Eiche geendet war - in den Tod geflüchtet war?

„Wann hat er das Haus wieder verlassen?“, fragte Lorinser mit dem Gefühl, gegen eine Wand zu sprechen.

„Punkt Null“, sagte Böhse trocken wie ein Automat. „Die Uhr in der Diele schlug gerade, als er die Tür hinter sich schloss.“

„Ist er zu Fuß fort gegangen?“

„Nein, er ist gefahren. Ich habe ihm dummerweise diesen teuren Wagen gekauft.“

„Er fuhr Porsche, nicht wahr?“

„Wenn man das Fahren nennen kann, ja. Es war wohl mehr ein Zelebrieren. Angeberei, um es genau zu sagen.“

„In Diepholz angemeldet?“

„Natürlich in Diepholz.“

„Die Farbe?“

„Gelb, mit schwarzen Streifen an den Seiten. Wieso ist das so wichtig? Ich meine, ist er tot oder ist er es nicht?“

Keine brennende Neugier in seiner Stimme. Eine Frage wie nach dem Wetter. Und doch, die Ruhe des Alten war gespielt, fand Lorinser, schien eine Frage eiserner Beherrschung zu sein. Die Finger bewegten sich, griffen in die Luft, als wollten sie einen Gegenstand ergreifen. Eine schwere Last schien ihn seit Langem zu beugen, eine tiefe Abneigung gegen die Welt, die er mit scharfem Hund und Stacheldraht von sich fern zu halten versuchte.

„Wir wissen es nicht“, gestand Lorinser. „Unser Zeuge behauptet zwar, sich keinesfalls getäuscht haben zu können, aber die Lichtverhältnisse lassen begründete Zweifel zu. Ist es denn häufiger geschehen, dass Ihr Sohn fortblieb?“

„Versackt ist er schon mal, ja, aber morgens war er immer da, hat sich umgezogen und ist zur Arbeit gefahren. Nein, es ist schon ungewöhnlich.“

„Wie lange leben Sie schon zusammen?“

Böhse strich sich über die Glatze. „Ich habe ihn zu mir genommen, als er neunzehn war. Jetzt ist er vier­undzwanzig. Also fünf Jahre.“

Genommen. Lorinser atmete tief ein. Das Bild einer knochigen Hand, die das Genick eines jungen Hundes ergreift und ihn kräftig durchschüttelt, drängte sich ihm auf.

„Es ist nicht gerade üblich, ein Kind dieses Alters zu adoptieren.“

Böhse zog ein kariertes Taschentuch aus der an den Knien glänzenden Hose und schnäuzte sich dröhnend. Kurz blickte er auf den Auswurf, rieb sich den Nasenrücken und hob die Hände.

„Wie Sie bemerkt haben werden, bin ich nicht mehr der Jüngste. Im November werde ich fünfundachtzig. Da denkt man anders über gewisse Dinge. Warum soll ich das alles“ – sein Blick umfasste Haus und Land – „Händen überlassen, die gierig danach zucken? Einem Schweinehund, den ich über Jahrzehnte hinweg mit meinem Geld gemästet habe?“

„Ihren Sohn meinen Sie ja wohl nicht, wenn Sie von Jahrzehnten sprechen?“

Böhses Lippen verbogen sich, die Mundwinkel zuckten. Es sah wie ein Lachen aus, war aber keines. Bitter die Stimme. „Nein, den nicht. Den da!“ Die ausgestreckte Hand, in der das Taschentuch wie ein Wimpel flatterte, deutete hinab zur Straße, hin zu einem rot gedeckten Flachbau, dessen blanke Scheiben sich in der Sonne spiegelten.

„Ein Verwandter?“

Der Alte schüttelte den Kopf.

„Nein, kein Verwandter. Chemie-Kröger. Ein Scheusal und gewissenloser Betrüger. Wenn Thorsten tot ist, dann hat ganz sicher der Schweinehund damit zu tun, das sage ich Ihnen!“

Er hat also doch Gefühle, stellte Lorinser fest, als er Böhses heftig zitternde Hand bemerkte. Blanker Hass in den Augen. Der Hund auf der Treppe kläffte. Mög­licherweise hatte er im Laufe der Zeit gelernt, die Stim­mungen seines Herrn zu erwittern. Böhse hob unwillig den Arm. Als treuer Festungssoldat kuschte der Rottweiler augenblicklich, wenn sich auch aus der bulligen Brust ein grollendes Knurren löste.

„Mir scheint, Liebe ist das nicht gerade, die Sie für diesen Herrn empfinden“, sagte Lorinser und nickte dem roten Dach jenseits der Straße zu.

„Keine Liebe, fürwahr!“, zischte der Alte und ballte in Richtung des Flachbaus drohend die rechte Hand.

„Warum, glauben Sie, kann er mit der Geschichte zu tun haben?“

Die schweren, wimpernlosen Lider senkten sich über die gelbgrünen Augen des Alten.

„Sie sind Polizist, finden Sie es doch heraus!“

„Es wäre einfacher, wenn Sie mir eine Erklärung böten.“

„Nein.“

Eine Absage wie der Klang eines Schusses. Aus überfüllter Seele mit einer gehörigen Portion Gift aus feuchter Kehle abgefeuert.

„Ich kann Sie nicht zwingen …“

„Obwohl Sie es gerne so hätten, nicht? Wie alt sind Sie?“

„Zweiunddreißig. Warum fragen Sie?“

Böhse starrte Lorinser an, rieb die Hände gegeneinander und zählte leise vor sich hin.

„Nun ja, Sie sind wohl zu jung, obwohl der Geist nicht auszurotten ist. Der Ungeist“, korrigierte er sich. „Sechsunddreißig haben die meinen alten Herrn und mich von unserem Besitz vertrie­ben, diese gestiefelten Barbaren. Wir haben alles stehen und liegen­ lassen müssen, das Land, das Haus, haben in Frankreich und später in Portugal vege­tiert und darauf gewartet, dass der Spuk ein Ende nimmt. Fremde haben sich unser Land unter den Nagel gerissen. Aber“, fuhr er mit einer Handbewegung auf das Dorf fort, „dann haben die gezittert, als wir wieder hier waren. Fünfundvierzig im August.“ Er brach ab, kicherte unvermittelt schadenfroh, als durchlebte er seine wahrscheinlich triumphale Rückkehr in die Festung mitsamt der Angst seiner Widersacher noch einmal.

„Die ehemaligen Nazis?“

„Die gemeine Flut, ja.“

„Die Zeiten sind vorbei, Herr Böhse. Auch die polizeili­chen Methoden haben sich geändert.“

„Aber nicht die Menschen, junger Mann, die nicht!“ Er schüttelte den Kopf, deutete wieder auf das Haus jenseits der Straße und wich einen guten Meter vom Tor zurück. „Ich sage Ihnen, die nicht! Die tragen jetzt nur andere Kleider!“

Als wirkte die Nachricht vom möglichen Ableben seines Sohnes erst jetzt, schlug er die knöchernen Hände vors Gesicht, starrte zwischen den gespreizten Fingern hindurch auf einen Punkt, der nur das Haus mit dem roten Dach sein konnte. Der magere Körper schien zu schrumpfen. Es hatte den Anschein, als fürchtete er, geschlagen zu werden. Lorinser drehte sich um. Das Dach war noch immer rot. Die Sonne schien. Nirgendwo eine Veränderung. Lediglich ein Unimog, im Schlepp einen mit Heuballen beladenen Hänger, rollte über die Straße. Was hatte den Alten von jetzt auf gleich so verändert? Litt er unter einem Trauma, ausgelöst vom Anblick des Krögerschen Anwesens? Sicherlich war es nicht nur Altersstarrheit, die ihn gefangen hielt. Furcht peinigte ihn. Wovor? Und weshalb? Warum dieses greifbare Misstrauen? Wieso, fragte Lorinser sich, habe ich jetzt das Gefühl, es mit einem Menschen zu tun zu haben, der nicht nur auf dem Sprung und in Verteidigungsstellung, sondern bis auf die Knochen verängstigt ist?

„Vielleicht sollten Sie mir doch einen Hinweis geben, Herr Böhse.“

„Verschwinden Sie und tun Sie Ihre Pflicht!“

So abrupt wie er das Fenster über der Treppe geschlossen hatte, drehte der Alte sich um und lief wie verfolgt, den mageren Körper grotesk vor und zurück schwingend, seiner Festung entgegen.

„Nur eine Frage noch!“, rief Lorinser hinter ihm her.

Der Alte drehte sich um. „Sie wollen sich wirklich Ihr Gehalt verdienen, was?“

„Ich wüsste gerne, in welcher Firma Ihr Sohn beschäftigt ist.“

„Bei der Kreissparkasse. In Diepholz“, kam es nach kurzem Zögern mit allen Anzeichen größten Widerwillens zurück.

Lorinser dankte und stieg in sein Auto.

3

„Sehr seltsam“, murmelte Hauptkommissar Steinbrecher, auf dessen Stirn sich dicke Schweißperlen gesammelt hatten. Er stellte den Spuren­koffer auf die Ladefläche des Passat und schüttelte seufzend den Kopf. „Der Sportschuh ist getragen worden. Deutliche Spuren, die da beginnen, wo die Grasnarbe aufhört. Sie enden an der Esche, fast genau unter dem Strick. Verstehst du, wieso einer sich einen Schuh auszieht, wenn er …?“

„Nein“, gestand Lorinser.

„Er hat Blut verloren“, fuhr der Kollege fort. „Ich habe an einem der aufgeweichten Papiertaschentücher Spuren gefunden. Kann sein, dass er sich verletzt hat und …“

„… oder schlicht ´nen dicken Schnupfen hatte.“

„Ja, auch das, oder verletzt war.“

Steinbrecher faltete die Hände, verschränkte sie vor dem Bauch­ansatz und blies, die sowieso schon hängenden Schultern noch mehr fallen lassend, die schwellenden Backen auf. Unter den Kollegen kreiste der Spruch, er neige zur Resignation, sobald er sich mit Problemen konfrontiert sah. Sie führten das auf seine von einemwahren Drachen beherrschten Ehe zurück, die laut den kollegial verbreiteten Gerüchten einige Wochen vor Lorinser Dienstantritt mit einem Eklat geschieden worden war. Seine Ex hatte ihn nach dem Urteil vor dem Amtsgericht im Beisein nahezu aller Prozessbeteiligten nicht nur geohrfeigt, sondern ihn kreischend einen „onanierenden Rohrkrepierer“ genannt, nur deshalb Slipper tragend, weil er unfähig sei, sich die Schnürsenkel zu binden. Ein Waterloo wurde der Zwischenfall dabei angeblich nicht wegen des recht ordinären Gekreisches der mit wehenden rostroten Haaren dreinschlagenden Dame, sondern weil der Kollege bar jeden Widerstands haltlos in Tränen ausgebrochen war und in wilder Flucht den Ehekriegsschauplatz verlassen hatte. Nicht, dass Lorinser ihn deshalb unsympathisch fand. Aber zu denken gab ihm, dass es das üble Gerede gab.

„Wie ist er hergekommen?“, fragte er nachdenklich. „Mit seinem Wagen? Gibt es Spuren?“

„Nur von ´nem Trecker. Trotzdem kann hier irgendwo ein Auto gestanden haben. Die Sperre an der Zufahrt ist ja offen.“

„Die hat erst unser Zeuge, hat Hollenberg aufgeschlossen.“

„Kann ja auch zu Fuß hergekommen sein.“

„Obwohl er ein Auto besitzt?“

„Selbstmörder handeln selten logisch. Da staut sich lange was auf, ehe die ernst machen. Es ist wie eine Explosion. Bang, ein Knall, aus. Ich weiß, wovon ich spreche.“

Das glaube ich dir, dachte Lorinser.

„Wie lange bist du schon bei der Polizei?“

„Gut achtzehn Jahre. Warum fragst du?“

„Weil hier schon mal einer gehangen haben soll. So um fünfundsiebzig herum. Der Bruder vom alten Böhse.“

„Weiß ich nichts von. Habe die ersten Jahre Innendienst gehabt. Keine operativen Sachen jedenfalls. Nee, da müsstest du mal die Kollegen in Lemförde befragen. Oder die vom Fachkommissariat 5 um die alten Akten bitten. - Glaubst du an einen Zusammenhang?“

„Immerhin handelt es sich um die gleiche Familie.“

„Ist aber verdammt lange her.“

„Wo du Recht hast, haste Recht. Vielleicht hat es ja mit Tradition zu tun. Könnte für die Böhses sozusagen der Stammplatz fürs kalkulierte Ableben sein.“

„Habt ihr das neuerdings in den Lehrgängen?“

„Den Gesamtzusammenhang erkennen, heißt das.“

„Wenn-es-denn-der-Aufklärung-dient …“, sagte Steinbrecher so schleppend, als müsste er jedes Wort mühsam aus dem Fundus seines Sprachschatzes scharren.

„Die Frage ist nicht nur, wie der Junge hierhergekommen ist. Ich frage mich, wie die Leiche, wenn es denn eine gegeben hat, abtransportiert wurde. Da sie in unmittelbarer Nähe nicht zu finden ist, schließt sich wohl ein Wegtragen so auf der Schulter aus. Es muss also ein Fahrzeug benutzt worden sein, oder?“

„Wir haben nur die Treckerspuren.“

„Der dem Zeugen Hollenberg gehört … Wer macht so was, Franz? Wer entdeckt einen Toten, schneidet ihn vom Strick und schafft ihn fort?“

„Vielleicht ein Perverser, der Leichen sammelt?“

„So große Alben gibt’s nicht.“

„Ich kann mir jedenfalls keinen Reim drauf machen. Vielleicht bringt ja die Blutanalyse was“, sagte Steinbrecher, den Kofferraum schließend. „Wäre hilfreich, wenn wir von dem Jungen Vergleichsmaterial hätten.“

„Ich kümmere mich drum“, sagte Lorinser. Seine Blicke wurden von einem weißen Wagen angezogen, der aus Richtung Hüde mit gehörigem Tempo über die schmale Asphaltstraße fuhr und schließlich vor dem offenen Schlagbaum zum Deichweg auf dem Seitenstreifen abrupt zum Stehen kam. Ein Mann stieg aus.

Steinbrecher fuhr ab. Lorinser ging auf den etwa vierzigjährigen Mann auf dem Parkstreifen zu. Er war gut einen Kopf größer als er, wohlgenährt, rotblond gelockt. Er trug verwaschene Jeans, eine Strickjacke, deren unregelmäßige Muster auf häusliche Handarbeit schließen ließen. Die schlammigen Lederstiefel mit den brüchigen Schäften schien er von seinem Großvater geerbt zu haben. Ein kurzer, abschätzender Blick. Die starken, wie gebleicht wirkenden Brauen hoben sich kaum merklich.

„Kann ich Ihnen helfen?“

Eine angenehm weiche und kultivierte Stimme.

„Kann sein“, sagte Lorinser. „Ich bin Kriminalbeamter. Sind Sie Anlieger?“

„Ja, wenn auch kein begeisterter.“ Der Blonde deutete mit dem Fernglas hinter sich. „Mein Haus steht dort, wo es immer dunkel ist.“ Seine linke Hand wies auf eine entfernte Baumgruppe, durch die kaum erkennbar ein weißes Fachwerkhaus mit schwarzen Balken zu erkennen war. „Fand ich anfangs wunderbar, bis sich herausstellte, dass die Ecke hier ein abgebrochenes Stück vom Mond ist.“

„Ausgesprochen idyllisch jedenfalls.“

„Auf den ersten Blick, ja. Aber das Leben hier draußen ist problematischer als Heino Müller es sich vorstellen kann. – Haben die russlanddeutschen Raubfischer mal wieder mit Handgranaten die Hunte beangelt?“

„Ach, machen die das?“

„Als Polizist sollten Sie das wissen. Wegen der Handgranaten, die auch mal in irgendeinem Wohnzimmer landen könnten.“

„Ich bin sicher, da kümmert man sich an der richtigen Stelle drum. Mir geht es um sachdienliche Hinweise in einem möglichen Todesfall.“

Lorinser sah keinen Anlass, die Situation nicht zu erklären. Ohne Namen zu nennen, schilderte er den Vorfall.

„Wir sind zwar recht spät zu Bett gegangen“, sagte Halvesleben, die Augen auf die stolz über dem Damm ragende hohe Esche richtend. „So gegen Mitternacht. Aber nein, bis dahin haben wir nichts Außergewöhnliches bemerkt. Wer ist denn dort zu Tode gekommen? Jemand aus dem Flecken?“

„Sagt Ihnen der Name Thorsten Böhse etwas?“

Halvesleben lachte auf. Bitter, meinte Lorinser.

„Mehr als genug. Hat der sich was angetan?“

„Wie kommen Sie darauf?“

Halvesleben lachte wieder. Aber ganz und gar nicht fröhlich.

„Erstens wär´s ein Segen für den Landstrich und zweitens kein Wunder bei dem Vater.“

„Können Sie das genauer erklären?“

„Ein Phänomen?“ Er hielt dem Beamten die offenen Handfläschchen entgegen. „Der alte Böhse ist ein Mysterium, ein Grenzfall, wenn Sie so wollen. Ein Typ, bei dem Sie vergebens fragen, was in ihm vor geht. Ein echtes Ekel! Einerseits ein Original, andererseits die pure Bosheit, auch wenn die Adoption dieses Jungen bei naiver Betrachtung einen anderen Schluss zulässt. Aber auch das war Bosheit. Chemie-Kröger, seinem ehemaligen Verwalter gegenüber, dem der Alte mit der Adoption eins auswischen wollte.“

„Sie scheinen ihn richtig zu lieben.“

„Ich verabscheue ihn. Mitsamt seinem Sohn.“

„Warum?“

„Ich habe das Halbhaus da im Moor vor etwa zehn Jahren gekauft. Von alten Leuten, denen lediglich das Gemäuer, jedoch nicht das Grundstück gehörte. Erbpacht, verstehen Sie? Ich bekam das Anwesen frei von sämtlichen Belastungen. So wenigstens stand es im Notarvertrag. Dummerweise übersah ich, dass Wolfhardt Böhse mit einem winzigen Anteil einer Leibrente im Grundbuch eingetragen war. Keine Tragik, glaubte ich, bis ich versuchte, das Haus mit einem Ausbau­kredit zu belasten. Die Sparkasse mauerte, weil es den Eintrag gab. Geld hätte es nur dann gegeben, wenn Böhse die Rangstelle im Grundbuch hätte löschen lassen. Ich wandte mich an Chemie-Kröger, der die Interessen Böhses vertrat.“ Halvesleben schlug mit der flachen Hand auf das Autodach. „Hat sich auch bemüht, aber …“

„Also nichts mit Kredit?“

„Böhse bestand darauf, dass ich fünftausend Euro an ein Tierheim spendete.“

„Haben Sie sich darauf eingelassen?“

„Hätte ich nicht gezahlt, wäre das Haus eine Ruine geblieben. Also biss ich in den sauren Apfel und berappte. Der alte Bock lacht sich wahrscheinlich immer noch ins habgierige Fäustchen.“

„Immerhin Tierfreund, der Alte.“

„Seine einzige Passion“, räumte Halvesleben ein. „Trieb­haft. Ersatz für Menschlichkeit, wenn Sie mich fragen. Leute wie ich sind dem Alten suspekt. Für ihn bin ich ein Landver­derber und Unruhestifter. Ich hätte hier niemals gekauft, wenn ich geahnt hätte, was auf uns zukommt.“ Er deutete mit dem Kinn in die Richtung seines Hauses. „Wenn ich an das Wege­desaster vor meinem Haus denke, fällt mir nur noch Verkaufen und Fliehen ein. Aber das können Sie sich wahrsacheinlich gar nicht vorstellen.“

„Doch, doch. Bin auch aus der Stadt … – Was ist denn mit Ihrem Weg?“

„Es geht um die Zufahrt zu meinem Haus. Als ich kaufte, war Sommer, der Boden hart. Ich hätte mir damals nicht im Traum einfallen lassen, hier in Herbst und Winter russische Schlammverhältnisse vorzufinden. Moor, verstehen Sie? Solch einen Weg zu befestigen, heißt, sein Leben lang Bauschutt anzufahren. Dabei ist Böhse, der das Land auf Erbpacht an Chemie-Kröger gegeben hat, nicht bereit, sich auch nur mit einem einzigen Cent an den Kosten zu beteiligen. Kröger bot mir den Rückkauf für sechzigtausend an, obwohl er ganz genau weiß, dass wir mehr als dreihunderttausend investiert haben.“

Lorinser hob die Schultern.

„Ein echter Schweinehund“, stieß Halvesleben hervor. „Wissen Sie, mir steht das alles hier.“ Er legte die rechte Hand an den Kehlkopf. „Mit meinen Nachbarn komme ich auch nicht zu Potte. Ein eigenartiges Pärchen. Schokolatiers, wenn sie verstehen, was ich meine. Schwule“, fügte Halvesleben angewidert hinzu. „Körnerfetischisten, die sich ein Stück Weideland gepachtet haben, um mit ihrem politisch korrekten Kleinwagen bei Vermeidung des gemeinsamen Weges darüber fahren zu können. Denen gehört die Reetdachkate gleich rechts vom Weg. – Kennen Sie sich aus?“

„Bin wohl daran vorbeigefahren. - Wie hatten Sie es eigentlich mit dem jungen Böhse?“

„Übelst ist geprahlt“, stieß Halvesleben bitter aus. „Ist ein Maulheld ohne Überzeugungen. Hat er den plötzlichen Wechsel aus dem Waisenheim in die Freiheit nicht verkraftet. Großkotzig, ein Kerl, der … Verdammt, warum ereifere ich mich eigentlich?“

Zwei, drei Nackenschläge zu viel, vermutete Lorinser.

„Ein Kerl, der was?“

„Einer, der keine Freunde hat und niemals haben wird. Das wollte ich sagen.“

„Feinde aber schon?“

„Trotz seines Schlages bei Frauen ist er äußerst unbeliebt. Wenigstens kenne ich niemanden, der ihm zugetan ist. Ich selbst gehöre dazu.“

„Da wird ja große Freude aufkommen, wenn er sich umgebracht haben sollte.“

„Ach was!“, stieß Halvesleben hervor. „Die wenigsten gön­nen einem anderen Menschen ein solches Finale. Auch ich nicht. Dabei hätte ich einige Gründe, den Böhses die Pest an den Hals zu wünschen. Ich leugne das gar nicht, aber … nein, so weit geht es nun doch nicht. - Waren Sie schon beim Alten?“

„Glauben Sie etwa, er versteckt den Jungen?“

„Ja, könnte durchaus sein“, sagte Halvesleben nachdenklich. „Böhse ist ein Satan, glauben Sie mir.“

„Ich habe ihn als alten, schwachen und verbitterten Mann kennen gelernt.“

„Alt ja, schwach nicht. Sie sollten mal sehen, wenn er seine Gewaltmärsche über Land macht. Da kommt sein hässlicher Köter kaum mit. Nein, nein, Böhse ist alt und verbittert, aber keinesfalls schwach!“

Halvesleben machte plötzlich einen verdrossenen Eindruck. Ein Großstadtmensch, der sich auf dem platten Land angekauft hatte, um sich den Traum vom einfachen und bewussten Leben zu erfüllen. Der in seinen Erwartungen enttäuscht wurde und zu resignieren schien.

„Sie sprachen davon, dass selbst die Adoption des Jungen Bosheit gewesen sei. Gegenüber Chemie-Kröger. Wieso?“

Halvesleben hob die rechte Hand.

„Genaues weiß niemand, aber im Dorf wird gemunkelt. Böhse ist von Haus aus Chemiker, war wohl auch Kaufmann und als solcher ein recht durchtriebener Spekulant, aber von der Landwirtschaft versteht er nichts. Also hat er seine Ländereien an Chemie-Kröger verpachtet. Irgendwann in grauer Vorzeit, so Mitte der fünfziger Jahre, zu einem von heute aus betrachtet lächerlich geringen Preis. Chemie-Kröger verdient sich an den Sachen jedenfalls dumm und dämlich, wenn Sie berücksichtigen, dass er inzwischen für einen Hektar einige hundert Euro verlangen kann und verlangt. Ich wenigstens muss das für meine Weide bezahlen.“

„Gibt es keine Anpassungsklausel?“

„Offenbar nicht. Wolfhardt Böhse hat da wohl nicht aufge­passt oder sich falsch beraten lassen. Er war ja schon damals recht alt. Was er mit in den Vertrag hat schreiben lassen, war ein Passus, der heute wiederum Chemie-Kröger auf dem Magen liegt. Das Land geht nur dann an ihn, wenn Böhse keinen leiblichen Erben einsetzen kann.“

„Das kann er doch auch nicht?“

Halvesleben lachte auf.

„So hat Kröger wohl kalkuliert. Falsch. Böhse nahm sich einen Anwalt und ließ sich – diesmal richtig – beraten. Er adoptierte Thorsten und hatte seinen Erben. Kröger stand da mit nassem Fell und schüttelt sich seitdem vor Zorn.“

„Thorsten ist doch aber nicht sein leiblicher Sohn!“

„Aber juristisch. Insoweit gibt es anscheinend rechtlich keinen Unterschied mehr. Kröger jedenfalls ist auf den Topf gesetzt worden. Das heißt, er wird wohl aufatmen, wenn zutrifft, dass der junge Böhse Selbstmord begangen hat.“

„War er der Typ?“

„Thorsten? – Ach, wissen Sie, ich zweifle dran, ob es den Selbstmörder überhaupt gibt. Als Muster, meine ich. Es wird wohl die Situation sein, die einen in den Tod treibt.“

Lorinser zündete sich eine Zigarette an. „Wie beurteilen Sie Kröger?“

„Als beinharten Geschäftsmann, der mit allen Salben gerieben ist. Nach außen jovial und überaus nett, aber … jedenfalls sehr wohlhabend.“

„Der über Leichen gehen könnte?“

Halvesleben sah Lorinser aus fragenden Augen an. Seine Hände suchten und fanden sich. Kräftige Hände, die ordentlich zupacken konnten. „Ich habe keinerlei Sympathien für ihn, aber verleumden möchte ich ihn auch nicht, wenngleich … Wie gesagt, hier wehen eine Menge Gerüchte …“

„Über Kröger?“

„Über die gesamte Mischpoke, die hier während und nach dem Krieg die chemische Industrie aufgebaut hat. Böhses Bruder soll damals mit seinen Erfindungen die wichtigste Rolle gespielt haben. Nach seinem Tod muss es nicht nur unter seinen Mitarbeitern heiße Kämpfe um die Produktrechte gegeben haben. Wenn Sie darüber mehr wissen wollen, müssen sie allerdings Kompetentere fragen. Zum Beispiel den Alten.“

Lorinser entschloss sich, genau das zu machen.

4

Seine heimliche Hoffnung erfüllte sich nicht, der Gehenkte, wie Lorinser Thorsten Böhse in Gedanken nannte, könnte sich an seiner Arbeitsstelle in der Kreissparkasse in Diepholz aufhalten. Dessen Vorgesetzter gerierte sich am Telefon zunächst wie ein Geheimnisträger, kam nach einigem Zureden dann doch zur Sache.

„Nein, ist er nicht, Herr Kriminalobermeister. Er hat sich noch nicht mal zu einem Anruf aufraffen können, obwohl er genau weiß, wie arg im Druck wir sind.“ Kurze Pause. „War wohl wieder mal eine lange Nacht, wie?“

„Nicht auszuschließen. – Ist er zuverlässig?“

„Nun … alles in allem schon, wenn er hin und wieder auch mit Katern zu kämpfen hatte.“ Der Herr Abteilungsleiter lachte säuerlich. „Wie diese jungen Burschen heute so sind. Wir haben ja auch mal über die Stränge geschlagen und nicht abgeneigt, ein Gläschen über den Durst zu kippen. Nein, unzufrieden bin ich nicht, wirklich nicht. – Was ist denn mit ihm?“

„Das wissen wir noch nicht“, sagte Lorinser. „Sollte er sich melden oder bei Ihnen auftauchen, bitte ich um Nachricht.“

Lorinser steckte das Handy ein und blickte misstrauisch durch die zur Blindheit neigende Windschutzscheibe in den sich wieder beziehenden Himmel. Düstere Wolken, von der zwischen ihnen blitzenden Sonne zu einem gewaltigen Hochgebirgsgemälde stilisiert, drängten sich über dem Stemweder Berg zusammen. Es war kurz vor elf. Der Hunger meldete sich mit schmerzhaftem Knurren. Obwohl er hinter einer Bahnüberführung den nach links weisenden Hinweis auf „Tiemanns Hotel, Café und Restaurant“ entdeckte, entschloss er sich, die Polizeistation aufzusuchen.

Der Vorraum befand sich im Obergeschoss des Hauses und litt unter dem Versuch, ihm mit Urlaubsfotos eine persönliche Note zu geben. Mehrere Büros. In einem davon, das als Empfang diente, ein etwa dreißigjähriger bebrillter Polizeimeister, der einer offensichtlich ortsfremden Dame den Weg nach Dümmerlohhausen erklärte, Lorinser mehrmals taxierte und schließlich, als die Dame dankend abging, nach seinem „Begehr“ fragte.

„Der Alte vom Berg? Nein, darüber kann ich Ihnen so gut wie nichts sagen. Aber warten Sie mal.“ Er wandte sich um und rief in den Raum hinein: „Heiner, komm doch bitte mal nach vorne. Hier wird deine Nummer verlangt.“ Sich wieder Lorinser zuwendend. „Der Kollege kennt den Betrieb hier seit Ewig­keiten.“

Heiner Bossen schob sich mit imposanter Bedächtigkeit heran. Mittelgroß, gedrungen, die Uniformjacke geöffnet. Im Ausschnitt ein grauer, das schwappende Ponum kaschierender Pullover. Die Pfirsichhaut seines Gesichtes von unendlich vielen Adern gesprenkelt, die Nase ein klobiger, violett changierender Zinken, eingehüllt in eine von Porenkratern übersäte Fetthaut, aus der sich wie von Silikon aufgeblasene Lippen stülpten.

Ein Freund von Traurigkeit schien der Hauptkommissar jedenfalls nicht zu sein. Er streckte Lorinser die gut gepol­sterte Rechte entgegen. Sein Doppelkinn wackelte bei jedem Nicken, mit dem er die Fragen des jungen Beamten quittierte.

„Nee, nee, das ist wieder mal einer seiner dämlichen Streiche“, manifestierte Bossen mit der Gewissheit eines Platzhirsches, der auch die letzten Seelenfalten seiner im Revier lebenden Schützlinge zu kennen vermeint. „Das Thörstchen ist keiner von der Sorte. Der muss ständig beweisen, was er für ein toller Hecht ist. Und Hollenberg? Nee, nee, der Johannes ist ganz schön genarrt worden, der arme Hund.“

Er war nicht nur im Besitz der Wahrheit, er wusste also auch über den aktuellen Stand des Falles Bescheid. Offensichtlich hatten die Streifenbe­amten bereits die Buschtrommel gerührt.

Bossen führte Lorinser in den hinteren Bereich des Reviers. Dort befand sich ein mittelgroßes Büro, auf dem Schreibtisch Bildschirm und Tastatur, an der Wand ein Messtischblatt der Gegend und wie im Vorraum großformatige hinter Glas gesperrte Fotos mit Wüstenmotiven. Eines zeigte den braun gebrannten Bossen auf einem prächtig aufgezäumten Kamel vor einer gigantisch hinter ihm aufragenden Sanddüne posierend.

An den weißen Wänden Schränke und Regale voller Akten. Zwei Fenster, durch die grelles Sonnenlicht hineinflutete. Wetter wie im April.

Lorinser nahm auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz. Bossen fingerte eine brennende Zigarre aus dem Reklameascher und lehnte sich zurück.

„Sie werden sehen“, sagte er gereizt, „bald taucht der Schubiak wieder auf und lässt sich als großen Helden feiern!“

„Ich kann nach Hollenbergs Aussage schlecht zur Tagesordnung übergehen.“

„Glauben Sie mir, Johannes hat´ne Macke, werter Kollege. Und zwar´ne ganz ordentliche.“

Er tippte sich an die Stirn. Asche pulverte auf seine Jacke. „Die ganze Familie hat´s ein bisschen hier oben. – Sind Sie aus Richtung Osnabrück hergekommen?“

„Ja, über Stemshorn.“

Heiner Bossen nickte ihm aus der Höhe seiner in über dreißig Jahren gesammelten Erfahrung zu.

„Ein paar hundert Meter vor der Abfahrt gab‘s mal ein Gasthaus. Da hätten Sie bis vor einem Jahr ein spätes Mädchen entdecken können, die Margarete, das tüddelige Ding. War die ältere Schwester vom Johannes. Saß Tag für Tag von früh bis spät auf den kalten Steinen und wartete. Wartet auf ihren Verlobten, der um sechzig herum mit seiner Horex gegen einen Baum gefahren ist.“ Die Zigarrenhand berührte zum zweiten Mal die Stirn, aber dieses Mal regnete es keine Asche. „Als die Nachricht von seinem Tod kam, hat sie das einfach nicht wahr haben wollen. Sie ist immer wieder zu dem Gasthaus gegangen, wo die beiden sich immer getroffen hatten. Weder Reden noch das Grab, das man ihr zeigte, haben sie davon abgebracht. Lief dahin, weil sie sicher war, dass er sie da wieder abholen wird.“ Bossen tippte sich zum dritten Mal an die Stirn. Schien bei ihm eine Art Tick zu sein, wenn nicht gar der Hinweis auf das Intaktsein der eigenen grauen Zellen. „Das ging Jahrzehnte so. Sie gab einfach nicht auf, die Margarete bis … na ja, bis sie dann endlich gestorben ist im letzten Sommer.“

„Das sind ja Geschichten …“

„Tja, so ist das nun mal, wenn da oben was kaputt geht.“ Die Hand ging wieder zur Stirn. „Der Johannes ist auch ein bisschen daneben. Familienerbe, verstehen Sie? Aber glauben Sie nicht, dass ich mich darüber lustig machen will. Ich will nur darauf hinweisen, dass seine Sprüche mit Vorsicht zu genießen sind.“

Er blies Lorinser den ätzenden Rauch ins Gesicht.

„Immerhin haben wir Spuren gefunden. Wer lässt seinen Schuh in der Landschaft liegen? Die Aussage Hollenbergs rundet das Bild lediglich ab.“

„Warum sollte der junge Kerl sich das Leben nehmen? Dem geht es so gut wie nie zuvor! Der verdient Geld, hat ‘n flottes Auto, mit dem er die Mädels flach kriegt. Gut aussehen tut er auch noch! Was also macht er? Er zeigt seiner Clique, dass er der Größte ist. So ist das nun mal mit Angebern. Nee, Kollege, der macht mal wieder eine seiner Touren.“

„Möglicherweise in Richtung Himmel.“

„Nee, nee, mein Lieber, so einer landet nicht im Himmel!“

Ein heftiges Lachen, begleitet vom quälenden Rasseln seiner Teer geschädigten Lungen, trieb ihm Tränen in die Augen.

„Wer weiß“, sagte Lorinser. „Jedenfalls wäre er der zweite, der die Reise von dort antrat. Von der gleichen Stelle aus, wie mir erzählt wurde.“

„Ach Johannes und die alten Geschichten!“ Bossen seufzte theatralisch und wischte sich mit dem Handrücken die Nässe aus den Augen. „Ich war damals neu hier und hatte einen Riesenbammel, mir die Leiche anzusehen. Sah auch übel aus, wie Hinrich sich zugerichtet hatte. Glücklicherweise musste ich nur zusehen, wie die von der Mordkommission den abgefertigt haben. Meine Meinung ist, so Selbstmörder müssten sich angucken, wie sie danach aussehen. Das würde so manchen davon abhalten.“

„Ja, könnte der Präventions-Hit sein“, sagte Lorinser. „Sollten Sie unbedingt an die Ausbilder weitergeben. Die werden sich freuen.“

Bossen stutzte, lachte trocken auf und drohte mit dem Finger, ohne jedoch auf den Einwurf einzugehen.

„Wenn Sie auf einen Zusammenhang spekulieren, mein Freund, dann vergessen Sie dat dumme Tüch von Brudermord und so. Hinrich Böhse hat selbst Hand an sich gelegt. Und das hat er, weil er sich mit seinen Chemiebuden ruiniert hat. Wenn ich nicht irre, hat man auch einen Abschiedsbrief gefunden.“

„Gibt es Angehörige? Eine Witwe, Kinder?“

„Frauen waren nicht sein Ding.“

„Homosexuell?“

„Weiß ich nicht, will ich auch nicht wissen. Ich weiß nur, dass es eine ziemlich traurige Beerdigung war. Zwei, drei Piepelchen aus seiner Firma, der Pastor, die alle froh waren, als es vorbei war.“ Die Stimme senkte sich zu einem Flüstern. „Und was den Alten, den Wolfhardt angeht, der hatte noch nicht mal einen Kranz für seinen Bruder über. Na ja, bei so einem ist wohl auch nix anderes zu erwarten.“

Klang nicht nur verächtlich, klang, als hätte auch Bossen seine üblen Erfahrungen mit dem Alten vom Berg gemacht.

„Wie stehen Vater und sein Ziehsohn zueinander?“

„Jedenfalls nicht wie Vater und Sohn. War bestimmt keine christliche Nächstenliebe im Spiel, als er das Thörstchen adoptierte. Das war Berechnung, ein Schlag ins Kontor seines ehemaligen Verwalters Kröger, dem er nicht das Schwarze unter dem Nagel gönnt.“

„Wenn er Kröger als Verwalter eingestellt hat, muss er ihm zunächst vertraut haben.“

„Der traut niemandem, selbst seinem eigenen Arsch nicht, wenn ich das mal so klar sagen darf. Alles, was aus der Gemeinde kommt, ist Gift für ihn. Braucht er mal einen Handwerker, bestellt er ihn von außerhalb. Selbst zum Einkaufen fährt er in die Nachbargemeinden oder gar bis Osnabrück. Nee, aus dem Ort gönnt er keinem was.“

„So was macht man nicht grundlos, oder?“

„Alle werden als Ferkel geboren, sagt man, aber aus manchen werden echte Schweine.“

„Alles nur Biologie, Herr Bossen?“

„Natürlich nicht.“ Der Zigarrenstummel zerplatzte im Ascher. „Hass spielt da schon eine wichtige Rolle. Er kommt nicht davon los, dass die Nazis ihm übel mitgespielt haben Kann einfach keinen Schlussstrich ziehen, der dösige Starrkopf!“

„Ist Böhse Jude?“

„Ein Weißer, würde ich mal sagen, von Geburt aus nicht.“

Bossen lachte, als hätte er einen üblen Witz erzählt.

„Wieso hatte er Probleme mit den Nazis?“

„Na ja, wenn man die alten Leute hört, waren die Böhses hier die großen Herren. Viel Land, viel Geld und … na ja, wohl auch Großkotzigkeit. War ja eine verdammt arme Gegend. Böhse Zungen behaupten, die Nazis wären ganz erschrocken gewesen, als sie die Moore trocken legten und dabei richtige Menschen entdeckten. Hier ging es plötzlich aufwärts, klar, dass fast alle stramm hinter denen standen.“

„Bis auf die Böhses wahrscheinlich.“

„Die hatten halt ihren eigenen Kopf. Und die Nazis verga­ßen solche Leute ja nicht, die waren längst in den schwarzen Büchern registriert. Ob zu Recht oder Unrecht, weiß ich nicht, jedenfalls waren die Böhses überzeugt, man werde ihnen das Fell über die Ohren ziehen. Weil sie Angst hatten, sind sie bei Nacht und Nebel nach Frankreich abgehauen. Nur der Hinrich ist geblieben.“

„Und der hat´s dann ausgebadet, oder wie?“

„Der Hinrich? Nee, der konnte es ganz gut mit den Braunen. Für ihn wurde es erst bitter, als der Krieg zu Ende war und die Alliierten Fragen zu stellen begannen. Wurde interniert. Nicht lange, ein Jahr oder so oben in Bremen bei den Tommys. So richtig zusammen kamen die Brüder ja auch nicht mehr, waren wie Hund und Katz' und gingen sich aus dem Weg. Bis das Geld dann alle war und er den Schlussstrich gezogen hat, der Hinrich.“

„Wer hat damals den Fall bearbeitet?“

„Die Diepholzer selbstverständlich. Wir hier unten auf dem leeren Acker waren ja nur für die Hühnersachen zuständig.“

„Sie sagten, Hinrich Böhse besaß Patente. Wer hat denn die geerbt?“

„Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich der Bruder. Es gab ja ansonsten keine Familienangehörigen mehr, die Ansprüche hätten geltend machen können. Ob Hinrich überhaupt was vererben konnte, bezweifle ich. Da waren die Gläubiger. Und der Alte hat wohl auch kein Interesse an dem Nachlass gehabt. War froh, dass er sich aus allem raushalten konnte.“

„Womit er sich schließlich ins eigene Fleisch geschnitten hat?“

„Wenigstens sieht er das so. Kröger denkt anders darüber. Er hatte Glück und den richtigen Riecher, das ist alles. Aber Böhse muss sich bei dem, was er Monat für Monat einstreicht, auch nicht beschweren. – Aber“, fügte er mit einem Blick auf seine goldene Armbanduhr hinzu, „das hat ja wohl nichts mit unserem Thörstchen zu tun, nicht wahr?“

„Fäden sind oft seltsam gesponnen.“

Lorinser betrachtete das plötzlich schlaffe Gesicht des Polizisten, die noch immer vor Nässe glitzernden Augen, in denen der Widerwille, das Gespräch fortzusetzen, deutlich zu erkennen war.

„Was ich mir nicht vorstellen kann, ist, dass der junge Böhse isoliert wie Treibgut durch die Landschaft segeln soll. Er muss jemanden geben, bei dem er sich aussprechen, bei dem er Unterschlupf finden kann!“

„Ist doch eine andere Generation“, sagte Bossen resigniert und ließ den Blick über die Wüstenfotos gleiten. „Mit der hat man nur zu tun, wenn es Ärger gibt …“

Ein müde gewordener Dorfbulle. Die einstigen Illusionen waren längst mit dem Schleifstaub der dienstlichen Routine verweht. Was geblieben war, dämmerte als Ausdruck einer diffusen Sehnsucht nach privater Verwirklichung in den aufwändig gerahmten Fotos an der Wand vor sich hin.

„Und die Mädels? Sie sagten, er hat keine von der Bettkante flitzen lassen.“

„Dick gemacht und sitzen lassen hat er se!“

„Haben Sie Namen?“

„Meinen Sie, die bringen Ihnen was?“

„Ja.“

Bossen schüttelte den Kopf.

„Ich glaube, Sie reißen bei den armen Dingern nur alte Wunden auf, aber wenn Sie meinen …“ Er hielt inne, strich sich mit der linken Hand über die Stirn. „Inzwischen geht er ja an alles ran, was sich nicht wehrt. Im Festzelt gestern Abend verdrehte er der Simmerau den Kopf, und die könnte seine Großmutter sein. Aber vielleicht ist er klamm und verspricht sich von der was in die Tasche. Geld scheint sie ja zu haben, wenn man sieht, wie viel sie in ihre alte Scheune gesteckt hat.“

„Wieso glauben Sie, dass zwischen den beiden was war?“

„Sie war einfach hin und weg. Die Blicke, die Albernheit, das Gegacker! War richtig peinlich, wie die ihm beim Tanzen auf die Pelle kroch. Einen Kerl hat sie ja nicht, wie´s aussieht, und dann kommt plötzlich Adonis höchstpersönlich … Erzählen Sie mir nichts von alternden Weibern!“, fügte er nach einem Seufzen hinzu.

Bossen war nur eine knappe Stunde geblieben und gegen einundzwanzig Uhr nach Hause gegangen. Ob und wann die beiden das Zelt gemeinsam verlassen hätten, wusste er nicht zu sagen. Nur so viel „zur Person“: Gertraud Simmerau sei Wirtschaftsberaterin, etwa fünfzig Jahre alt, „stamme aus der Freiburger Ecke“ und hatte ein durch Brandstiftung ruiniertes Anwesen eines spurlos aus der Gegend verschwundenen Schriftstellers ersteigert und es „mit allen Schikanen“ in einen „wahren Palast“ umbauen lassen. Sie benutze das Haus nur an wenigen Wochenenden und „höchstens Mal“ – wie im Augenblick - für einige Wochen im Sommer.

„Würde mich gar nicht wundern, wenn die ihn kaputt gevögelt hat und er da seinen Rausch ausschläft. – Vielleicht löst ein Anruf Ihr Problem.“

Bossen schob Lorinser den Telefonapparat entgegen und buchstabierte aus einem dünnen Telefonbuch die Nummer. „Nichts“, sagte er Lorinser nach langem Klingeln. „Vielleicht ist sie schon wieder abgereist.“

„Ich glaube, Sie reißen bei den armen Dingern nur alte Wunden auf, aber wenn Sie meinen …“ Er hielt inne, strich sich mit der linken Hand über die Stirn. „Inzwischen geht er ja an alles ran, was sich nicht wehrt. Im Festzelt gestern Abend verdrehte er der Simmerau den Kopf, und die könnte seine Großmutter sein. Aber vielleicht ist er klamm und verspricht sich von der was in die Tasche. Geld scheint sie ja zu haben, wenn man sieht, wie viel sie in ihre alte Scheune gesteckt hat.“

„Wieso glauben Sie, dass zwischen den beiden was war?“

„Sie war einfach hin und weg. Die Blicke, die Albernheit, das Gegacker! War richtig peinlich, wie die ihm beim Tanzen auf die Pelle kroch. Einen Kerl hat sie ja nicht, wie´s aussieht, und dann kommt plötzlich Adonis höchstpersönlich … Erzählen Sie mir nichts von alternden Weibern!“, fügte er nach einem Seufzen hinzu.

Bossen war nur eine knappe Stunde geblieben und gegen einundzwanzig Uhr nach Hause gegangen.

---ENDE DER LESEPROBE---