Black Bottom - Martin Keune - E-Book

Black Bottom E-Book

Martin Keune

3,9

  • Herausgeber: BeBra Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Berlin, 1930. Bei einem Giftgas anschlag auf den legendären Tanzpalast "Femina" am Tauentzien sterben elf Menschen. Auch Kriminalkommissar Sándor Lehmann kommt nur knapp mit dem Leben davon - denn eben noch stand er inkognito als Jazzmusiker auf der Bühne. Bei der Aufklärung des brisanten Falls hat er gleich zwei Probleme: Er muss zusehen, dass sein geheimes Doppelleben nicht auf fliegt, und sich mit dem neuen Kollegen Belfort herumärgern, einem linientreuen Nazi, der über das quirlige Nachtleben der Reichshauptstadt ganz eigene Ansichten hat ... Der Auftakt zu einer neuen Krimiserie mit dem Klarinette spielenden Kommissar Sándor Lehmann "Keune zieht gekonnt eine Reihe von literarischen Registern. Dabei ist das, was so anschaulich und farbig wie ein spannender Roman daherkommt, genau recherchiert" DeutschlandRadioKultur über Martin Keunes "Groschenroman"

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Seitenzahl: 343

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Martin Keune

Black Bottom

Kriminalroman

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

ebook im be.bra verlag, 2013

© der Originalausgabe:berlin.krimi.verlag im be.bra verlag GmbHBerlin-Brandenburg, 2013KulturBrauerei Haus 2Schönhauser Allee 3710435 [email protected]: Claudia Jürgens, BerlinUmschlag: Martin Keune (Foto: © SZ Photocollection).ISBN 978-3-8393-6124-5 (epub)ISBN 978-3-89809-528-0 (print)

www.bebraverlag.de

FORD A, ROT

Halb acht abends. Von der Marienkirche klangen zwei Glockenschläge durch das Verkehrsgetöse herüber; höchste Zeit, endlich Feierabend zu machen und zu sehen, dass er raus in die Stadt kam.

Zwischen Sándor Lehmanns etwas zu eleganten schwarzen Schuhen und der Sandsteintreppe knirschte der Split der Straße, als er die breite Treppe hinunter zum Ausgang ging. Er drückte sich an das schwere Geländer, um eine schimpfende Gruppe von Menschen vorbeizulassen, die nach oben wollten: Lehmanns Kollegen von der Nachtschicht schleppten ein paar Randalierer in die Vernehmungsräume; die Spätschicht fing ganz offensichtlich gleich mit Hektik an.

Sándor nickte den Kollegen zu und streifte die Festgenommenen mit einem kurzen Blick. Das sah nach Politik aus; die Streithähne wären am liebsten noch hier auf der Treppe mit Fäusten und Zähnen aufeinander losgegangen und mussten mit Gewalt daran gehindert werden. Der Polizeipräsident hatte vor ein paar Tagen mal wieder den Angriff verboten, doch die Nazis verkauften ihr Radau-Blatt trotzdem und bekamen sich natürlich prompt mit den Roten in die Haare. Die Prügelei hatte sich die halbe Friedrichstraße hinuntergezogen, bis Lehmanns Kollegen den ganzen Pulk en bloc in die grüne Minna gezerrt und ins Revier am Alexanderplatz verfrachtet hatten, erläuterte ihm Kollege Hansen, außer Atem von dem Gerangel. Jetzt musste sortiert werden, wer in welche Zelle kam. Da durfte man keine Fehler machen, sonst gab es Hackfleisch hinter Gittern. Aber die Jungs von der Nachtschicht – Lehmann erkannte neben Hansen Schmitzke und den dicken Plötz – hatten das Ding im Griff, da war er sicher. Es war ja nicht das erste Mal. Die Zeitungsverkäufer und die Kommunisten kriegten unten in den Vernehmungsräumen im Keller ihre Abreibung – und morgen waren für jeden blauen Fleck und jeden verlorenen Schneidezahn drei neue von diesen Burschen auf der Straße im Einsatz. Eigentlich sollten wir Kriminalbeamten uns ja um die Klassiker des menschlichen Zusammenlebens kümmern, dachte Lehmann, um Mord und Totschlag, um Nutten, Hehler und Banditen. Stattdessen hielt sie rund um die Uhr die Politik auf Trab.

Die Politik! Er selbst hatte aufgehört, an die Politik zu glauben, vor Langem schon. 14/18 hatten sie ihm die Politik ausgetrieben; im Schützengraben gab es keine Weltanschauung, da war man kein Monarchist oder Demokrat oder was auch immer. Da war man ein armes Würstchen mit vollgeschissenen Hosen, und man schwor sich: Wenn ich hier rauskomme, hole ich alles nach, was ich an Leben verpasst habe. Um jeden Preis.

Sándor Lehmann hatte nicht viel geschworen im Leben – den Fahneneid, den Polizisteneid und sicherlich ein paarmal die ewige Treue –, aber den Eid im Schützengraben, den hatte er gehalten. Nichts mehr verpassen im Leben. Nichts auf die Zukunft verschieben, auf irgendein gerechtes bolschewistisches Paradies oder das großdeutsche Arierland der besoffenen Herrenmenschen, die mit dem Hitlergruß aus den Bierkellern gekrochen kamen, sondern jetzt sofort loslegen mit dem Leben.

Loslegen – das war natürlich leicht gesagt für einen einundzwanzigjährigen Habenichts aus dem Wedding. Für einen, der im Arbeiter-Schalmeienorchester die Klarinette geblasen hatte, die erste Zigarre geraucht mit zwölf, das erste nackte Mädchen gesehen als Spätzünder mit fünfzehn. Der sonst noch nichts erlebt hatte, als der Krieg kam.

Und nach dem Krieg war das große Leben auch erst mal ein gutes Stück Arbeit. Ohne Geld war die süße Sause, die Sándor Lehmann vorgeschwebt hatte, wirklich verdammt viel Arbeit.

Immerhin war schnell klar gewesen, wie man als Habenichts wenigstens in Sichtweite des großen Lebens kommen konnte: bei der Polizei. Natürlich hatte die Schmiere bei Lehmann und seinen Weddinger Jungs keinen sonderlich exzellenten Ruf. Wer ihm mit zwölf prophezeit hätte, dass er mal Bulle würde, hätte gleich in die Fresse gekriegt – aber waren diese ganze Weddinger Kumpanen-Duselei, diese gesalbte Arbeiterklassensülze nicht auch nur Politik, bei der man selbst als Einzelner nur auf der Strecke bleiben konnte? Sándor Lehmann wollte nicht auf der Strecke bleiben, ums Verrecken wollte er das nicht, und schon in seinen ersten Jahren als kleiner Schupo hatte er mehr Regierungsgebäude, Bankfilialen und Protzvillen im Westend von innen gesehen als sein Vater und sein Großvater zusammen in ihrem ganzen Leben als achtbare Proletarier. Er hatte noch keinen Smoking im Schrank gehabt – das hatte sich inzwischen geändert –, aber trotzdem war er in den mondänsten Restaurants und Tanzpalästen unterwegs. Auch wenn es damals vielleicht nur einen bekloppten Zechpreller zu verhaften gegeben hatte.

Apropos Tanzpalast: Höchste Zeit, standesgemäß den Feierabend einzuläuten. Lehmann sah auf die Armbanduhr und bog in ein Treppenhaus im Hofgebäude ein. Die Wagenmeisterei im Keller freute sich regelmäßig über seine kleinen Aufmerksamkeiten aus den Kneipenrazzien – eine Flasche Schnaps, sorgfältig in Zeitungspapier gewickelt – und war ihrerseits geradezu begierig darauf, ihm selbst ab und zu mal eine Freude zu machen.

Unten in der Tiefgarage am Alexanderplatz standen die beschlagnahmten Karossen all der wilden Männer, die hier tagtäglich wegen ungebührlichen Betragens befragt wurden. »Was genau hat Sie emotional so aufgeregt, dass Sie den Bankkassierer und zwei unschuldige Bankkunden mit einem importierten 455er Webley-Revolver erschießen mussten?« Psychologie war der letzte Schrei, die Psyche der Täter wurde in dünne Scheiben geschnitten und vorsichtig unterm Mikroskop bestaunt. Man könnte uns für den Zoologischen Garten halten, dachte Lehmann, für Wissenschaftler, die voll Ehrfurcht eine neue Spezies erforschten – eine Spezies mit scharfen Zähnen zwar, aber ohne jede Spur von Bosheit. All die wilden Tiere töteten und raubten nur, weil das Gesetz der Wildnis es ihnen so befahl …

Sándor lachte kopfschüttelnd auf. Immerhin gab es auch noch altmodische Methoden, zum Beispiel die Spurensicherung – und sein Chef Gennat war bei allem Interesse für die menschliche Psyche vor allem auch ein exzellenter Handwerker. Ein Einschuss in der Beifahrertür, ein Blutfleck auf der Rückbank oder ein Skelett im Kofferraum: alles gute Gründe, die einkassierten automobilen Beweisstücke auch mal den Kollegen in der Keithstraße am Wittenbergplatz vor die Nase zu halten. »Beweisstücksichtung« stand dann bei der Mordkommission im Protokoll, und wer es seltsam fand, dass er einen für die Überführung zwischen den Revieren bereitgestellten Maybach oder 260er Mercedes schon am Vorabend des geplanten Transportes aus der rolltorgesicherten Tiefgarage fuhr, sollte lieber froh sein, dass hier ein aufopferungsbereiter Bulle sogar nach Feierabend noch eigenhändig zur Aufklärung eines Falles beitrug.

Diesmal war es ein eleganter roter Ford A, überschwänglich parfümiertes Beweisstück im Fall einer erpresserischen Hausbediensteten. Das rote Biest schnurrte vorbildlich am Berliner Schloss vorbei. Unter den Linden stieg das Premierenpublikum aus den Limousinen; Busse scheuchten die Radfahrer vor sich her wie der Hecht das Kroppzeug. Sándor Lehmann hupte, einfach nur so, weil sein sportliches Gefährt eine Hupe hatte. Der Frühling 1930 war warm und lebendig; die Stadt vibrierte; die Frauen, die bei jedem Hupen großäugig und verträumt aufsahen, waren noch schöner als vor ein, zwei Wochen. Er sann rhythmisch hupend vor sich hin. Im Eau-de-cologne-getränkten Innenraum des Wagens schien sich eine der frühlingshaft entblätterten Grazien schon mit glänzenden Lippen auf der Rückbank zu räkeln – nein, in Wahrheit kollerte dort nur die Klarinette im schwarzen Pappfutteral hin und her. Sándor betrachtete sein regloses, durch die kräftige Stirn und die flach gehauene Nase trotzdem ziemlich markantes Konterfei unter seinen Römerlöckchen im Rückspiegel und grinste. Ein hupender Bulle mit Klarinette und nicht ganz legal abgezweigtem Ford A auf seinem Weg in die Berliner Nacht: Es gab, weiß Gott, miserablere Anfänge für einen gelungenen Abend als diesen.

TEN CENTS A DANCE

Der Pförtner in der Keithstraße 30 hätte so spät am Abend für die Hofgarage sowieso keinen Schlüssel gehabt, wenn Lehmann ihn danach gefragt hätte: Schon deshalb musste die Abgabe des knallroten Beweisstückes leider bis morgen warten, und Sándor hatte den Wagen über Nacht für sich. Einmal war es ihm tatsächlich passiert, dass ein blasierter Schnösel vor einem mondänen Weinrestaurant im Grunewald neben dem Corpus Delicti – einem aufreizend geschwungenen Mercedes in zweifarbiger Lackierung, cremeweiß und himmelblau – aufgetaucht war und das beschlagnahmte Gefährt entgeistert als sein Eigentum reklamiert hatte. Sándor war seelenruhig ausgestiegen, hatte den Wagen umrundet und sich unangenehm nah an den rotgesichtigen Wagenbesitzer gestellt. Er sprach mit gedämpfter, aber scharfer Stimme, und die Zornesadern auf der Stirn schwollen ihm an dabei.

»Ihr Automobil? Mein lieber Scholli, stecken Sie nicht schon tief genug drin im Schlamassel? Wollen Sie jetzt noch aus lauter Blödheit eine Ermittlungsarbeit behindern, die oberste Reichsangelegenheit ist? Wenn Sie jetzt Krach schlagen – oder wenn Sie morgen früh auch nur einer Menschenseele ein Sterbenswörtchen von diesem Zusammentreffen sagen; und wenn’s der Polizeipräsident selber wäre –, dann können wir nichts mehr für Sie tun, dann sind Sie geliefert. Deshalb gehen Sie mir besser aus dem Blickfeld, bevor ich Sie an Ort und Stelle hopsnehme, Sie Fettsteiß, Sie!«

Das wirkte immer, und das hatte auch diesmal gewirkt. Der Bankdirektor, Reitstallbesitzer, Generalbevollmächtigte oder was auch immer war das Anherrschen von Untertanen gewöhnt – aber selber angeherrscht zu werden hatte verheerende Auswirkungen auf sein Selbstwertgefühl. Der Mann hatte sich so schnell zusammengefaltet, wie er sich zuvor aufgeplustert hatte, etwas unverständlich Besänftigendes gemurmelt und war zurück ins Weinlokal gekrochen. Sándor hatte zufrieden gegrunzt; gegrunzt mit dem ganzen Selbstbewusstsein des passionierten Sportwagenfahrers, und auf der Havelchaussee hatte er der Kiste richtig die Sporen gegeben und um Haaresbreite einen Trupp Wildschweinfrischlinge zu Halbwaisen gemacht. Wildschweine und Bankdirektoren sollten ihm besser nicht in die Quere kommen auf seinem Weg die Havel entlang.

Heute Abend parkte er den roten Ford A in der Nürnberger Straße, einer belebten Seitenstraße des Tauentziens, wo vor der Femina schon reger Andrang herrschte. Die protzige Femina! Der Schuppen hatte nach allerhand Turbulenzen wieder neu eröffnet, noch exaltierter und spektakulärer als zuvor, und war der luxuriös schillernde Diamant im Nachtleben der westlichen Vergnügungsmeile an Ku’damm und Wittenbergplatz. Allerdings zog es Sándor Lehmann noch nicht in den festlich illuminierten Eingang des modernen Tanzpalastes. Auf der anderen Straßenseite schimmerte, weit weniger pompös, eine Reihe kleiner Bars, von denen er eine betrat. Der Laden schien leer zu sein; hinterm Tresen döste die etwas aufgetakelte Wirtin mit Damenbart unter halb leeren Schnapsflaschen, die sich erwartungsvoll aufsetzte, ihn dann aber erkannte und mit einem freundlichen »’n Abend, Sándor« wieder in sich zusammensank. Sándor durchquerte den kleinen Raum und kletterte die schmale Bierträger-Stiege hinunter in ein alkoholisch riechendes Kellerloch, wo ein ganzes Sextett smokinggekleideter Männer auf Bierfässern hockte, umgeben von Koffern aus der gleichen schwarzen Pappe, aus der auch Sándors Klarinettenschachtel war.

»’N Abend«, die Männer blickten kaum auf, begrüßten ihn halblaut, emotionslos, so wie vielleicht ein Sargträger von anderen Sargträgern begrüßt wurde. Lehmann wusste diesen Ton lässigen Understatements zu schätzen; sein Alltag unter den gedemütigten, zu Polizisten degradierten kaiserlichen Offizieren und Oberwichtigtuern war eine Welt des Imponiergehabes, des Balztanzes und Muskelspiels; hier so selbstverständlich und ohne Brimborium akzeptiert zu werden bedeutete ihm viel.

Natürlich waren die Männer keine Sargträger, obwohl Dr. Joseph Goebbels, der oberste Krawallmacher Adolf Hitlers, für dessen Festsaalreden man inzwischen eine ganze Reichsmark Eintritt bezahlen musste, sie zweifellos so bezeichnet hätte – Sargträger der deutschen Musikkultur nämlich. Allerdings wurde der Sarg, den Goebbels mit flammendem Blick beschworen hätte, hier unten im Kneipenkeller mit erstaunlichem Schwung zu Grabe getragen, denn die Männer waren Musiker, Jazzmusiker. Nicht irgendwelche fahrlässigen Trompetenschwinger, sondern das begehrte und gut bezahlte Personal der »Julian Fuhs Follies Band«, einer der meistgebuchten Tanzkapellen der Stadt. Fuhs – der eben mit etwas ungelenken Bewegungen die Stiege heruntergekraxelt kam, ein kleiner Mann mit Glatze und einer runden Hornbrille, die mancher Karnevalsmaske zur Ehre gereicht hätte –, Fuhs hatte den auf gekratzten, anfangs sehr pointierten und keineswegs breit arrangierten Swing aus den USA mitgebracht, wohin er 1910 mit gerade 19 Jahren ausgewandert war. 1924 hatte es ihn zurück nach Berlin verschlagen, und in den sechs Jahren seither hatte der »Amerikaner« – eigentlich ein braver Berliner Jude, der überaus gesittet das Stern’sche Konservatorium besucht hatte – die besten Solisten der Stadt um sein Piano geschart und im Eden-Hotel, dem Mercedes-Palast oder dem Palais am Zoo frenetische Anhänger gefunden, die zu jedem seiner zahlreichen Auftritte strömten. Nach und nach waren die rauen Hot-Eskapaden einem sinfonischeren Sound gewichen, der den Jazz-Puristen zu glatt war – und die Massen begeisterte. Sándor staunte insgeheim über die Hartnäckigkeit des Bandleaders: Julian war nie fertig mit einem Stück; er feilte an den Arrangements, schuf Spannungsbögen und Brüche und bediente sich seiner Band wie eines einzigen, vielstimmigen Instruments, mit dessen Hilfe er jede Stimmungsnuance des Publikums reflektieren und zu einem Baustein eines hymnischen, beseligenden und dabei meist verflucht virtuosen Gesamterlebnisses machen konnte. Die Solisten waren in diesem Konzept nur die Sahnehäubchen, die kleinen kantigen Knusperstückchen eines breiter fließenden Sounds. Das gefiel nicht jedem von ihnen; es gab ausufernde Selbstdarsteller an Trompete und Zugposaune, die am liebsten den ganzen Abend ein einziges, nicht endendes Solo gespielt hätten. Doch Julian hatte letztlich die besseren Argumente.

»Ihr spielt euch warm, wir bauen zusammen den Song – und dann ist jeder kurz vorn und ist heiß und frisch und neu. Stochert nicht mit der Tröte in der Musik rum, sondern hört zu – und wenn ihr was zu sagen habt, haut es raus in möglichst wenigen Takten. Nicht schwafeln, Männer – zielen und treffen!«

Charlie Hersdorf, Arno Lewitsch und Wilbur Curtz waren ausgemachte Individualisten – doch diesem Konzept fügten sie sich, um den mäßig, aber regelmäßig bezahlten Job bei den »Follies« nicht aufs Spiel zu setzen. Und Sándor selbst hatte keine musikalischen Ambitionen; er ließ sich – ganz anders als draußen im echten Leben – an- und ausschalten, wie Julian es wollte, und war zufrieden damit.

An Sándor Lehmann hatte Fuhs einen Narren gefressen; Sándor wusste selbst nicht, warum, und hatte den strahlenden und überschwänglichen Klavierspieler anfangs schlicht für schwul gehalten, bis er Julians Verlobte Lily Löwenthal kennengelernt hatte, eine schöne, aber schwermütige und theatralische Wienerin, die ihren Julian vergötterte. Nein, Julian Fuhs schätzte Sándor Lehmann für sein Klarinettenspiel, und das war eine bodenlose Schmeichelei, weil Sándor nie zum Üben kam und die schwarze Pappröhre wirklich nur alle ein, zwei Wochen mal hier unten im Probenraum für eine halbe Stunde öffnete.

»Üben … kein Mensch muss üben!«, hatte Fuhs begeistert abgewunken. »Man muss es haben, und dann hat man’s, und basta. Was aus einem selbst kommt, braucht man nicht zu üben.« Er hatte sich an Lily gewandt, die ihm fasziniert zuhörte: »Oder übst du Niesen, Schatz?«

Lily hatte die großen Augen aufgerissen und Fuhs mit einem Blick bedacht, für den andere Männer gemordet hätten oder sich nackt ausgezogen, und mit ihrer etwas kehligen, klagenden Stimme geantwortet: »Wenn du es willst, Julian …«

Im Gelächter der anderen Musiker war jeder weitere Widerspruch von Sándor untergegangen, und dabei blieb es: Er konnte kommen und gehen, wann er wollte, und mitspielen. Für einen, der im Leben nach allem griff, was er haben wollte, war dieses bedingungslose Geschenk des »Amerikaners« eine unerwartete Geste; ein Angebot, das ihn geradezu verlegen machte, wenn Verlegenheit in seinem rau gerüpelten Wortschatz noch vorgekommen wäre.

Dass sie sich überhaupt kennengelernt hatten, war reiner Zufall gewesen. 1925 hatte es im Westhafen eine Reihe von Morden gegeben, die Sándor – dessen erster großer Fall es damals gewesen war – und seinen Chef Gennat auf Trab gehalten hatten. In Überseekoffern und verplombten Kisten hatten sie mumifizierte, teilweise skelettierte Tote gefunden, unbekannte, entstellte Männer, die, so hatte es jedenfalls zunächst ausgesehen, wochenlang in ihren Sarkophagen die Ozeane überquert hatten, bevor sie in Berlin-Moabit an der Beusselbrücke in den bauchigen Lagerhäusern auf dem Hafengelände gelandet waren. Auf der Suche nach Hinweisen hatten sie ein ganzes Lager mit Diebesgut entdeckt; Hehlerware, die zum Teil vor Jahren schon beiseitegeschafft worden war und mit der man wie aus einem versteckten Kaufhaus vom Westhafen aus die halbe Stadt beliefert hatte. Ganze Luxusautomobile, palettenweise französischer Champagner, der nie in Amerika angekommen war, und umgekehrt tonnenweise Lieferungen aus den Staaten, die unterwegs verschwanden und ihre Adressaten auch hier in Berlin nie erreicht hatten. Sándor war sich vorgekommen wie der Weihnachtsmann, als er da tagelang in diesen Kathedralen von Lagerhallen über die wertvollen Gegenstände wachte, während alle, die in den letzten Jahren Lieferungen aus den Staaten als verloren angezeigt hatten, durch die vollgestopften Gänge wandelten und ihre verschwundenen Wertgegenstände aufstöberten und identifizierten. Alle bekamen unerwartete, verloren geglaubte Geschenke – außer ihm selbst. 28 Jahre war er damals jung gewesen, und die meisten dieser teuren Dinge hatte er im ganzen Leben noch nicht gesehen. In einem unbeobachteten Augenblick hatte auch er sich zwischen den Regalen herumgetrieben und gesichtet, was es dort abzustauben gab. Der langweilige Aufpasserjob musste doch, verdammt noch mal, irgendeinen kleinen Nutzen für ihn haben? In einer verplombten Holzkiste, deren Deckel die Jungs vom polizeilichen Ermittlungsdienst aufgebrochen hatten, war das Equipment einer ganzen Jazzband gewesen – erlesenste Musikinstrumente in einer Qualität, wie Sándor ihnen in seinem lausigen Weddinger Schalmeienorchester nie begegnet war. In einem schmalen Futteral, das mit blauem Samt ausgeschlagen war, lag die schönste Klarinette der Welt, ein kurzes, kraftstrotzendes Stück Holz, dessen Klappen verlockend in dem schrägen Sonnenlicht glänzten, das seitlich durch die Dachluken des Lagerhauses einfiel. Sándor Lehmann sah sich um. Johnny Dodds, Artie Shaw, Sidney Bechet: Solche Männer spielten auf einem Instrument wie diesem. Das Ding war purer Sex. Er würde einer solchen Klarinette nie mehr näher kommen als jetzt, in dieser einen unbeobachteten Minute. Schnell klappte er das Futteral wieder zu, legte es vor der Kiste auf den Boden und schob es mit der Schuhspitze unter die Palette, auf der die Überseekiste stand. Dorthin konnte das Ding auch zufällig gerutscht sein, und wenn der Besitzer sein Hab und Gut abgeholt hätte – falls es überhaupt einen Besitzer gab; manche Güter blieben einfach hier, weil die Eigentümer selbst Kriminelle waren oder tot oder längst weitergezogen –, wenn die Kiste abgeholt würde, könnte er in Ruhe zurückkommen und die Klarinette holen. Sándor sah sich noch mal um; hatte es ein Geräusch gegeben zwischen den Regalen? Nein. Niemand war da. Er ging. Er ging vielleicht zehn Meter weit, dann blieb er stehen. Noch verlockender als der Wunsch, dieses Wunderinstrument zu besitzen, war die Vorstellung, darauf zu spielen. Er sah sich noch einmal um und ging zurück, angelte die Klarinettenschatulle unter der Palette hervor und klappte das schwarze Etui erneut auf. Das schwarze Holz war kühl von der Kälte des Lagerhauses; das Mundstück war etwas trocken, aber die Klappen öffneten und schlossen sich mit einem sanften Ticken und reibungslos. Sándor führte das Instrument an die Lippen und hauchte hinein, ein langer, sanfter Ton, an den er einen meckernden Schnörkel hängte, wie um gegen die Stille des Lagerhauses zu protestieren. Ein kleiner Schlenker, schon spielte er ein simples Thema, dreimal, viermal variiert, das in ein kurios purzelndes Solo mündete. Sándor war hingerissen und vergaß den Ort und seine Rolle hier im Lagerhaus; er war der Mann mit der Klarinette, sonst gar nichts. Er spielte, spielte nach langen Jahren mal wieder, erkundete mit den Tönen seine eigene Erinnerung, das Echo der gewölbten Hallendecke ließ die Klarinette jubeln und zwitschern, und spielte – und als er das Instrument absetzte mit sirrenden Lippen und ohne Atem, hatte er Tränen in den Augen.

Jemand applaudierte. Ein einsames, entschlossenes Klatschen hinter einer der Kisten. Sándor Lehmann fuhr zusammen. Da stand ein Mann im Smoking, ganz unverkennbar ein Musiker, ein Typ mit einem verschmitzten Gesicht und einer kuriosen runden Hornbrille, und klatschte.

»Gestatten – Julian Fuhs. Ich wollte meine Instrumente abholen; vor zwei Jahren ist all das Blech und Holz auf dem Weg von Chicago hierher irgendwo über Bord gegangen … Ich habe längst neue gekauft, aber man hängt ja doch an den alten Schätzchen. Schön, dass Sie so gut darauf aufgepasst haben, junger Mann.«

Er kam näher und streckte die Hand aus, eine entschlossene, weiß behandschuhte Rechte.

»Was Sie da gerade mit meiner Klarinette gemacht haben, das war … ungewöhnlich. Wenn Sie übermorgen Nachmittag in meiner Jazzband vorspielen, dürfen Sie das Instrument als Dankeschön behalten. Als Dankeschön fürs Wiederfinden … und für drei Minuten eines ganz außergewöhnlichen Musikerlebnisses.« So fing das an, so kam eins zum anderen. Zwei Tage später war er in der Nürnberger Straße und lernte Julian Fuhs und die anderen kennen; den Schlagzeuger Hersdorf, Lewitsch mit seiner Geige; Curtz und die übrigen Blechbläser. Die wechselnden Sängerinnen, gelegentliche Gitarristen, einen Bassisten. Echte Berliner Musiker, mit denen er als Bulle sonst wenig zu tun hatte.

Seitdem hatte Sándor Lehmann immer wieder mal mit der »Follies Band« auf der Bühne gestanden, stets nur kurz für ein atemloses, nie wiederholtes oder auswendig gelerntes Solo bei einem oder zwei der Stücke – und Fuhs hatte auf Lehmanns ausdrücklichen Wunsch auf der Bühne nie den Namen des Musikers genannt und auch wohlwollend akzeptiert, dass Sándor sein ziemlich unverkennbares Gesicht hinter einem falschen Schnurrbart versteckte, der rot und so monströs groß war, dass er beim Spielen aufpassen musste, das struppige Ding nicht zwischen die filigranen Silberklappen der Klarinette zu bekommen. Die anderen Musiker kannten ihn nur beim Vornamen; Julian, der Fuchs, hatte beim Vorstellen einen klangvollen ungarischen Nachnamen hinzugedichtet, der so viele ö und j enthielt, dass die Jungs sich gar nicht erst die Mühe machten, ihn auswendig zu lernen. Der Bursche spielte Klarinette und machte ihnen ihren Job nicht streitig, das war alles, was sie wissen wollten in einer Zeit, in der es viel zu wenig Arbeit für viel zu viele Musiker gab. Der Tonfilm hatte in den Lichtspieltheatern die Orchestergräben geleert; das aufkommende Radio stand im Verdacht, nun den Schallplattenorchestern den Garaus zu machen. Arbeitslosigkeit grassierte, man unterbot sich bei den Gagen – wer da bei einem großen Namen wie Julian Fuhs engagiert war, konnte sich glücklich schätzen. Und solange keine anderen Anwärter da waren, gab es auch keine Probleme.

Heute hatten die »Follies« – oder, wie Sándor die schweigsamen, aber keineswegs abstinenten Jazzhelden gern nannte, die »Vollis« – einen kleinen Auftritt in der eleganten Femina vor sich; deshalb fand die Probe gleich in voller Abendgarderobe statt. Die Bar auf der anderen Straßenseite gehörte praktischerweise Julians Mutter Hertha, die oben hinterm Tresen döste, und die »Follies« waren wie zu Hause hier. Julian Fuhs hielt sich auch gar nicht erst mit großen Begrüßungsfloskeln auf, als er die Stiege herabgestiegen war, sondern sagte nur lächelnd: »Ten Cents, Gentlemen« und schnippte den Takt mit den Fingern vor. Die Gentlemen hatten nur teilweise ihre Instrumente aus den Koffern geholt; zwei Blechbläser – Wilbur Curtz, gesucht und gebucht, gab sich mal wieder bei Julian die Ehre – schoben noch ein spektakulär ramponiertes Klavier aus einer Wandnische in die Raummitte, aber der Bassist war schon bereit und zupfte aufreizend langsam einen trägen Basslauf, der Fuhs’ Rhythmus glatt ignorierte und aus dem Foxtrott mehr Trott als Fox machte. Jetzt raschelte das Becken sein Messingflüstern über das dunkle Summen, das Tomtom nahm den Takt auf, beschleunigte ihn. Sándor hatte die Klarinette in der Hand, aber sein Solo war noch weit entfernt, und die Herren des Blechs inspizierten noch ihre Instrumente, als sähen sie die glänzenden Tuben und Klappen das allererste Mal.

Da mischte sich plötzlich ein ganz anderer Takt in die aufblühende Jazzmusik: leichte Schritte auf der hölzernen Stiege. In der von oben beleuchteten Luke wurden zwei Frauenbeine sichtbar, ein enges silbrig weißes Etuikleid, dessen Trägerin langsam herunterkam zu der staunenden Combo. Nein, das war nicht Lily Löwenthal, denn Lily konnte nicht singen, und die Frauenstimme, die jetzt von der Treppe aus zu hören war, klang samtig, dunkel und von einer fast schläfrigen Nachlässigkeit.

»I work at the Palace Ballroom … I’m much too tired to sleep« – es waren die ersten Zeilen des von Julian Fuhs angespielten Richard-Rodgers-Songs Ten Cents a Dance.

Sándor Lehmann hatte die Klarinette sinken lassen und sich mit seinem breiten Rücken an eins der hölzernen Bierfässer gelehnt, um den Auftritt der jungen Dame in Ruhe beobachten zu können. Nach einer Ten-Cents-, einer Groschentänzerin also sah die Kleine wahrhaftig nicht aus, auch wenn sie das laszive Animierliedchen mit einer mustergültigen Koketterie zu Gehör brachte. Nein, diese hier hatte Klasse; jedenfalls weit mehr als die Sängerinnen, die Fuhs sonst üblicherweise in den Keller schleppte. »Soll ich dir mal meine Bierfässer-Sammlung zeigen?«, so juxten die Männer sonst über Julians unbeholfene Versuche, der Jazz-kapelle für den einen oder anderen Song eine Sängerin zu verschaffen. Und zugegeben, die stimmlichen Qualitäten waren nicht das wichtigste von Fuhs’ Auswahlkriterien – auch Lily war als Sängerin eine Katastrophe gewesen und schien vom Bandleader nun trotzdem fürs ganze Leben angeheuert zu werden … für alles außer fürs Singen. Doch die Frau auf der Stiege hatte beides, eine Stimme für den Jazz und eine Ausstrahlung, die den stickigen Keller für Sándor augenblicklich zur Gebärmutter einer Weltklassekapelle machte.

»All that you need is a ticket«, lockte die fremde Sängerin und sah ihn, den Größten hier unten, herausfordernd an, »come on, big boy, ten cents a dance.«

Der Bassist, der Schlagzeuger Charlie Hersdorf und auch Julian Fuhs selbst, der die letzten Takte noch mit ein paar synkopischen Klavierakkorden ausgetupft hatte, ließen den Song ausklingen, ohne den gaffenden Bläsern einen Einsatz zu geben. In das atemlose Schweigen hinein kramte Sándor in der Hosentasche nach einem Groschen und legte ihn stumm neben die Sängerin auf ein Fass. Die Frau schien aus dem Lied aufzutauchen wie aus einem Mittagsschlummer, drehte den Blick, ohne auf den Groschen zu sehen, zu Sándor, schaute ihm belustigt in die Augen und sagte mit einer frechen Mädchenstimme, die mit dem gesungenen Timbre keine Ähnlichkeit hatte: »Ein einziger Groschen? So billig kommen Sie normalerweise davon? Julian, was für einen Hungerlohn zahlst du deinem Klarinettisten? Sieh mal, wie sein Smoking sitzt … er sieht aus wie ein Schupo!«

Julian Fuhs ging auf den hellsichtigen Affront nicht ein; er lächelte selig in die Runde, machte eine knappe Geste mit der rechten Hand und stellte vor: »Jungs, unsere neue Sängerin – Bella, die Jungs. Sei nett zu ihnen, sie hatten eine schwere Kindheit.«

FEMINA

Die Luft vor der Bar war gefüllt mit allen Gerüchen des Großstadtfrühlings. Die Platanen waren über Nacht grün geworden, die Autos rochen nach Benzin und Schmieröl – ein wunderbarer Duft. Die Frauen auf dem Gehweg trugen die Parfüms der Saison, und Sándor Lehmann wurde schwindelig von all dem »Soir de Paris«, das Chanels Wunderparfümeur Ernest Beaux vorletztes Jahr für Bourjois kreiert hatte und das dem Berlin von 1930 seinen eigenen, unpariserischen Verführungsduft zu geben schien. Abend in Berlin; schwere Regentropfen punkteten das Trottoir unter den Gaslaternen schwarz, und die ganze Nürnberger Straße wurde überstrahlt von dem gleißend hellen Entree der Femina, wo jetzt im Zehnsekundentakt die Limousinen stoppten und elegante Paare aus den chromleistenverzierten Fahrzeugtüren stiegen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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