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Blake E-Book

Jack Heath

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Beschreibung

Amerika, Gegenwart. Timothy Blake ist ein genialer Profiler und steht als inoffizieller FBI-Mitarbeiter auf keiner Gehaltsliste. Er hat nämlich ein geheimes Laster und wird nicht mit Geld entlohnt, sondern mit etwas, das seine dunklen Triebe befriedigt. Als Blake mit seiner neuen Partnerin Special Agent Reese Thistle eine heikle Geldübergabe einfädelt, geht die Sache schief: In einem gestohlenen Wagen finden sie eine Schaufensterpuppe mit einer menschlichen Niere darin. Blake, der sein finsteres Geheimnis sorgsam hüten muss, gerät unter Verdacht …

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Seitenzahl: 519

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Das Buch

Amerika, Gegenwart. Timothy Blake ist ein genialer Profiler und steht als inoffizieller FBI-Mitarbeiter auf keiner Gehaltsliste. Er hat nämlich ein geheimes Laster und wird nicht mit Geld entlohnt, sondern mit etwas, das seine dunklen Triebe befriedigt. Als Blake mit seiner neuen Partnerin Special Agent Reese Thistle eine heikle Geldübergabe einfädelt, geht die Sache schief: In einem gestohlenen Wagen finden sie eine Schaufensterpuppe mit einer menschlichen Niere darin. Blake, der sein finsteres Geheimnis sorgsam hüten muss, gerät unter Verdacht …

Der Autor

Jack Heath, geboren 1986, hat sich schon als Kind darüber beklagt, dass ihm die meisten Bücher nicht spannend genug sind. Er begann selbst zu schreiben, recherchierte in Leichenhallen und Gefängnissen und bereiste zahlreiche Länder. Mit »Blake« legt er seinen ersten harten Thriller vor. Heath lebt in Canberra, Australien.

JACK HEATH

THRILLER

Aus dem Englischen vonAngelika Naujokat

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe HANGMAN erschien 2018 bei Hanover Square Press
Copyright © 2018 by Jack Heath Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Redaktion: Lars Zwickies Umschlagillustration: Cornelia Niere, unter Verwendung von © Istockphoto (PeopleImages), Shutterstock (NikhomTreeVector, Daniela Pelazza) Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN: 978-3-641-22904-7 V002
www.heyne.de

Für Venetia, in Liebe

1

Je mehr man davon macht, desto mehr lässt man hinter sich. Was ist das?*

Blut klebt zwischen meinen Zähnen. Schmeckt metallisch.

»Hier können Sie nicht rein, Sir«, sagt die FBI-Agentin an der Tür, die mir den Durchgang versperrt.

Ich kaue an meiner Fingerspitze, reiße ein weiteres Stückchen vom Nagel ab. »Ich bin ziviler Berater.«

Die Agentin wirft einen Blick auf meine Billigtreter (Sneaker von Walmart), meine dreckige Jeans, meinen zerlumpten Pullover.

»Können Sie sich ausweisen?«, fragt sie.

Ich habe meinen Ausweis zu Hause gelassen, da ich davon ausging, den Agenten an der Tür zu kennen. In dieser Gegend wird man schließlich schon erschossen, wenn man das Wort »Cop« nur ausspricht.

Am Haus sind einige grüne Stellen, wo sich die Graffiti nicht wegschrubben ließen. Der Briefkasten wurde offenbar mit einem Baseballschläger bearbeitet. Ein Coywolf – eine Mischung aus Coyote und Wolf – humpelt oben auf der Straße um eine umgekippte Mülltonne herum. Sein abgekauter Fuß dürfte irgendwo in einer Bärenfalle stecken.

Ein paar weiße Teenager in Hoodies trinken in der Nähe billiges Bier. Ein Junge zerdrückt seine leere Dose und schleudert sie mit einem Grinsen, das an einen Halloween-Kürbis erinnert, in Richtung des Tieres, das zurückspringt. Die Teenager lachen dreckig, halten aber Abstand, als die Kreatur zwischen zwei vermodernden Zaunlatten davonhumpelt.

Aus dem Inneren des Hauses erklingen Schritte. Laute Stimmen. Ich muss da rein.

»Bitte«, sage ich. »Der …«

»Ohne Ausweis läuft gar nichts«, fällt mir die Agentin ins Wort. »Entfernen Sie sich.«

»Der Leiter der Außenstelle hat mich angefordert.«

Ein paar Haarsträhnen lösen sich unter ihrer Kappe und fallen ihr in die Augen, aber sie lässt sich davon nicht beirren. Sie ist eine Schwarze, knapp über einen Meter siebzig groß – so groß wie ich –, und trägt weder Make-up noch Ehering. Auf ihre toughe, ernste Art ist sie durchaus attraktiv. Laut der Ausweiskarte, die um ihren Hals baumelt, handelt es sich um Agent R. Thistle, FBI-Außenstelle Houston.

»Wie lautet sein Name?«, fragt sie.

»Luzhin«, erwidere ich. »Peter Luzhin.«

Sie mustert mich ein weiteres Mal. Wägt neu ab.

»Wollen Sie auch noch seine Sozialversicherungsnummer wissen?«, frage ich.

»Die dürften Sie wohl kaum kennen.«

Stimmt. Dürfte ich eigentlich nicht. Tue ich aber. Ich bin in sein Haus eingebrochen und habe sie auf einer Wasserrechnung entdeckt. Der Trick, sich lange Zahlenreihen zu merken, besteht darin, jede einzelne Zahl in einen Konsonanten zu verwandeln und die Vokale dann mit irgendetwas zu ergänzen, was ein einprägsames Bild ergibt.

Aus der Sozialversicherungsnummer des Leiters – 404 62 5283 – wird RZR BN FNHS, und daraus wiederum RaZoR BoNe FuNHouSe. Und das präge ich mir ein, indem ich mir vorstelle, wie Peter Luzhin mit einem Rasiermesser seine Wangen bearbeitet, bis das ganze Fleisch ab ist, der Knochen frei liegt und er sein Werk in aller Ruhe im Zerrspiegel eines Gruselkabinetts betrachtet.

»War nur ein Scherz«, versichere ich der FBI-Agentin.

An diesem Finger ist kein Nagel oder lose Haut mehr übrig, die ich abkauen könnte, also wende ich mich dem Daumen zu. Dieser Zwang wird zu einer dauerhaften Schädigung meiner Nagelhaut und meiner Zähne führen, außerdem gelangen Parasiten in meinen Mund. Aber ich kann trotzdem nicht damit aufhören.

Ein weiterer Agent taucht im Türrahmen auf. Ein Weißer, mager, Raucher, der die Blumenkohlohren eines Wrestlers oder Boxers hat. Die linke Seite seines Jacketts ist von den vielen Stunden ausgebleicht, die er in der texanischen Sonne im Auto zurückgelegt hat. Er trägt keine Ausweiskarte um den Hals, aber ich bin ihm schon begegnet. Sein Name ist Gary Ruciani. Die anderen Agenten nennen ihn »Pope«, weil er italienische Vorfahren hat.

»Hallo, Pope«, sage ich. »Lassen Sie mich rein.«

Die Frau tritt vor, um mir die Sicht zu versperren. »Sir …«

»Oh«, sagt Ruciani, während er die Treppe herunterkommt. »Sie sind’s.«

Dass man sich an mich erinnert, ist nicht immer eine Erleichterung.

»Collins und Richmond sind oben im Schlafzimmer«, sagt er in meine Richtung. Und an Thistle gewandt: »Lass ihn rein. Luzhin weiß wohl nicht mehr weiter.«

Als ich mich an Thistle vorbeidränge, nehme ich einen Hauch ihres Parfüms wahr. Sie weicht vor mir zurück.

In der griechischen Mythologie gibt es diesen Kerl, der eine spartanische Prinzessin heiraten will, aber auf eine Insel verbannt wird, weil sich sein verwundeter Fuß entzündet und zu stinken beginnt. Doch irgendwann kehrt das Heer zu ihm zurück, denn einigen Leuten ist klar geworden, dass man seine Giftpfeile benötigt. Er hilft ihnen dabei, den Krieg zu gewinnen – ist mit den Soldaten im Bauch des hölzernen Pferdes –, und dennoch hassen ihn nach wie vor alle.

Ich komme mir gerade vor wie dieser Kerl, als ich bemerke, wie Ruciani meinen Blick meidet.

Die Dielenbretter knarren, als ich die Küche betrete und an einem schiefen Turm aus dreckigem Geschirr vorbeigehe, der sich in der Spüle stapelt. Oswald Collins ist vor acht Tagen verschwunden. Offenbar hat seine Frau Billie seither nicht mehr abgewaschen. Im Kühlschrank befinden sich drei halbe Brote aus dem Supermarkt und zwei geöffnete Milchkartons. Auf den Kartons sind keine Fotos von vermissten Kindern mehr, aber das liegt nicht etwa daran, dass es keine vermissten Kinder mehr gibt. Denn wenn das so wäre, wäre ich meinen Job los.

In einem zusammengeknüllten Stück Alufolie entdecke ich fünf Cocktailwürstchen. Ich esse eins davon und stecke den Rest in meine Tasche. Für später.

Die Schlafzimmertür ist offen. Billie Collins sitzt auf der nackten Matratze und hat ihren Kopf in den Händen vergraben. Ihr Haaransatz ist grau, die Beine sind nachlässig rasiert. Ihre Shorts zerfasern dort, wo sie an den Säumen gezerrt hat. Ihre Mutter wird bereits ebenso lange vermisst wie ihr Ehemann.

Als ich das Zimmer betrete, blickt Agent Richmond auf. In der einen Hand hält er einen Löffel und in der anderen einen fast leeren Becher mit Nudeln. Einige Suppentropfen hängen in den Bartstoppeln an seinem Kinn. »Blake«, sagt er. »Wo haben Sie gesteckt?«

Ich bin Zivilist und darf ohne Aufsicht weder einen Tatort betreten noch mit Zeugen reden. Richmond ist mein Babysitter. Glücklicherweise ist er faul und kennt mich nicht so gut, wie er mich zu kennen glaubt.

»Agent Thistle wollte mich nicht reinlassen«, erkläre ich. »Und wo waren Sie?«

Er wedelt mit seiner fetten Hand in Billies Richtung. Die zuckt zusammen und starrt mich beunruhigt an. Richmond will uns beide glauben machen, dass er hiergeblieben ist, um sie zu trösten. Aber »trösten« ist nicht das richtige Wort. Er vermutet, dass Oswald Collins tot ist, und hofft, Billie in einem schwachen Moment zu erwischen.

»Mrs. Collins«, sage ich. »Ich bin Timothy Blake. Wir haben uns letzte Woche kennengelernt.«

Sie nickt. Ihre geröteten Augen richten sich auf meinen Mund. »Sie bluten.«

Das Blut stammt von meinen Fingernägeln. Ich fahre mir mit der Zunge über die Lippen. »Ich habe die letzten sechs Tage nach Ihrem Mann und Ihrer Mutter gesucht. Es gibt keine Spur von ihnen.«

Sie wirkt nicht überrascht. »Warner würde nicht wollen, dass man sie findet.«

Oswald Collins ist ein Alkoholiker, der mit Vorliebe das Geld anderer Leute verspielt. Er hat sich achttausend Dollar von Charlie Warner geliehen, dem Arschloch, das die meisten Verbrechen in Houston finanziert. Danach ist er verschwunden.

Billie redet, als ob Oswald tot wäre, aber ihre Körpersprache sagt etwas anderes. Bei Trauer und Erleichterung erschlaffen Schultern und Nacken. Billie dagegen ist total angespannt, packt die Matratze, als bereite sie sich auf einen Flugzeugabsturz vor. Sie hat Angst.

»Warner würde sehr wohl wollen, dass Oswald gefunden wird«, entgegne ich. »Mit abgetrenntem Kopf oder herausgerissenen Augen. Um die Botschaft zu senden: Das passiert mit Leuten, die ihre Schulden bei mir nicht zurückzahlen.«

Richmond zuckt zusammen. Cops wird beigebracht, mit den Familien der Opfer sanft umzugehen. Aber ich bin kein Cop.

»Daher dachte ich, dass Oswald möglicherweise abgehauen ist«, fahre ich fort. »Aber dann wäre sein Wagen weg. Oder es gäbe einen Beleg dafür, dass er ein Ticket gekauft hat, um aus der Stadt rauszukommen. Selbst wenn er bar bezahlt hätte, wäre er von den Überwachungskameras am Busbahnhof erfasst worden.«

Es gibt Möglichkeiten, unbemerkt zu reisen. Aber die dürfte Oswald nicht kennen.

»Warner hat ihn erwischt«, sagt Billie mit lauterer Stimme.

»Ich habe mit Warners Eintreibern gesprochen«, sage ich. »Die haben ein ebenso großes Interesse, Oswald zu finden, wie Sie. Vermutlich ein noch größeres.«

»Sachte.« Richmond hebt abwehrend die Hände, um mich vom Weiterreden abzuhalten. Er wendet sich Billie zu. »Was Mr. Blake sagen will …«

»Die lügen«, sagt Billie an mich gewandt.

»Nein, Ma’am. Ich merke, wenn mich jemand anlügt.«

Sie hält meinem Blick für einen Moment stand, ehe sie wegschaut.

»Gangs entführen niemanden, der ihnen Geld schuldet«, fahre ich fort. »Und sie holen sich auch nicht die Schwiegermutter. Sie holen sich ein Kind oder den Ehepartner.«

»Wollen Sie damit sagen, dass ich in Gefahr bin?«

»Ist Ihr Mann gewalttätig?«

»Nein.« Billie bewegt sich auf der Matratze. »Nein, natürlich nicht.«

Selbst wenn ich nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, wie sie zusammengezuckt ist, als Richmond die Hand gehoben hat, würde ich dennoch wissen, dass sie nicht die Wahrheit sagt. Oswald Collins ist wegen schwerer Körperverletzung und bewaffneten Raubüberfalles vorbestraft.

»Aber er plant nicht weit voraus, stimmt’s?«, frage ich.

Sie antwortet nicht.

»Er gehört zu der Sorte Mensch, die den Gehaltscheck verspielt und sich weiteres Geld borgt, um das verlorene zurückzugewinnen. Die Sorte, die ein frisches Brot anschneidet, bevor das alte aufgebraucht ist, aber ohne das alte wegzuwerfen. Die Sorte, die ihr dreckiges Geschirr nicht spült, auch wenn sie damit Gefahr läuft, ihr Versteck zu verraten.«

»Bitte gehen Sie jetzt«, sagt Billie.

Richmond starrt mich an. Ist sich nicht sicher, warum ich sie gegen mich aufbringe.

»Wieso?«, erkundige ich mich.

»Wie wollen Sie ihn finden, wenn Sie hier rumsitzen und mit mir reden?« Als sie ihn finden sagt, deutet sie auf ihre Zimmertür. Es ist eine unbewusste Geste, die sie nicht beabsichtigt hat. Denn ihr Verstand will mich hier raushaben.

»Ich glaube, dass mir genau das gelingen wird.«

Sie steht auf. »Verschwinden Sie.«

»Niemand hat sich Ihren Mann geholt«, sage ich. »Er versteckt sich, bis der Prozess gegen Charlie Warner vorbei ist. Er hat Sie beauftragt, ihn als vermisst zu melden. Ihrer Ansicht nach war das ein dummer Plan, aber als Sie ihm das gesagt haben, hat er gedroht, Ihre Mutter umzubringen. Wie oft hat er Sie seither besucht? Zweimal? Dreimal? Schläft er hier?«

»Heilige Scheiße«, entfährt es Richmond. Er hat seinen Löffel fallen lassen.

»Das habe ich nicht gesagt!«, kreischt Billie. »So was habe ich nie gesagt!«

»Wenn Sie es getan hätten, wäre diese ganze Sache hier längst vorbei.« Ich bemerke, dass ich wieder an meinem Daumen kaue. Ich stopfe die Hände in meine Hosentaschen. »Hören Sie, er kann Ihre Mutter nicht töten. Wenn er es täte, hätte er kein Druckmittel mehr. Also sagen Sie mir einfach, wo er …«

Billie Collins schaut über meine Schulter hinweg, und ich erblicke blankes Entsetzen in ihren Augen.

»Verdammtes Miststück«, ertönt eine Stimme hinter mir.

Ich drehe mich um und sehe den Kerl von dem Polizeifoto vor mir, das ich mir die ganze Woche über immer wieder angeschaut habe. Oswald Collins hat ein Gesicht wie ein Tintenfisch: weit auseinanderstehende Augen, eine flache Nase und eine Stirnglatze, die seit seiner letzten Verhaftung noch größer geworden ist. Er zielt mit einer zerkratzten Beretta 3032 Tomcat auf die Brust seiner Frau.

Eine alte Dame steht vor ihm. Oswald hält sie am Kragen ihres Flanellpyjamas fest. Sie riecht wie eins dieser Jugendheime, in denen ich aufgewachsen bin. Ihre Augen sind feucht, aber ihr Blick ist wachsam. Mary-Sue McGinness. Billies Mutter.

»Du hast mich verraten!«, faucht Oswald Billie an.

»Hab ich nicht!«

»Jetzt mal sachte«, mischt sich Richmond ein. »Locker bleiben.«

»Halt die Schnauze«, erwidert Oswald.

Es ist eine kleine Handfeuerwaffe, aber da wir zu fünft in diesem winzigen Raum sind, wird Oswald mit Sicherheit jemanden treffen. Die Kammer ist geschlossen, also ist die Waffe mit mindestens einer Patrone Kaliber .32 ACP geladen.

»Du hast es doch gehört!«, ruft Billie. »Ich habe nichts gesagt!«

Ich hebe die Hände und trete zwischen die beiden, blockiere damit Oswalds Schussbahn.

Die alte Dame starrt mich an. Sie atmet schnell und leise.

»Hey, Arschloch«, sagt Oswald zu mir. »Kümmere dich um deinen eigenen Scheiß, okay?«

»Wir sind Ihnen zahlenmäßig überlegen, vier gegen einen«, teile ich ihm mit. »Und da draußen sind noch mehr FBI-Agenten. Es ist vorbei. Seien Sie kein Idiot. Legen Sie die Waffe auf den Boden.«

Venen pulsieren an seinem Hals. Er weiß, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt, hier rauszukommen: in Handschellen oder in einem Leichensack. Aber er ist schon einmal in einem texanischen Gefängnis gewesen und ist sich daher nicht sicher, was schlimmer wäre.

»Ist schon okay«, versichere ich ihm. Mein Herz schlägt gegen meine Lungen, aber meine Stimme bleibt ruhig. Ich nicke vorsichtig und hoffe, dass er meinem Beispiel folgen wird. »Wir können einen Deal machen. Legen Sie nur die Waffe auf den Boden und lassen Sie uns reden, okay?«

Oswalds Finger am Abzug entspannt sich. Sein Arm beginnt sich zu senken.

Richmond zieht blitzschnell seine SIG, zielt und schreit: »Waffe fallen …«

Oswald schießt auf ihn.

Es wird laut im Zimmer, Richmond geht zu Boden, als hätte er einen Tritt in den Bauch abbekommen, und bleibt keuchend liegen. Die SIG fällt auf den Teppich und Oswald setzt hastig den Fuß darauf, um Richmond davon abzuhalten, einen weiteren Versuch zu unternehmen.

Die Mühe hätte er sich sparen können. Richmonds Gesicht läuft dunkelrot an. Er trägt zwar eine Kevlarweste, aber die Kugel könnte eine Rippe gebrochen haben. Er kann nicht richtig atmen.

Oswald schreit irgendetwas, aber das Klingeln in meinen Ohren ist zu laut, um die Worte zu verstehen. Spucke schießt zwischen seinen Lippen hervor wie Spinnenseide.

McGinness hat es geschafft, sich aus seinem Griff zu winden. Sie hockt wie ein Wasserspeier in der Zimmerecke, bereit, zur Seite zu springen, sollte sich die Waffe in ihre Richtung bewegen. Aber Oswald versucht seine Frau ins Visier zu nehmen. Dabei scheint es ihm egal zu sein, dass ich noch immer im Weg stehe. Der Hahn hebt sich, als der Druck auf den Abzug immer größer wird.

Ich schaue über seine Schulter Richtung Tür. »Schießt schon!«, schreie ich.

Oswald fällt darauf rein. Er wirbelt herum, in der Erwartung, die anderen FBI-Agenten hinter sich zu erblicken. Ich stürze mich auf ihn, schlinge meinen Arm um seine Kehle, und versuche, ihm mit der anderen Hand die Waffe zu entreißen.

Er stolpert nach hinten, greift mit der freien Hand an seinen Hals, krallt sich in meinen Ellenbogen und reißt mir dabei ein Stück Haut heraus. Als er versucht, die Waffe über seine Schulter hinweg auf mich zu richten, drücke ich sie in die Höhe und presse seinen Abzugfinger, bis sie eins, zwei, drei Kugeln in die Decke jagt und dann nur noch klickt, weil sie leer ist. Die Knallerei stellt etwas mit der Flüssigkeit in meinem Ohr an, und der Boden beginnt sich zu neigen. Ich klammere mich an Oswald. Mein Unterarm quetscht immer noch seinen Hals. Er gibt gurgelnde Geräusche von sich. Wenn das Blut in sein Hirn gelangt, könnte er noch drei Minuten oder länger bei Bewusstsein bleiben. Falls nicht, wird er in ein paar Sekunden zu Boden gehen.

»Lassen Sie ihn los.« Die Stimme ist über meine jammernden Trommelfelle hinweg kaum zu vernehmen. Im ersten Moment glaube ich, sie gehört Billie, doch dann erblicke ich Agent Thistle – die hübsche schwarze Agentin von unten. Sie steht mit gezückter Dienstwaffe in der Türöffnung und zielt auf mich.

Ich lasse Oswald los und taumele zur Seite. Er sackt zu Boden. Ich hebe die Hände.

»Nicht schießen«, sage ich. »Ich gehöre zu den Guten!«

Thistle wirbelt mich herum und legt mir Plastikhandfesseln an. Vielleicht spürt sie es, wenn sie angelogen wird, genau wie ich.

Aber das spielt keine Rolle. Ich habe den Fall gelöst und werde meine Belohnung bekommen. Mein Mund ist schon ganz trocken vor lauter Vorfreude.

Ruciani drückt Oswald gegen den Boden und erklärt ihm, dass der Staat ihm einen Anwalt zur Verfügung stellen wird, wenn er sich keinen leisten kann. Oswald scheint ihn nicht zu hören. Er blickt zu Billies Mutter hoch, die seine Beretta aufgehoben hat und sie nun auf ihn richtet. Ihre Augen sind voller Hass.

»Tu’s nicht«, sagt er.

McGinness schürzt die Lippen. Sie zielt auf Oswalds Gesicht und drückt ab.

Klick.

* Die Lösungen der Rätsel finden sich im Anhang.

2

Was ist so zerbrechlich, dass man es schon bricht, wenn man seinen Namen spricht?

Der Krankenwagen-Killer kommt in den Raum aus Beton geschlurft. Die Ketten um seine Knöchel klirren, als würde er Stiefel mit Sporen tragen. Sein Haar ist auf einer Seite verfilzt, aber er ist sauber rasiert. Ich erblicke Reste der Henkersmahlzeit zwischen seinen quadratischen Zähnen. Die Knöchel beider Hände sind gleichmäßig abgeschürft von all den Liegestützen auf dem Betonboden seiner Zelle. Sein Name ist Nigel Boyd.

Ich beobachte ihn von meinem Platz hinter der dicken Glasscheibe aus. Es ist, als würde ich ein Aquarium besuchen. Ein paar Stühle neben mir sitzt die Vertreterin des Texas Department of Criminal Justice – des texanischen Strafjustizministeriums, kurz TDCJ – und spielt an ihrem Handy herum. Boyds Anwalt sitzt neben ihr und versucht vergeblich, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, um ein Gespräch zu beginnen. Es ist nur eine weitere andere Person anwesend, eine weiße Frau mit leicht ergrautem Haar, die ein in Leder gebundenes Notizbuch umklammert hält. Vermutlich eine Reporterin, obwohl Hinrichtungen heutzutage in den Medien keine so große Aufmerksamkeit mehr finden.

Normalerweise sitzen die Familien des Mörders und der Opfer in benachbarten Zuschauergalerien, ohne einander sehen zu können. Der auf der Liege mit dicken Gurten festgeschnallte Verurteilte hat einen freien Blick auf die beiden Gruppen, die dort getrennt voneinander in ihren besten Klamotten sitzen, als wären sie Gäste einer Hochzeitsfeier. Aber keiner von Nigel Boyds noch lebenden Verwandten ist erschienen. Seine Schwester hat ihren Namen geändert, seine Cousins sind nach Kansas gezogen, und sein Vater hat sich eine Schrotflinte in den Mund gesteckt. Daher haben die Familien der Opfer dieses Mal in der einen Galerie Platz genommen, während ich mich den Bürohengsten in der anderen angeschlossen habe.

Dieser Teil des Huntsville Prison trägt den originellen Spitznamen »Todeskammer«. Es ist der bestausgelastete Hinrichtungsraum der USA. Hier werden so viele Menschen getötet, dass es gar nicht so leicht ist, immer genügend tödliche Chemikalien vorrätig zu haben – insbesondere da sich die europäischen Hersteller inzwischen weigern, diese an das TDCJ zu verkaufen. Tennessee hat das gleiche Problem. Dort ist man inzwischen wieder zum elektrischen Stuhl zurückgekehrt. Hier ist auch schon die Rede davon.

Fünf Wärter folgen Boyd in den Raum. Das sogenannte »Festschnall-Team«. Die Leitung hat dabei ein Kerl mit der Figur eines Sitzsacks, der laut Namenschild Woodstock heißt.

Die Wärter führen Nigel Boyd zu der grünen Gummiliege hinüber, die mit Ledergurten und Messingschnallen bedeckt ist. Sie klappen zwei Rechtecke an den Seiten aus, die unter seine Arme kommen, dann binden sie seine Handgelenke darauf fest, als wäre dies eine Kreuzigung. Boyd schwitzt, aber er wehrt sich nicht, als ihn die Wärter auf der Liege festschnallen. Die Todgeweihten scheinen sich nie zu widersetzen, obwohl sie nichts mehr zu verlieren haben.

Schon bald ist Nigel Boyd bewegungsunfähig. Er hat jahrelang einen gestohlenen Ambulanzwagen durch Houston gesteuert und Leute mit einem in Äther getränkten Spüllappen außer Gefecht gesetzt. Dabei hat er den Wagen als mobilen OP benutzt, seine Opfer aufgeschnitten und ihre Organe dann auf dem Schwarzmarkt verkauft. Luzhin glaubt, dass Charlie Warner ein Lungentransplantat von ihm bekommen hat, konnte es aber nicht beweisen. Sechs Jahre später ist es nun für Boyd an der Zeit, sich auf der Liege auszustrecken.

»Zieh den Vorhang hoch«, sagt Woodstock zu einem der anderen Wärter, während er den letzten Gurt festzurrt.

»Ist schon oben.«

»Shit.« Woodstock blickt zu den beiden Fenstern hinüber, vor denen eigentlich ein Vorhang hängen sollte, während der Häftling festgeschnallt wird. Er sieht, dass ich ihn beobachte, und schaut rasch weg.

Die Frau mit dem leicht ergrauten Haar und dem Notizbuch bemerkt dies. Sie schleicht zu mir herüber und setzt sich neben mich.

»Hallo«, sagt sie mit sanfter Stimme. »Alles in Ordnung bei Ihnen?«

Eindeutig eine Reporterin. Dies ist die Aufwärmphase, in der sie versucht, mich für ein Interview in Stimmung zu bringen.

Ich nicke, gebe ihr nichts.

»Ist er ihr …« Sie deutet zu Boyd hinüber, wartet darauf, dass ich die Lücke ausfülle.

»Er ist mein gar nichts«, sage ich.

Der Gefängnisdirektor betritt den Hinrichtungsraum gemeinsam mit einem Geistlichen. Der Direktor ist neu. Ein magerer Kerl in einem grauen Anzug. Den Geistlichen kenne ich aber schon. Er ist ein alter Mann mit traurigen Augen, der in den Raum hineingestolpert kommt, als trüge er die Fußfesseln. Er schiebt Boyd ein Kissen unter den Kopf.

Einen Moment lang herrscht Stille. Der Geistliche legt seine Hand auf Boyds Arm. Jeder im Hinrichtungsraum schaut auf die Uhr.

»Man gewöhnt sich nie daran«, sagt die Reporterin. »Das hier ist meine einundzwanzigste Hinrichtung, und es trifft mich immer noch bis ins Mark.«

Ich gebe ein Knurren von mir.

»Sie gehören wohl zur Familie«, vermutet die Reporterin.

»Ich bin nur der Fahrer. Ich befördere die Leiche hinterher zur Entsorgungsanlage.«

Das versetzt ihr einen Dämpfer. »Oh. Und da mutet man Ihnen zu, sich die Hinrichtungen anzusehen?«

»Hey, sind Sie etwa Reporterin?«, frage ich. »Ich habe jede Menge Storys auf Lager. Unsere ganze Familie ist total durchgedreht. Also, wenn mein Bruder betrunken ist, dann stellt er echt die verrücktesten Sachen an.«

»Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick«, sagt die Frau. Sie zieht ihr Handy hervor und sucht sich einen anderen Sitzplatz. Reporter wollen selten mit jemandem reden, der gern mit ihnen reden würde.

Ich wende meine Aufmerksamkeit wieder Boyd zu. Er hat etwas Hypnotisches. Ist so groß, so muskulös. Ich kann sehen, wie die Venen an seinem Hals pulsieren. Seine Wangen sind grau geworden. Vielleicht hat er geglaubt, dass es nicht so weit kommen würde. Das Oberste Gericht hat sein letztes Gesuch vor einigen Tagen abgewiesen, aber möglicherweise hat er auf die präsidiale Begnadigung gehofft.

In den tiefsten Höhlen ihres Unbewussten glauben manche Menschen, dass alle anderen nicht real sind – dass dies alles bloß ein Videospiel für einen einzelnen Spieler ist und die anderen Figuren ohne Bedeutung sind. Nigel Boyd kann einfach nicht glauben, dass er, der wichtigste Mann im ganzen Universum, sterben soll. Manchmal frage ich mich, ob ich womöglich auch zu diesen Menschen gehöre.

Im Hinrichtungsraum läutet das Telefon.

Der Gefängnisdirektor geht mit großen Schritten darauf zu. Während alle abgelenkt sind, überprüft Woodstock noch einmal den Beutel mit der Infusionsflüssigkeit. Sein Rücken versperrt uns die Sicht, aber ich weiß, was er da tut. Er tauscht das Pentobarbital gegen einen Beutel mit Suxamethoniumchlorid aus.

Suxamethonium ist harmlos, wenn man es schluckt, aber injiziert lähmt es sein Opfer – und es wirkt sogar, wenn man die Vene dabei verfehlt. Ärzte dürfen wegen des hippokratischen Eids keine tödlichen Injektionen verabreichen. Daher fällt diese Aufgabe den Gefängniswärtern zu, die nicht besonders gut darin sind, die richtigen Dosierungen zu errechnen oder Venen zu finden.

Woodstock sieht mich an und nickt kaum merklich.

Ich drehe mich zu der Reporterin um, um zu sehen, ob sie es bemerkt hat. Hat sie nicht. Sie kritzelt in ihrem Notizbuch herum. Ihre »Bis ins Mark treffen«-Bemerkung hat sie wohl nur meinetwegen fallen lassen.

Der Gefängnisdirektor legt auf. Nun ist auch sein Gesicht grau. Er sieht Boyd an und schüttelt den Kopf.

»Oh, scheiße«, sagt Boyd. »O Gott.«

Tränen schießen ihm in die Augen. Er atmet schwer und schnell, als versuche er die Luft eines ganzen Lebens in diese letzten paar Minuten zu quetschen.

»Fahren Sie fort«, weist der Direktor Woodstock an.

»Warten Sie«, sagt Boyd. »Bitte.«

Woodstock weigert sich, ihm in die Augen zu sehen. Er schiebt die Nadel in Boyds Speichenarterie.

Boyds Schrei lässt die Scheiben erzittern. Selbst die abgestumpfte Reporterin zuckt zusammen.

Der Beutel mit dem Suxamethonium fällt in sich zusammen, während die Flüssigkeit in Boyds Körper gepumpt wird. Boyd geht die Luft aus, und er versucht wieder zu schreien, kann es aber nicht. Das Paralytikum wirkt bereits. Sein Gesicht wird schlaff. Innerhalb von dreißig Sekunden liegt er völlig regungslos da.

Sein Anwalt stößt einen langen, erleichterten Seufzer aus. Er glaubt, es sei vorbei.

Der Geistliche murmelt etwas Unhörbares. Der neue Gefängnisdirektor macht den Eindruck, als würde er sich jeden Moment übergeben. Woodstock legt einen Finger an Boyds Hals. Angeblich, um den Puls zu prüfen.

»Zeitpunkt des Todes«, sagt er und blickt dabei auf die Uhr, »dreiundzwanzig Uhr siebenundvierzig.«

Nur er und ich wissen, dass Boyds Herz noch rast. Er ist bei vollem Bewusstsein, aber durch das Paralytikum sind seine Lungen erstarrt. Er erstickt lautlos auf der Liege.

Woodstock und die anderen Wärter beginnen die Gurte zu lösen. Die Reporterin folgt dem Anwalt und dem Bürokraten nach draußen.

Ich schaue noch eine weitere Minute lang zu, fasziniert von Boyds erschlafftem Körper. Äußerlich tot, aber im Inneren lebendig. Durch das Medikament wurde sein Inneres nach außen gekehrt.

Die Flure im Hinrichtungsgebäude sind so angelegt, dass die Familien der Opfer es nicht auf demselben Weg verlassen müssen wie die Familien der Mörder. Aber ich erblicke ein paar alte Leute auf dem von hohen roten Gefängnismauern umgebenen Parkplatz. Vermutlich die Mütter und Väter von Boyds Opfern. Ein Mann in einer Weste schluchzt vor sich hin und klammert sich dabei an seinen Rollator. Eine Frau in einem Rüschenkleid und mit einer Blume im Haar lehnt an einem Auto. Sie wirkt benommen. Wie jemand, der eine leichte Gehirnerschütterung erlitten hat. Eine andere Frau spricht mit der Reporterin, die mitfühlend nickt, während sie ihr Handy in die Höhe hält, um Tonaufnahmen zu machen.

»Es ist nicht genug«, sagt die trauernde Frau. »Es war so friedlich. Meine Tochter ist nicht so gestorben. Es ist nicht genug.«

Ich kann gut nachvollziehen, was sie empfindet. Mir ist es auch nie genug.

Als die letzten Eltern das Gelände verlassen, tritt Woodstock durch eine gewaltige Flügeltür und rollt eine andere Liege mit einem Leichensack darauf hinaus. Der Sack ist aus einem so dünnen weißen Material, dass ich den Umriss von Nigel Boyds erstarrtem Gesicht darunter erkennen kann. Das Suxamethonium macht es unmöglich zu sagen, ob er noch am Leben ist.

Ich öffne die hinteren Türen des fensterlosen Transporters, auf dessen Seiten Gefahrgutzeichen lackiert wurden. Woodstock hilft mir dabei, die Beine der Liege einzuklappen und sie in den Wagen zu schieben. Er reicht mir ein Bündel Papiere. Sollte uns jemand beobachten – was ich nicht glaube –, würde er vermuten, dass dies die Genehmigungsformulare sind, um die Leiche zur Entsorgungsanlage zu bringen.

Woodstock sagt kein Wort und sieht mich dabei auch nicht an. Er dreht sich einfach um und eilt wieder ins Gebäude zurück.

Ich schließe die Türen des Transporters mit dem Krankenwagen-Killer darin.

3

Was gehört dir, wird aber meist von anderen benutzt?

Sechs Tage später bremse ich am Stoppschild, schaue nach links und biege von der Hackett in die Jester ab. Mein verbeulter Mitsubishi wirft einen langen Schatten auf den Asphalt. Ich fahre Richtung Nordwesten, bis das Gebäude hinter den Kiefern auftaucht – ein Obelisk aus getönten Fensterscheiben, zehn Stockwerke hoch, vor dessen Eingang die amerikanische und die texanische Flagge an zwei Masten nebeneinander im Wind flattern.

Das Autoradio brüllt mich an, wirbt für neue Autos, Kaffeemaschinen und Küchen. Nichts davon kann ich mir leisten, stelle das Gerät aber dennoch nicht leiser. Weil es mir sehr gelegen kommt, dass ich auf diese Weise keinen klaren Gedanken fassen kann.

Der Mitsubishi ist ein günstiger, gängiger Wagen, zudem in einem guten Zustand, da er noch nicht so alt ist. Er stand auf einem Parkplatz in der Nähe eines Walmarts. Die Tür habe ich mit einem Türstopper und einem Kleiderbügel geöffnet und die Verriegelungsstifte im Zündschloss mit einem Schlitzschraubenzieher und einem Hammer außer Gefecht gesetzt. Den Hammer habe ich auch für die Beulen benutzt, damit ihn die alten Besitzer im Zweifelsfall nicht wiedererkennen. Und die Nummernschilder stammen von einem violetten VW, der mit jeder Menge Aufklebern verschönert war und dessen Besitzer vermutlich gar nicht bemerken wird, dass ich die Schilder getauscht habe.

Trotzdem bin ich vorsichtig. Fahre nie zu schnell. Blinke immer. Gehe langsam vom Gas, damit mir keiner hinten reinfährt. Und ich parke grundsätzlich an Stellen, wo kein Cop jemals nach einem gestohlenen Wagen suchen würde. Wie etwa vor der Außenstelle des FBI in Houston.

Ich schalte das Radio aus, bevor ich den Motor abstelle. Die Batterie ist nicht mehr die beste, deshalb startet der Wagen nicht, wenn das Radio eingeschaltet ist oder die Scheinwerfer an sind oder die Klimaanlage läuft. Ich lasse das Fenster einen Spaltbreit geöffnet, damit der Innenraum in der Sonne nicht zum Backofen wird. Dann hänge ich mir die Ausweiskarte um den Hals, die mich als zivilen Berater kenntlich macht. Zehn Minuten später öffne ich die Tür zu Peter Luzhins Büro.

Luzhin ist achtundvierzig und trägt wegen seiner langen, borstigen Koteletten den Spitznamen »Elvis«. Er ist eins neunzig groß, hat breite Schultern und kräftige Arme. Um die Mitte ist er ein bisschen schwabbelig, wie es bei Ex-Junkies manchmal der Fall ist.

Er sitzt über seinen Laptop gebeugt und blickt auf, als ich hereinkomme. »Ach. Sie.«

Ich schließe die Tür hinter mir und nehme auf einem kaum gepolsterten Stuhl Platz.

Für alle, die die Tafel an seiner Tür übersehen haben sollten, weist ihn das Namensschild auf seinem Schreibtisch als Leiter der Außenstelle Houston des FBI aus. Der Rahmen mit dem Foto seiner Familie liegt wie üblich mit der Bildseite nach unten, damit ich sie nicht sehen kann. Oder vielleicht auch, damit sie mich nicht sehen können.

»Neuer Fall«, sagt er. »Cameron Hall. Vierzehn Jahre alt. Wurde zuletzt gestern um sechzehn Uhr gesehen. Es gibt eine Lösegeldforderung.«

»Ernst zu nehmen?«

»Davon gehen wir momentan aus.«

»Vermögende Eltern?«

»Vermögende Mutter.« Luzhin tippt auf das Touchpad, um den Computer zu wecken, gibt aber schnell wieder auf. »Ein Onkel hat ihr etwas Land vererbt«, sagt er. »Das hat sie an einen Fitnessclub in San Antonio verkauft und sich mit dem Geld ein paar exklusive Häuser in der Umgebung von Houston zugelegt, die sie vermietet. Verdient damit pro Jahr vermutlich zweihunderttausend netto.«

Was für ein Glückspilz. Ich habe so gut wie nichts von meiner Familie geerbt.

»Wo ist der Vater des Jungen?«

»In Pennsylvania. Die Mutter – ihr Name ist Annette Hall – behauptet, es sei nicht seine Stimme gewesen am Telefon, als sie die Lösegeldforderung erhielt.«

»Hat er irgendwelche Vorstrafen?«

»Ich warte noch auf Rückmeldung. Der Junge ist sauber. Seine Mutter wurde vor zwei Jahren wegen Steuerhinterziehung verurteilt. Hat eine Bewährungsstrafe bekommen.«

»Vielleicht verschafft sich Warner so die Mittel für den Prozess.« Ist bloß so eine Idee, aber wenn es sich beim Entführer nicht um den Vater des Jungen handelt, dann ist es statistisch gesehen sehr wahrscheinlich, dass es jemand aus Charlie Warners Organisation ist.

Luzhin zieht die Augenbrauen in die Höhe. »Warner hat eine Million Dollar in bar für die Kaution hinterlegt.«

»Ein Grund mehr, ein reiches Kind zu entführen.«

»Es ist nicht Warner.«

»Woher wissen Sie das?«

Luzhin zögert.

»Sie haben also einen Informanten bei denen«, mutmaße ich. »Wenn Warner den Befehl gegeben hätte, hätten Sie es erfahren.«

Er gibt es nicht zu, aber seine geweiteten Nasenlöcher sagen mir, dass ich recht habe. Ich frage mich, wie er einen Freiwilligen dafür gefunden hat. Der letzte Agent, der in Warners Gang verdeckt ermittelt hat, wurde an seinen Handgelenken gefesselt an einem Ast über einem Fluss hängend gefunden. Sie hatten ihm die Haut aufgeschlitzt – nicht schlimm genug, um ihn zu töten, aber es hatte gereicht, um die Alligatoren anzulocken. Als die Cops eintrafen, war alles unterhalb seiner Rippen verschwunden.

»Halten Sie sich von Warner fern«, sagt Luzhin. »Ich will nicht, dass Sie den Prozess gefährden.«

»In Ordnung. Wer hat den Jungen als Letzter gesehen?«

»Ein Kerl namens Crudup. Musiklehrer an der North Shore Middle School. Das Opfer ist nach Unterrichtsschluss auf sein Fahrrad gestiegen, aber nie zu Hause angekommen. Die Lösegeldforderung wurde gegen achtzehn Uhr gestellt. Danach hat Annette Hall die Cops gerufen.«

»Hat der Entführer ihr geraten, es nicht zu tun?«, erkundige ich mich.

»Natürlich. Aber wir haben Agenten in Zivil vor Ort, die das Haus im Auge behalten. Außer uns beobachtet sie niemand.«

»Bis wann soll sie zahlen?«

»Bis heute, achtzehn Uhr.«

Vierundzwanzig Stunden nach dem Anruf. Das ist typisch. Zu kurz für eine gründliche Suche, aber lang genug, um eine größere Summe zusammenzubekommen. Ein Blick auf Luzhins Wanduhr sagt mir, dass wir zweiundzwanzig Minuten nach neun haben. Damit bleiben mir acht Stunden, um herauszufinden, was hier los ist.

»Sie hätten mich gestern Abend anrufen sollen.«

»Ich hatte gehofft, wir würden Sie nicht hinzuziehen müssen.«

»Ich nehme an, Sie haben das Telefon der Mutter angezapft.«

»Vasquez hat das gestern Abend um acht erledigt. Seitdem keine Anrufe mehr.«

»Keine weiteren Hinweise, Spuren, irgendwas?«

Luzhin dreht seine Handflächen nach oben wie ein Zauberer, der seinem Publikum zeigt, dass sie leer sind.

»Haben Sie ein Foto von dem Jungen?«

Er schiebt eine Mappe über den Schreibtisch zu mir herüber. Ich greife danach und blättere sie durch, bis ich ein Foto finde. Es ist ein Selfie, bei einer Hausparty aufgenommen. Im Hintergrund trinken Teenager aus roten Plastikbechern. Cameron sieht mich mit einem breiten Grinsen und hochgezogenen Augenbrauen an. Hautfarbe weiß, dunkelblondes Haar, dunkle Augen.

In Houston verschwinden ständig Leute. Die Polizei hat nicht die Mittel, alle zu finden, daher konzentriert sie sich auf die Fälle, die die Aufmerksamkeit der Medien auf sich ziehen werden. Es überrascht mich nicht, dass es bei meinem neuen Fall um einen reichen, weißen Jungen geht.

»Eines noch«, sage ich. »Wer ist meine Belohnung?«

Luzhin blickt zur Tür hinüber, um sicherzugehen, dass sie geschlossen ist, und sagt mit leiser Stimme: »Ein Ausländer. Tansanier. Dreiundvierzig. Wurde vor elf Jahren wegen dreifachen Mordes verurteilt. Keine Familie in den Staaten.«

»Spricht er Englisch?«

»Herrgott! Spielt das eine Rolle?«

Ich zucke mit den Schultern.

Luzhin ist kein guter Kerl. In seiner Anfangszeit hatte er keine Skrupel, Verdächtige zu schlagen, um sie zu einem Geständnis zu bewegen, und er schaut noch heute darüber hinweg, wenn Cops zu diesen Mitteln greifen. Er fälscht Dokumente, schüchtert Zeugen ein und schmiert Woodstock – vielleicht erpresst er ihn auch, da bin ich mir nicht ganz sicher. Aber wenn er mich ansieht, tut er dies immer mit Abscheu im Blick.

»Bevor Sie gehen«, sagt er, ohne meine Frage zu beantworten. »Richmond ist immer noch nicht diensttauglich, seit ihn Oswald angeschossen hat. Ich habe Ihnen einen neuen Partner zugeteilt.«

»Wen?«

»Special Agent Reese Thistle.«

Die Agentin, die mich nicht in Billie Collins’ Haus lassen wollte und mir Handfesseln angelegt hat, nachdem ich Billies Leben gerettet hatte. »Nein«, erwidere ich. »Dieses Mal werde ich mir meinen Babysitter selbst aussuchen.«

»Das ist gegen die Abmachung.«

»In unserer Abmachung war nie die Rede davon, dass mir jemand über die Schulter schaut.«

»Ich mache hier die Regeln, nicht Sie. Wenn Sie ein Problem damit haben, können Sie unser Arrangement mit all den Ihnen gewährten Vorteilen natürlich jederzeit beenden. Aber sollten Sie es vorziehen weiterzumachen, dann können Sie sich Ihren Partner nicht aussuchen. Thistle weiß bereits Bescheid, dass sie Ihnen zugeteilt wurde.«

»Na und?«, entgegne ich. »Angst, sie zu enttäuschen?«

»Wenn ich jemand anderes auswähle, weil Sie sich quergestellt haben, dann wird sie es herausfinden. Und schon bald werden die anderen Agenten erfahren, dass der Leiter der Außenstelle seine Mitarbeiter auf Ihr Verlangen hin umbesetzt hat, und sie werden beginnen, Fragen zu stellen. Möchten Sie das?«

Damit hat er mich, und das weiß er.

»Hören Sie auf damit, Zeit zu verschwenden«, sagt er. »Finden Sie Cameron Hall.« Er wendet sich wieder seinem Computer zu, der endlich aufgewacht ist.

Als ich zur Tür hinausgehe, vernehme ich ein Klappern – das Familienfoto, das aufgerichtet und wieder an seinen alten Platz gestellt wird.

»Mr. Blake.«

Ich drehe mich um und erblicke Agent Thistle, die ganz in der Nähe steht. Dieses Mal trägt sie keine Uniform, sondern eine weinrote Bluse zu einem dunkelgrauen Hosenanzug und flache Schuhe, in denen sie vermutlich bei Bedarf auch rennen kann.

»Schön, Sie wiederzusehen«, sagt sie ohne jede Begeisterung. »Ich werde Ihnen bei dieser Ermittlung behilflich sein.«

Damit meint sie, dass sie mich beaufsichtigen wird. Überwachen. Ihr Tonfall klingt, als lese sie von einem Manuskript ab und sei nicht gerade glücklich über diese neue Aufgabe. Damit sind wir schon zwei.

»Ich möchte Ihnen im Namen des FBI danken, dass Sie …«

»Jaja, schon gut«, unterbreche ich sie. »Dafür haben wir unterwegs noch Zeit.«

»Natürlich. Wohin geht’s?«

»Zum Haus der Halls.«

»Wurde bereits von Agenten gründlich durchsucht.« Sie deutet auf die Mappe in meiner Hand. »Der komplette Bericht liegt vor.«

»Ich will mir das Haus trotzdem ansehen.«

»Was glauben Sie, dort zu finden?«

»Wenn ich das wüsste, müsste ich nicht hin.«

Thistles Dienstwagen ist ein bevorzugtes Modell des FBI: ein Ford Crown Victoria. Die Limousine ist weiß, hat schon ein paar Jährchen auf dem Buckel, ist aber – zumindest außen – sauber. Vom Rücksitz dringt der Geruch von Erbrochenem an meine Nase. Ich vermute, dass Thistle einen betrunkenen Autofahrer verhaftet hat. Der Täter stammte vermutlich aus Louisiana, denn wenn er keine Staatsgrenzen überquert hätte, wäre es ein Fall für die Polizei von Houston gewesen und nicht für das FBI.

Thistle dreht den Schlüssel im Zündschloss. Sogleich plärren die Georgia Satellites aus den Lautsprechern, und sie dreht die Lautstärke rasch auf null. Auf dem Zigarettenanzünder liegt eine Staubschicht.

Reese Thistle ist also unverheiratet, Nichtraucherin und steht auf Blues-Rock der Achtziger. Da sie nicht mehr viel Benzin im Tank hat, wohnt sie vermutlich in Houston, denn kein Pendler von weiter weg als Liberty würde die Nadel unter ein Viertel des Tankvolumens fallen lassen.

Nun, da ich sie von der Seite sehe, stelle ich fest, dass sie Geige spielt. Und dass ihre Streichhand die linke ist. Denn die Schwiele an ihrem Hals vom Klangkörper des Instruments befindet sich auf der falschen Seite. Dies bedeutet vermutlich, dass sie Autodidaktin ist, da die meisten Linkshänder unter den Geigern dennoch den Bogen mit rechts führen. Ihrem Gesicht nach zu urteilen, ist sie ein paar Jahre älter als ich. Vielleicht Mitte dreißig. Ihre Brüste lassen vermuten, dass sie keine Kinder hat.

»Ist was?«, erkundigt sie sich, ohne mich anzusehen.

Ich wende mich wieder der Windschutzscheibe zu. »Nein. Alles okay.«

»Das mit letzter Woche tut mir leid.« Sie dreht am Lenkrad und steuert den Wagen vom Parkplatz. »Ich war mir nicht sicher, was vor sich ging, und habe eine spontane Entscheidung getroffen. Inzwischen weiß ich, dass die Handfesseln unnötig waren.«

»Machen Sie sich nichts draus.«

Sie wartet darauf, dass ich mehr sage. Tue ich aber nicht.

Die Luft im Wagen ist suppig. Ich rolle mir die Ärmel auf. Thistle wirft einen Blick auf das Narbengewebe, das meine Arme von den Handgelenken bis zu den Ellenbogen bedeckt, und blickt dann wieder auf die Straße.

Cameron Hall lebt mit seiner Mutter in Cloverleaf, ungefähr eine halbe Stunde Fahrt in östlicher Richtung. Der Wagen hat ein Navi, aber Thistle schaltet es nicht ein. Sie biegt von der Jester auf die North Loop und fädelt sich mit dem Selbstvertrauen eines Menschen, der schon lange in Houston lebt, in den fließenden Verkehr auf der I-610 ein.

Sie reibt sich mit dem Daumen über den Ringfinger, als wäre dort einmal etwas gewesen. Vermutlich geschieden.

Ich frage mich, worauf sie steht. Drogen, Alkohol, Glücksspiel, Vielfliegermeilen. Jeder ist süchtig nach irgendetwas, ganz besonders Leute mit stressigen Berufen. Wenn ich herausbekomme, worauf sie abfährt, kann ich sie irgendwann dazu bringen, mich in Ruhe zu lassen. Das FBI ist hoffnungslos korrupt. Jeder hat seinen Preis.

»Warum brauchen Sie einen Babysitter?«, fragt sie mich unvermittelt.

Für einen Moment setzt mein Herzschlag aus. Hat sie etwa an Luzhins Tür gelauscht? »Einen Babysitter?«

»All die anderen Agenten sind da draußen unterwegs und suchen nach diesem Jungen«, sagt Thistle. »Ich könnte ihnen dabei helfen, bin bereits seit zwölf Jahren beim FBI – aber stattdessen passe ich auf Sie auf. Würden Sie mir verraten, wieso?«

Sie muss tough sein. Vor zwölf Jahren hatten es junge, schwarze, hübsche Frauen beim FBI nicht leicht. Ich habe meine Beratertätigkeit vor drei Jahren begonnen, und selbst da bezeichneten manche ältere Cops Agentinnen noch als Tittensheriffs.

Ich antworte ihr: »Ich habe bereits bei einigen Vermisstenfällen geholfen.«

Sie nickt. »Ja, davon habe ich gehört. Ich hielt Sie eigentlich für einen Verbrecher, der geschnappt worden ist und einen Deal mit Luzhin gemacht hat, weil der Ihre Verbindungen zur Unterwelt nutzen will. Aber wenn das der Fall ist, warum fahren wir dann zum Haus des Jungen?«

»Alle Cops durchlaufen die gleiche Ausbildung«, erkläre ich. »Ergo ist die Betrachtungsweise eines jeden Falles auch immer die gleiche. Manchmal übersehen Sie und Ihre Kollegen dabei Dinge.«

»Verstehe«, sagt sie gedehnt. »Dann sind Sie also – was? Hellseher?«

Ich lächele. »Nein. Ich schaue nur sehr genau hin. Ich habe gute Augen.«

»Und die benutzen Sie, um uns zu helfen?«

Sie glaubt mir nicht. Ich zucke mit den Schultern.

»Warum sind Sie dann kein Cop geworden?«

»Hab die Highschool nicht geschafft«, erwidere ich.

»Und wie wär’s mit Privatdetektiv?«

»Meine Zeit damit verplempern, untreuen Ehemännern nachzuspionieren? Nein, danke.«

Ich blicke aus dem Fenster und schaue zu, wie Houston vorbeiscrollt. Landstriche, auf denen nichts anderes zu sehen ist als Gras und die nur unterbrochen werden von Lagerhallen, die die Größe von Häuserblocks haben. Mein Magen knurrt. Noch nicht einmal zehn Uhr und ich habe bereits Hunger.

»Wenn Sie mir Scheiße erzählen, kann ich nicht viel für Sie tun«, sagt Thistle.

»Fahren Sie mich zum Haus des Jungen. Das reicht mir schon.«

Die Adresse entpuppt sich als eine bewachte Wohnanlage mit einem schmiedeeisernen Zaun und einem Rasen, auf dem man Golf spielen könnte. Thistle hat keinen Schlüssel für das Eingangstor, daher drückt sie auf den Klingelknopf. Nach einer Minute tritt ein alter Mann mit Schnäuzer in gebückter Haltung aus einem entfernt gelegenen Wachhaus. Er schlurft auf uns zu, wirft einen Blick auf Thistles Ausweis, öffnet das Tor und winkt den Wagen ohne ein Wort durch.

Das Haus selbst steht auf einem Hügel ganz am Ende der Zufahrt. Es ist groß und alt, die Holzverkleidung frisch gestrichen, und es gibt jede Menge große Fenster. Im Vorgarten wächst alles mit einer Präzision, die ständiger Pflege bedarf.

Wir parken am Bordstein und steigen aus. Beim Verriegeln gibt der Crown Vic ein klackendes Geräusch von sich, und der feine Kies knirscht unter unseren Schuhen, als wir den Weg zur vorderen Veranda nehmen. Ich setze meinen Fuß auf einer Treppenstufe nicht weit genug auf, wodurch ich zu viel Gewicht auf meinen krummen Zeh verlagere, und sauge zischend Luft durch meine Zähne ein, als der Schmerz an meinem Bein hinaufschießt.

Ich werde trampelig auf meine alten Tage. In Hundejahren wäre ich jetzt immerhin beinahe zweihundertvierzig.

Meine Hand bewegt sich Richtung Türklingel, aber Thistle kommt mir zuvor. Bimbam. Die Botschaft ist eindeutig: Das hier ist eine FBI-Untersuchung, ich bin Zivilist, ergo hat sie das Sagen.

Meinetwegen. Ich wende mich den anderen Häusern zu. Sie stehen weit genug entfernt, dass es schwierig wäre, die Halls zu bespitzeln – es sei denn, man würde ein Fernrohr oder eine Drohne benutzen.

Hinter mir wird die Tür geöffnet. »Ms. Hall«, sagt Thistle. »Ich bin Agent Reese Thistle vom FBI, und das hier ist einer unserer Berater, Timothy Blake. Dürfen wir reinkommen?«

Ich drehe mich um. Annette Hall ist ein Hingucker. Knapp einen Meter sechzig groß, an die sechzig gut verteilte Kilos, auf die sechsunddreißig zugehend. Ziemlich jung, um die Mutter eines vierzehn Jahre alten Jungen zu sein. Wie er hat sie volle Lippen und eine Stupsnase. Sie trägt einen Ring an jedem Finger, nur nicht an dem, der zählt.

Ihre Augen sind gerötet, ihr rotblondes Haar ist etwas feucht, als hätte sie vor einer halben Stunde geduscht. Sie sieht Thistle ein wenig misstrauisch an – vielleicht mag sie keine Cops –, aber als sie sich mir zuwendet, sehe ich in ihrem Gesicht eine Mischung aus Angst und Hoffnung.

Sie kommt mir irgendwie bekannt vor. Da wir uns nie zuvor begegnet sind und ich kein Foto von ihr gesehen habe, muss ich sie aus dem Fernsehen kennen. Nicht aus den Nachrichten, nicht aus einem Film und auch nicht aus einer Talkshow … Sondern aus einer Soap. Das ist es. Sie hatte ein paar Dialogzeilen in einer Episode von Zeit der Sehnsucht, die ich vor sechs Jahren in einem Diner gesehen habe.

Ich nicke ihr zu und schenke ihr ein höfliches, verhaltenes Lächeln, das signalisiert: Tut mir leid, dass wir uns unter diesen Umständen kennenlernen.

»Haben Sie …« Hall verschränkt die Arme vor ihrer Brust. »Haben Sie Cam gefunden?«

Sie spricht nicht wie eine Texanerin. Klingt eher wie eins dieser unzähligen Teenagermädchen, die nach Kalifornien kamen, um berühmt zu werden, die aber irgendwann zu alt wurden, um noch irgendwelche guten Rollen zu ergattern.

»Noch nicht, Ma’am«, erwidert Thistle. »Aber alle verfügbaren Kräfte sind auf der Suche nach ihm.«

Das hätte sie besser nicht gesagt. »O nein!«, ruft Hall. »Die haben mir doch gesagt, dass ich nicht die Polizei rufen soll! Wenn jetzt überall Cops rumlaufen, dann werden sie …«

»Es handelt sich um Beamte in Zivil in Zivilfahrzeugen, Ma’am, die nicht als Polizisten zu erkennen sind. Dürfen wir reinkommen?«

Hall macht einen Schritt zur Seite. Ist jetzt darauf bedacht, dass wir rasch von ihrer Türschwelle verschwinden. Wir betreten die Eingangshalle.

Das Innere passt zur Vorderseite: groß, gepflegt, kostspielig. Ein paar Gemälde an den Wänden, die den Eindruck erwecken, als handele es sich um Originale. Die Dielenbretter wurden erst kürzlich geölt. Neben der Eingangstür befindet sich die Tastatur einer Alarmanlage. Die Tasten mit den Ziffern 2, 5, 8 und 9 sind ein wenig abgegriffen. Wenn sie ihr Geburtsdatum als Code verwendet, wie es die meisten Leute tun, wurde sie entweder am fünften September oder am neunten Mai 1982 geboren.

»Ist Ihre Haushälterin heute hier?«, erkundige ich mich.

»Die habe ich nach Hause geschickt.« Hall starrt auf meine Schuhe, die zugegebenermaßen selbst für einen Cop nicht viel hermachen. »Entschuldigen Sie, wer sind Sie noch mal?«

»Timothy Blake, Ma’am«, antworte ich und bewege mich Richtung Treppe.

»Äh, hätten Sie etwas dagegen, wenn wir uns einmal umschauen, Ms. Hall?«, erkundigt sich Thistle rasch.

»Was? Warum denn?«

»So ist die Vorgehensweise. In einem Fall wie diesem ist der Täter seinem Opfer normalerweise mindestens einmal begegnet, also …«

»Ihre Kollegen haben das Haus bereits durchsucht«, erklärt Hall. »Wonach suchen Sie denn überhaupt noch?«

Ich bin oben an der Treppe angekommen. Blicke zurück nach unten. »Das weiß ich erst, wenn ich es finde«, sage ich und gehe den Flur hinunter in Richtung der Schlafräume. Mit einer Hand an der Wand bewege ich mich weiter fort und lausche dem Echo meiner Schritte. Atme die leicht parfümierte Luft tief ein. Ich werde mich später viel besser an jedes Detail des Grundrisses und der Ausstattung des Hauses erinnern können, wenn ich jetzt alles mit möglichst vielen Sinnen gleichzeitig erfasse. Neun Zehntel des Memorierens bestehen darin, aufmerksam zu sein. Die Leute vergessen, wo sie ihre Wagen geparkt haben, weil sie an etwas anderes dachten, als sie sie abstellten. Ich konzentriere meine Aufmerksamkeit immer darauf, wo ich gerade bin. Dabei geht es mir nicht nur um das Erinnern. Ich versuche zu verhindern, dass meine Gedanken abschweifen, denn mir gefällt selten, wohin sie driften.

Das erste Schlafzimmer gehört Annette. Queensize-Bett, ungemacht. Der Raum wurde noch nicht aufgeräumt, was von Vorteil für mich ist – die Unordnung, die eine Frau hinterlässt, sagt mehr über sie aus als die Fassade, die sie errichtet. Eine Vase mit drei, vier Tage alten Blumen auf einer Anrichte am Fenster. Ein schnurloses Telefon in einer Ladestation. Daneben eine Bibel mit zwei Eselsohren. Auf der ersten Seite mit umgeknickter Ecke finde ich Levitikus 18 – dieses ganze Zeug darüber, keinen Sex mit Tieren oder menstruierenden Frauen zu haben. Auf der zweiten Seite dann Lukas 12. Fürchtet den, welcher, nachdem er getötet hat, auch Macht besitzt, in die Hölle zu werfen!

Ein gerahmtes Foto von einem achtzehn- bis zwanzigjährigen jungen Mann in Klamotten, die schon vor einem Jahrzehnt aus der Mode gekommen sind. Könnte Camerons Vater – laut Akte Philip Hall – als junger Mann sein. Der Hintergrund deutet auf ein Hochschulgelände hin. Sein Lächeln wirkt ein wenig ungehalten, als hätte ihn derjenige, der das Foto gemacht hat, bei etwas gestört.

Keine Fotos von Cameron selbst. Vielleicht haben die anderen Agenten sie mitgenommen.

In der Ecke des angeschlossenen Bads befindet sich die geräumigste Dusche, die ich jemals gesehen habe. Sie hat nicht einmal eine Tür. Lediglich eine Öffnung an einem Ende und eine hohe Glasscheibe, damit die Toilette nicht nass wird. Ich öffne die Tür des Spiegelschranks, um mir Annettes Tablettensammlung anzusehen. Xanax, Tylenol, Valium. Nichts Außergewöhnliches. Ich könnte etwas von dem Xanax stehlen, um es an meinen Mitbewohner zu verkaufen, aber der hat seine eigenen Lieferanten. Das ist den Ärger nicht wert. Ich schließe die Tür wieder.

Am anderen Ende des Flurs begegne ich Annette und Thistle in Camerons Zimmer. Es sieht ziemlich genau so aus, wie man es bei einem vierzehnjährigen Jungen erwarten würde. Die Bettdecke zeugt davon, dass er Fan eines Films oder Videospiels namens Uncharted 4 ist. Ein Batman-Poster hängt schief an der Wand. Eine Trompete steht auf einem Ständer in der Ecke, daneben ein silberner Dämpfer.

»Er ist nicht nach Hause gekommen«, sagt Annette. »Also wieso sind Sie nicht in seiner Schule und stellen dort Ihre Fragen?«

Thistle schaut unter das Bett. »Hatte Cameron irgendwelche Probleme in der Schule?«

»Nein. Er ist ein guter Junge. Aber die anderen Kinder … Cameron ist eigentlich ein besseres Umfeld gewohnt.«

»Was meinen Sie damit?«, erkundigt sich Thistle beiläufig.

»Aber er wollte unbedingt dorthin«, fährt Annette fort, ohne auf die Frage einzugehen. »Und Gott steh mir bei, ich konnte nicht Nein sagen.«

Auf Camerons Nachttisch liegt ein Fotoapparat. Sieht teuer aus. Die Kids können heutzutage Fotos mit ihren Handys machen, daher sagt mir die Tatsache, dass Cameron etwas Anspruchsvolleres haben wollte, dass er sich für Fotografie interessiert. Im Bücherregal stehen hauptsächlich Comics und einige Romane, die nach Serien alphabetisiert sind. In einem kleinen Holzkasten entdecke ich ein paar Kondome und Kleingeld. Der Junge ist sexuell aktiv oder hat vor, es bald zu sein.

»Glauben Sie, dass er schlechten Umgang hat?«, fragt Thistle.

»Nein, nein. Aber die Schülerschaft ist sehr gemischt. Das Lehrerkollegium auch. Haben Sie schon Mr. Crudup kennengelernt? Den Musiklehrer?« Annette wartet die Antwort gar nicht erst ab. »Einige Leute besitzen einfach keine Arbeitsmoral. Also stehlen sie oder sacken Fördermittel ein. Es liegt an den kulturellen Unterschieden. Und jeder kann sehen, dass Cameron aus einem wohlhabenden Elternhaus stammt.«

Ich verkneife mir, darauf hinzuweisen, dass Annette ihr Vermögen geerbt und dann versucht hat, es vor dem Finanzamt zu verbergen. Stattdessen halte ich eins der Kondome in die Höhe.

Hall errötet. »Er ist ein guter Junge«, sagt sie. »Ist es wirklich nötig, all seine Sachen so zu durchwühlen?«

»Hat er eine Freundin?«, frage ich.

»Nein.« Aber die Antwort kommt zu schnell. Ihre Arme sind abwehrend vor der Brust verschränkt, und sie blickt mir unverwandt in die Augen, als befürchte sie, dass ich ihre Worte in Zweifel ziehen würde, wenn sie wegschaut.

Thistle sind diese Signale auch nicht entgangen. »Sind Sie sich sicher? Kein Mädchen, das regelmäßig hier ist?«

»Nein.«

»Oder ein Junge?«, füge ich hinzu.

»Mit Sicherheit nicht. In der Schule unterrichten sie Sexualkunde, nicht Abstinenz. Da wird er diese Dinger bestimmt bekommen haben.«

»Gibt es jemanden, an dem er Interesse …« Ich verstumme mitten im Satz. Drehe mich zur Trompete um. Die sollte eigentlich gar nicht hier sein. Nicht, wenn ihn sein Musiklehrer als Letzter gesehen hat.

»Er wurde nicht auf dem Nachhauseweg entführt«, sage ich. »Sie haben ihn sich hier geholt.«

4

Kommt vom Leben,

hat kein Leben,

muss doch Leben tragen.

Agent Thistle verschwendet keine Zeit mit der Frage, woher ich das weiß. Sie hat sofort das Handy am Ohr.

»Hier ist Thistle. Ich befinde mich im Haus der Familie Hall und benötige schnellstmöglich ein Team von der Spurensicherung.«

»Was? Spurensicherung? Hier? Was soll das?« Hall wendet sich Thistle zu und dann wieder mir.

»Ihr Sohn hatte gestern Musikunterricht«, sage ich, »aber seine Trompete ist hier. Besitzt er zwei Trompeten?«

»Vielleicht hat er sie vergessen«, erwidert Hall unsicher.

Ich nicke. Das hätte der Musiklehrer vermutlich erwähnt, aber ich werde mich vergewissern, dass ihn jemand danach gefragt hat. »Hübscher Fotoapparat. Druckt Cameron seine Lieblingsfotos aus?«

Hall dreht sich um. Betrachtet die leeren Stellen an den Wänden. Die Farbe weicht aus ihren Wangen.

»Aber … seine Schultasche ist weg. Und …«

»Jemand wollte es so aussehen lassen, als wäre er nicht nach Hause gekommen«, erkläre ich. »Gibt es Sicherheitskameras im Haus?«

»Nein. Wir legen Wert auf Privatsphäre.«

»Und wie sieht’s am Eingangstor aus?«

»Da ist ein Wachmann.«

Aber keine Kamera. Selbst wenn dort eine wäre, hätte der Entführer das Tor meiden und ohne große Probleme über den Zaun klettern können.

Thistle klappt ihr Handy zu und sagt: »Wieso die Fotos mitnehmen, wenn man versucht, es so aussehen zu lassen, als wäre man nie hier gewesen?«

»Das werden wir herausfinden, wenn wir die Fotos sehen. Vielleicht hat Cameron sie bei etwas aufgenommen, das sie nicht hätten tun sollen. Vielleicht war das der Grund, warum sie ihn mitgenommen haben. Die Lösegeldforderung könnte ein Ablenkungsmanöver sein.«

Sollte das der Fall sein, werden sie Cameron töten, selbst wenn Annette zahlt. Thistle spricht dies nicht aus, aber ich sehe ihr an, dass sie es denkt.

»Oder vielleicht kannten sie ihn«, sagt sie, »und sie sind auf einem dieser Fotos.«

»Haben Sie Zugang zu seinen Social-Media-Profilen?«, frage ich Hall.

»Die anderen FBI-Agenten haben seinen Laptop mitgenommen.«

»Sie haben seinen Fotostream bereits heruntergeladen«, sagt Thistle. »Nichts Ungewöhnliches.«

»Ich will die Fotos sehen«, sage ich.

»Sie glauben also, Cameron hat den Täter gekannt?«

»Kein gewaltsames Eindringen. Alles im Haus intakt. Der Junge weiß vielleicht gar nicht, dass er entführt wurde.«

Thistle wendet sich Hall zu. »Haben Sie sich in letzter Zeit mit Camerons Vater getroffen?«

Die meisten Entführungen resultieren aus Sorgerechtsstreitigkeiten, obwohl der Täter sich selten die Mühe macht, eine Lösegeldforderung vorzutäuschen.

Hall schüttelt den Kopf. »Wie ich den anderen Agenten bereits erklärt habe, ist er nach Pennsylvania gezogen, als ich schwanger wurde. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen, außer … außer in Cam.« Ihre Lippe zittert. »Er sieht seinem Daddy so ähnlich.«

Die Ähnlichkeit zwischen den Fotos von Philip und Cameron schien mir oberflächlich, doch das sage ich nicht.

»Erzählen Sie mir von Camerons Freunden«, fordert Thistle sie auf.

Hall beginnt die Jugendlichen aufzuzählen, denen sie am meisten misstraut. Die Nachnamen klingen so, als handele es sich überwiegend um Latinos und Schwarze. Ich begreife so langsam, was sie mit besserem Umfeld gemeint hat und warum sie sich beim Anblick von Thistle auf ihrer Türschwelle so unwohl zu fühlen schien. Ich verlasse das Zimmer und gehe über den Flur zurück zur Treppe.

Wenn Cameron die Leute kennt, mit denen er zusammen ist, dann wäre sein Smartphone von Nutzen. Und wenn sie ihn von hier weggeholt haben, dann hat er es vielleicht liegen lassen. Laut der Akte konnte es Maurice Vasquez – der Technikguru der Außenstelle – nicht orten, daher muss es ausgeschaltet oder defekt sein.

Ich verschwinde in Ms. Halls Schlafzimmer. Nehme das schnurlose Telefon aus der Ladestation und scrolle durch ihre Kurzwahlnummern. Cam ist an zweiter Stelle nach Mom + Dad.

Hinweis an mich: die Großeltern checken. Könnten sie Cameron von seiner bigotten Mutter weggeholt haben?

Eine schwache Hypothese ohne erhärtende Beweise. Kinder sind tendenziell eher weniger vorurteilsbehaftet als ihre Eltern, daher dürften die Großeltern vermutlich schlimmer sein als Hall.

Ich scrolle auf Cam zurück und drücke den Anrufknopf.

Es läutet. Also nicht ausgeschaltet und auch nicht defekt. Aber wo steckt es?

Irgendwo im Haus ist ein entferntes Klingeln zu hören. Ich verlasse das Schlafzimmer und gehe nach unten.

Ein Teenager lässt sich nur mit Gewalt von seinem Smartphone trennen. Cameron muss also wissen, dass er entführt wurde.

Im Hauswirtschaftsraum steht ein Korb mit schmutziger Wäsche. Eine verwaschene Jeans liegt unter zwei grauen Blusen begraben. Ich ziehe das Handy aus der Tasche und drücke ablehnen.

Dann gehe ich zurück nach oben ins Schlafzimmer. Thistle sagt gerade: »Gibt es unter den Lehrern oder den Eltern der anderen Schüler vielleicht jemanden, der Cameron besser kannte?«

Hall starrt hilflos auf das Bett ihres Sohnes.

Eine weitere Theorie dringt aus den Tiefen meines Verstandes an die Oberfläche: Führt uns Annette Hall möglicherweise an der Nase herum? Hat sie ihren Sohn vielleicht getötet, ihn im Garten vergraben und die Lösegeldforderung nur vorgetäuscht, um den Verdacht von sich abzulenken?

Aber sie scheint unbedingt helfen zu wollen. Und ihre schauspielerische Leistung in Zeit der Sehnsucht habe ich nicht gerade als überragend in Erinnerung. Sie mag eine Rassistin sein, aber ich halte sie nicht für eine Mörderin.

»Wir sind hier fertig«, teile ich Thistle mit.

Ich gehe die Treppe hinunter, während Thistle Annette noch mit irgendwelchen Phrasen abspeist, die da lauten: Wir tun alles, was in unserer Macht steht und Wir melden uns, sobald wir etwas wissen.

Auf dem Weg zur Haustür schaue ich kurz in die Küche, und mein Blick fällt auf das Messer.

Es liegt schimmernd auf der Granitarbeitsplatte. Zwiebelscheibchen kleben an seiner Edelstahlklinge. Aber es ist nicht für Gemüse vorgesehen. Es ist ein Tranchiermesser. Dafür gemacht, Fleisch vom Knochen zu schneiden. Der Griff ist kalt und gerade schwer genug, um die Klinge auszubalancieren. Erst als ich zu dieser Feststellung gelange, wird mir bewusst, dass ich das Messer in der Hand halte.

Ich sollte es wieder hinlegen. Tue ich aber nicht.

Die glänzende Messerschneide krümmt sich strotzend vor Potenzial aufwärts zu einer scharfen Spitze. Als mein Finger die Klinge berührt, schneidet sie die Haut nicht. Das Messer hinterlässt lediglich eine Delle.

Enttäuscht drücke ich fester. Ein Blutstropfen wächst rasch auf meiner Fingerspitze, ein Kribbeln läuft an meinem Rückgrat hinauf.

»Blake?«

Ich knalle das Messer auf die Arbeitsplatte. Thistle starrt mich an.

»Kann’s losgehen?«, frage ich.

»Sie bluten«, erwidert sie.

Ich stecke den Finger in den Mund. »Nicht so schlimm. Fahren wir.«

Als wir das Haus verlassen, zum Wagen hinübergehen und einsteigen, sagt sie kein Wort.

Am Tor angekommen, halten wir und warten darauf, dass der alte Wachmann angeschlichen kommt.

Thistle zückt ein weiteres Mal ihren Ausweis. »Haben Sie in den letzten Tagen etwas Ungewöhnliches bemerkt?«

»Definieren Sie ›ungewöhnlich‹«, erwidert der Wachmann. Er klingt jünger, als er aussieht. Leidet an Zahnfleischrückgang, der seine gelben Zähne freilegt.

»Irgendwelche Leute oder Fahrzeuge, die Sie vorher noch nie gesehen haben.«

»Außer Ihnen beiden? Nein. Aber ich bin nicht der einzige Wachmann.«

»Führen Sie Buch darüber, wer kommt und geht?«, will Thistle von ihm wissen.