Blake - Der Geschmack des Todes - Jack Heath - E-Book

Blake - Der Geschmack des Todes E-Book

Jack Heath

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Beschreibung

Sein Hunger nach Gerechtigkeit ist unersättlich

Einst half Timothy Blake dem FBI dabei, Verbrechen aufzuklären. Nicht so sehr um der Gerechtigkeit willen, sondern weil er gerne Rätsel löst. Und weil das Arrangement es ihm ermöglichte, einen Gewissen Appetit zu stillen: Der eine oder andere Verbrecher verschwand ganz einfach …

Inzwischen hat Blake bei Charlie Warner angeheuert, einer Größe des lokalen Untergrunds. Für sie kümmert sich Blake um die Entsorgung der anfallenden Leichen – natürlich auf seine Weise. Als das FBI erneut um seine Hilfe in dem Fall eines vermissten Professors bittet, kann Blake beim besten Willen nicht Nein sagen. Denn der Professor ähnelt auf frappierende Weise dem Mann in seiner Gefriertruhe …

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Das Buch

Einst hat Timothy Blake dem FBI dabei geholfen, Verbrechen aufzuklären. Nicht so sehr um der Gerechtigkeit willen, sondern weil er gerne Rätsel löst. Und weil das Arrangement es ihm ermöglichte, einen gewissen Appetit zu stillen: Der eine oder andere Verbrecher verschwand ganz einfach …

Inzwischen hat Blake bei Charlie Warner angeheuert, einer Größe des lokalen Untergrunds. Für sie kümmert sich Blake um die Entsorgung der anfallenden Leichen – natürlich auf seine Weise. Als das FBI erneut um seine Hilfe in dem Fall eines vermissten Professors bittet, kann Blake beim besten Willen nicht Nein sagen. Denn der Professor ähnelt auf frappierende Weise dem Mann in seiner Gefriertruhe …

Der Autor

Jack Heath, geboren 1986, hat sich schon als Kind darüber beklagt, dass ihm die meisten Bücher nicht spannend genug sind. Er begann selbst zu schreiben, recherchierte in Leichenhallen und Gefängnissen und bereiste zahlreiche Länder. Heath lebt in Canberra, Australien. Bei Heyne ist von ihm bereits der erste Teil der Blake-Reihe erschienen.

JACK HEATH

DER GESCHMACKDES TODES

THRILLER

Aus dem Englischenvon Martin Ruf

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe

HUNTER

erschien erstmals 2019 bei Allen & Unwin, STADT.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 05/2021

Copyright © 2021 by Jack Heath

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Lars Zwickies

Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München,unter Verwendung von Shutterstock.com(Malivan_Iuliia, Masson, Viachaslau Kraskouski,Elena Schweitzer, Ensuper)

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-25957-0V001

www.heyne.de

  

Standing on the corner with a dollar in my hand, honey

Standing on the corner with a dollar in my hand, babe

Standing on the corner with a dollar in my hand

Standing here waiting for the crawdad man

Honey

Baby

Mine

FOLK-SONG AUS DER ZEIT DES BÜRGERKRIEGS

1

Was hat einen Hals, aber keinen Kopf?

Wenn Charlie Warner deinen Tod will, stiehlt sie zuerst deine Schuhe.

Nicht sie selbst. Sie hat überall in Houston ihre Leute.

Einer von ihnen ist James Tyrrell, ein pummeliger Typ mit Brillengläsern so dick wie der Boden einer Colaflasche und Narben an einer Stelle auf seinem Unterarm, an der sich früher die Zahl 88 – für Heil Hitler befand. Ich hab mal gehört, wie er sagte: »Ich bin kein Nazi. Aber wenn man im Gefängnis von Huntsville überleben will, schließt man sich besser irgendeiner Gruppe an.«

Tyrrell öffnet deine Haustür mit einem Entriegelungsapparat, wie ihn auch die Polizei benutzt. Er trägt Latex-Handschuhe und ein Haarnetz, wenn er dein Schlafzimmer betritt. Dann stiehlt er dein teuerstes Paar Schuhe. Meistens schwarz und immer glänzend – die Art, die du vielleicht zu einer Beerdigung tragen würdest. Er nimmt auch noch ein Paar Socken mit, ansonsten rührt er nichts an, bevor er wieder geht.

Zwei weitere Typen fahren in einem weißen Lieferwagen mit gestohlenen Nummernschildern zu deinem Arbeitsplatz. Sie heißen Jordan Francis und Theo Sariklis. Jeder von ihnen hat einen stämmigen Hals, einen kantigen Kiefer und einen Bürstenschnitt. Es hat etwas gedauert, bis ich die beiden auseinanderhalten konnte. Sariklis ist der mit dem hängenden Augenlid und dem Ramones-Shirt. Er arbeitet schon länger für Warner als ich. Francis ist neu. Er ist erst kürzlich von San José in Kalifornien hierhergezogen. Er ist derjenige, der die Witze macht. Sogar im Winter trägt er ein ärmelloses Unterhemd, um mit seinem Bizeps anzugeben. Gut möglich, dass er ins Fitness-Studio geht, nachdem er dich umgebracht hat.

Francis parkt den Lieferwagen neben der Fahrerseite deines Autos. Sariklis öffnet die Schiebetür und wartet. Du kommst aus dem Büro und gehst auf dein Auto zu. Wenn du die Tür öffnen willst, packt dich Francis und zerrt dich in den Lieferwagen. Das dauert nur Sekunden. Er hat jede Menge Übung – in San José hat er für eine der Sureño-Gangs gearbeitet. Du hast nicht einmal Zeit zu schreien, bevor Francis die Tür des Lieferwagens wieder schließt.

Du weißt, für wen die beiden arbeiten, denn Warner hat es nicht auf Unbeteiligte abgesehen. Die beiden sind gekommen, weil du Warner bestohlen, angelogen oder verpfiffen hast. Vielleicht hast du ja auch in einem ihrer Unternehmen deine Rechnung nicht bezahlt. Einem illegalen Kasino, einem Bordell, einer Drogenhöhle.

Die beiden stellen dir Fragen. Die ersten sind ein Test; sie kennen die Antworten bereits. Wenn du lügst, hält Francis dich fest, während Sariklis dir eine Wasserflasche in deinen Mund schiebt und deine Nase zudrückt, sodass du das Gefühl hast zu ertrinken. Sie müssen das so machen, denn sie sind immer noch auf dem Parkplatz, und es gibt nicht viele Möglichkeiten, jemanden auf lautlose Art zu foltern.

Wenn du glaubst, dass du stirbst, zieht Sariklis die Flasche heraus. Du übergibst dich. Dann stellt Sariklis dir noch ein paar Fragen. Die richtigen Fragen. Alles, was Warner wissen will. Wem hast du etwas erzählt? Wie heißen diese Leute? Wo wohnen sie? Zeig uns die Nachrichten.

Zuletzt fragen sie immer nach der PIN deines Bankkontos. Du beantwortest sie und bist erleichtert. Du glaubst, das ist ein Zeichen dafür, dass sie nur dein Geld wollen. Du glaubst, dass sie dich gehen lassen.

Nachdem du ihnen deine PIN gegeben hast, steckt Sariklis die Flasche zurück in deinen Mund. Diesmal zieht er sie nicht wieder heraus. Er ertränkt dich, genau hier auf dem Parkplatz. Nach drei Minuten hört dein Herz auf zu schlagen, nach vier Minuten bist du hirntot.

Francis bleibt mit deiner Leiche im Lieferwagen, während Sariklis mit deinem Auto, deinem Handy und deiner Brieftasche zu einem Geldautomaten fährt. Er hebt so viel ab, wie er kann, dann fährt er nach Galveston und sucht ein abgelegenes Stück Strand.

Dort trifft er sich mit Tyrrell, der deine Schuhe hat. Francis stellt deine Schuhe nebeneinander in den Sand und schiebt deine Brieftasche und die Schlüssel hinein, die dabei wie zwei verschreckte Mäuse wirken. Tyrrell setzt dein Handy auf Werkseinstellungen zurück, schaltet es aus und schleudert es ins Meer. Dann lassen sie dein Auto am Straßenrand in Sichtweite des grauen Ozeans stehen und fahren mit Tyrrells Auto zurück zu Warners Büro, um ihr das Bargeld zu geben.

Ich habe Warners Büro nur ein einziges Mal gesehen, und auf dem Weg dorthin hatte ich die ganze Zeit eine Tüte über dem Kopf. Aber ich habe mir eingeprägt, wie oft wir abgebogen sind, ich habe die Sekunden gezählt. Als sie mich danach irgendwo anders hinbrachten, um mich wieder abzusetzen, habe ich mir auch diese Fahrt eingeprägt. Später sah ich auf einer Karte nach und konnte die Lage des Büros auf vier Blocks in der Nähe des Market Square Park eingrenzen.

Üblicherweise holen sie dich an einem Freitag ab. Wenn du alleine lebst, kann es sein, dass man dich erst am Montag als vermisst meldet. Etwa am Mittwoch wird die Polizei dein Auto und deine Schuhe finden. Einige Polizisten werden sagen, dass es ein Unfall war: beim Schwimmen ertrunken. Andere werden behaupten, dass du Selbstmord begangen hast. Die Schuhe sind zu elegant für einen normalen Schwimmausflug, werden sie sagen, und es gibt nirgendwo ein Handtuch. Außerdem sind deine Badesachen noch in deiner Wohnung.

Weil am Automaten viel Geld abgehoben wurde, werden wieder andere erklären, dass du deinen Tod nur vorgetäuscht hast. Schließlich hattest du mächtige Feinde. Dein fehlendes Handy spricht für diese Theorie. Aber jeder, der Warner in Verdacht hat, wird so klug sein, den Mund zu halten.

Das alles gilt nur, wenn du zu den Glücklichen gehörst, mit deren Tod Warner nicht in Verbindung gebracht werden will. Manchmal jedoch tötet sie jemanden, um eine Botschaft zu senden. Keine gestohlenen Schuhe, keine Wasserflasche. Deine Leiche taucht in einem Dutzend Teilen wieder auf, jedes einzelne wurde von deinem Körper abgetrennt, als du noch am Leben warst.

Früher hätten ihre Männer deine Leiche einfach ins Meer geworfen. Das Wasser in deiner Lunge würde sich im Obduktionsbericht gut machen. Doch die Prellungen um deine Lippen herum und an deinen Handgelenken sowie die Verletzungen an deinem Zahnfleisch würden dafür sorgen, dass so mancher die Stirn runzelt. Jetzt haben ihre Männer eine bessere Lösung.

Während Sariklis und Tyrrell das Bargeld in Warners Büro bringen, nimmt Francis mit dem Lieferwagen den State Highway 12. Im Heck liegt deine Leiche unter einer Plane und wird langsam kalt. Francis fährt durch die Dunkelheit und sieht, wie allmählich die Gebäude verschwinden und die Bäume immer höher werden.

Irgendwann entdeckt er den heruntergekommenen Toyota, der mitten im Nirgendwo am Straßenrand steht. Er fährt rechts ran. Trotz allem, was er gesehen und getan hat, schaudert er, wenn er aus dem Auto steigt.

Dann öffnet er die Schiebetür des Lieferwagens und gibt deine Leiche mir.

2

Was fliegt ohne Flügel und weint ohne Augen?

Er ist spät dran.

Ich gehe am Straßenrand auf und ab und halte nach Scheinwerfern Ausschau. In der sanften Brise verraten die Bäume flüsternd ihre Geheimnisse. Mein Atem bildet Wolken vor meinem Gesicht. Die Leute glauben, es ist heiß in Texas, aber Anfang Dezember fällt die Temperatur auf weniger als zehn Grad.

Normalerweise bleibe ich im Auto sitzen und arbeite an Rätseln. Fremde schicken sie mir, und ich löse sie für zwanzig Dollar pro Stück. Ursprünglich war das nichts weiter als eine Aktion, um Geld zu waschen, und es hat mich überrascht, dass es zu einem richtigen Job geworden ist. Doch heute Nacht muss ich raus aus dem Auto. Meine Ernährung, die hauptsächlich aus Fleisch, altbackenem Brot und gesalzenem Kaffee besteht, hat hässliche Nebenwirkungen. Ich habe Magenkrämpfe.

Ich werfe einen Blick auf mein Telefon und mustere den winzigen Bildschirm mit zusammengekniffenen Augen. Es ist zwei Uhr nachts. Ich benutze ein Prepaid-Handy, klein und billig. Warner hat gesagt, ich soll es nie ausschalten und immer dabeihaben. Die Batterie hält nie lange durch, was mir verrät, dass Warner heimlich eine Tracking-App installiert hat. Sie geht wahrscheinlich davon aus, dass ich das inzwischen herausgefunden habe, aber sie weiß auch, dass ich klug genug bin, mich dumm zu stellen.

Meine Därme gurgeln und rumoren in meinem Bauch. Ich brauche eine Toilettenpause. Aber falls ich nicht hier bin, wenn Francis eintrifft, weiß ich nicht, was er tun wird.

Ich hole tief Luft. Das macht alles nur noch schlimmer. Ich versuche stattdessen an den Lieferwagen zu denken, der mit der Leiche unterwegs zu mir ist.

Der Tote hießt Aaron Elliott. Ein Investmentbanker. Er hat eines von Warners Callgirls geschlagen und ihr dabei die Nase gebrochen. Darum kann sie jetzt nicht arbeiten. Warner meinte, es wäre schlecht fürs Geschäft, wenn man jemandem so etwas durchgehen ließe.

Die Leiche soll groß sein. Um die eins achtzig, etwa neunzig Kilo. Könnte eine echte Herausforderung für mich sein, sie loszuwerden.

Der Druck in meinem Bauch wird unerträglich. Ich werfe noch einen weiteren hoffnungsvollen Blick auf die Straße, doch noch immer ist nichts vom Lieferwagen zu sehen, weshalb ich mich beeile, in den Wald zu kommen.

Wenn man sein ganzes Leben in der Stadt verbringt, vergisst man leicht, wie dunkel es draußen werden kann. Sogar als ich noch auf der Straße geschlafen habe, gab es immer irgendwo Licht. Eine flackernde Straßenlampe hier, eine schimmernde Tankstelle da. Keine Bäume, die das Mondlicht abschirmten. Hier draußen gibt es nichts als den Geruch von Erde und das Summen der Insekten. Irgendwo über mir krächzt eine Schleiereule. Ich ertaste einen Weg durch das Laubwerk, während ich mit der Taschenlampen-App eine geeignete Stelle suche.

Plötzlich lässt mich etwas innehalten. Der Geruch von Fleisch.

Ich hatte schon immer einen guten Geruchssinn. Wenn man hungert, bekommt man den. Ich drehe mich langsam um. Schnüffle rasch und intensiv wie ein Hund. Es ist kein gekochtes Fleisch, aber es ist auch kein totes Tier. Es fehlt der typische Duft nach Farm und Fell. Und er kommt aus … dieser Richtung dort.

Neugier lenkt mich von meinen Bauchkrämpfen ab. Ich schiebe mich durch das Unterholz, Zweige kratzen an meinen Armen und Beinen, und schließlich erreiche ich die Quelle des Geruchs.

Es ist eine Leiche.

Der Mann ist nackt. Dünn, klein – nicht Elliott. Mit dem Gesicht nach unten, ein Arm ausgestreckt, als ob er schwimmen würde. Seine andere Hand ist unter seinem Körper verborgen.

Ich bewege das Handy über ihm hin und her. Das schwache Licht erhellt sein Gesicht. Er ist ein Weißer, Mitte vierzig, mit kurzem Bart und grau meliertem Haar. Seine Augen sind weit aufgerissen, die Zähne gefletscht. Ob vor Schmerz, Wut oder Entsetzen kann ich nicht sagen.

Menschen mit Unterkühlung ziehen sich manchmal aus, kurz bevor sie sterben. Ihre Körpertemperatur sinkt so sehr, dass ihnen die Luft, die sie umgibt, geradezu heiß vorkommt, und so werfen sie eine Kleiderschicht nach der anderen ab. Aber sogar im Winter würde es mindestens eine Stunde dauern, an Unterkühlung zu sterben, und er ist kaum fünfzehn Meter von der Straße entfernt.

In der Dunkelheit ist es unmöglich zu erkennen, aus welcher Richtung er gekommen ist. Aber hier draußen gibt es nichts – was auch der Grund dafür ist, warum Warner diese Stelle ausgesucht hat –, und deshalb nehme ich an, dass ihn jemand aus dem Auto geworfen hat. Die Polizei tut das manchmal. Sie nehmen deine Kleider und befördern dich mit einem Tritt aus dem Wagen, Meilen von der nächsten Stadt entfernt und in eisiger Kälte. Mord mithilfe des Wetters.

Aber in diesem Fall wäre er auf der Straße geblieben. Falls ein Auto vorbeikommt. Er wäre nicht in den Wald gerannt.

Also hat er anscheinend versucht, dem Fahrer zu entkommen. Vielleicht hat er sich sogar selbst aus einem Fahrzeug gestürzt, obwohl ich keine Abschürfungen an seinen Händen oder seinen Knien sehe. Seine Haut ist makellos. Ich berühre sie. Sie ist weich. Er ist noch nicht lange tot. Höchstens einen Tag.

Tu’s nicht. Es ist die Stimme von Agent Reese Thistle, der für mich zuständigen Beamtin beim FBI. Ich habe sie schon seit Monaten nicht mehr gesehen, aber ich kann sie noch immer in meinem Kopf hören. Sie ist das, was ich anstelle eines Gewissens habe.

Geh einfach weg, sagt sie.

Ich ignoriere sie und betaste den Oberarm des Mannes. Eine perfekte Mischung aus Fett und Muskeln. Ich drücke den Arm und schiebe mich ganz nahe heran. Mein Herzschlag geht durch die Decke. Ich kann kaum noch atmen.

Soll das ein Witz sein?, sagt Thistle. Du weißt nicht, wer er ist, wo er herkommt, woran er gestorben ist und wer möglicherweise nach ihm sucht. Außerdem ist bereits eine weitere Leiche unterwegs zu dir. Die hier brauchst du nicht.

Sie hat recht. Aber es ist zu spät, mich aufzuhalten. Es war schon in dem Augenblick zu spät, als ich die Leiche gesehen habe.

Nur ein Bissen, sage ich mir und reiße mit meinen Zähnen ein Stück aus seinem Arm.

Er schreit auf.

Ich zucke zurück, doch er war es gar nicht. Das Kreischen kommt von woanders. Vielleicht von der Eule von vorhin.

In der Ferne huscht das Licht einer Taschenlampe zwischen den Bäumen hin und her.

Heilige Scheiße. Ich ducke mich. Blut tropft mir aus dem Mund. Ich bin nicht alleine in diesem Wald. Es ist noch jemand hier, wahrscheinlich jemand, der den Toten sucht. Vielleicht der Fahrer des Wagens, aus dem er geflohen ist. Oder ein Cop, der eine Suchaktion durchführt. Aber wer es auch sein mag, er dürfte bewaffnet sein, im Gegensatz zu mir. Ich höre Stiefel, die sich einen Weg durchs Unterholz bahnen, während sie der Spur des Toten folgen. Sie kommen jede Sekunde näher.

Ich könnte zurück zu meinem Auto rennen. Doch wenn derjenige, der sich hier auf die Suche gemacht hat, die Leiche findet, wird ihm die frische Bissspur auffallen, die eindeutig von menschlichen Zähnen stammt. Er wird anfangen, nach mir zu suchen. Wenn er ein Polizist ist, wird er Verstärkung anfordern. Man wird den Wald umstellen und den Highway absperren. Die Cops werden mich aufhalten, das Blut in meinem Gesicht sehen, und dann ist es vorbei.

Deshalb kann ich nicht zulassen, dass er die Leiche findet.

Ich hieve den Toten auf meine Schulter. Er wiegt etwa siebzig Kilo. Weniger als ich, aber es ist trotzdem schwer, mit ihm auf dem Rücken voranzukommen. Mit jedem Schritt versinken meine Füße tiefer im Unterholz. Blätter knirschen, Zweige knacken. Hoffentlich bin ich nicht lauter als die Schritte meines Verfolgers.

Kurz darauf habe ich den Waldrand erreicht. Ich sehe mich um. Kein Anzeichen für andere Autos auf der Straße außer meinem eigenen. Ich dränge mich zwischen den Bäumen hindurch und renne hinüber zu meinem Toyota. Meine Finger zittern, als ich den Kofferraum öffne, und hinterlassen Blut auf dem Griff.

Scheinwerfer in der Ferne. Motorenlärm. Wenn das jemand anders als Francis ist, bin ich in Schwierigkeiten.

Im Kofferraum befindet sich eine Plastikwanne, die knapp einhundertzwanzig Liter fasst. Ich lasse den Toten hineinfallen und schlage den Kofferraumdeckel zu. Während das Auto vorbeifährt, bleibt mein Gesicht abgewendet.

Das Auto fährt langsamer, aber es hält nicht an. Ich weiß nicht sicher, wie viel der Fahrer sehen konnte. Noch weniger weiß ich, ob er irgendetwas von dem melden wird, was er gesehen hat.

Noch eine Sache, bevor ich gehe. Ich hebe einen Stein auf, der etwa die Größe eines Stapels Spielkarten hat und schleudere ihn so weit ich kann über die Spitzen der Bäume hinweg. Irgendwo in der Ferne schlägt er krachend auf. Ich kann die Taschenlampe nicht sehen, aber ich kann hören, wie der Verfolger die Richtung wechselt und die Suche mit neuer Energie wieder aufnimmt.

Ich warte, bis das Geräusch verklungen ist. Dann starte ich den Motor, löse die Handbremse und fahre auf den Highway.

Mein Haus ist ein baufälliges Etwas mit zwei Schlafzimmern und einem Bad in einem miesen Viertel unmittelbar außerhalb des kreisförmigen Highways, der die inneren Stadtbezirke umgibt. Die Miete ist überraschend hoch für eine so schrottige Unterkunft. Idealerweise würde ich sie mit jemandem teilen, doch seit ich meinen letzten Mitbewohner gegessen habe – einen Drogendealer und Vergewaltiger –, macht mich eine solche Vorstellung nervös. Es ist für alle am sichersten, wenn ich alleine lebe.

Ich wende den Wagen und fahre in den Carport, springe heraus und öffne den Kofferraum. Anders als viele Leute glauben, ist es kurz vor der Morgendämmerung keineswegs am dunkelsten. In den Straßen breitet sich bereits ein kalter, blauer Schimmer aus. In einer Stunde wird die Sonne aufgehen. Ich muss die Leiche ins Haus schaffen, bevor jemand …

»Morgen, Timothy!«

Ich sehe auf. Mein Nachbar steht auf dem Bürgersteig. Er trägt ein Sportleibchen und Schweißbänder. Eine Labradorhündin mit goldenem Fell schnüffelt um seine Laufschuhe herum.

Hunde tun mir immer irgendwie leid, obwohl ich ein paarmal von ihnen gebissen wurde. Genau wie ich beobachten sie die Körpersprache eines Menschen ganz genau und haben einen guten Geruchssinn. Und genau wie ich lieben sie Fleisch, haben nur eine sehr eingeschränkte Impulskontrolle und sind in der Regel vom Wohlwollen anderer abhängig.

»Hi, Shawn«, sage ich. »Du bist früh auf.«

Kann er das Blut in meinem Gesicht und auf meinem Hemd erkennen? Wahrscheinlich nicht, wenn ich im Schatten des Carports bleibe. Und von seiner Position aus kann er nicht in den Kofferraum sehen. Ich schließe den Kofferraumdeckel bewusst lässig.

»Ein Vorsatz fürs neue Jahr«, sagt Shawn. Mit übertriebener Geste dehnt er die Beine. »Ich muss in Form kommen.«

Shawn ist bereits gut in Form. Ich hab mir schon öfter gedacht, dass er wirklich schmackhaft aussieht. Neunzig Kilo, eins neunzig groß, dreißig Jahre alt, schwarz. Kein Tropfen Schweiß in seinem Schnurrbart, also ist er heute noch nicht gelaufen.

»Es ist Dezember«, sage ich.

»Ich weiß. Ich trainiere für das neue Jahr.«

»Oh. Viel Spaß.«

Die Hündin scheint überaus interessiert an meinem Kofferraum. Sie zerrt an ihrer Leine.

Shawn zieht sie wieder zu sich. »Du solltest mit mir kommen«, sagt er. »Wir könnten das regelmäßig machen.«

»Vielleicht ein andermal«, sage ich.

Schon seit Jahren lebt Shawn nur ein Haus weiter, aber erst kürzlich hat er angefangen, sich mit mir zu unterhalten. Und zwar seit mein Mitbewohner verschwunden ist. Ich glaube, Shawn hatte Angst vor ihm. Er hätte eher vor mir Angst haben sollen. Er scheint mir ein guter Kerl zu sein, also versuche ich ihm aus dem Weg zu gehen. Ich will nicht, dass er zu Schaden kommt.

Schließlich fällt Shawn auf, dass ich weder Laufsachen trage noch einen Hund habe. »Was machst du so früh hier draußen?«

Ich zermartere mir das Gehirn auf der Suche nach einer Erklärung, die ihn nicht misstrauisch macht. »Ich packe«, sage ich. »Ich will zum Schneecampen mit meinem Cousin. Wenn ich früh starte, komme ich hoffentlich um den schlimmsten Verkehr rum.«

»Ich dachte, ich hätte dich eben erst kommen sehen.«

»Nee, Mann. Ich hab nur gewendet, damit ich alles leichter einladen kann.«

»Schneecampen? Das macht dir Spaß?«

»Klar. Solltest du auch mal versuchen.«

Wieder beginnt die Hündin an der Leine zu zerren, und zieht dabei Shawn näher zu mir. Ich mache einen Schritt nach hinten. Meine Campinggeschichte erklärt das Blut nicht. Ich hätte ihm erzählen sollen, dass ich gerade aus der Klinik komme oder irgendwas in der Richtung.

»Wo wollt ihr campen?«, fragt Shawn.

Ich zögere. »Weiß ich noch nicht. Ich treffe Jesse – so heißt mein Cousin – in Dallas. Dann fahre ich ihm für den Rest des Weges hinterher.«

»Hat Jesse mal mit dir zusammengewohnt?«

Verdammt soll er sein mit seiner guten Erinnerung. »Ein anderer Jesse«, sage ich.

Die Hündin knurrt mich mit aufgerichtetem Fell an.

»Immer mit der Ruhe, Caitlin«, sagt Shawn.

»Also …«, sage ich. »Ich mache wohl besser weiter mit dem Packen. Viel Spaß beim Laufen.«

»Danke, Mann. Wir sehen uns.«

Ich wende mein Gesicht ab, während er an der Hundeleine zieht. Die Hündin folgt ihm widerwillig. Shawn verfällt in einen leichten Trab und verschwindet die Straße hinab.

Ich stoße die Luft aus, die ich angehalten habe. Ich muss den Toten nach drinnen schaffen, bevor noch jemand vorbeikommt.

Ich schließe die Hintertür meines Hauses auf, die direkt in die Küche führt. Dann gehe ich zurück zum Auto, öffne den Kofferraum und hebe die Plastikwanne heraus. Die Leiche kommt mir inzwischen noch schwerer vor, aber vielleicht bin ich auch einfach nur erschöpft. Man ist immer ziemlich fertig, wenn das Adrenalin verbraucht ist.

Ich schleppe die Wanne ins Haus und verriegle dreimal die Tür.

Es wäre eine gute Idee, damit anzufangen, meine Spuren zu verwischen. Mir für die letzten Stunden ein Alibi zurechtzulegen. Aber ich schaffe es nicht, die Leiche vor mir zu ignorieren.

Ich schalte das Licht an und kauere mich neben den Toten. Das Fleisch um die Bisswunde ist bereits weiß geworden. Ich halte Ausschau nach Piercings oder irgendwelchen Gang-Tattoos. Nichts. Auf seiner Brust befindet sich ein Streifen Narbengewebe, als hätte er sich dort Hautkrebs entfernen lassen. Schlamm an seinen Fußsohlen, seinen Knien und seinen Handflächen. Aber sein Haar riecht nach Shampoo. Auch sein Schamhaar. Erst vor Kurzem hat er seinen Bart gestutzt.

Einer seiner Finger weist einen Schnitt auf, wie von einem Dorn oder einer Heftklammer. Jemand hat das Blut abgewischt oder die Wunde ausgesaugt, aber sie ist noch nicht verheilt. Wahrscheinlich ist das innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden passiert.

Ich öffne seinen Mund. Ein schwacher Geruch nach Zahnpasta liegt über einem noch schwächeren Geruch nach Rotwein. Ein Merlot, glaube ich. Er hat gerade Zähne – trug als Kind wahrscheinlich eine Spange – und ein paar Füllungen. Ich bin kein Experte, aber für mich sehen sie teuer aus. Über seinen Augen liegt ein matter Schimmer. Vorsichtig entferne ich die beiden Kontaktlinsen.

Er trägt einen Ehering, ein einfaches goldenes Band. Ich streife ihn langsam von seinem Finger. Ein Datum und drei Worte sind eingraviert: INLIEBE, GABBIE.

In meiner Brust spüre ich ein stechendes Schuldgefühl. Ich sage mir immer, dass ich nur böse Menschen esse. Die meisten von Warners Feinden sind Kriminelle, genau wie sie selbst. Aber dieser Mann könnte irgendwer sein. Ein Unschuldiger, wenn es so etwas gibt. Ich weiß, dass jene Bisswunde die erste von vielen ist. Ich werde mich nicht zurückhalten können.

Wenn er doch nur irgendwelche Gang-Tattoos oder so etwas hätte. Ich will einen Grund dafür haben, dass er mir nicht leidtun muss.

»Wer bist du?«, frage ich ihn.

Er starrt aus seinen grauen Augen zu mir hoch.

Klopf, klopf. Jemand ist an meiner Vordertür.

3

Wenn du rennst, werde ich schneller.

Wenn du langsamer wirst, werde ich das auch.

Wenn ich stehen bleibe, bleibst auch du stehen.

Was bin ich?

Einen Augenblick lang verharre ich absolut regungslos. Vielleicht denkt mein Besucher dann, dass niemand zu Hause ist. Die Vorhänge lassen kein Licht heraus.

Ein weiteres Klopfen. Wer auch immer da draußen ist, wird nicht aufgeben.

»Ich komme.« So leise wie möglich hebe ich den Toten hoch, lege ihn in die Gefriertruhe und schließe sie. Ich werfe meine blutverschmierte Jacke und mein Hemd in das Becken für die Schmutzwäsche und drehe langsam den Hahn auf, damit das plötzliche Rauschen mich nicht verrät. Rosafarbenes Wasser rinnt in den Abfluss. Mit einem nassen Waschlappen wische ich mir über Gesicht und Hals, dann trockne ich mich mit einem Geschirrtuch ab. Ich gehe zur Tür, wobei ich versuche, verschlafen und nicht panisch auszusehen.

Es gelingt mir nicht.

Ich höre das unmissverständliche Surren eines Entriegelungsgeräts. Die Tür wird so heftig aufgeschlagen, dass der Griff eine Delle in der Wand hinterlässt. Zwei große Männer mit Bürstenschnitt stürmen herein. Sariklis – der mit dem hängenden Augenlid – und Francis, der Fitnessfanatiker, der mich an der Straße hätte treffen sollen.

Ich öffne den Mund, um zu schreien. Festgenommen zu werden ist besser, als im Heck eines Lieferwagens zu ertrinken.

Doch Sariklis ist zu schnell. Er klatscht mir die flache Hand auf den Mund und drückt mir die Kehle mit seiner Ellbogenbeuge zu.

»Jacksonville, Phoenix«, sagt er.

Warner hat ein Passwortsystem. Jede Botschaft von ihr beginnt mit dem Passwort, das sie zuletzt benutzt hat, und dem neuen für das nächste Mal. Beim letzten Mal lauteten die beiden Santa Monica, Jacksonville. Das nächste Mal könnte es Phoenix, St. Louis oder Phoenix, Fargo oder Phoenix, Dallas sein. Für jeden ihrer Mitarbeiter hat sie ein eigenes Passwort. Sie selbst trifft nur selten jemanden, und so sorgt das System dafür, dass niemand außer ihr irgendwelche Befehle geben kann – jedenfalls nicht, ohne dass sie es herausfinden würde. Ich vermute, sie hat irgendwo eine Datenbank, die ihr sagt, welcher ihrer Mitarbeiter welches Passwort erwartet. Wenn ich an ihrer Stelle wäre, hätte ich alle im Kopf. Aber nicht jeder hat ein so gutes Gedächtnis.

»Du kommst mit uns, Blake«, sagt Sariklis. »Möchtest du bewusstlos oder wach sein?«

Ich mache mich ganz schlaff.

»Gute Entscheidung«, sagt er und lässt mich los.

Francis hat die Tür geschlossen und sieht sich in meinem Wohnzimmer um. Sein Blick bleibt an meinem abgewetzten Sofa hängen, bei dem die Löcher im Stoff mit Klebeband verschlossen sind.

»Weißt du«, sagt er, »ich glaube, ich hab dein Haus in einer Episode von Cribs gesehen. Du weißt schon, wo sie Prominente bei sich zu Hause besuchen.«

»Wo warst du?«, frage ich. »Ich hab auf dich gewartet.«

»Sag’s dem Boss. Vielleicht fragst du sie auch gleich nach einem Kredit, wenn du schon dabei bist. Sie hat wirklich vernünftige Zinsen. Kauf dir ein neues Sofa. Scheiße, vielleicht sogar gleich ein ganzes Haus.«

»Lass dein Handy hier«, fordert mich Sariklis auf.

Das ist die eine Ausnahme bei Warners Regel: Ich darf das Handy nicht bei mir haben, wenn ich sie persönlich treffe. Oder vermutlich auch, wenn ihre Männer mich zu einem anonymen Grab mitten im Nirgendwo bringen.

»Klar. Ich hänge es ans Ladegerät.« Ich wende mich dem Schlafzimmer zu.

»Nichts da.« Sariklis packt meine Schulter. »Lass es genau hier, auf dem Boden.«

»Dann lass mich wenigstens ein Hemd anziehen«, sage ich.

»Keine Zeit. Sie will dich so schnell wie möglich sehen.«

Ich lege mein Handy auf den Boden. Sariklis packt meinen Arm und führt mich zur Tür. Francis öffnet sie einen Spaltbreit. Kalte Luft strömt herein.

»Niemand draußen«, sagt er. »Keiner dieser Scheißer hat einen Job. Es dauert noch Stunden, bis die aufstehen.«

Shawn ist bereits aufgestanden. Aber ich halte den Mund.

Sie schieben mich nach draußen auf den weißen Lieferwagen zu. In der Kälte richten sich die Haare auf meinen Armen auf, und meine Nippel verwandeln sich in Bleikugeln. Als ich obdachlos war, hatte ich null Prozent Körperfett; nach einer Dusche und einem ordentlichen Haarschnitt hätte ich als Model arbeiten können. Aber bei diesem Wetter halb nackt zu sein hätte mich innerhalb weniger Minuten umgebracht. Heute würde ich etwa eine Stunde durchhalten, vermute ich.

Sie schaffen mich in den Wagen. Irgendetwas liegt darin auf dem Boden, eingewickelt in eine blaue Kunststoffplane. Ich kann nicht widerstehen und hebe eine Ecke davon hoch. Jep, noch eine Leiche. Eins achtzig, etwa neunzig Kilo. Wahrscheinlich Aaron Elliott. Sein Gesicht ist schlaff und sieht sanft aus. Er wirkt nicht wie jemand, der ein Callgirl zusammenschlagen würde. Doch der Tod hat es so an sich, deine Sünden auszulöschen oder sie wenigstens unsichtbar zu machen.

Es wäre durchaus möglich, dass Warner mich anlügt. Dass sie eine kriminelle Vergangenheit für die Toten erfindet, damit ich mich bei dem, was ich ihnen antue, weniger schuldig fühle. Ich habe es bisher vermieden, diese Möglichkeit genauer in Betracht zu ziehen.

Francis klettert hinter das Steuer.

»Warst du wirklich spät dran?«, fragt ihn Sariklis mit so leiser Stimme, dass ich ihn fast nicht höre.

»Fünf Minuten, wenn überhaupt.« Francis lügt. Interessant.

Ich habe keine Zeit, darüber nachzudenken. Ruckartig setzt sich der Lieferwagen in Bewegung. Diesmal bedeckt keine Tüte meinen Kopf. Was bedeutet, dass wir nicht zu Warners Büro fahren.

»Könnt ihr die Heizung aufdrehen?«, frage ich zitternd.

Die beiden tun so, als würden sie mich nicht hören.

Wir fahren durch die entlegensten Vorstädte, wo die Armut auf die Menschen niedergegangen ist wie ein Hurrikan – und die übrigens auch von einem echten Hurrikan getroffen wurden, wie mir einfällt. Autoteile, verrottende Möbel und kaputte Fernseher liegen überall verstreut in den Vorgärten. Kinder radeln ohne Helme hin und her, bereit, dem erstbesten Junkie Meth zu verkaufen.

Eine Stunde später haben wir den westlichen Rand von Bayport erreicht. Die meisten Lagerhäuser und Fabriken sind verlassen; einige hat man anscheinend schon aufgegeben, bevor sie überhaupt fertig wurden. Schon eine ganze Weile frage ich mich: Wie wollt ihr eigentlich die Leiche loswerden, wenn ihr euren Fachmann für die Beseitigung von Leichen umgebracht habt? Vielleicht liegt die Antwort vor mir. Man bringt ihn an einen Ort wie diesen und schüttet eine Lage Zement über ihn.

Der Wagen hält vor einem Diner namens The Crack of Noon. Ich kann mir nicht vorstellen, dass viele Leute in dieser Gegend arbeiten oder schon so früh am Morgen mit ihrem Job anfangen. Doch so unwahrscheinlich es auch klingt, das Diner ist geöffnet und halb voll. Eine Bedienung geht mit einer Kanne Kaffee von Tisch zu Tisch.

Sariklis schiebt die Tür des Wagens auf. »Raus.«

Ich sehe an mir hinab auf meine nackte Brust. Erwarten sie wirklich von mir, dass ich so nach draußen gehe?

Offensichtlich. Francis zerrt mich auf die Straße und schiebt mich in Richtung Diner.

Ein paar der Gäste sehen zu mir auf, als ich hereinstolpere. Die Augenbrauen einer jungen, schwarzen Frau heben sich, und ein weißer Typ mittleren Alters zieht ein schiefes Grinsen. Aber dann wenden sie sich wieder ihrem Frühstück zu, als sei es nicht besonders ungewöhnlich, dass ein halb nackter Mann in der Morgendämmerung gewaltsam durch ein Diner geführt wird.

Charlie Warner sitzt in einer Nische im hinteren Bereich; dort hat sie den Ausgang immer im Blick. Ich habe gehört, wie Cops das den »Clint-Platz« nennen, wegen Dirty Harry. Sie trägt Jeans, Stiefel und ein Flanellhemd, die allesamt perfekt sitzen. Cowgirl-Chic. Ihr blondes Haar ist zu einem straffen Pferdeschwanz gebunden. Ein Stetson liegt auf dem Platz neben ihr.

Warner nippt an einem Espresso, während alle anderen hier Filterkaffee trinken. Der Speck auf ihrem Teller sieht perfekt geröstet aus, und ihre Eier sind weder zu flüssig noch zu trocken. Ich frage mich, ob sie beim letzten Mal ein gewaltiges Trinkgeld gegeben, den Besitzer bedroht oder einfach nur Glück gehabt hat.

Wortlos deutet sie auf den Platz ihr gegenüber. Von hier aus sind der Ausgang und der Rest des Raumes nicht zu sehen. Ich frage mich, ob es für diesen Platz auch einen Namen gibt. Immerhin werden sie mich nicht vor all diesen Zeugen umbringen.

Obwohl uns im Augenblick keiner dieser Zeugen zu beachten scheint. Als ich noch als Bettler auf der Straße unterwegs war, habe ich ein ausgezeichnetes Gespür dafür entwickelt, wann ich ignoriert werde. Jetzt habe ich es wieder, dieses Gefühl, gerade nicht angesehen zu werden – Blicke, die sich dezidiert auf alles richten, nur nicht auf mich.

Francis und Sariklis schieben mich nach vorn. Ihre Hände liegen auf meinen Schultern und drücken mich auf den Platz, auf den Warner gedeutet hat.

»Er war zu spät dran«, sage ich.

Warner tupft sich die Lippen mit einer Serviette ab, an der ein wenig roter Lippenstift zurückbleibt. Sie räuspert sich. »Ich will dir eine Geschichte erzählen.«

Eine Bedienung bringt mir eine Tasse Kaffee. Filterkaffee. Sie geht wieder, ohne ein Wort zu sagen. Ich rühre den Kaffee nicht an. Thallium Sulfat ist geschmacklos. Ebenso Botulinum Toxin. Amatoxin. Compound 1080. Jeder dieser Stoffe würde mich umbringen. Einige würden sogar jeden umbringen, der hinterher meine Leiche isst.

»Es gab da mal eine Kleine, die für mich gearbeitet hat«, sagt Warner. »Indigo. Sie war Stripperin. Ziemlich begabt. Es war faszinierend, wie schnell sie einen Mann an den Punkt bringen konnte, an dem er bereit war, buchstäblich alles zu tun. Sie musste nicht einmal reden. Sie hatte einfach dieses absolut aufrichtige Lächeln. Ein süßes Mädchen. Jedenfalls hatte ihr Mann ein paar Schulden, und Indigo wollte sie bezahlen. Also bat sie um eine Beförderung in den aktiven Dienst.« Damit meint sie Prostitution.

Ich sage kein Wort.

»Ich dachte, ich würde ein Vermögen mit ihr machen. Ich gab ihr einen neuen Namen – Sindy mit S – und ließ sie arbeiten.« Warner spießt ein Stück Speck auf ihre polierte Gabel. »Sie war wirklich gut darin, Kunden in ihr Zimmer zu locken. Doch sobald sie drin waren, lief es nicht mehr so gut. Ich dachte, das wird besser mit der Zeit.«

Ich bin überrascht, dass sie in aller Öffentlichkeit so frei darüber spricht. Niemand im Diner scheint zuzuhören, aber ich bin mir nicht sicher, worauf das Ganze hinauslaufen soll.

»Stattdessen wurde es schlimmer«, fährt Warner fort. »Sie brauchte jedes Mal länger, um sich von einem Freier zu erholen. Und die schienen immer weniger zufrieden zu sein. Schließlich ist sie durchgedreht und hat einen von ihnen geschlagen. Meine Jungs dachten, dass er ohne Bezahlung abhauen wollte, also haben sie ihm die Scheiße aus dem Leib geprügelt.«

»Nicht wir«, wirft Sariklis ein.

»Wir wissen, dass man im Voraus bezahlen muss«, fügt Francis hinzu.

Warner wirft ihnen einen Blick zu, und beide verstummen abrupt.

»Auch Indigo hat versucht zu verschwinden«, sagt Warner. »Aber wir haben sie geschnappt. Ich habe sofort gesehen, dass sie nie wieder arbeiten würde. Äußerlich war sie nicht verletzt, aber einige kommen psychisch nicht damit zurecht. Also habe ich sie aus ihrem Vertrag entlassen.« Sie lächelt wie der Dalai Lama, verzückt über ihre eigene Großzügigkeit. »Ihr Mann war sauer, aber sie trug keinen Schaden davon. Schließlich ging sie fort und kam nie mehr zurück.«

»Falls Sie nach einem Ersatz suchen«, sage ich. »Ich bezweifle, dass viele Leute dafür bezahlen würden, Sex mit mir zu haben.«

Abgesehen davon, dass mein Körper voller Narben ist und ich ziemlich verhärmt aussehe, bin ich auch noch Jungfrau. Ich kann niemandem nahekommen, ohne ihn in Gefahr zu bringen.

Warner ignoriert meine Bemerkung. »Manchmal bewerben sich Leute für einen Job, von dem sie bald merken, dass er nicht zu ihnen passt. Aber sie haben zu viel Angst, ihn aufzugeben. Sie wollen sich ihren Fehler nicht eingestehen.« Sie schluckt einen Mundvoll Eier und lehnt sich zurück. »Ich frage mich, ob du genügend Mumm hast und die Arbeit gut verdauen kannst, die ich dir gegeben habe.«

Mein Magen grummelt. Der Biss, den ich von dem Unbekannten genommen habe, war bei Weitem nicht genug. »Ich kann das«, sage ich.

»Bist du sicher? Denn ich werde kein weiteres Versagen tolerieren.«

Das ist deine Chance, aus der ganzen Sache rauszukommen, sagt Thistle in meinem Kopf. Scheiße, Mann, nutze sie.

»Francis war fünfundvierzig Minuten zu spät«, sage ich.

Das ist eine Übertreibung, aber sie führt zur gewünschten Reaktion. »Bullshit«, sagt Francis. »Es waren höchstens fünfzehn.«

Warner taxiert ihn mit funkelnden Augen, und er verstummt sofort. Ich frage mich, ob er auch eine Tracking-App auf seinem Handy hat, genau wie ich.

»Mindestens zwanzig«, sage ich. Wir beide verlieren ihr Vertrauen, aber er verliert es schneller.

Warner hebt die Hände. »Genug. Wo warst du, Blake?«

»Ich bin nach Hause gefahren«, sage ich. »Er war noch nie zu spät dran. Ich dachte, man hätte ihn geschnappt und die Cops könnten herausfinden, wohin er wollte.«

Sie denkt darüber nach. Ich kann ihr nicht von dem Toten erzählen. Sie würde befürchten, dass die Cops, die nach ihm suchen, auch mich finden. Das würde die Cops dann natürlich auch zu ihr führen. Besser, mich umzubringen, statt es so weit kommen zu lassen.

»Ich brauche diesen Job«, sage ich.

»Warum hast du mich nicht angerufen?«, fragt sie.

»Dann wären wir vielleicht beide dran gewesen. Wenn ich geschnappt worden wäre, hätten sie gesehen, dass ich Sie angerufen habe. Und wenn man Sie erwischen würde …«

»Wirklich nett, dass du dir Sorgen um mich machst. Beim nächsten Mal solltest du das lassen. Du rufst mich sofort an, wenn irgendetwas schiefgeht.«

Ich atme erleichtert aus. Sie lässt mich am Leben. Vorläufig. »Klar.«

»Und wenn du siehst, dass du mit deiner Arbeit nicht zurechtkommst«, sagt Warner, »meldest du dich bei mir, und wir lassen uns was einfallen.«

»Klar«, wiederhole ich.

»Versuch gar nicht erst abzuhauen«, sagt sie. »Du hast keine Familie und keine Freunde, weshalb meine Möglichkeiten, dir zu drohen, begrenzt sind. Aber glaub bloß nicht, dass du deswegen in Sicherheit bist. Es gibt keinen Ort auf dieser Erde, an dem ich dich nicht finden würde.«

Plötzlich begreife ich, dass jeder im Diner mich anstarrt. Die junge Frau, der Mann mittleren Alters, die Kellnerin, einfach alle. Jeder mit demselben, unbeteiligten Blick, wie in einem Raum voller Androiden.

Sie alle arbeiten für sie.

»Hast du das kapiert?«, fragt Warner.

Ich nicke.

Sie gibt Sariklis ein Zeichen, und er zieht mich aus der Nische.

»Bring ihn nach Hause«, sagt sie.

Francis will uns folgen.

»Francis«, sagt Warner. »Du gehst nirgendwohin.« Sie deutet auf den Platz, den ich gerade verlassen habe.

Francis, der plötzlich sehr alt wirkt, setzt sich langsam hin, während Sariklis mich zur Tür hinausschiebt.

Nachdem Sariklis mein Haus verlassen hat, lässt die Wirkung des Adrenalins nach, und ich spüre, wie sich die schlaflose Nacht mit einem Schlag bemerkbar macht. Wie ein Zombie schlurfe ich gähnend umher, während ich einige Teile von Elliott in den Kühlschrank werfe und den Rest auf die Leiche des Unbekannten in die Gefriertruhe. Die Truhe ist nicht groß genug für beide Männer – ein echtes Luxusproblem. Ich muss Elliot den Hals brechen, damit er hineinpasst.

Ich wische das Blut von meinen Kleidern und hänge sie zum Trocknen über die Heizung. Dann kauere ich eine Zeit lang selbst davor, damit meine Knochen auftauen. Während ich warte, sehe ich auf meinem Prepaid-Handy nach dem Wetterbericht. Der Lake Bob Sandlin State Park ist nicht weit von Dallas entfernt, und dort gab es einen Schneerekord.

»Ich bin nach Dallas gefahren«, sage ich laut. »Ich wollte mit meinem Cousin Jesse in der Nähe des Lake Bob Sandlin campen. Aber das Wetter war so schlecht, dass Jesse angerufen und abgesagt hat. Ich bin nach Dallas gefahren. Ich wollte campen.«

Die Geschichte ist nicht gerade perfekt als Tarnung, aber sie passt zu dem, was ich Shawn erzählt habe, und sie ist das Beste, was ich in meinem augenblicklichen Zustand zustande bringe. Ich mache mir ein wenig Fleisch in der Mikrowelle warm und esse, bis mein Magen schmerzt.

Als ich keinen Bissen mehr herunterbekomme, erfüllt mich Elend. Es ist in mich geströmt wie ein kühler Luftzug in ein beheiztes Zimmer. Unmittelbar nach einer Mahlzeit ist es am schlimmsten. Wenn ich nicht esse oder mich darauf freue, bald etwas zu essen, habe ich nichts, das mich von dem ablenkt, was ich bin: ein schlechter Kerl, der aus schlechten Gründen schlechte Dinge tut. Ich bin nicht religiös, aber das Wort verdammt scheint hier gut zu passen.

Ich räume auf und schließe das Haus ab. Ich will nicht, dass Shawn nach Hause kommt und sieht, dass mein Toyota noch immer in der Auffahrt steht, also fahre ich aus dem Carport und mache mich auf den Weg nach Dallas.

Houston erwacht gerade. Die Straßen füllen sich. Schläfrige Büroarbeiter fahren in die eine Richtung, Ölingenieure in die andere. Helikoptermütter bringen mürrische Kinder zur Schule. Lange Schlangen an allen Drive-ins, Scheinwerfer leuchten durch den Dunst der Abgase, Fahrer machen sich mit riesigen To-go-Kaffees in den Händen wieder auf den Weg, die Münder bereits voller Speck. Das Radio schreit mich unablässig an, als fürchte es, ich würde am Steuer einschlafen, wenn man mir auch nur eine halbe Sekunde Stille gewährt.

Schließlich ist die Rushhour vorbei, und alles beruhigt sich. Ich entkomme auf den Highway, der einzige Verkehr besteht aus einem Lastwagen, der vorbeidonnert. Jetzt kommt nur noch Musik aus dem Radio, etwas mit einer Slide-Gitarre und Hip-Hop-Rhythmus.

Sechzig Meilen außerhalb von Houston fahre ich auf einen Rastplatz. Damit mein Alibi echt wirkt, wäre es am sichersten, die ganze Strecke bis nach Dallas zu fahren. Aber ich kann mir das Benzin nicht leisten, und eigentlich brauche ich das Alibi ja auch nicht für heute. Es geht um die Nacht gestern. Und außerdem: Was würde wohl passieren, wenn Warner zufällig wissen will, wo mein Handy gerade ist? Es würde nicht gut aussehen, sich so kurz nach unserem Treffen zu weit von Houston zu entfernen.

Also stelle ich den Motor ab, sitze einfach da und denke nach. Über den Toten, über Warner und darüber, wie lange ich noch so weiterleben kann. Es ist jetzt etwas über drei Monate her, seit sie mich angeheuert hat. Die klassische Probezeit ist vorbei, doch meine Lage ist nur noch unsicherer geworden.

Ich nehme mir vor, zwei Stunden auf dem Rastplatz zu bleiben, aber schon nach einer Stunde werde ich hungrig. Es ist nicht die Art Hunger, die ein Diner am Straßenrand stillen könnte, weshalb ich den Wagen starte und mich auf den Heimweg mache. Shawn wird kaum auffallen, dass die Zeit nicht für eine Fahrt nach Dallas und wieder zurück gereicht hat, außerdem kann ich ihm ja sagen, dass Jesse mich angerufen hat, als ich noch unterwegs war.

Es ist fast sechs Uhr abends, als ich nach einer weiteren Mahlzeit ins Bett falle. Ich bin zu erschöpft, um zu träumen. Eine kleine Gnade, denn angesichts meines Unbewussten hätte Freud sich bestimmt übergeben.

Das Klingeln des Telefons weckt mich.

Blinzelnd starre ich den alten Radiowecker neben meinem Bett an. Er zeigt 7:02 Uhr. Eine Stunde Schlaf ist nicht mal ansatzweise ausreichend, aber es könnte Warner sein. Sie würde sauer werden, wenn ich nicht abhebe. Ich schleppe mich aus dem Bett und humple zu meinem Festanschluss. Mein Magen schmerzt immer noch.

Als ich das Telefon erreicht habe, bin ich wach genug, um zu begreifen, dass Warner niemals meine Festnetznummer anrufen würde. Aus irgendeinem Grund hebe ich trotzdem ab. »Ja?«

Es ist eine Stimme, die ich seit langer Zeit nicht mehr gehört habe. Die Stimme meines Gewissens.

»Timothy? Hier ist Agent Reese Thistle, FBI. Ich möchte, dass du unverzüglich ins Houston Field Office kommst.«

4

Mein quadratisches Haus hat vier Wände, und alle zeigen nach Süden.

Wie ist das möglich?

Ich sollte mich weigern. Thistle und ich kennen uns, seit wir als Kinder zusammen in Pflege waren. Meine Eltern wurden erschossen, als jemand in unsere Wohnung eindrang, ihre fuhren von einer Brücke, während sie auf dem Rücksitz saß. Sobald sie adoptiert wurde, habe ich den Kontakt zu ihr verloren, doch als ich als Berater des korrupten Direktors des FBI-Büros in Houston gearbeitet habe, wurde sie mein Handler. Wir fühlten uns auf eine Weise zueinander hingezogen, die für uns beide gefährlich war. Ich wusste, dass es nur zwei Möglichkeiten gab, wie unsere Beziehung enden könnte: Entweder würde ich festgenommen, oder sie würde verspeist werden. Also tat ich so, als fühlte ich mich nicht von ihr angezogen, denn so war es sicherer für sie.

Sie kam nicht gut damit zurecht.

»Was brauchst du?«, höre ich mich fragen.

»Das möchte ich lieber nicht am Telefon besprechen.« Ihre Stimme ist ausdruckslos. Schwer zu deuten.

Spinnen der Paranoia kriechen über meine Kopfhaut: Sie weiß Bescheid. Über den wirklichen Grund, warum ich sie zurückgewiesen habe. Oder über die grässliche Arbeit, die ich für Warner erledige. Oder über beides.

Nur dass sie mich nicht anrufen würde, wenn sie Bescheid wüsste. Sie würde mit einem SWAT-Team als Verstärkung meine Tür aufbrechen.

Vielleicht hat sie einen Verdacht, aber nicht genug für eine Festnahme in der Hand. Ich sollte ihr sagen, dass ich zu ihr komme, und dann alle meine Habseligkeiten zusammenpacken und die Stadt verlassen.

»Ist das ein privater Anruf?«, frage ich hoffnungsvoll.

»Ausschließlich beruflich. Kommst du nun, oder nicht?«

»Ich komme«, sage ich. »Morgen?«

»Warum, hast du jetzt einen Job mit ganz normalen Arbeitszeiten? Löst du keine Rätsel mehr, um deine Rechnungen zu bezahlen?«

Thistle kennt mein Nebengeschäft, bei dem ich Puzzles und Rätsel löse. Sie weiß nicht, dass es damit anfing, dass ich Kreditkartennummern verkauft habe, die ich mir gemerkt hatte.

»Nein«, antworte ich.

»Warum kommst du dann nicht einfach vorbei? Du bist wach. Ich bin hier.«

Wach? Ich werfe einen Blick auf das Handy in meiner Tasche. Es ist sieben Uhr morgens, nicht sieben Uhr abends. Ich habe über dreizehn Stunden im Bett gelegen.

Aber habe ich das tatsächlich? Ich bin Schlafwandler. Ich sehe mich im Zimmer nach einem Hinweis auf eine meiner nächtlichen Wanderungen um. Alles scheint noch dort zu sein, wo es hingehört.

»Schön«, sage ich. »Ich bin in einer Stunde bei dir.«

»Wunderbar. Wir sehen uns dann.«

Ich liebe ihre Stimme, sogar dann, wenn es sich nicht so anhört, als ginge es ihr umgekehrt genauso. Ich öffne den Mund, um mich zu verabschieden, doch Thistle hat bereits aufgelegt.

Die Außenstelle des FBI in Houston bietet keinen besonders beeindruckenden Anblick. Das Field Office sieht wie der Sitz eines Telekommunikations- oder Versicherungsunternehmens aus. Acht Stockwerke hoch, mattgrüne Fenster und schmuddeliger Beton. Trotzdem bin ich nervös, als ich aus dem Toyota steige.

Mein Auto ist ausnahmsweise nicht mal gestohlen. Es gehört Warner oder einer Firma, die jemandem gehört, der für sie arbeitet. Vermutlich hat sie es mit einem Sender versehen, damit sie meinen Bewegungen folgen kann. Das ist auch der Grund, warum ich den Wagen in ein paar Blocks Entfernung geparkt habe. Unglücklicherweise kann ich das Telefon nicht einfach loswerden. Warner könnte anrufen. Obwohl es mir gestern nicht so vorkam, als würde sie sich die Informationen von den Tracking-Apps allzu oft ansehen: Sie hatte mich in das Diner schleppen lassen, ohne vorher zu klären, wo Francis gewesen war. Also stehen meine Chancen wohl nicht schlecht.

Ich sollte nicht hier sein. Sondern längst unterwegs nach Mexiko. Aber es wäre immerhin möglich, dass Thistle mich nicht festnehmen will. Es könnte sein, dass sie einfach nur Informationen über einen meiner alten Fälle braucht. Und wenn das tatsächlich so sein sollte, dann darf ich mir die Chance nicht entgehen lassen, sie im realen Leben zu sehen – und nicht nur in meiner Fantasie.

Zwar kommen die Träume nicht jede Nacht, aber sie werden auch nicht gerade seltener. Manchmal ist es ein guter Traum, in dem Thistle und ich zusammenleben wie ganz gewöhnliche Paare, mit einem Haus und einem Hund und gelegentlich sogar Kindern. Manchmal ist es ein Albtraum, und dann tue ich ihr weh.

In den guten Träumen bin ich nicht ich. Ich bin irgendein anderer, mit einer regelmäßigen Arbeit und normalen Hobbys. Sogar mein Unterbewusstsein weiß, dass Thistle einen Menschen wie mich nicht lieben könnte.

Ich eile an ein paar Cafés, Hotels und Büros vorbei und habe den Kopf wegen der Kälte gesenkt, als sei ich am Nordpol. Es dauert nicht lange, dann erreiche ich den Haupteingang des FBI-Gebäudes. Am Empfang sitzt ein neuer Beamter, ein älterer Kerl mit breiter Stirn, der mich misstrauisch beäugt, als ich hereinkomme.

»Ich möchte zu Agent Reese Thistle«, sage ich.

Sein Blick wandert zu meinem fehlenden Daumen. Das passiert öfters. Zwar zählt man normalerweise nicht die Finger von jedem, dem man begegnet, aber irgendwie fällt es den Leuten auf.

»Sie erwartet mich«, füge ich hinzu.

Der Kerl grunzt und greift nach dem Hörer. Ich bemühe mich, Thistles Stimme wahrzunehmen, als sie ihm sagt, dass er mich hereinlassen soll.

Er betätigt einen Summer, und die Sicherheitstür öffnet sich. Thistle kommt mir nicht entgegen. Wahrscheinlich ein gutes Zeichen. Trotzdem nehme ich lieber die Treppe als den Fahrstuhl, und sei es auch nur, um vorbereitet zu sein, falls das irgendeine Falle ist. Dann könnten die Cops den Fahrstuhl nämlich zwischen zwei Stockwerken anhalten, und ich wäre buchstäblich eingemauert.

Die Fluchtmethode aus Stirb langsam funktioniert nur im Film, falls sich das jemand gefragt hat. Die Falltür in der Decke des Aufzugs ist stets von außen mit einem Vorhängeschloss verriegelt.

Als ich den grauen Flur entlang in Richtung Thistles Arbeitsbereich gehe, komme ich am Büro des Direktors vorbei. An der Tür steht ein neuer Name, von innen erklingt das leise Murmeln einer Frauenstimme.

Ich kannte den alten Direktor ziemlich gut. Er war ein korrupter Ex-Kokser, bereit, Beweismaterial zu fälschen, Verdächtige zu foltern und sogar Leichen aus dem Todestrakt zu einem Kannibalen zu schmuggeln, wenn das half, einen Fall abzuschließen. Hoffentlich weiß die neue Direktorin so wenig über mich wie ich über sie.

Gedämpft dringt ein Wort an mein Ohr: »Warner.«

Ein Kribbeln überzieht meine Haut. Ich beuge mich zur Tür und lausche. Vielleicht hat die neue Direktorin nur »warnen« gesagt. Oder sie spricht zufällig genau in dem Moment, in dem ich hier eintreffe, über die berüchtigte Charlie Warner, Boss einer kriminellen Organisation.

Jemand kommt. Ich richte mich auf.

Es ist Maurice Vasquez, Leiter der Kommunikationsanalyse. Er ist so attraktiv wie eine Bernini-Skulptur, mit seiner geraden Nase, den gestutzten Nägeln und dem zurückgeklatschten Haar. Er verbringt seine Zeit damit, aufgezeichnete Gespräche anzuhören, Festplatten zu decodieren sowie gehackte E-Mails und Textnachrichten zu lesen.

»Blake«, sagt er. »Was machst du denn hier?«

»Hi, Vasquez. Lange her«, sage ich. »Wie geht’s dir?«

Er wirkt nicht gerade erfreut, mich zu sehen. Vielleicht hat er mitbekommen, dass ich gelauscht habe.

»Ich dachte, du bist mit alldem hier fertig«, sagt er.

»Dachte ich auch. Aber Thistle wollte, dass ich komme.«

Er hebt die Augenbrauen. »Wegen einen neuen Falls?«

Daran habe ich noch gar nicht gedacht. »Ich bin mir nicht sicher.«

»Ich würde dir raten, ihn nicht anzunehmen«, sagt er. »Gerade du weißt, wie gefährlich diese Arbeit sein kann.«

»Ich dachte, vielleicht geht es um einen alten Fall.«

»Na ja, was auch immer es ist, mach nichts Unüberlegtes. Lass mich die Dinge übernehmen, bei denen du nicht sicher bist, okay?«

Ich bin merkwürdig gerührt. »Danke, Mann. Wir sehen uns.«

Er nickt knapp und geht in Richtung der Aufzüge davon.

Als ich zu Thistles Arbeitsbereich komme, sitzt ein Mann, den ich nicht kenne, an ihrem Schreibtisch. Quer über die Glatze gekämmtes Resthaar, blaues Polohemd, große Uhr. Er mustert mich von Kopf bis Fuß.

»Ich suche Agent Thistle«, sage ich.

Er stößt ein Schnauben aus, das entweder ihr oder mir gilt. »Sind Sie Anwalt?«

»Was? Nein, ich bin …«

»Blake«, sagt Thistle hinter mir. »Danke, dass du gekommen bist.«

Mein Herz schlägt schneller, während ich mich umdrehe. »Jederzeit.«

Thistle trägt eine gestärkte weiße Bluse und eine Halskette aus Kunstperlen, die sich strahlend von ihrer ebenholzfarbenen Haut abhebt. Ihr Haar ist zu einem Pferdeschwanz gebunden, wodurch man die Ohrringe sieht, die zu ihrer Halskette passen. Kleidung und Schmuck sind nichts Besonderes, aber sie sieht gut darin aus. Für einen kurzen Augenblick empfinde ich Hoffnung – vielleicht hat sie sich für mich so angezogen. Oder, und das ist wahrscheinlicher, sie versucht zu beweisen, dass sie ohne mich großartig zurechtkommt.

Sie sieht, wie ich ihr Outfit betrachte. »Ich muss später noch vor Gericht«, sagt sie.

Oh. Das alles hat also überhaupt nichts mit mir zu tun.

»Hier entlang.« Sie dreht sich um und geht los. Mein Blick bleibt auf ihren Hinterkopf gerichtet, während ich ihr folge.

Thistles neuer Arbeitsbereich ist größer als der alte und liegt näher am Fenster. Es ist kein Eckbüro, sieht aber dennoch nach einer kleinen Beförderung aus. Die jedoch schon etwas länger zurückliegt. Sie hat alle ihre Sachen bereits ausgepackt. Ein Foto von ihrem Hund, eine gerahmte Tapferkeitsmedaille, eine geschwungene ergonomische Computertastatur, die nicht zu den anderen im Gebäude passt.

Zum ersten Mal frage ich mich, warum ausgerechnet sie die Aufgabe hatte, bei mir den Babysitter zu spielen, während ich als Berater gearbeitet habe. Keine besonders anspruchsvolle Aufgabe für eine Veteranin nach zwölf Jahren Dienst beim FBI. Nach allem, was ich damals gesehen habe, war sie klug, fleißig und nicht korrumpierbar, weshalb sie irgendetwas getan haben musste, das den alten Direktor mächtig verärgert hat. Vielleicht mag die neue Direktorin sie eher.

Thistle streicht ihren Rock glatt und setzt sich an den Schreibtisch. Deutet auf einen Drehstuhl in der Ecke ihres Arbeitsbereichs. Ich setze mich.

»Wie geht’s dir, Reese?«, frage ich.

Sie zwingt sich zu einem Lächeln. »Gut, danke. Und dir?«

»Alles gut.« Ich bin ein Süchtiger, dessen Nachschub gesichert ist, weshalb ich nicht gerade unglücklich bin. Aber ich bin auch nicht wirklich glücklich. Ich bin wie betäubt, und das ist fast so gut, als existierte ich nicht mehr.

»Freut mich zu hören«, sagt Thistle. »Ich habe da einen Fall, bei dem du uns vielleicht helfen kannst.«

»Oh.«

»Ich weiß, dass du die seltsamen Fälle magst.« Sie tippt auf ihre Tastatur, und der Computermonitor wird hell. Dann gibt sie ihr Passwort ein. Ich beobachte ihre Finger. DollyParton84.

»Inwiefern seltsam?«, frage ich.

»Vorgestern hat ein Mathematikprofessor nach der Arbeit die Braithwaite University verlassen«, sagt sie. »Er ruft seine Frau an und sagt ihr, dass es später wird. Dann hebt er an einem Automaten Geld ab.«

Ich erstarre. Wenn Thistle den Tod eines der Opfer von Warner untersucht, sind das schlechte Nachrichten. Entweder wird sie den Fall lösen, und ich bin meinen Job los, oder Thistles Schuhe tauchen irgendwo am Strand auf. Das Letztere ist wahrscheinlicher. Es wäre nicht das erste Mal, dass Warner einen Cop umbringt.

»Wie viel?«, frage ich.

»Was?«

»Wie viel hat er abgehoben?«

»Zweihundertsechzig Dollar«, antwortet Thistle. »Warum?«

»Hatte er noch mehr auf dem Konto?«

»Ja. Sag mir bloß nicht, dass du den Fall schon gelöst hast.«

Warners Männer hätten mehr abgehoben. »Nein«, sage ich. »Tut mir leid, ich wollte nur wissen, ob es so viel Geld war, dass einer damit verschwinden könnte.«

»Nein, ich glaube nicht. Aber es ist mehr, als man unter normalen Umständen braucht, findest du nicht?«

»Sehe ich genauso.« Schon jetzt schwirren mir verschiedene Theorien im Kopf herum. Ich schiebe sie beiseite. Es ist immer eine gefährliche Versuchung, zu früh eine mögliche Lösung zu präsentieren.

»Schön. Nachdem er das Geld abgehoben hat, kommt der Professor nicht mehr nach Hause. Seine Frau meldet ihn am nächsten Morgen als vermisst. Das Houston PD verfolgt sein Handysignal bis zu einer Mülldeponie in Louisiana und übergibt den Fall an das FBI. Wir fahren zur Mülldeponie, aber das Handy selbst ist nirgendwo zu finden. Und du kannst mir glauben, wir haben wirklich alles umgegraben.« Thistle zieht eine Grimasse. »Kein Handy, kein Auto, keine Leiche. Niemand weiß irgendwas auf der Mülldeponie. Niemand weiß irgendwas an der Uni. Keiner seiner Freunde und Verwandten weiß irgendwas.«

Das klingt nicht nach einem besonders seltsamen Fall. Vielleicht wollte Thistle mich einfach nur sehen. Bei diesem Gedanken empfinde ich ein leichtes inneres Glühen, das gefährlich ist.

Sie sieht mich erwartungsvoll an. Offensichtlich ist sie bereit für eine Theorie.

»Hatte jemand aus seinem Umkreis schon mal mit der Polizei zu tun?«, frage ich.

»Niemand.«

»Spielt er?«

»Alle, die ihn kennen, sagen Nein. Ich habe in den Casinos rumtelefoniert, aber nirgendwo haben sie etwas über ihn.«

»Drogen?«

»Bei ihm zu Hause habe ich etwas Pot gefunden. Nur eine kleine Menge, keine Anzeichen dafür, dass er dealt. Wir haben ein Haar aus seinem Kamm untersucht, um möglicherweise Spuren von etwas Härterem zu entdecken. Dr. Norman hat es analysiert, aber er hat nichts gefunden.«

»Hatte er Geburtstag?«

Thistle saugt zischend Luft durch die Zähne ein. »Wie zum Teufel hast du das erraten?«

Weil ich weiß, wie gierige Leute ticken. »Okay«, sage ich. »Er ist mittleren Alters, nehme ich an, denn er ist Mathematikprofessor. Vielleicht hat er eine Midlife-Crisis. Er denkt über all die Dinge nach, die er nie tun konnte, bevor er geheiratet hat und die Kinder kamen – hat er Kinder?«

Thistle nickt. »Eine Tochter. Einundzwanzig.«

»Gut. Die Nachricht an seine Frau bedeutet, dass er nach der Arbeit etwas unternehmen würde, etwas, von dem er nicht wollte, dass sie es erfuhr. Wenn es nicht um Glücksspiel oder Drogen geht, geht es um Sex. Die Summe, die am Automaten abgehoben wurde, schränkt die Möglichkeiten ein. Sie ist zu hoch für einen Abend mit einer Geliebten und gleichzeitig zu klein, um mit einer Sexarbeiterin sehr weit zu kommen oder geheime Schulden zu bezahlen oder jemanden umbringen zu lassen.«

Thistles Augenbrauen heben sich. »Langsam, langsam, Blake. Wie viele Verbrechen genau willst du unserem Opfer anhängen? Und welcher Psycho macht sich selbst ein Geburtstagsgeschenk, indem er jemanden umbringen lässt?«

»Ich will dir nur zeigen, warum ich alle diese Dinge ausgeschlossen habe«, sage ich. »Ich wette, er ist in einen Stripclub gegangen. Hat sich einen Rausch angetrunken und sich den einen oder anderen Lapdance gegönnt. Nachdem das Geld aufgebraucht und der Rausch verflogen war, war er von sich selbst angewidert. Vielleicht hat er angefangen, darüber nachzudenken, dass die Stripperinnen genauso alt wie seine Tochter oder seine Studentinnen sind. Und dann hat er Selbstmord begangen.«

Thistle lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück. »Das ist eine wirklich faszinierende Geschichte«, sagt sie. »Lassen wir mal einen Moment lang außer Acht, dass es genügend Killer oder Sexarbeiterinnen gibt, die einem für zweihundertsechzig Dollar zu Diensten sein würden.«

»Aber nicht besonders diskret«, sage ich. »Er war doch einigermaßen wohlhabend, oder? Er hätte das diskret handhaben wollen.«

»Aber wenn alles so gelaufen ist, wie du sagst, wo ist dann seine Leiche?«

Ich zucke mit den Schultern. »Irgendwo in der Bucht?«

»Und sein Auto?«

Ich öffne meinen Mund und schließe ihn gleich wieder.

»Und wie erklärst du dir das Handysignal, das zur Mülldeponie führt?«

Auch dieses Detail hatte ich vergessen.

Eine Stimme hinter mir sagt: »Mr. Blake, wie ich vermute?«

Ich sehe hoch. Eine Frau steht vor Thistles Arbeitsbereich. Weiß, Mitte vierzig, aschblondes Haar. Grauer Hosenanzug. Make-up und hochhackige Schuhe. Jemand, der nicht für den Außeneinsatz angezogen, sondern stets bereit ist, vor die Kameras zu treten. Deswegen und weil Thistle plötzlich angespannt wirkt, nehme ich an, dass es sich um ihre neue Chefin handeln muss.

»Timothy, das ist Marianne Zinnen«, sagt Thistle. »Unsere neue Direktorin.«

»Vielen Dank, dass Sie gekommen sind, Mr. Blake«, sagt die Direktorin und reicht mir ihre Hand, deren Nägel in einem subtilen Kastanienbraun lackiert sind.

»Aber gerne doch.« Ich schüttle ihre Hand. Mein fehlender Daumen scheint ihr nicht aufzufallen.

»Ich hoffe, Sie können uns bei diesem Fall helfen. Gabriela Biggs ist eine gute Freundin von mir. Sie und ihre Tochter sind zutiefst beunruhigt. Genauso wie Kenneths Kollegen an der Universität.«

Das ist kein überflüssiges Detail. Sie gibt uns damit zu verstehen, dass wir behutsam vorgehen sollen, wenn es um die Familie geht. Doch ein verschwundener Universitätsprofessor erregt mehr Aufmerksamkeit als ein verschwundener Taxifahrer oder Verkäufer, weshalb Zinnen wahrscheinlich unter politischem Druck steht, den Fall so schnell wie möglich abzuschließen.

»Mr. Blake denkt, es könnte Selbstmord sein«, sagt Thistle.