Blanka - Monika Bramer - E-Book

Blanka E-Book

Monika Bramer

0,0

Beschreibung

Blanka ist ein Fantasy- Abenteuerroman für junge Erwachsene. Blanka ist 15 Jahre alt. Irgendwie verläuft ihr Leben alles andere, als optimal. Ständig hat sie Stress mit ihrer Familie und in der Schule ist es auch nicht besser. Bis plötzlich ihre Mutter eine Reise gewinnt. Doch irgendwas stimmt hier nicht! Während sie alles über ihre Vergangenheit lernt, droht eine schreckliche Gefahr ihrer neuen Heimat.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 453

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

01. Der Traum

02. Unverhoffte Reise

03. Reisebekanntschaft

04. Der Ausflug

05. Das Tor zu einer anderen Welt

06. Zu Hause

07. Die Flucht

08. Hilfreiche Fremde

09. Neue Freundschaften

10. Nächtlicher Besuch

11. Pläne

12. Spione entlarven

13. In der Höhle des Löwen

14. In der Falle

15. Die Rettung

16. Vorsprung

17. Finale

18. Neue Aufgaben

01. Der Traum

Blanka hatte wieder diesen Traum.

Sie war ein kleines Kind und stand in einem mit Luftballons und Girlanden geschmückten Saal. Die Sonne schien durch die Fenster aus Glas. Mit ihrem Licht malte sie bunte Muster auf den hellen Fußboden. Ausgelassen hopste Blanka über die verschiedenfarbigen Flächen und versuchte dabei, nicht auf die roten Kästchen zu kommen.

Sie war so konzentriert in ihr Spiel vertieft, dass sie die Leute im Saal gar nicht bemerkte. Bis sich eine wunderschöne Frau zu ihr runter beugte. »Blanka, mein Schatz!«, sagte sie.

Wie ein Wirbelwind lief sie zu ihr hin. Sie kuschelte sich in die, ausgestreckten Arme. Der warme Duft von Vanille und die langen, blonden Haare kitzelten in Blankas Nase. Grüne Augen lachten sie glücklich an. Das konnte nur Mama sein. Nur sie roch so gut – so vertraut. Blanka war glücklich, wie noch nie in ihrem Leben.

Eine Torte mit fünf brennenden Kerzen wurde hereingetragen. Eine weitere Stimme sagte: » Puste die Kerzen aus und wünsche dir was, meine Kleine!«. Blanka wusste es gleich. Das war Papa. Er stand neben Mama. Seine Augen strahlten vor Freude.

Mit einem Jubelschrei löste sie sich aus Mamas Umarmung und lief zu ihm hin. Sie fühlte sich mit sicherem Griff vom Boden hochgehoben und zwei Mal im Kreis herumgewirbelt. »Noch mal! Noch mal!«, schrie sie, als sie wieder den Boden erreichte.

»Später!«, sagte Papa. »Puste zuerst die Kerzen aus und denk an was Schönes.« Einen Moment überlegte sie, was sie sich wünschen sollte. Das Kuscheltier mit der langen Mähne oder das Pferd, auf dem sie reiten konnte? Aber nein! Ihr größter Traum war ein kleiner Hund. Dann konnte sie endlich mit jemanden spielen, wenn Mama oder Papa keine Zeit für sie hatten, wenn Tante Rosa auf sie aufpasste. Freudestrahlend blies sie die Kerzen aus. Sie hielt die Augen fest geschlossen, als sie an ihren Wunsch dachte. Ob es diesmal klappen würde? Langsam öffnete sie die Augen.

Zwei Leute trugen ganz vorsichtig einen großen Karton herein und stellten ihn vor ihr ab. Jetzt, wo er vor ihr stand, merkte Blanka, wie groß er war. An den Seiten waren viele kleine Löcher. Eine dicke, rote Schleife hielt ihn zusammen. Und das war auch nötig! Denn ein kräftiges Kratzen, ein Rappeln erschütterte den ganzen Karton. Er wackelte hin und her. Durch die Löcher hörte sie ein Schnüffeln. Ab und zu huschte etwas Helles vorbei. Was war das? Unsicher schaute sie zu ihren Eltern.

Papa nickte ihr aufmunternd zu. »Mach ihn ruhig auf!«, sagte er.

Eine Ahnung stieg in ihr hoch. Mit zitternden Händen öffnete sie die Schleife. Als sie den Deckel hob, fiel der Karton durch einen heftigen Stoß um. Ein kleines, weiches Wollknäuel purzelte heraus. Zuerst sah Blanka nur einen Ball aus flauschigem Fell. Aber als das Geschöpf sich aufrichtete, erkannte sie, dass es ein Hundebaby war. Sprachlos vor Freude kniete sie sich hin. Während sie mit beruhigender Stimme auf das kleine Wesen einredete, versuchte sie es zu sich zu locken. Mit tapsigen Schritten kam der kleine Hund auf sie zu. Er hatte ein kurzes, weiches Fell, ein super, niedliches Gesicht und lange, herunterhängende Ohren. Eine kleine Falte über seiner Nase gab ihm einen missmutigen Gesichtsausdruck. So als würde er sich fragen, Wo bin ich? Wer sind diese Leute? Als der kleine Vierbeiner ein paar weitere Schritte versuchte, knickten seine Beine unter ihm weg. Mit einem verdutzten Gesicht landete er auf seinem Bauch. Dann stemmte er sich wieder hoch. Das kleine Wesen schüttelte unwillig den Kopf. Noch etwas zögerlich, kam er weiter auf sie zu und versuchte, an ihren Fingern zu lecken. Vorsichtig nahm sie ihn auf den Arm. »Oh, ist der süß! Den darf ich wirklich behalten?«, fragte sie und schaute ihre Eltern ungläubig an. »Vielen, vielen Dank!«.

Beide umarmten sie und ihre Mutter gab ihr einen Kuss.

Plötzlicher Tumult unterbrach die Szene. Ein Mann kam hereingetaumelt. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Seine Kleidung war zerrissen und schmutzig. Erschöpft sank er auf die Knie.

Ihr Vater lief zu ihm. »Was ist passiert?«, fragte er.

»Ihr müsst sofort weg! «, sagte der Mann. Blanka konnte erkennen, dass ihm das Sprechen schwerfiel. »Ihr seid in Gefahr! Damon hat uns überfallen. Er ist schon bis zum Innenhof vorgedrungen und wird in wenigen Minuten hier sein.« Kaum hatte er die Warnung ausgesprochen, da verließen ihn die letzten Kräfte. Er brach zusammen.

Im Saal herrschte eisiges Schweigen. Jetzt erst bemerkte Blanka, dass noch mehr Gäste anwesend waren. Die Menschen schienen vor Angst erstarrt zu sein. Dann redeten alle gleichzeitig los. Einige rannten zu ihrem Vater rüber, der aufrecht und beherrscht im Saal stand. Sie überschütteten ihn mit unverständlichen Fragen.

»Ruhe!«, rief er in die ängstlich, plappernde Menge. »Der Mann muss augenblicklich medizinisch versorgt werden!«

Schlagartig wurde es ruhig und sofort eilten Leute herbei. Sie kümmerten sich um den Schwerverletzten. Die Gesichter ihrer Eltern hatten sich verwandelt. In Blanka machte sich eine furchtbare Angst breit. Am Liebsten hätte sie sich an Mama und Papa geklammert. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie verstand die Welt nicht mehr. Was war passiert? Wo eben noch Zuneigung und Liebe zu sehen war, erblickte sie nun Sorge und Entschlossenheit.

»Maria, nimm Blanka. Verlasse den Palast! Ihr seid hier nicht mehr sicher.«, sagte ihr Vater und schaute zu ihrer Mutter rüber.

»Nein!«, antwortete diese und drehte sich zu der älteren Frau neben ihr um. »Rosa du nimmst Blanka. Bringe sie zu Siberius. Der wird sich um euch kümmern. Mach alles, was er sagt, und beeile dich, schnell. Hier hast du den Schlüssel. Du weißt, wohin du gehen kannst, wenn es hier nicht mehr sicher ist.« Damit überreichte sie ihr eine Kette, an der ein großer funkelnder Kristall hing. Dann drehte sie sich um und sagte zu ihrem Mann. »Ich werde mit dir kämpfen! Allein schaffst du es nicht.« Mit einer Handbewegung öffnete sie einen versteckten Zugang in der Mauer unter dem Fenster. Sie griff nach einem Gegenstand, der wie eine Kugel aussah.

Ihr Vater erbleichte und rief unwillkürlich. »Nein Maria!«

»Hast du nicht gehört?«, erwiderte ihre Mutter. »Er ist im Gebäude! Wenn er erst unsere technischen Möglichkeiten nutzt, ist niemand mehr sicher. Wir haben keine andere Wahl!«

Immer weniger begriff Blanka von dem, was um sie herum passierte. Wie konnte es geschehen, dass ihre eben noch heile Welt, einstürzte. Was konnte so schlimm sein? Warum sollte sie mit Rosa von ihrem Zuhause weggehen? Warum konnten nicht Mama und Papa mitkommen? Mit einem verzweifelten Aufschrei ließ sie das Hundebaby los, streckte die Arme aus und rief nach ihrer Mutter. »Mama! Mama!«

Mit raschen Schritten eilte diese ein letztes Mal zu ihr und beugte sich runter. Sie gab ihr einen Kuss. Mit Tränen in den Augen versuchte ihre Mutter sie zu beruhigen. »Es ist nur für kurze Zeit. Ich komme später nach. Pass auf dich auf, Kleines!« Ihr Vater strich ihr übers Haar und dann wurde sie weinend weggezerrt.

Wie immer an dieser Stelle wachte sie auf. Sie stellte fest, dass sie zu Hause in ihrem Bett saß. Mit einem leisen Schluchzen warf sie sich zurück aufs Kissen. Blanka brauchte ein paar Minuten, um den Schmerz zu verkraften, der sie so mitgenommen hatte, dass ihr Tränen in den Augen standen. Immer wieder durchlebte sie diesen Traum und jedes Mal wachte sie an der gleichen Stelle auf. Warum nur? Aber wem sollte sie diese Frage stellen? Ihre Mutter hätte gehässig gelacht. Ihr Vater wäre genervt gewesen.

Die Morgendämmerung versuchte, die ersten Lichtstrahlen durch die dicken Regenwolken in ihr Zimmer zu schicken. Na ja! Es war eher eine Kammer. Es gab gerade genug Platz für ein Bett und einen kleinen Kleiderschrank. An der Wand neben dem Fenster hing ein aus alten Brettern zusammengezimmertes Regal. Hier konnte sie ihre Bücher. Hefte und Stifte ablegen. Was nicht ins Regal passte, landete unter dem Bett. Blanka musste nie lange suchen, um ihren Kram zu finden. Trotzdem hätte sie gerne ein größeres Zimmer gehabt. Es musste ja nicht so groß sein, wie der Saal aus ihrem Traum.

Schmerzlich erinnerte sie sich an den Verlust. Wie sie weggezerrt wurde. Oh ha! Wenn ein Tag so begann, was erwartete sie dann noch? Mieses Wetter beantwortete sie sich ihre Frage selber. Das würde ihre Stimmung auch nicht verbessern. Regen klopfte an die Fensterscheibe. Blanka schaute deprimiert zu, wie die Tropfen eine Bahn aus Wasser beim runterlaufen bildeten. Sie wusste, dass es wieder ein schrecklich, öder Tag werden würde. Genervt schaute sie auf den Wecker. Eigentlich konnte sie noch eine halbe Stunde schlafen. Aber sie hatte Angst, dass sie wieder diesen Traum durchleben musste und damit auch den Schmerz. Nein! Alles, nur das nicht!

Darum stand sie auf und öffnete die Türen ihres Kleiderschrankes. Im halb blinden Spiegel schaute ihr ein großes, fast zu dünnes Mädchen von 15 Jahren entgegen. Die langen dunkelblonden Haare und großen, runden, grünen Augen waren nicht gerade aufregend. Viel lieber hätte sie blaue Augen und weißblonde oder nachtschwarze Haare gehabt.

Ihre Gedanken kehrten zu dem Traum zurück. Zu der Freude, die sie am Anfang gefühlt hatte. Das warme Licht, der unglaublich große Saal und Eltern, die ihr jeden Wunsch von den Augen ablasen. Blanka musste unwillkürlich auflachen. Das war zu schön, um wahr zu sein. Das konnte nur ein Traum sein. Als Blanka sich aber an die Trennung erinnerte, lief ihr jetzt noch ein kalter Schauer über den Rücken. Der Schmerz saß so tief, dass sie einige Minuten brauchte, um ihn zu verarbeiten. Nein! Wenn der Schmerz dazugehörte, dann wollte sie lieber auf diese Traumfamilie verzichten. Sie spürte einen Kummer tief in sich, als ob sie etwas Kostbares verloren hätte. Blanka schluckte ein Schluchzen hinunter. Entschlossen schüttelte sie den Kopf und versuchte, die Erinnerung zu vertreiben.

Sie konzentrierte sich wieder auf die Suche nach dem richtigen Kleidungsstück. Im Schrank hingen die alten abgetragenen Sachen ihrer Schwester. In der Schule spottete man über sie, weil ihre Hosen und Oberteile echt vorsintflutlich aussahen. Neidisch dachte sie an die schicken Klamotten, die Claudia trug oder die tolle Jacke von Andrea. So etwas hätte sie auch gerne gehabt. Da war wohl nichts zu machen! Blanka zuckte mit den Schultern. Irgendwann würde sie genug Geld verdienen. Dann konnte sie sich alle diese schönen Sachen selber kaufen. Bis dahin musste sie halt in diesem alten Zeug rumrennen und so tun, als wäre es der letzte Schrei.

Viel Auswahl hatte sie nicht. Sie nahm irgendwas heraus und zog es hastig über.

Auf leisen Sohlen schlich sie sich in Richtung Küche. Vielleicht schaffte sie es, dort anzukommen, ohne ihrer Mutter über den Weg zu laufen.

Leise und vorsichtig deckte sie den Tisch. Obwohl jeder selber zusehen musste, wie er zu seinem Frühstück kam, gab es ein Heidenspektakel, wenn sie nicht für alle den Tisch deckte. Sie schmierte sich ein Brot mit Margarine und legte eine Scheibe Käse drauf.

Blanka hatte eigentlich keinen Hunger und noch weniger Appetit. Das war kein Wunder. Entweder hatten die Lebensmittel im Kühlschrank das Verfallsdatum überschritten oder sie erinnerten eher an Nahrung für eine Kuh. Es reichte gerade, um nicht vom Fleisch zu fallen. Wenn sie sich beeilte, würde sie fertig sein, bevor der Rest der Familie erschien.

Kaum hatte sie einen Bissen getan, da rauschte schon eine Gestalt herein. Ihre Mutter – Helen Forbes war natürlich auch schon wach. Und als ob das nicht reichte, trippelte Lydia und schlurfte Vater Ralf hinter ihr her.

Die blond gefärbten Haare ihrer Mutter hingen traurig, in kurzen Zotteln von ihrem Kopf. Die Masse ihres Körpers hätte einer Opernsängerin alle Ehre gemacht. Nur dass ihre Stimme nicht so schön klang. Unter dem Blick der eisblauen Augen erstarb jeder Widerstand. Frau Forbes war die unumschränkte Herrscherin ihres Haushaltes. Diese Stellung hatte sie sich hart erarbeitet. Immer wenn sie ihren Willen nicht durchsetzen konnte, suchten sie die gefährlichsten Krankheiten heim, die einer aufopferungsvollen Pflege ihrer Familie bedurften. Jede schwere Arbeit war Gift für sie. Das musste sie auch nicht. Sie verbrachte den lieben, langen Tag vor dem Fernseher und schaute sich eine Lieblingsserie nach der anderen an. Das war schließlich anstrengend genug! Der Außenwelt gegenüber erschien sie als aufopferungsvolle Mutter, der das Wohl ihrer Familie sehr am Herzen lag.

Vater Ralf hatte seine eigene Lösung für dieses Problem gefunden.

Am Morgen verließ er früh das Haus und entging somit den Streitigkeiten und Aufgaben. Abends bot sich immer die Gelegenheit, Überstunden zu tätigen. Er kam nur zum Schlafen nach Hause. Da war er zu müde und lethargisch, um auf hysterische Anfälle und Vorwürfe einzugehen. Vater Ralf war ein farbloser Mann. Mit seinen müden braunen Augen schaute er verloren in die Welt. Sein ganzes Gesicht spiegelte den Kummer wieder, den er durch seine zänkische Frau ein Leben lang ertragen musste. An seiner gebückten Haltung konnte man erkennen, dass er den Kampf vor langer Zeit aufgegeben hatte. Zurück blieb ein Häufchen Elend, das froh war, wenn es in Ruhe gelassen wurde.

Lydia Forbes, die ältere Schwester von Blanka wurde wie eine Prinzessin behandelt, deren Wünsche sofort in Erfüllung gehen mussten. Sie studierte mal dies – mal das. Halt immer mal was anderes. Irgendwann stellte sie fest, dass es nicht das Richtige war. Spätestens dann, wenn es schwierig wurde. Sie hatte keine Zeit, um im Haushalt zu helfen. Sie musste schließlich lernen! Lydia hatte die stahlblauen Augen ihrer Mutter geerbt. Ihr Haar war blond und glatt. Der Ansatz einer molligen Figur wurde durch schicke Klamotten verdeckt, die immer nach der neuesten Mode waren. Viele Leute hielten sie für ein hübsches Mädchen. Nur die von ihnen, die ihren zänkischen, egoistischen Charakter kannten, wussten es besser. Schon früh im Leben hatte Lydia von ihrer Mutter gelernt, wie man ans Ziel seiner Wünsche gelangt. Das Ergebnis war, dass hysterisches Geschrei durch die Räume der Wohnung hallte.

Ein Fremder hätte vermutet, dass Lydia die einzige Tochter und Blanka Forbes ein Pflegekind oder arme Verwandte war. Aber Mutter Helen passte gut auf, dass kein Fremder einen Blick hinter die Kulissen des Familienlebens tat. Nach Außen hin, gab sie vor, die zärtlichste Mutter zu sein, und war die Freundlichkeit in Person. Wie sollte Blanka den anderen erklären, dass die Realität ganz anders aussah.

Die kreischende Stimme ihrer Mutter, weckte sie aus ihren Überlegungen und bombardierte sie mit den Aufgaben, die sie heute zu erledigen hatte. »Du bringst, wenn du aus der Schule kommst den Müll runter. Und vergesse nicht, einzukaufen! Ich habe dir die Liste auf den Küchentisch gelegt. Der Abwasch muss auch noch gemacht werden. Du weißt, dass Du mit dem Geschirr aus der Geschirrspülmaschine vorsichtig sein musst! Nicht das hinterher eine Tasse fehlt, weil sie dir runter gefallen ist.«

»Ja, ja!«, sagte Blanka. Aber mit dieser Antwort gab sich ihre Mutter nicht zufrieden.

Ungehalten runzelte sie die Augenbrauen und schimpfte los: »Komm mir bloß nicht, mit der Ausrede, du hättest es vergessen! Oder, dass du keine Zeit gehabt hattest. Das kaufe ich dir heute nicht ab.« Einen letzten – jeden Widerstand unterdrückenden Blick werfend, rauschte sie aus der Küche, während Lydia sich hämisch grinsend an den Tisch setzte. Ihr Vater setzte sich auch. Dabei hielt er einen langatmigen Vortrag über die Pflichten in diesem Haushalt.

Blanka schluckte schnell ihren Bissen runter, bevor sie ihren Teller wegbrachte. Dann flüchtete sie mit der Bemerkung, dass sie sich noch auf die Schule vorbereiten musste.

Mit ihrer alten Schultasche, ihrer unförmigen Jeanshose und dem grauen T-Shirt verließ Blanka das Haus.

Der Regen hatte aufgehört. Auch war der Weg nicht weit.

Vor der Schule warteten vereinzelte Gruppen von Mädchen und Jungen, die sich vor Unterrichtsbeginn trafen. Die Mädchen begrüßten sich mit Küsschen auf die Wange. Die Rituale der Jungs waren da komplizierter.

Blanka ging jetzt in die 9. Klasse. Das alleine war schon anstrengend! Aber so auszusehen und von den anderen akzeptiert zu werden, das war ein Ding der Unmöglichkeit. Da bot auch die Schule keinerlei Fluchtmöglichkeit vor dem Familienleben. In ihre Klasse gingen auch Claudia und Andrea. Claudia und ihre Clique verspotteten sie, weil sie in ihren alten Klamotten in die Schule kam.

Blanka stöhnte. Es waren noch 3 Wochen bis zu den Frühlingsferien. Also musste sie noch einige Zeit Claudia und ihre gehässigen Bemerkungen in der Schule ertragen. Oder wie Andrea sie ansah und Streberin flüsterte. Da beide die neueste Mode und die teuersten Klamotten trugen, hielten sie sich für etwas Besonderes. Den lieben langen Tag hatten sie nichts Besseres zu tun, als ihr eigenes Ego aufzubessern, indem sie sich über hilflose Opfer hermachten, an denen sie ihre Gemeinheiten ausprobierten.

Die Jungs waren da nicht viel besser. Ihre Streiche waren ziemlich grob. Besonders viel Spaß machte es, wenn die Mädchen laut los kreischten. Bei ihr hatten sie es auch eine Zeit lang versucht. Nachdem sie merkten, dass sie nicht die erwünschte Reaktion zeigte, ließen sie Blanka in Ruhe. Jetzt war sie nur noch die Spielverderberin. Aber lieber eine Spielverderberin als dieses alberne Theater. Sie würde den Kopf hochhalten, die Zähne zusammenbeißen und diesen Tag überstehen. Blanka seufzte. Wenn sie wenigstens einen Computer oder ein Handy gehabt hätte! Aber davon konnte sie nur träumen. Sie war die Außenseiterin, der Freak.

Doch abends, wenn sie sich mit einem Buch in ihr kleines Zimmer verkroch, in die Fantasiewelt der Geschichten eintauchte, dann konnte sie dieser trostlosen Realität entkommen. Zum Glück gab es die Schulbücherei. Dort brauchte man kein Geld, um sich Bücher auszuleihen. An den besonders glücklichen Tagen war ein Platz am Computer frei. Das war ihre einzige Gelegenheit, ein bisschen durchs Internet zu surfen. Aber bei der Arbeit, die auf sie wartete, konnte sie das heute vergessen. Mutter würde darauf achten, dass sie nicht zur Ruhe kam, bis die ganze Arbeit erledigt war.

02. Unverhoffte Reise

Als sie aus der Schule kam, dauerte es lange, bis sie alles erledigt hatte. Es war schon spät. Sie nahm sich ihr Lieblingsbuch aus dem Regal und begann zu lesen. Von draußen hörte sie die Stimme ihrer Mutter, die mit Lydia sprach. Sie versuchte sie zu ignorieren. Bestimmt hatte sie etwas falsch gemacht und nun rollte ein temperamentvolles Donnerwetter auf sie zu.

Kaum hatte sie das gedacht, da flog auch schon die Tür auf. Frau Forbes stürmte in aller Pracht und Herrlichkeit herein. Aber überraschenderweise war ihr Gesicht nicht von Ärger gezeichnet, sondern strahlte vor Freude. Während sie mit der Hand ein Stück Papier durch die Luft wedelte, sagte sie: »Rate mal, was mit der Post gekommen ist?«

Ratlos schaute Blanka sie an. Sie zuckte mit den Schultern. Entweder hatte sie wieder eine Uhr oder eines dieser zahlreichen, nutzlosen Haushaltsgeräte erhalten. Die würde sie dann als Geburtstagsgeschenk weiter geben.

Aber diese Frage war sowieso nicht ernst gemeint. Ohne auf eine Antwort zu warten fuhr ihre Mutter fort. »Wir haben eine Reise gewonnen und du kannst auch mitkommen!« Mit dem Blick einer gnädig gestimmten Gottheit schaute sie erwartungsvoll in das Gesicht ihrer Tochter. Doch diese war viel zu überrascht. Deshalb sah sie eher verwirrt als dankbar zurück.

Von dem Geschrei aus seinem Zimmer gelockt schaute Blankas Vater herein. »Was ist denn los?« Ihre Mutter drehte sich zur Tür um. »Wir haben eine Reise nach Mexiko gewonnen!«, sagte sie und wedelte mit einem Brief in der Hand rum.

Jetzt wurde das Gesicht ihres Vaters nachdenklich. »Was ist der Haken daran? Müssen wir den Flug bezahlen oder die überteuerte Unterkunft?«

Es war ja auch zu schön, um wahr zu sein! Wie konnte Blanka nur erwarten, dass sie endlich mal die Ferien woanders, als in dieser muffigen Bude verbringen würde. Dem Vater war doch alles zu teuer. Nicht, dass er es sich nicht leisten konnte, aber er gab nicht gerne Geld aus. Sie sah schon das Gesicht ihrer Mutter in Tränen und den nächsten hysterischen Anfall kommen.

Doch erstaunlicherweise lächelte ihre Mutter weiter. »Nein, der Flug, die Unterkunft und das Essen sind im Preis enthalten!«, sagte sie. Dabei öffnete sie den Umschlag und holte vier Gutscheine heraus, auf denen jeweils der Flug, die Unterkunft und die Verpflegung vermerkt waren.

Als Blanka die Gutscheine sah, machte sie große Augen. Der Flug war erster Klasse, das Hotel war ein fünf Sterne Hotel und die Verpflegung war `All Inklusive`. Das alles für vier Personen. Es war einfach zu schön, um wahr zu sein. Leise zwickte sie sich in den Arm, weil sie sichergehen wollte, dass sie nicht träumte. Sie spürte den Schmerz und so war wohl doch alles wahr. Und sollte es ein Traum sein, so hoffte sie, dass sie nicht so schnell aufwachen würde. Ein unangenehmer Gedanke durchzuckte sie. Hoffentlich würden ihre Eltern nicht auf die Idee kommen, dass sie noch zu klein dafür war. Auch hatte sie noch 3 Wochen Schule, ehe die Frühlingsferien begannen. Laut aufgedrucktem Datum musste die Reise noch dieses Wochenende angetreten werden. Das war ja schon übermorgen! Da gab es garantiert Probleme!

Ihre Familie würde bestimmt einen Grund finden, sie von diesem Urlaub auszuschließen. Das hatten sie schon einmal gemacht! Als sie vor 2 Jahren nach Marokko in den Urlaub geflogen waren. Da hatte ihre Familie sie einfach bei einer Bekannten abgeladen. Blanka konnte sich noch gut an ihre Proteste und Tränen erinnern. Doch ohne Erfolg. Das Ergebnis blieb das gleiche. Sie musste hierbleiben. Hinterher konnte sie sich wochenlang anhören, wie schön die Reise gewesen war. Wie kleine Nadelstiche war es unter ihre Haut gegangen, als sie von ihren Abenteuern, dem leckeren Essen und dem warmen Meer erzählten. Die Vorstellung, dass die drei sich im warmen Mexiko auf Entdeckungsreise begaben, während sie hierbleiben musste, war unerträglich! Das würde sie nicht noch einmal aushalten! Verzweifelt musterte sie die Gutscheine, die ihre Mutter immer noch in der Hand hielt. Dabei entdeckte sie auf einem der Gutscheine eine zusätzliche Notiz. »Nur gültig bei vollständiger Teilnehmerzahl!«. Unter diesem Vermerk standen ihre vollständigen Namen. Alle ohne Ausnahme! Ein bisschen komisch war das schon. Woher wussten die Leute die vollständigen Namen aller Familienmitglieder? Blanka sprach ihre Bedenken laut aus.

Mutter Helen tat es mit einer Handbewegung ab. »Bestimmt habe ich sie beim Gewinnspiel mit angeben müssen.«, sagte sie. Dann warf sie ihr einen strafenden Blick zu, bei dem selbst einer mutigeren Tochter das Herz in die Hose gerutscht wäre. »Sei doch keine Spielverderberin oder willst du nicht mit. Es wird schon alles seine Richtigkeit haben und wir haben es auch mal verdient zu gewinnen.« Auf dem Gesicht ihrer Mutter erschien ein wütender Ausdruck. Blanka kannte dieses Gesicht gut. Jetzt musste sie aufpassen, sonst würde sich ein Donnerwetter über ihr entladen. Aber bevor es so weit kommen konnte, wurde Helen Forbes von einem anderen Gedanken abgelenkt. »Das muss ich den anderen erzählen! Morgen rufe ich in euren Schulen an. Dabei werde ich die Schulleiter überzeugen müssen, Lydia und dir frei zu geben. Außerdem brauchen wir noch einen Notpass für dich. Was das kosten wird! Zum Glück haben wir noch gültige Pässe aus dem letzten Marokkourlaub.« Mit Gönnermiene schaute sie auf Blanka runter.

Blanka starrte mit ausdrucksloser Miene zurück. Als ob das ein Gefallen war. Ohne sie konnten sie sowieso nicht fliegen. Aber es war zwecklos, darüber zu diskutieren, denn Mutter hielt es für eine große Gefälligkeit diese lästige Tochter mitzuschleppen. Die sie diesmal mitnehmen musste. So würde sie zum ersten Mal in den Genuss eines richtigen Urlaubs kommen. Urlaub! Ihre Gedanken kreisten nur noch um dieses Wort.

Mutter hatte unterdessen weiter geredet. Blanka hörte nur noch. »Außerdem muss ich gleich meine Freundin anrufen, um ihr diese Neuigkeit mitteilen!« Frau Forbes drehte sich entschlossen um und stürzte zum Telefon. Bald würde es die halbe Stadt wissen. Das Telefon würde vor Mitternacht nicht stillstehen. Jedenfalls kümmerte sich jetzt keiner mehr um Blanka, denn auch der Rest der Familie folgte Mutter Helen. Jeder eilte in sein Zimmer, um dort seine Reisevorbereitungen zu treffen. Jetzt begann die Schlacht, um die Plätze im Koffer! Da Mutter immer drei Koffer benötigte, um ihre Sachen unterzubringen, blieb für Blanka nur ein kleiner Rucksack, indem sie ihr Zeug verstauen konnte, mit dem sie 4 Wochen durchhalten musste. Aber in Mexiko war es warm. So brauchte sie nur leichte Kleidungsstücke mitnehmen und die nahmen nicht so viel Platz weg. Mit diesen Gedanken schlief sie ein.

Am nächsten Morgen wurde Blanka als Erste wach. Ihre Eltern lagen noch im Bett. Sie hatte diesmal nichts geträumt. Das war viel wert. Während die Sonne ihre ersten Strahlen durchs Fenster schickte, schlüpfte sie in die Küche. Beim Schmieren ihres Frühstücksbrotes musste sie daran denken, wie Mutter dafür sorgen musste, dass sie die 3 Wochen schulfrei bekommen würde. Ein schadenfrohes Kichern entschlüpfte ihr. Das fiel ihr garantiert nicht leicht.

In der Schule war heute alles anders. Kein Tuscheln erwartete sie auf dem Schulhof. Auch blieben die gehässigen Bemerkungen aus. Alle musterten sie mit erwartungsvollen Blicken. Da wurde Blanka einiges klar! Die eifrigen Telefonate ihrer Mutter waren bei mehr Leuten angekommen, als sie gedacht hatte. Das konnte ja heiter werden! Schließlich trat Sabine vor. Sabine ging ebenfalls in ihre Klasse. Sie war okay. Manchmal saß sie neben Blanka und in der Pause konnte man mit ihr reden, ohne dass sie herablassend schaute.

Das wussten die anderen natürlich auch. Sie hatten sie vorgeschickt, um zu erkunden, ob an dem Gerücht – von der gewonnenen Reise – etwas Wahres dran wäre. An den vielen fragenden Gesichtern erkannte Blanka, dass die Nachricht sich in der Nachbarschaft wie ein Lauffeuer verbreitet hatte. Jeder wartete gespannt darauf, die Neuigkeiten aus erster Hand zu erfahren.

»Ihr habt eine Reise gewonnen? Stimmt das?«, fragte Sabine neugierig.

Claudia, die im Hintergrund gerade ihre Freundinnen um sich versammelt hatte, schaute beleidigt rüber. Diese Frage unterbrach ihren neuesten Klatsch. Alle Aufmerksamkeit richtete sich auf eine andere Person. Das ging gar nicht!

Alle blickten Blanka erwartungsvoll an. »Ja!«, sagte sie. »Dazu noch ein Flug in der ersten Klasse, sowie die Übernachtung in einem 5 Sterne Hotel.« So, jetzt war es raus. Das hatte sie sich nicht verkneifen können! Einen Augenblick lang genoss sie es, wie Claudia und Andrea sie wütend anstarrten. Claudia sah richtig dämlich aus, wie sie mit heruntergeklappter Kinnlade dastand. Da war sie diesmal nicht die Erste gewesen, die den neuesten Klatsch erfahren hatte. Doch im gleichen Moment bereute sie es. Wenn das alles nur ein Schwindel war, dann würde sie am Ende ganz schön alt aussehen. Auch egal!

Sabine fragte weiter. » ….stimmt es, dass du dafür die nächsten 3 Wochen schulfrei bekommst?«

Eigentlich hatte sie keine Ahnung, inwieweit die Verhandlungen ihrer Mutter Erfolg hatten. Doch Blanka kannte sie gut. Wenn sich Helen Forbes etwas in den Kopf setzte, dann bekam sie es auch. Darum antwortete sie einfach mit ›Ja‹.

Dieses einfache Ja hatte eine umwerfende Wirkung. Claudias Gesicht verwandelte sich in ein Donnerwetter. Blanka konnte an ihrem Gesichtsausdruck sehen, dass sie nicht wusste, was sie vor Wut sagen sollte. Mehrmals öffnete sie den Mund und schloss ihn wieder, ohne dass ein Wort rauskam. Schließlich stotterte sie empört. »Das ist doch der Gipfel! Noch nicht einmal ich habe 3 Wochen schulfrei bekommen!« Claudia konnte es nicht fassen! Jemand anderes hatte so viel Glück! Nicht sie! Zornig drehte sie sich um. Mit Andrea und ihrer Fangemeinde im Kielwasser rauschte sie davon. Blanka stellte sich vor, was für ein hysterisches Donnerwetter auf die Familie von dieser Furie zurollte. Sie konnte sich kaum ein Lachen verkneifen. Es war unglaublich! Diesen Moment hätte sie, um nichts auf der Welt missen mögen.

Urplötzlich waren alle freundlich geworden. Jeder wollte wissen, wie sie zu dem unverhofften Glück gekommen war. Das war dann doch etwas schwierig! Wie sollte sie den anderen klarmachen, dass sie selber keine Ahnung hatte. Mit einer gemurmelten Erklärung. »Das erzähle ich euch später!«, eilte sie in dem Klassenraum. Ungeduldig sah sie dem nächsten Tag entgegen. Den Tag, an dem ihr großes Abenteuer beginnen sollte.

Was mochte sie wohl alles erleben? Dabei ahnte sie nicht einmal, dass die Wirklichkeit alle ihre fantastischen Träume in den Schatten stellen sollte.

03. Reisebekanntschaft

Vater und Mutter waren schon sehr früh wach. Hektisch wurden die letzten Reisevorbereitungen getätigt. Lärmendes Gezänk weckte Blanka. Von Weitem hörte sie Lydia jammern. »Ich will noch nicht aufstehen! Ich bin viel zu müde. Ich will noch schlafen!«

Der Versuch, wieder einzuschlafen scheiterte, weil sie bis in ihr Zimmer hörte, wie ihre Mutter durch die Räume wanderte. Dabei klapperte sie eifrig (besonders laut) mit allen möglichen Gegenständen. Aufstehen lohnte sich noch nicht! Sie würde nur die Klage hören, dass sie im Wege stand. Gemütlich rekelte sie sich im Bett. Dabei überlegte sie, was man alles im sonnigen Mexiko machen konnte, ohne das ihre Eltern Einspruch erheben würden. Leise stand sie dann doch auf. Sie durchstöberte ein letztes Mal den Kleiderschrank und die Schubladen, um irgendwelche Sachen zu finden, die in ihren kleinen Rucksack noch hineinpassten. Die vielleicht wichtig waren. Nein! Alles war schon gepackt. Im Flugzeug würde sie Essen und Trinken erhalten. Das musste reichen, bis sich die Möglichkeit zu einer weiteren Mahlzeit im Hotel ergab. Das spärliche Taschengeld nützte ihr auch nichts, da Blanka zu jung war, um es irgendwo umzutauschen. So schlüpfte sie in ihre Sachen. Dann wagte sie den Gang aus dem Zimmer, um sich todesmutig in Richtung Toilette zu begeben.

Die war natürlich verriegelt. Ihre Schwester Lydia, die vor der Tür schon wartete, sagte. »Besetzt! Das dauert auch noch eine Weile. Außerdem bin ich danach dran. Zuerst gehe ich duschen, dann ziehe ich mich an und zum Schluss muss ich mich noch schminken.« Dabei zählte sie an ihren einzelnen Fingern genussvoll die Menge der Aktivitäten ab, die sie noch zu erledigen hatte. »Also, vor einer Stunde brauchst du nicht nachfragen.«

Schließlich kam dann doch noch die Gelegenheit, schnell ins Bad zu schlüpfen. Endlich konnte sie sich frisch machen.

Dann waren alle zur Abreise bereit. Mit Koffern bepackt ging es mit dem Bus zum Flughafen. Ihre Eltern hätten sich natürlich auch ein Taxi leisten können (besonders, nachdem sie die Reise gewonnen hatten). Aber dafür musste man ja Geld ausgeben.

Flüge nach Mexiko/ Cancún gingen von Terminal 1 los. Trotzdem brauchte sie eine gefühlte Ewigkeit, um den Schalter für die Abfertigung zu finden. Ihre Mutter war furchtbar aufgeregt. Ständig nervte sie die Familie damit, dass sie alle 5 Minuten andere Anweisungen gab. Immer wieder fragte sie, ob Lydia und Blanka auch alles dabei hatten. Vater Ralf schickte sie zu den einzelnen Schaltern, um nachzuschauen, was dort dran stand. Aber schließlich war auch das geschafft! Sie befanden sich zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Nicht einmal anstehen mussten sie, denn ihre Tickets waren first class mit einem extra Check Inn.

Ein freundlicher Herr nahm ihre Koffer mit dem restlichen Gepäck am Ticketschalter entgegen. Zuerst fragte er nach ihren Namen. Dann sah er sich die Unterlagen mit den Dokumenten genau an. Blankas Herz klopfte schneller. Würde alles gut gehen? Erleichtert atmete sie auf, als der Mann sie anlächelte. Ein kleiner Apparat druckte 4 Flugtickets aus. Nun war es gewiss. Sie flogen weg! Dorthin, wo es warm war, wo immer die Sonne schien! Laut verkündete der Mann. »Das wären dann die Reihe 2 und die Plätze A, B, C und D.« Er machte eine kleine Pause, bevor er weiter erklärte. »Der Platz A ist ein Fensterplatz und die Plätze C und D sind Gangplätze.«.

Mutter nahm lächelnd die Bordkarten entgegen. Mit zuckersüßer Stimme sagte sie. »Vielen Dank!« Dann drehte sie sich um, packte Blanka am Arm. Grob zog sie das Mädchen weg. »Du sitzt natürlich auf der anderen Seite am Gang! Lydia kann am Fenster sitzen, Papa in der Mitte und ich sitze am Gang. Denke immer daran, ich habe ein Auge auf dich! Also lasse dir nicht einfallen, fremden Leuten Geschichten über uns zu erzählen.«, zischte sie ihr zu.

Das war auch nicht anders zu erwarten! Sie ärgerte sich. Wie konnte ihre Mutter so rücksichtslos sein? Manchmal überlegte sie, ob sie überhaupt ein Mitglied dieser Familie war. Nein, das war absurd! Aber warum wurde immer auf ihr ’rumgehackt’, wenn es Schwierigkeiten gab? Dann war immer sie der Sündenbock. Nie Lydia! Am liebsten hätte sich Blanka in den Boden gestemmt und Nein gesagt.

Aber sie wusste, wie grob Mutter werden konnte. Die schien sowieso schlecht gelaunt zu sein. Wenn sie sich ihr auch noch widersetzte, konnte es recht ungemütlich werden. Dann würde ihre Mutter es fertig bringen, die Reise abzusagen, nur um sie zu ärgern. Also gab sie nach. Mit einem eiligen. »Ja, Ja, ich habe schon verstanden!«, willigte sie ein. Trotzdem konnte sie sich eine Bemerkung nicht verkneifen. »Aber sollte mir in dieser Situation doch das eine oder andere Wort entschlüpfen, das vielleicht unangebracht wäre, so kann ich ja nichts dafür. Denn ihr habt mich ja schließlich auf den Platz gesetzt, wo ich mit fremden Leuten reden muss. Es würde ja doch etwas merkwürdig aussehen, wenn ich mich 10 Stunden lang mit niemandem unterhalten würde. Stimmts?« Der Blick auf das Gesicht ihrer Mutter sagte ihr, dass sie voll ins Schwarze getroffen hatte. Diese hatte eines nicht bedacht! Sie war auf gar keinen Fall zu überwachen, wenn sie extra saß. Da aber die Alternative hieß, dass sich eines der anderen Familienmitglieder auf diesen Platz setzen musste und da dieses nicht akzeptabel war, fiel niemandem eine bessere Lösung ein. Darüber war Blanka keinesfalls traurig. Sie wusste nun, dass Mutter sie während des Fluges in Ruhe lassen würde. Sie konnte auf eine vergnügliche Zeit hoffen.

Im Flugzeug angekommen, zeigte eine freundliche Stewardess ihnen ihre Plätze. Ihre Eltern bekamen ein Glas mit einer sprudelnden Flüssigkeit zur Begrüßung. Während sie und Lydia einen eisgekühlten Saft mit Strohhalm und Schirmchen erhielten. Die Plätze waren so was von gemütlich! Die Stewardess gab jedem ein Kissen, eine Decke und Kopfhörer. Blanka bedankte sich, obwohl sie eigentlich nicht wusste, was sie damit anfangen sollte.

Eine ältere Frau mit wunderbaren, halblangen silbernen Haaren saß neben Blanka. Dazu hatte sie dunkelblaue, verschmitzt lächelnde Augen. »Fliegst du zum ersten Mal?«, fragte sie freundlich. Ohne Blankas Antwort abzuwarten, fuhr sie fort. »Ich bin schon oft geflogen, aber es ist immer wieder aufregend. Du brauchst keine Angst zu haben. Es ist herrlich! Wenn du etwas wissen möchtest, dann kannst du mich ja fragen. Übrigens, ich heiße Rosa! Eigentlich Rosalinde, aber du darfst mich Rosa nennen, wie meine Freunde! Und wie heißt du?«

Von diesem ununterbrochenen Redeschwall total sprachlos, hatte Blanka keine Zeit zu antworten. Selbst wenn sie die Geistesgegenwart gehabt hätte, so war da noch dieses Gefühl, dass sie diese Frau von irgendwoher kannte. Diese Stimme dieses Gesicht. Tief in ihrem Unterbewusstsein wurde eine Erinnerung wach. Eine Erinnerung an fröhliches Lachen und heiße Schokolade. Es war so intensiv, dass sie die Frau einige Zeit unhöflich anstarrte, eifrig bemüht sich wieder zu erinnern. Aber noch ehe diese Szene vollständig in ihr Bewusstsein vordringen konnte, riss sie die auffordernde Stimme ihrer Mutter aus dem Reich der Träumereien. »Sei nicht dumm, Blanka! Du darfst die Leute nicht so anstarren!« Zu der Fremden sagte sie erläuternd »Sie ist so schüchtern.«

Endgültig in die Realität zurückgeholt und wütend über die Einmischung ihrer Mutter, beeilte sich Blanka, zu antworten. »Ich heiße Blanka Forbes. Das sind meine Mutter, mein Vater und meine Schwester Lydia.«, ergänzte sie. Dabei zeigte sie auf die einzelnen Mitglieder der Familie.

Frau Rosa lächelte herablassend in das Gesicht von Helen Forbes, dann schaffte sie es, deren Antwort zu ignorieren. Stattdessen wendete sie sich wieder Blanka zu. Zum ersten Mal in ihrem Leben traf Frau Forbes einen Menschen, der sie ignorierte. Das war sie nicht gewohnt! Unsicher platzierte sie die Masse ihres Körpers in den Sitz,, unschlüssig, ob sie verärgert oder beleidigt sein sollte.

Rosa fragte währenddessen Blanka weiter aus. »Fliegst du auch bis Cancun? Weißt du schon, wo du wohnen wirst?«

Zufälligerweise hatte sich Blanka den Namen des Hotels gemerkt. »Oh ja! Wir wohnen alle vier im Hotel Plaza Verde in Cancun! Kennen sie es?«

Ihre Nachbarin schien keineswegs überrascht zu sein. Freundlich, so als würden sie sich schon ein ganzes Leben lang kennen, strahlte Rosa sie an. »Oh! Das ist ja ein Zufall! Dann wohnen wir ja im gleichen Hotel. Ich habe mein Zimmer auch im Plaza Verde. Vielleicht können wir uns da ab und zu mal treffen!?«

Das war fast zu schön, um wahr zu sein! Blanka nickte nur sprachlos mit dem Kopf. »Das wäre prima!«, beeilte sie sich zu erklären.

Die Stewardess war mit ihren Sicherheitserklärungen fertig, räumte alles weg und das Flugzeug rollte zur Startbahn. Es war das erste Mal, dass sie flog. Sie war furchtbar aufgeregt. Blanka versuchte ruhig und entspannt, zu sitzen. Sie wollte nicht zeigen, wie entsetzlich nervös sie war. Fast ein bisschen Angst hatte sie. Ihre Finger krallten sich in die Armlehne ihres Stuhls. Sie fühlte, wie ihr Herz laut zu pochen anfing. Dann spürte sie Rosas Hand beruhigend auf ihrem Arm. Auf einmal war alles nicht mehr so schlimm. Der Druck der Beschleunigung, der sie in den Sitz presste, machte ihr nichts mehr aus. Mit einem tapferen Lächeln bedankte sie sich für diese Geste der Freundschaft.

Den Rest des Fluges verbrachte Blanka ganz angenehm.

Das Essen war köstlich. Sie konnte nicht verstehen, warum die anderen Passagiere pikiert die Nase rümpften. Für sie war es ein Festmahl. Auch Getränke gab es in großer Auswahl. Sie konnte sich kaum entscheiden. Mit großen Augen bestellte sie sich eine Cola.

Als alle Leute fertig waren, wurde das Essen abgeräumt.

Rosa schaute schmunzelnd zu. »Du hattest aber Hunger!«, sagte sie.

Wie sollte sie ihr erklären, dass sie seit gestern nichts gegessen hatte. Darum lächelte sie nur.

Hätte man sie hinterher gefragt, über was sie sich unterhielten, dann hätte sie es nicht sagen können. Rosa war sehr einfühlsam. Sie verstand es gut, das verschüchterte und durch schlechte Erfahrungen vorsichtig gewordene Mädchen, aus der Reserve zu locken.

Da ihre Mutter auf der anderen Seite eingeschlafen war, traute sie sich schließlich, von ihrem Leben als Mitglied der Familie Forbes zu berichten. Es tat so gut, endlich mal das Herz ausschütten zu können. Dabei merkte sie nicht, wie sich der Ausdruck im Gesicht ihrer Gesprächspartnerin veränderte. Zorn durchbebte Rosa. Mit leiser, wütender Stimme murmelte sie. »Ich hatte ja keine Ahnung! Wenn ich das vorher gewusst hätte!«

Blanka, die kein Wort verstanden hatte, schaute sie fragend an. Sie hatte doch nichts Falsches erzählt?! Aber so schnell wie der Ausdruck in dem Gesicht erschienen war, so schnell verschwand er auch wieder. Das musste eine Täuschung gewesen sein, redete sie sich ein. Aber sie war sich nicht sicher. Aus welchem Grund sollte irgendeine Fremde, die sie erst seit kurzer Zeit kannte, ärgerlich darüber sein, wie ihre Familie sie behandelte?

Den Rest der Zeit verbrachte sie mit der Erkundung ihrer Umgebung. Als sie aus einem der hinteren Fenster schaute, war sie fasziniert davon, wie die Berge durch die Wolken ragten. Das Meer schimmerte mit seiner herrlich blauen Farbe, zwischen den weißen Tupfen der Wolken hervor. Ab und zu wurde der Flug etwas turbulenter. Wenn das Flugzeug in ein Luftloch kam, kribbelte es in ihrem Bauch. Alles war so aufregend und neu. Sie hatte gar keine Zeit, sich zu langweilen.

Schneller als sie dachte, kamen sie ans Ziel. Das Flugzeug setzte zur Landung an.

Nach der Landung trennten sich ihre Wege. Auf die Forbes wartete ein Taxi (vom Hotel geschickt). Rosa wurde von einem Bekannten abgeholt. Freundlich verabschiedeten sie sich und versprachen sich morgen beim Frühstück zu treffen. »Also, bis morgen um 9.00 Uhr«, rief Rosa ihr zu. Dann wendete sie sich ihrem Begleiter zu. Im Weggehen erhaschte Blanka noch Worte wie ’…hat sich nicht verändert’ und ’…schreckliches Leben…’. Viel konnte sie nicht hören, denn Mutter ermahnte sie nicht zu trödeln, sondern beim Transport der Koffer zu helfen. Schließlich habe sie ja nur einen leichten Rucksack. Aber der Taxichauffeur hatte schon alle Sachen vom Wagen in den Kofferraum geladen.

Müde und von dem aufregenden Flug mehr als erschöpft, war sie dankbar, als sie das Hotel erreichten. Die Zeitumstellung kam auch noch dazu. So sank sie glücklich in ihrem kleinen Extrazimmer (sie hatte ein eigenes, abgeteiltes Zimmer) aufs Bett. Sie schlief ein, ohne auch nur eine einzige Sache ausgepackt oder die Schlafsachen angezogen zu haben.

04. Der Ausflug

Am nächsten Morgen wollte Blanka erst gar nicht aufstehen. Das Bett war bequem, die Bettwäsche war weich und kuschelig. Das Zimmer strahlte Luxus und Komfort aus. Sie kam sich vor wie in einem Märchen aus 1001 Nacht. Blanka war eine Prinzessin und das hier um sie herum war ihr Schloss. Leider nur für 4 Wochen. Aber sie nahm sich vor, diese 4 Wochen richtig zu genießen.

Als sie sich endlich aufraffte, ihr Bett zu verlassen, bemerkte Blanka, dass auf dem Tisch ein wunderschönes Kleid lag. Sie fand keinen Zettel. Doch offensichtlich war es für sie bestimmt. Schließlich lag es in ihrem Zimmer.

Das Mädchen dachte nach. Hatte sie heute Geburtstag? Nein, eigentlich nicht. Obwohl sie sich da auch nicht so sicher sein konnte. Denn ihr Geburtstag war immer ein Tag wie jeder andere. Sie bekam ein abgetragenes Kleidungsstück von Lydia geschenkt. Vielleicht etwas, was ihre Mutter nicht mehr gebrauchen konnte. Aber ein richtiges Geschenk, etwas Neues verpackt in buntem Papier, das hatte sie noch nie erhalten. Ja! Lydia! Die kriegte die tollste Feier, die man sich wünschen konnte. Mit Freundinnen! Mit Geschenken! Bei ihr dagegen fanden sie immer einen neuen Grund, es ausfallen zu lassen. Zuerst war sie zu klein gewesen. Später dann war Lydia krank, oder sie hatten kein Geld, oder Blanka hatte gegen eine Regel verstoßen. Dann gab es zur Strafe keine Party. Hätte sie sowieso nicht bekommen! Geburtstagsparty? Was war das? Davon konnte sie doch nur träumen! Apropos träumen! Da war diese mysteriöse Feier aus ihren Träumen. Aber die hatte jedes Mal mit Tränen und Abschied geendet. Das war kein Ereignis, an das man gerne dachte.

Blanka versuchte, sich an irgendeine schöne Party zu erinnern. Als sie ganz klein gewesen war, da war sie mal in einem Saal voller Luftballons, Girlanden, Lichter und Menschen gewesen. Blanka kniff die Augen zusammen, um noch mehr Details wach zu rufen. Ihr Kopf tat weh. Eine leise Stimme sagte ihr: ›Hör auf! Das bringt nichts!‹. Aber sie wollte es unbedingt wissen. Ein qualvoller Schmerz pochte hinter ihren Augen. Gleichzeitig tauchte tief in ihrem Unterbewusstsein die Erinnerung an eine fröhliche, vierjährige Blanka auf. Sie lief durch die Beine der anderen Gäste und lachte. Hinter ihr her rannte ein noch jüngeres Mädchen. Sie hatte dunkelblonde Haare. Ihre braunen Augen blickten erschöpft. Das Gesicht war vor Anstrengung gerötet. Die früher ordentlich, gebundenen Zöpfe, lösten sich auf. Einzelne Haarsträhnen hingen zerzaust hinter ihren Ohren. »Biggi, nicht so schnell!«, rief sie ihr zu.

»Aber Tiki, warum bist du denn so langsam? Gleich kommt der Zauberer. Den möchte ich nicht verpassen. Komm endlich!« Sie grinste, nahm ihre Freundin am Arm und zog sie weiter.

Die Vision wurde verdrängt von dem Schmerz der, immer stärker in ihrem Kopf tobte. Mit ihren Fingerspitzen massierte sie sich die Schläfen. Langsam klangen die Beschwerden ab. Blanka seufzte vor Erleichterung. Was war denn das gewesen? Sie zuckte mit den Schultern. Das beantwortete jedenfalls nicht ihre Frage, wer das Kleid hier hingelegt hatte. Vielleicht hatte sich auch Mutter geschämt. Sie hatte dieses Kleid als Beweis dafür gekauft, dass sie sich doch um Blanka kümmerte. Sie brauchte ja nur Nachfragen! Als sie in die anderen Räume der Wohnung ging, stellte sie fest, dass es schon 8:00 Uhr durch und ihre Familie ohne sie zum Frühstück gegangen war. So ein Mist! Jetzt musste sie sich alleine auf den Weg machen.

Einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, diese Mahlzeit ausfallen zu lassen. Sie hatte ja ›All inklusive‹ gebucht. Da konnte sie sich jederzeit an der Poolbar etwas zu Essen holen. Doch ihr Magen knurrte. Die Poolbar machte bestimmt erst gegen 10:00 Uhr auf. Außerdem liebte sie frische Brötchen und Croissants. Bei dem Gedanken daran lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Das wollte sie nicht verpassen!

Sie schnappte sich das neue Kleid und stürzte kurz entschlossen ins Bad, um sich unter der Dusche zu erfrischen. Als sie endlich fertig war, fehlten nur noch wenige Minuten bis 9:00 Uhr. Zu 9:00 Uhr hatte sie sich doch mit Rosa, ihrer Reisebekanntschaft aus dem Flugzeug verabredet. Wenigstens hier wollte sie pünktlich sein! Jetzt war sie froh darüber, dass ihre Familie ohne sie zum Frühstück gegangen war. Das ersparte ihr die lästigen Fragen ihrer Mutter. Sie musste sich nicht rechtfertigen. Geistesgegenwärtig griff sich Blanka am Ausgang die Schlüsselkarte. Schwungvoll zog sie die Tür hinter sich zu.

An der Rezeption fragte sie nach dem Weg und fand schließlich das Restaurant. Ihre Familie entdeckte sie nicht. Dafür aber Rosa, welche sich an einem der hinteren Tische ein spätes Frühstück zu Gemüte führte.

Blanka zögerte kurz. Im Grunde genommen wusste sie gar nichts über diese Frau. Blanka hatte nur ständig das Gefühl, sie von irgendwoher zu kennen. Unsicher überlegte sie, ob sie lieber zu einem leeren Platz auf der anderen Seite gehen sollte. Aber noch bevor sie einen Entschluss fassen konnte, hatte Rosa sie entdeckt. Sie sprang hoch, winkte ihr zu und rief quer durch den Saal. »Da bist du ja! Komm setze dich zu mir! Der Platz ist noch frei.« Während Blanka sich durch die Sitzreihen schlängelte, schob Rosa einen Stuhl einladend zur Seite. »Guten Morgen! Oder wie man hier sagt. Buenos Dias!«, begrüßte sie Blanka. »Wenn du deine Familie suchst, die sind fertig mit dem Frühstück. Die sind schon wieder weg. Du hast sie gerade verpasst!« Rosa musterte sie neugierig.

Blanka versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen. Ihre Mutter, ihr Vater und Lydia waren frühstücken gegangen, ohne ihr Bescheid zu sagen.

Da sie noch immer unentschlossen dastand, nahm die alte Dame ihre Hand. »Ich nehme an, du hast noch nicht gegessen. So setz dich doch endlich!«, forderte sie Blanka auf und zog sie auf den freien Platz neben sich. »Oder hast du vergessen, dass wir zu 9:00 Uhr hier verabredet waren?« Ihre Stimme klang niedergeschlagen.

Blanka wurde rot. Sie schaute erschrocken ihre Nachbarin an. »Nein, das nicht!«, stammelte das Mädchen. »Ich war nur nicht sicher, ob sie das nur aus Höflichkeit gesagt haben?«

Rosas enttäuschter Gesichtsausdruck verwandelte sich in ein strahlendes Lächeln. »Natürlich nicht! Ich bin froh, wenn du mir Gesellschaft leistest.«, sagte sie. »Außerdem brauchst du mich nicht zu siezen. Da komme ich mir so schrecklich alt vor!« Sie verzog das Gesicht zu einer komischen Grimasse.

Blanka musste lachen. Zuerst war sie von der energischen Behandlung überrascht gewesen. Aber dann gefiel ihr die alte Dame immer besser. Mit ihrer neuen Bekanntschaft hatte sie jemanden, zu dem sie gehen konnte, wenn ihre Familie sich unmöglich benahm. So wie heute!

Darum gab sie nach und murmelte ein schüchternes ›Dankeschön‹.

Rosa nickte ihr zu. »Du brauchst dich nicht zu bedanken, Liebes! Schließlich haben wir das doch so abgemacht.«, sagte sie. Anschließend zeigte sie in die hintere Ecke des Raums. »Da hinten ist das Büfett. Hole dir erst einmal was zu essen und dann kannst du mir erzählen, wie es dir hier so gefällt.«

In diesem Moment gab Blankas Magen ein heftiges Knurren von sich. Beide mussten lachen. »Oh ja! Das ist eine gute Idee.«, sagte sie. Dann stand sie auf, um sich ein paar leckere Sachen für den Teller zu holen. Nachdem sich Blanka am Büfett bedient und zum Tisch zurückgekehrt war, beschrieb sie, in überschwänglicher Art, ihr wunderbares Zimmer. Was es alles für fantastische Sachen dort gab!

Rosa lächelte geduldig und ließ sie ausreden. Sie sah das Mädchen nachdenklich an. »Wenn dich so einfache Dinge, wie dein Zimmer schon in einen Begeisterungstaumel versetzen, was passiert dann bei den wirklich spannenden Sachen?« Als hätten die letzten Worte sie auf eine Idee gebracht, rief sie freudig: »Das ist es! Ich habe doch für morgen einen Ausflug geplant. Möchtest du mitkommen?«

Blankas Gesicht strahlte. Zu gerne hätte sie `Ja` gesagt. Aber da gab es zwei Hindernisse. Erstens hatte sie kein Geld und konnte den Ausflug nicht bezahlen. Zweitens musste sie ihre Eltern um Erlaubnis fragen. Als sie das erwähnte, erklärte Rosa. »Das mit dem Geld ist kein Problem. Kinder unter 16 Jahren brauchen nur den halben Preis zu bezahlen. Das ist doch ein Klacks. Das bezahle ich. Ohne dich würde ich mich schrecklich langweilen und so stünde ich eher in deiner Schuld. Wenn du mitkommen möchtest?« Sie schaute Blanka ängstlich an.

»Oh wie gern!«, jubelte Blanka. Da war dann nur noch das Problem mit ihrer Familie. »Ich frage nur schnell meine Eltern.«, sagte sie. Mit diesen Worten eilte sie, ihr Frühstück völlig vergessend, auf ihr Zimmer, um ihre Eltern zu suchen und sie um Erlaubnis zu bitten.

Diese empfingen sie mit einem merkwürdigen Ausdruck in den Augen. Noch ehe sie eine Frage stellen konnte, sagte Lydia hämisch: »Zu spät! Da du heute Morgen nicht da warst, haben wir unseren Abstecher nach Tulum ohne dich gebucht. Du kannst dir ja einen schönen Tag im Hotel mit deiner Rosa machen!«.

Das war wieder einmal typisch. Gleich nutzten sie die Gelegenheit, um sie aus den Familienaktivitäten auszuschließen. Empört wollte sie schon protestieren. Dann fiel ihr aber ein, dass sie nun nichts gegen ihren Ausflug mit Rosa sagen konnten. Sie schluckte ihren Protest runter und antwortete nur. »Ich hätte sowieso nicht mitkommen können. Rosa hat mich eingeladen, sie zu begleiten.«

Das passte ihrer Mutter überhaupt nicht. »Was, mit einer ›Wildfremden‹ willst du durch die Gegend ziehen? Das lasse ich nicht zu! Meine Dame. Du wirst sofort zu dieser Frau gehen und erklären, dass du nicht mitkommen kannst.«

»Nein!«, sagte Blanka: »Das kannst du ihr selber erklären. Wenn ich runtergehe, werde ich ihr die Wahrheit erzählen. Werde ihr erklären, dass ihr einen Ausflug ohne mich macht und mir trotzdem nicht erlaubt mit ihr zu fahren, weil ihr wollt, dass ich im Hotel bleibe, weil ihr wollt, dass ich mich nicht amüsiere.«

Alles Blut wich aus dem Gesicht ihrer Mutter. Die Pulsadern an den Schläfen traten zornig hervor. Ihre Augen funkelten vor unterdrückter Wut. »Das wagst du nicht!«, zischte sie.

Aber Blanka war zu allem entschlossen. Sie würde sich nicht alles vermiesen lassen von ihrer gehässigen Familie.

»Lass sie doch!«, mischte sich da Vater Ralf ein. »Soll sie doch mit dieser Rosa oder wie sie auch heißen mag, reisen.« Zu seiner Tochter sagte er. »Du brauchst dich hinterher nicht zu beschweren, dass wir dich nicht gewarnt und uns nicht um dich gekümmert haben! Einfach so mit einer wildfremden Frau loszuziehen. Wer weiß, was da alles passieren kann.«

Doch diese Worte sprach er in die Luft, denn Blanka rannte längst zur Treppe, um Rosa Bescheid zu sagen. Jetzt besaß sie die Erlaubnis ihrer Eltern. Darauf kam es an.

Den Rest des Tages erkundete sie das Hotel, nutzte den Pool und machte es sich auf der Sonnenliege bequem. Dabei fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, nach dem Ziel der Reise zu fragen. Ach! Unwichtig! Egal wo es hinging, es würde einen riesigen Spaß machen, ohne Aufpasser, ohne nörgelnde Familie die Gegend zu erkunden.

Als Blanka am nächsten Morgen zum Frühstück runter ging, entdeckte sie Rosa nirgendwo. Sie hatten sich zu 10:00 Uhr in der Hotelhalle verabredet. Jetzt war es gerade mal 9:00 Uhr. Also blieb ihr noch viel Zeit. Aber Blanka hatte gehofft, die alte Dame schon vorher zutreffen. Schließlich wollte sie noch nach dem Ziel der Reise fragen. Enttäuscht zog sie ein langes Gesicht.

Es gab unzählige Gründe, warum ihre Begleiterin heute nicht um diese Zeit beim Frühstück saß. Sie hatte vielleicht eher gegessen. Oder sie musste noch etwas erledigen? Wie sie ihr Glück kannte, war etwas dazwischen gekommen. Rosa lag bestimmt krank im Bett. Es konnte auch sein, dass die alte Dame nur verschlafen hatte. Diese Sorgen plagten sie so, dass sie kaum ihr Frühstück hinunter bekam. Nervös rutschte Blanka auf ihrem Stuhl hin und her. Immer wieder spähte sie zur Eingangstür, aber von ihrer Reisebekanntschaft fehlte jede Spur. Bei jedem Bissen fiel Blanka ein neuer Grund für die Absage des Ausflugs ein. Unter tausend Ängsten nahm sie ihr spärliches Gepäck und begab sich in die Hotelhalle, um Rosa zu suchen.

Diese indessen, war schon sehr früh aufgestanden. Nach einem zügigen Frühstück stieg Rosa die Treppe rauf, um zum Zimmer der Forbes zu gelangen. Als sie anklopfte, öffnete Helen Forbes die Tür. »Was wollen sie? Sie haben doch genug Schaden angerichtet. Falls sie Blanka suchen, die ist schon runtergegangen.«, sagte sie unwirsch. Ihr korpulenter Körper blockierte die Tür. Sie trug eine Art Morgenmantel, der mit großen, bunten Blumen gemustert war. Darin sah sie noch unvorteilhafter aus als sonst.

»Ich muss mit ihnen reden!«, sagte Rosa.

»Wir haben nichts zu bereden!«, kam die Antwort.

Im Hintergrund jaulte Lydia. »Wer ist da Mami? Ich möchte noch schlafen.«

»Schlaf nur mein Lämmchen!«, antwortete die Mutter. Dann versuchte sie, die Tür wieder zu schließen.

Aber mit Rosa war heute nicht zu spaßen. Mit einer entschlossenen Handbewegung stieß sie die Tür auf und trat ins Zimmer. »Wir können das gerne in aller Öffentlichkeit diskutieren!«, unterbrach sie den stammelnden Protest der verdutzten Frau. »Ich würde es vorziehen, diese unerfreuliche Angelegenheit mit ihnen unter vier Augen zu bereden.«

Eine kühnere Frau als Helen Forbes wäre unter dem Anblick der blitzenden Augen zusammengezuckt. Bleich murmelte sie. »Also, gut! Machen sie schnell! Wir haben noch nicht gefrühstückt.«

Doch mit dieser Bemerkung kam sie hier an die falsche Adresse. Rosa musterte angewidert den schlampigen Haushalt. Überall lagen Sachen verstreut. Es roch nach Schweißsocken. Vor Ekel hätte sie sich am liebsten die Nase zugehalten. Das war ja widerlich! Wenn schon das Hotelzimmer so aussah, welcher Schweinestall herrschte dann bei ihnen zu Hause. In diesem Haushalt hatte Blanka jahrelang leben müssen. Kalte Wut stieg in ihr hoch. Mit einem grimmigen Blick betrachtete sie die Frau ihr gegenüber. Diese wurde immer kleiner. Ein wimmernder Laut entfloh unwillkürlich Helen Forbes Lippen. So demütigend, war sie noch nie behandelt worden.

Mit unheilschwangerer Stimme fragte Rosa. »Wissen sie eigentlich, wer ich bin?«

Frau Forbes wagte es kaum, den Blick zu heben, und stammelte etwas von »Flugzeug« und »kennengelernt«.

»Ich bin die Frau, die vor fast zehn Jahren ein Mädchen zu ihnen brachte. Sie waren die einzigen Verwandten, die sie noch hatte. Damals versprachen sie mir, sich um Blanka zu kümmern. Sie wie ihr eigenes Kind zu behandeln. Dafür erhielten sie jeden Monat Geld, damit ihre Familie und somit auch Blanka in Wohlstand leben konnte. Erinnern sie sich nun an mich?« Bei jedem Satz war Rosas Stimme immer drohender geworden. Nichts erinnerte mehr an die ruhige, nette Dame aus dem Flugzeug. Nein im Gegenteil! Hier stand eine Frau, die Rechenschaft forderte.