Blattgold - Sebastian Schmidt - E-Book

Blattgold E-Book

Sebastian Schmidt

0,0

Beschreibung

In einer Pforzheimer Villa wird die Leiche einer Putzfrau aufgefunden. Es gibt keine Hinweise auf einen fremdverschuldeten Tod, doch das Anwesen, das der Unternehmerfamilie Ruf gehört, wurde offenbar durchsucht. Die Ermittlungen führen Hauptkommissarin Franziska Kusterer und ihr Team in die Pforzheimer Schmuckbranche, wobei ihnen schnell bewusst wird, dass dort nicht alles Gold ist, was glänzt. Bald kommt es zu einem weiteren rätselhaften Vorfall …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 421

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Sammlungen


Ähnliche


Sebastian Schmidt

Blattgold

Pforzheim-Krimi

Zum Buch

Tod in der Goldstadt In einer Villa am Pforzheimer Wartberg wird eine Putzfrau tot aufgefunden, die sich durch einen Sturz das Genick brach. War ihr Tod ein Unfall, oder steckt dahinter gar ein geplantes Verbrechen? Das Haus, das der ehemaligen Leiterin des Familienunternehmens „Ruf-Schmuck“ gehört, wurde zweifelsohne durchsucht. Es gibt allerdings weder Einbruchsspuren, noch scheint etwas entwendet worden zu sein. Das Ermittlerteam um Kriminalhauptkommissarin Franziska Kusterer findet schnell heraus, dass die Enkelin der Hausbesitzerin nur wenige Monate zuvor auf einem Reiterhof von einer vermummten Gestalt mit einer Schusswaffe bedroht wurde. Nur kurze Zeit nach dem mutmaßlichen Einbruch folgt ein weiterer rätselhafter Vorfall, und die Ermittler müssen sich die Frage stellen, wer es auf die renommierte Unternehmerfamilie abgesehen hat …

Sebastian Schmidt wurde 1995 in Pforzheim geboren und ist in Keltern aufgewachsen. Nach dem Abitur studierte er Geographie und Romanistik in Heidelberg und Santiago de Chile. Im Moment promoviert er in Salzburg im Fachbereich Geoinformatik. Neben Kriminalromanen zählen Fremdsprachen und Reisen zu seinen Leidenschaften. Am liebsten ist er dabei in Südamerika unterwegs, vor allem in Chile und Argentinien. „Blattgold“ ist sein erster Roman.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

     

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2022 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Einsamer Schütze

https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Schmuckmuseum_Pforzheim_Geb%C3%A4ude_03.jpg

ISBN 978-3-8392-7324-1

Widmung

Für meinen Vater.

Karte

 

Zitat

All that glisters is not gold

Often have you heard that told.

Many a man his life hath sold

But my outside to behold.

William Shakespeare, »The Merchant of Venice« (ca. 1596)

Prolog

Ein greller Blitz durchriss den dunkelblauen Augusthimmel. Die hohen Bäume, die den nahen Waldrand markierten, erschienen kurz, bevor sie wieder von der Dunkelheit verschluckt wurden. Starker Regen prasselte laut vom Himmel und formte Pfützen auf dem großen, geschotterten Vorplatz des Reiterhofs. Die danebenliegenden Koppeln waren verlassen, alle Pferde standen geschützt in ihren Boxen, die sich in zwei langen Hallen befanden. Mit großen Schritten eilte Sabrina durch eines dieser hell erleuchteten Gebäude. Sie hatte gerade einer anderen Reiterin geholfen, ein letztes verängstigtes Tier von der Koppel zu holen. Obwohl sie bereits alle Fensterläden geschlossen und die Deckenbeleuchtung entzündet hatte, bewegten sich manche Tiere weiterhin hektisch in ihren engen Boxen oder scharrten mit den Hufen auf dem harten Boden. Andere wieherten nervös.

Sabrina erreichte das Ende des Stalls, wo es eine Toilette und einen kleinen Abstellraum gab. Ihre Hand umfasste den wackligen Griff der Holztür und sie trat in das enge Bad ein, in dem eine alte, milchige Lampe die einzige Lichtquelle darstellte. Ihr Blick fiel in den angelaufenen Spiegel, aus dem eine junge, dünne Frau zurückschaute. Sie war kurz vor ihrem 20. Geburtstag und die Unerfahrenheit stand förmlich in ihren dunklen Augen. Sie trug ihre langen braunen Haare in einem Zopf, der durch den starken Regen unangenehm feucht war. Auffällig waren ihre großen Schneidezähne, für die sie in ihrer Kindheit oft gehänselt worden war.

Mit dem Unterarm wischte sie sich einen Wassertropfen von der Stirn, dann öffnete sie den Hahn und wusch ihre verdreckten Hände. Als sie die Tür hinter sich zuzog, ertönte der nächste laute Donner. Sie näherte sich zielstrebig einer der Boxen, in der ihr eigenes Pferd untergebracht war, ein schmucker Andalusier mit unregelmäßiger grauer Schattierung. Wie einige der anderen Tiere bewegte sich auch der schlanke weiße Hengst unruhig in dem kleinen Abteil. Als er seine Besitzerin bemerkte, streckte er den Kopf über das Tor und wimmerte leise.

»Ruhig. Ganz ruhig«, sagte Sabrina und streichelte ihn an seinen hellen Ohren. Für einen Moment musterte sie einen nahe stehenden Eimer, in den es von oben beständig tropfte. Der nächste Donner folgte krachend und das Pferd verkroch sich in den hinteren Teil seiner engen Box.

»Alles ist gut. Es ist bald vorbei«, versuchte Sabrina, es zu beruhigen, doch das Pferd kehrte nicht zu ihr zurück. Ungeduldig griff sie in ihre Jackentasche, aus der sie ein neues Smartphone hervorholte. Kurz fiel ihr Blick auf die Uhrzeit, dann wählte sie die Nummer ihres Freundes.

»Geh doch mal ran«, motzte sie leise, es meldete sich jedoch nur der Anrufbeantworter. Trotz des lauten Prasselns des Regens vernahm sie das freudige Bellen ihres Schäferhundes, den sie draußen an einem Unterstand angekettet hatte. In Gedanken versunken öffnete sie eine App, in der sich einige ungelesene Nachrichten reihten. Sie klickte auf den obersten Chat und wollte gerade damit beginnen, stürmisch einen Text zu tippen, als urplötzlich das Licht im Stall erlosch. Nur das grelle Display ihres Handys und eine Laterne auf dem Vorplatz sorgten nun für eine schwache Beleuchtung.

»Nicht schon wieder«, murmelte Sabrina genervt und aktivierte die Taschenlampenfunktion, ohne den Text abzuschicken. Sie leuchtete sich den Weg durch den lang gezogenen Stall, ehe sie den Sicherungskasten erreichte, der sich beim offen stehenden Scheunentor befand. Mit einer Hand entriegelte sie den Verschluss des Kastens und warf einen Blick ins Innere. Der Stromkreis, der die Deckenbeleuchtung abdeckte, schien intakt zu sein, denn keine einzige Sicherung war herausgesprungen.

Verwirrt lehnte Sabrina die Tür des Sicherungskastens an und ging ein paar Schritte in Richtung des offenen Scheunentors, neben dem ein Lichtschalter angebracht war. Zaghaft schaute sie nach draußen. Eine einzige Laterne beleuchtete die immer größer werdenden Pfützen auf dem breiten Vorplatz, auf dem lediglich ein paar Anhänger nebeneinanderstanden. Ein weiterer Blitz schlug irgendwo in der Umgebung ein und kurz konnte man in seinem Licht sogar die nahen, mit Elektrozäunen umspannten Koppeln sehen.

»Komisch«, flüsterte Sabrina und drückte auf den Lichtschalter, wodurch sich die langen Leuchtröhren an der Decke augenblicklich wieder entzündeten. Schnell folgte der nächste tiefe Donner und mehrere Pferde wieherten panisch auf. Mit langsamen, unbesorgten Schritten ging Sabrina zurück auf die andere Seite des Stalls, wobei sie ihr Handy an den Mund hielt, um eine Sprachnachricht aufzunehmen.

»Hey, Yannick. Ich hab dich gerade nicht erreicht. Ich bin noch im Stall, ist alles gut so weit. Meine Mutter sollte in ein paar Minuten hier sein und mich abholen. Ich komme dann erst morgen wieder bei dir vorbei. Hab dich lieb.«

Sie wartete einen Moment, bis die Sprachnachricht versendet wurde, was bei dem schlechten Empfang auf dem Hof länger dauerte als gewöhnlich. Dann steckte sie ihr Handy wieder in die Jackentasche und wandte sich einem anderen Pferd zu, das sich eingeschüchtert in eine Ecke seiner Box gezwängt hatte.

»Willst du vielleicht was futtern? Das lenkt dich bestimmt vom Gewitter ab«, sprach sie in ruhiger Tonlage mit dem hellbraunen Hannoveraner, der bewegungslos an der Wand kauerte. Sie wollte gerade nach einem Eimer voll Karotten und Äpfel greifen, als das Licht erneut ausging.

»What the fuck«, fluchte sie, doch dieses Mal breitete sich ein unbehagliches Gefühl in ihrem Magen aus. Mit Hilfe ihrer kleinen Handytaschenlampe machte sie sich ein weiteres Mal auf den Weg zum Ausgang. Der Schein ihres Smartphones huschte mit ihren Bewegungen über den betonierten Boden, auf dem vereinzelte Strohhalme lagen. Sie war noch einige Meter vom offenen Scheunentor entfernt, als sie aufsah.

Mittig im Türrahmen stand eine dunkle Gestalt. Auch wenn Sabrina nur eine schlanke, hochgewachsene Silhouette erkennen konnte, gab es keinen Zweifel, dass es sich um einen Mann handelte. In seiner rechten Hand hielt er eine Pistole, die nach unten auf die metallene Schwelle gerichtet war.

Augenblicklich blieb Sabrina in der Mitte des Stalls stehen. Ihr Herzschlag schien plötzlich ausgesetzt zu haben. In ihrer verängstigten Überraschung wusste sie nicht einmal mehr, wie sie atmen sollte. Das laute Prasseln des Regens und das ängstliche Wimmern der Pferde füllten den Raum. Draußen hallte das aufgeregte Bellen des angeketteten Schäferhundes erneut über den breiten Vorplatz. Der Unbekannte verharrte bewegungslos auf der Schwelle des breiten Tores, kein einziges Wort verließ seine Lippen. Einen Moment schien er zu zögern, dann hob er langsam seinen Arm und richtete die Pistole auf Sabrina, die noch gut fünf Meter von ihm entfernt war.

»Bitte«, keuchte sie, verwundert, dass überhaupt Laute ihre Lippen verließen. »Nein … Was wollen Sie?«

Ihre Stimme war nichts als ein leises Jammern und klang bei Weitem ängstlicher als die panischen Pferde, die sie umgaben. Ein weiterer Blitz erhellte das Gelände und beleuchtete kurz die düstere Silhouette des Fremden, der weiterhin schwieg. Er trug eine durchfeuchtete dunkle Regenjacke und hatte eine schwarze Sturmhaube über sein Gesicht gezogen. Unentschlossen verweilte er in seiner Position, dann machte er einen einzigen Schritt auf Sabrina zu. Eine leise Träne lief ihre Wange hinab.

Aus dem Nichts ertönte plötzlich ein Motorengeräusch. In der Ferne, hinter den abgestellten Anhängern, durchbrachen zwei Scheinwerfer die Dunkelheit. Irgendwo in der Ferne war leise der Glockenschlag eines Kirchturms zu vernehmen. Der unbekannte Mann schaute hektisch über seine Schulter, wobei er seinen Arm ein Stück weit senkte. Wieder ertönte das ekstatische Bellen des Schäferhundes. Kurz schien der Fremde zu dem Tier hinüberzusehen, dann drehte er sich ruckartig wieder um und visierte Sabrina ein weiteres Mal an. Ein Pferd hätte sofort versucht, die Flucht zu ergreifen, doch sie stand da wie angewurzelt. Sabrina starrte auf den Lauf der Waffe, die sie nur schemenhaft erkannte. Sie rechnete damit, dass jeden Moment ein lauter Knall ertönen würde, der sogar den wiederkehrenden Donner in den Schatten stellen sollte. Doch zu ihrer Überraschung senkte der Mann die Waffe schlagartig. Einen kurzen Moment spürte sie seinen durchdringenden Blick, auch wenn sie seine Augen nicht sehen konnte. Dann drehte er sich um, rannte zur Seite und verschwand in die Dunkelheit.

Kapitel 1

Vier Monate später. Montag. Noch 18 Tage.

Der wässrige Espresso tropfte langsam aus der Düse des Automaten. Obwohl der nachfolgende Milchschaum einen genießbareren Eindruck machte, rümpfte Franziska Kusterer beim Anblick ihres Cappuccinos enttäuscht die Nase. Vorsichtig kostete sie das dampfende Gebräu. Der einsetzende Geschmack war nicht besser als erwartet.

»Was hat das Ding gekostet?«, fragte sie einen Kollegen, der gerade lautstark den Kühlschrank der Kaffeeküche geschlossen hatte.

»Auf alle Fälle zu viel«, meinte sie, nachdem er nur mit den Achseln gezuckt hatte, und streckte die Tasse so weit es ging von sich. Mit leicht hängenden Schultern verließ sie den Raum und trottete zurück in Richtung des Büros der Kriminalpolizei, in dem sie schon seit einigen Jahren arbeitete. Am Ende des kurzen, tristen Ganges öffnete sich gerade ein Aufzug, aus dem ihr Kollege Thomas Wengler trat. Er war ein paar Jahre jünger als Kusterer, gerade Anfang 40, und außerordentlich groß gewachsen. Seine dunkelblonden Haare waren kurz und sauber geschnitten, er trug einen dichten Dreitagebart. Seine sportliche Figur steckte in einem dunklen Pullover, um seinen Hals war ein modischer Schal geschlungen.

»Guten Morgen«, begrüßte er seine Kollegin mit schwachem bayerischem Dialekt. Er war erst vor wenigen Monaten aus dem Werdenfelser Land nach Pforzheim gezogen, wo er sich außerordentlich schnell in das Ermittlerteam integriert hatte.

»Morgen«, entgegnete Kusterer mit weitaus weniger Elan.

»Wie ich sehe, hast du die neue Maschine schon ausprobiert«, sagte er und deutete auf die beinahe volle Tasse, die Kusterer immer noch weit von sich hielt.

»Ja, ist schlimmer als die alte.«

»Wer hätte das gedacht?«, scherzte Wengler und lächelte herzlich. »Wir haben ja zum Glück auch eine eigene im Büro.«

Kusterer warf einen Blick auf ihre schnörkellose Armbanduhr, die sie einst von ihrem Exmann zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Genervt stieß sie Luft aus.

»Du kannst den Feierabend wohl gar nicht erwarten.«

»Ein längeres Wochenende wäre mir auf jeden Fall recht gewesen«, meinte sie und gemeinsam gingen sie weiter in Richtung ihres Büros.

»Stress zu Hause?«, erkundigte er sich.

»Könnte man sagen«, antwortete sie nur und versuchte, nicht an ihre störrische Tochter zu denken.

Die beiden bogen um eine Ecke in einen weiteren langen Gang. Am Ende befand sich ein Sekretariat, das erst vor einigen Monaten ein Facelift erhalten hatte und nun mit seiner großen Glasscheibe und hellen Möblierung deutlich einladender wirkte als die meisten anderen Räume der Pforzheimer Polizeiinspektion. Die Tür stand offen, doch aus Gewohnheit klopfte Franziska Kusterer kurz an den Rahmen, um die Aufmerksamkeit der Sekretärin auf sich zu ziehen. Claudia Schweiger war eine wahre Institution und konnte mühelos als die gute Seele der gesamten Abteilung bezeichnet werden. Sie war Mitte 50 und strahlte zumeist eine beruhigende Gemütlichkeit aus. Als sie das Klopfen am Türrahmen vernahm, löste sie ihren Blick von dem großen Computerbildschirm, hinter dem sie beinahe vollständig verschwand.

»Guten Morgen, Franziska. Hattest du ein schönes Wochenende?«

»Nicht wirklich. Du?«

Kusterer trat über die Türschwelle und lehnte sich an den hellen Tresen an.

»Ja, schon. Danke der Nachfrage«, sagte Schweiger und fuhr sich kurz durch die blondierten Haare, ehe sie von ihrem Bürostuhl aufstand. »Ich habe Post für dich, vom Landeskriminalamt. Vermutlich zu dieser Akte von letzter Woche«, fuhr sie fort, holte einen dicken verschlossenen Umschlag aus einem Regal und reichte ihn der Hauptkommissarin.

»Danke dir.«

»Und der Herr Bischof ist auch schon da, wenn auch zu früh. Ich hab ihn in den Besprechungsraum eins geschickt.«

Kusterer musterte das braune Kuvert gedankenverloren, weswegen sie einen Moment benötigte, um überhaupt auf die Aussage der Sekretärin zu reagieren.

»Was?«, fragte sie verwirrt.

»Hast du das etwa vergessen?« Claudia Schweigers Augenbrauen hoben sich. Vermutlich hatte sie diesen Blick als Mutter schon häufiger benutzt.

»Gut möglich«, gestand die Hauptkommissarin langsam. »Bischof war der Name?«

»Ja, Manuel Bischof. Der neue Kollege? Ist gerade mit der Ausbildung fertig geworden.«

»Ach, stimmt«, erinnerte sie sich wenig begeistert.

»Er ist im Besprechungsraum, hast du gesagt?«

»Ja, Nummer eins«, wiederholte Claudia Schweiger.

»Gut. Dann hoffen wir mal, dass wir keinen zweiten Fischer bekommen haben«, meinte Kusterer und die Sekretärin schüttelte nur belustigt den Kopf. »Und auch keine zweite Köhler«, sagte die Hauptkommissarin zu sich selbst. Dann öffnete sie die Tür zu ihrem Büro, bei dem es sich um das größte auf dem Stockwerk handelte. Neben unzähligen Aktenschränken gab es sechs Schreibtische, von denen nur einer seit Monaten unbesetzt war. Bei der hohen Anzahl an Kollegen war Kusterer froh, dass ihre Position als Erste Kriminalhauptkommissarin das Privileg eines abgetrennten Arbeitsplatzes mit sich brachte, auch wenn es sich dabei um ein kleines verglastes Séparée mit alten, zugigen Fenstern handelte. Mit den ersten Sonnenstrahlen im Sommer staute sich dort die Hitze und durch den fehlenden Durchzug wurde die Luft schnell stickig. Im Winter hingegen trat der umgekehrte Effekt ein und es war stets unangenehm kalt.

Kusterer durchquerte den großen Raum, in dem bisher nur Thomas Wengler an seinem Schreibtisch saß. Auch am Arbeitsplatz von Hayat Kaplan, einer jungen Kollegin, brannte bereits eine Schreibtischlampe. Die Hauptkommissarin öffnete die Tür zu ihrem Séparée und schmiss ihre Handtasche frustriert auf den bequemen Lederstuhl, der ihr manch schweren Arbeitstag erleichterte. In einem lang erprobten Bewegungsablauf hängte sie ihre Jacke über einen Haken, schaltete ihren PC an und drehte die Heizung auf. Sie überflog schnell den Betreff ihrer neuen E-Mails, doch nichts schien interessant oder dringend genug zu sein, um den Termin mit dem neuen Kollegen weiter hinauszuzögern. Unmotiviert stand sie wieder auf und schnappte ihre Kaffeetasse. Eine zweite Tür führte direkt aus dem Großraumbüro in einen geräumigen Besprechungsraum, in dem Manuel Bischof auf sie wartete.

»Der neue Kollege ist da. Willst du mit rein?«, fragte sie Wengler, der gleich den Kopf schüttelte.

»Nein. Ich halte hier die Stellung.«

Mit hängenden Schultern blieb die Hauptkommissarin ein paar Momente vor der weißen Tür stehen. Nachdenklich musterte sie die große Magnetpinnwand, die direkt gegenüber ihrem Séparée hing und mit Ausdrucken und Notizen überladen war. Dann öffnete sie die Tür, in der Hoffnung, das anstehende Gespräch so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.

Manuel Bischof wirkte auf den ersten Blick unscheinbar. Er hatte einen langen, schlanken Oberkörper und ein freundliches Gesicht mit einer schlichten dunkelblonden Kurzhaarfrisur. Als er die Hauptkommissarin bemerkte, sprang er von seinem Stuhl auf, wodurch dieser etwas ins Kippen geriet.

»Guten Morgen, Frau Kusterer!«, begrüßte er sie enthusiastisch.

»Morgen«, entgegnete sie, wobei ihre Stimmlage dem exakten Gegenteil seiner nervösen Vorfreude entsprach. Sie reichte ihm kurz die Hand, die er vor lauter Aufregung etwas zu fest drückte.

»Setzen Sie sich doch bitte«, meinte Kusterer. »Nun, herzlich willkommen bei der Pforzheimer Kriminalpolizei. Wenn alle Kollegen eingetroffen sind, stelle ich Sie vor und dann wird Sie jemand durch unsere Räumlichkeiten führen. Meinen Namen kennen Sie ja schon, ich leite dieses Dezernat als Erste Kriminalhauptkommissarin. Wir kümmern uns um alle Kapital-, Sexual- und Amtsdelikte. Wenn Sie irgendwelche Fragen haben, dürfen Sie sich gerne an mich wenden. Gibt es schon welche?«

»Was denn?«

»Fragen?«

»Ähm … An was für einem Fall arbeiten Sie im Moment?«, erkundigte er sich und seine Stimme klang dabei schüchterner, als sie erwartet hatte.

»Wir arbeiten gerade einen ungeklärten Vermisstenfall aus Keltern von vor knapp 15 Jahren auf. In der Hoffnung, dass sich durch technische Innovationen neue Hinweise ergeben. Was bisher nicht geschehen ist«, meinte sie und räusperte sich. »Momentan ist es ziemlich ruhig, aber wir sind in der Adventszeit, Weihnachten steht vor der Tür, und erfahrungsgemäß geht es da noch etwas rund. Noch Fragen?«

»Sie sagen, Sie sind zuständig für …«

Kusterer seufzte kurz. »Vor allem schwere Straftaten – also Mord, Entführungen, Brandstiftungen, Sie wissen schon, Sexualdelikte, Erpressungen. Die ganze Kriminalpolizeidirektion ist in verschiedenen sogenannten Inspektionen organisiert. Manche Kollegen kümmern sich vor allem um Raub und Jugendkriminalität. Dann gibt es die Wirtschaftskriminalität, Organisierte, Cyber. Sie werden bald sehen, wie alles zusammenhängt.«

»Danke«, antwortete er schnell.

»Am besten gehen Sie gleich zu unserer Sekretärin, Frau Schweiger. Mit ihr haben Sie, soweit ich weiß, ja auch schon gesprochen. Von ihr bekommen Sie die Zugangsdaten für den PC. Und dann können Sie sich in aller Ruhe einrichten.«

»Mach ich«, sagte er, stand von seinem Stuhl auf und verließ motiviert den Raum. Die Hauptkommissarin blieb noch einen Moment sitzen und schüttelte den Kopf über den Elan des neuen Kollegen. Sie griff nach ihrer Tasse und nahm einen Schluck vom mittlerweile kalten Cappuccino. Angewidert verzog sie ihr Gesicht.

Einige Stunden später starrte Franziska Kusterer in ihrem Séparée auf den großen Computerbildschirm. Eine Weile betrachtete sie Fotos, die damals kurz vor dem Verschwinden der Frau auf einem Weinfest in der Dietlinger Kelter entstanden waren, dann drehte sie ihren Kopf und sah durch die Glasscheibe in das Großraumbüro, in dem ihre Kollegen allesamt an ihren Schreibtischen saßen. Manuel Bischof hatte den leeren Arbeitsplatz bezogen und wandte ihr den Rücken zu. Neben ihm lagen bereits mehrere dicke Akten, die er fleißig studierte. Auf seinem Bildschirm konnte die Hauptkommissarin ein Dokument erkennen, in dem er sich schon einige Notizen gemacht hatte. Bischof gegenüber saß Thomas Wengler, der den Telefonhörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt hatte und hektisch ein paar Wörter auf ein Blatt Papier kritzelte. Schwungvoll knallte er den Hörer einige Sekunden später auf und erhob sich hastig aus seinem Stuhl. Mit großen Schritten erreichte er Kusterers offen stehende Bürotür.

»Entschuldige die Störung.«

»Kein Problem. Was ist?«

»Der KDD hat gerade angerufen. Scheint so, als hätten wir einen neuen Fall.«

Auf Franziska Kusterers Gesicht breitete sich ein erfreutes Lächeln aus.

Wenige Minuten später fuhr Thomas Wengler auf die Luisenstraße auf, die das Polizeipräsidium von breiten Gleisanlagen trennte. Sie passierten das schlichte Gebäude des Pforzheimer Hauptbahnhofs und den danebenliegenden Zentralen Omnibusbahnhof, dessen moderne weiße Dächer an UFOs erinnerten. Über die Nordstadtbrücke fuhren sie in den namensgebenden Stadtteil, in dem sich die schmucklose Architektur der Innenstadt größtenteils fortsetzte.

»Da vorne rechts«, sagte Kusterer, kurz bevor sie die erste größere Kreuzung erreichten, wo Wengler an der roten Ampel anhalten musste. Während die Hauptkommissarin neugierig durch die Fenster eines Chinarestaurants blickte, sah ihr Kollege über den Rückspiegel nach hinten, wo Manuel Bischof stumm Platz genommen hatte.

»Sind Sie schon aufgeregt, Herr Bischof?«, fragte Wengler, obwohl er sich die Antwort allein durch den Anblick des neuen Kollegen bereits denken konnte.

»Wie bitte?«

»Ob Sie aufgeregt sind?«, wiederholte Wengler lauter.

»Das ist aber nicht Ihr erstes Tötungsdelikt, oder?«, hakte die Hauptkommissarin nach, ohne eine Antwort auf die erste Frage abzuwarten.

»Nein, ist es nicht«, antwortete er wenig überzeugend.

»Wir wissen noch nicht einmal, ob es ein Tötungsdelikt ist. Nur, dass eine Tote gefunden wurde«, korrigierte sie Wengler.

»Ich hab das im Gefühl. Weibliche Intuition«, meinte Kusterer, während sie gerade über die breite Kreuzung fuhren.

»Ach ja, weibliche Intuition?«, neckte sie ihr Kollege.

»Du klingst ja fast schon wie unser geliebter Fischer.«

»Gott bewahre«, entgegnete der Bayer.

Sie passierten den breiten Parkplatz eines großen Supermarktes und erreichten kurz darauf die lang gezogene Redtenbacherstraße, die beidseitig von parkenden Autos gesäumt war. Langsam zog sie sich bergauf, wobei die angrenzende Bebauung zunehmend offener wurde. Nach einigen kleinen Schrebergärten erschien das lange, erhöht liegende Hauptgebäude des Kepler-Gymnasiums auf der linken Straßenseite. Auf der Höhe einer Bushaltestelle bog Thomas Wengler auf den Unteren Wingertweg ab.

»Haben Sie was zum Schreiben dabei, Herr Bischof?«, erkundigte sich Kusterer, woraufhin der junge Kollege gleich panisch seine Jackentaschen durchsuchte.

»Nein. Tut mir leid«, antwortete er schließlich beschämt.

»Alles gut«, meinte die Hauptkommissarin und reichte ihrem Kollegen einen kleinen Notizblock und einen blauen Kugelschreiber nach hinten.

Der polizeiliche Dienstwagen blieb am Straßenrand stehen und Franziska Kusterer stieg aus, noch bevor Thomas Wengler den Motor abstellen konnte. Die Wohngegend, die sich am sonnigen Südhang des Wartberges erstreckte, bestand größtenteils aus unauffälligen Einfamilienhäusern mit kleinen Gärten. Da die erhöhte Lage schon seit jeher bei den reicheren Eigentümern der Stadt beliebt war, gab es allerdings auch vereinzelte protzigere Bauten.

»In welches Haus müssen wir denn?«, fragte Manuel Bischof, der seine Hände gegen die Kälte in die Jackentaschen gesteckt hatte.

»Ich habe keine Ahnung. Thomas?«

»Sie müssen noch den Berg hoch«, hörten sie eine Stimme von der anderen Seite der Straße, wo ein polizeilicher Van geparkt hatte. Mario Lazzari, ein Mitarbeiter des Erkennungsdienstes, schloss gerade die Kofferraumtür des Fahrzeugs. Er war ein großer Mann, Mitte 30, mit dunklen, etwas längeren Haaren, der im Präsidium aufgrund seines außerordentlich guten Aussehens beinahe berüchtigt war. Er bückte sich nach einem grauen Plastikkoffer, den er auf dem Asphalt abgestellt hatte, und überquerte dann die Straße.

»Oben ist nicht so viel Platz, deswegen haben wir auch hier geparkt.« Sein Blick blieb etwas überrascht an Manuel Bischof hängen. »Wie ich sehe, haben Sie Verstärkung mitgebracht«, sagte Lazzari und schüttelte schnell alle Hände.

»Ja, das ist unser neuer Kollege, Herr Bischof. Sie sagten, wir müssen den Berg weiter hoch?«, schob die Hauptkommissarin schnell eine Frage nach und folgte Mario Lazzari, der zügig voranschritt.

»Richtig. Gleich hier.« Er zeigte geradeaus auf eine schmale Straße, die ins Grüne führte.

»Geht es da nicht in den Wald?«, fragte Wengler und blieb abrupt stehen, sichtlich verwirrt vom Anblick eines Sackgassenschildes.

»Nein, da oben sind noch ein paar Häuser und Schrebergärten«, erklärte die Hauptkommissarin und ging weiter bergauf, ohne nur eine Sekunde zu zögern. Auf der linken Seite erschien bald eine hohe, sauber geschnittene, wenn auch blätterlose Ligusterhecke, die von einem Zaun eingegrenzt und einem hübschen Doppeltor durchbrochen wurde.

»Das müsste eigentlich schon das Grundstück sein«, meinte der Kriminaltechniker und wies mit einer kurzen Kopfbewegung auf den lang gestreckten, steil ansteigenden Garten, der durch die verästelte Hecke zu sehen war. Interessiert näherte sich Kusterer dem weitmaschigen Zaun und sah ins Innere. In einiger Entfernung thronte ein schmuckes Wohnhaus am Hang. Über einem Kellergeschoss mit kleinen Fenstern befand sich ein schmaler zweistöckiger Seitenflügel, dessen Obergeschoss von einem flach zulaufenden Giebeldach abgeschlossen wurde. Auf der linken Seite des Hauses war die Rückwand einer Garage zu erkennen. Eine kleine Terrasse war dem Hauptflügel des Gebäudes vorgelagert, auf dem die Kriminaltechnik bereits ein weißes Zelt aufgebaut hatte.

Als sie schwer atmend an der nächsten Kreuzung angekommen war, betrachtete Franziska Kusterer kurz das spitz zulaufende Nachbargrundstück, das ausschließlich aus wild gewachsenen Bäumen, Hecken und Dornengewächsen bestand.

»So einen Saustall möchte man auch nicht nebenan haben«, stellte sie fest.

»Immerhin ist es gegenüber schön«, meinte Thomas Wengler, der die brachliegenden Gemüsebeete eines großen Gartens im Blick hatte, dessen Umzäunung teilweise von einer kleinblättrigen, wintergrünen Hecke überdeckt wurde.

»Das können Sie sich gleich merken, Herr Bischof. Die Umgebung ist unglaublich wichtig für die meisten Ermittlungen. Am besten sehen Sie sich später hier etwas um. Vielleicht gibt es Verstecke, Fluchtwege, Stellen, von denen man gut beobachten kann. Hier fallen mir zum Beispiel genügend Ecken auf, die nicht richtig einsehbar sind.«

»Lass uns erst reingehen, bevor wir uns über solche Dinge Gedanken machen«, meinte Wengler und zeigte nach vorne, wo ein Absperrband über die schmale Straße gespannt war. Zielstrebig näherten sich die drei Ermittler und Mario Lazzari dem klein gewachsenen Beamten, der dort den Einlass kontrollierte.

»EKHK Kusterer«, sagte die Hauptkommissarin und zeigte aus Routine ihren Dienstausweis vor, auch wenn der Mann sie schon von Weitem erkannt hatte. Er machte sich eine kurze Notiz auf einem Klemmbrett und widmete sich dann ihren Kollegen. Kusterer duckte sich währenddessen unter dem im seichten Wind flatternden rot-weißen Absperrband hindurch. Gedankenverloren passierte sie drei polizeiliche Fahrzeuge, die mittig auf der Straße standen. In der Einfahrt des Anwesens parkte zudem ein silberner Audi, der glänzte, als wäre er gerade frisch aus dem Autohaus gekommen. Kusterers aufmerksame Augen glitten über die Fassade, vorbei an einem großen, blätterlosen Zierbaum in einem Terrakottatopf und einem weihnachtlichen Leuchtstern in einem Fenster des Obergeschosses, bis sie die Haustür erreicht hatten. Mittig vor dieser wartete Wolfgang Fischer, der älteste Ermittler im Team. Er war ein großer, stattlicher Mann, dessen dichter Bart bereits seit Jahren ergraut war. Der helle Farbton setzte sich auf seinem Haupthaar allerdings nur stellenweise fort, wo es noch einige unregelmäßige bräunliche Stellen gab. Viel charakteristischer als seine auffällig große Nase war ein stets grimmiger Gesichtsausdruck, den er auch an diesem Nachmittag aufgesetzt hatte.

Franziska Kusterer löste ihren Blick von ihm, da sie im Augenwinkel eine Überwachungskamera bemerkt hatte, die den direkten Eingangsbereich erfasste. Manuel Bischof, der knapp hinter ihr zum Stehen gekommen war, folgte ihrem Vorbild und sah sich ebenfalls aufmerksam um.

»Sehen Sie die Kamera da oben? Schreiben Sie sich gleich auf, dass wir die überprüfen müssen«, wies sie ihn an und ging dann endlich in Richtung der Eingangstür, wo Fischer die Arme vor seiner Brust verschränkt hatte.

»Da sind Sie ja endlich«, begann er das Gespräch und seine Stimme klang tief und kratzig.

»Im Gegensatz zu Ihnen nehmen wir Rücksicht auf unsere Kollegen und halten uns stets an die Straßenverkehrsordnung«, entgegnete Kusterer schnippisch. »Was haben wir?«

»Eine weibliche Leiche. Todesumstände noch unklar. Die Leute, die sie gefunden haben, warten im Van«, klärte Fischer seine Chefin auf und zeigte auf das große Fahrzeug, das die Ermittlerin eben erst achtlos passiert hatte.

»Haben wir schon die Identität der Toten?«, erkundigte sich die Hauptkommissarin schnell.

»Ja, sie heißt Melek Özkan, Ende 40, türkischer Herkunft. Sie ist wohl die Treppe hinuntergefallen. Die Kollegen wissen noch nicht, ob fremdverschuldet oder nicht«, fasste Wolfgang Fischer seinen bisherigen Kenntnisstand zusammen, den sich Kusterer umgehend notierte.

»Sie wohnt hier, nehme ich an?«

»Nein, sie war wohl die Putzfrau oder Haushaltshilfe der Besitzerin. Mehr weiß ich auch noch nicht.«

»Und wer hat die Leiche gefunden?«, fragte Thomas Wengler.

»Die Hausbesitzerin Hildegard Ruf und ihr Sohn, ein gewisser Christian Ruf«, antwortete Wolfgang Fischer.

»Christian Ruf?«, entgegnete die Hauptkommissarin verwundert und sah schlagartig von ihrem Notizblock auf.

»Ja. Kennen Sie ihn etwa?«, fragte Fischer und runzelte seine Stirn, die erstaunlicherweise noch faltiger werden konnte, als sie ohnehin schon war.

»Nicht privat«, antwortete Kusterer schnell und verfiel dann einen Moment in eine nachdenkliche Stille. »Von Ermittlungen. Sie müssten ihn eigentlich auch kennen.«

»Namen sind nicht meine größte Stärke.«

»Ja, das weiß ich«, meinte sie nur. »Ich spreche gleich mit den beiden. Gehen Sie ruhig schon einmal rein.«

»Sie müssen dann später außen rum und über die Terrasse ins Haus«, klärte Fischer sie auf, bevor sich die Hauptkommissarin abwenden konnte.

»Wieso?«, kam ihr Thomas Wengler mit einer Nachfrage zuvor.

»Weil die Leiche gleich hinter der Haustür liegt. Können wir?«, fragte der Kollege und folgte eiligen Schrittes einem schmalen, sauber geplättelten Weg, der an der Hauswand entlangführte.

Franziska Kusterer begutachtete den gepflegten Vorgarten noch einen Moment, bis all ihre Kollegen aus ihrem Sichtfeld verschwunden waren, dann ging sie zurück zur Straße und näherte sich dem großen polizeilichen Van. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sich drei Personen im Inneren des Fahrzeuges aufhielten. Eine junge Polizistin hatte auf dem Fahrersitz Platz genommen, während die beiden mutmaßlichen Zeugen auf der Rückbank warteten. Kusterer nickte ihrer Kollegin kurz zu, die sie gleich erkannte, dann öffnete sie die seitliche Schiebetür.

Hildegard Ruf war bereits Ende 70, hatte sich aber außerordentlich gut gehalten. Ihre weißen Haare reichten bis an die Ohren, an denen hübsche goldene Ohrringe steckten. Sie war auffällig geschminkt und hatte einen blutroten Lippenstift aufgetragen. Unter ihrer teuer aussehenden Winterjacke lugte eine beige Bluse hervor, die in ihrer Eleganz doch etwas altmodisch wirkte. Ihre Augen waren starr nach unten auf den dunklen, etwas dreckigen Fahrzeugboden gerichtet, ihre knochigen Hände hatte sie auf dem Schoß gefaltet.

Ihr gegenüber, auf einer rückwärts eingebauten Sitzbank, hatte ihr Sohn Christian Platz genommen. Er war Ende 40 und hatte keinerlei Ähnlichkeit mit seiner Mutter. Während sie trotz ihrer augenscheinlichen Bestürzung eine gewisse Wärme ausstrahlte, waren seine Gesichtszüge hart und ausdruckslos. Seine kurzen braunen Haare waren sauber gekämmt und mit etwas Gel gestylt. Auf seinen Wangen verteilten sich ein paar wenige kurze Bartstoppeln.

»Guten Tag«, begrüßte Franziska Kusterer die beiden, ohne aber das Innere des polizeilichen Fahrzeugs zu betreten.

»Frau Kusterer«, erinnerte sich Christian Ruf an ihren Namen.

»Dürfte ich einen Moment mit Ihnen sprechen?«

»Selbstverständlich.«

»Franziska Kusterer, Erste Kriminalhauptkommissarin«, stellte sie sich kurz vor, da sie Hildegard Ruf noch nie zuvor getroffen hatte. »Wenn es für Sie in Ordnung ist, würde ich gerne getrennt mit Ihnen sprechen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, kurz rauszukommen, Herr Ruf?«

»Nein, natürlich nicht«, entgegnete er und folgte der Hauptkommissarin, die sich ein paar Meter vom Fahrzeug entfernte. Kurz fiel ihr Blick auf das wuchtige Nachbarhaus, dessen Einfahrt man von hier einsehen konnte. Trotz der langsam einsetzenden Dämmerung brannte dort in keinem der Fenster Licht. Zumindest im Erdgeschoss schienen zudem alle Rollläden verschlossen zu sein.

»Sie haben sie also gefunden?«, fragte Kusterer und drehte sich zu Christian Ruf um.

»Ich habe sie zuerst gesehen, ja.«

»Wie gut kannten Sie denn Frau …«, sie linste auf ihren Notizblock, »Frau Özkan?«

»Nicht besonders gut. Sie putzt schon seit einigen Jahren für uns, aber ich … Ich hatte nie viel mit ihr zu tun.«

»Das ist das Haus Ihrer Mutter, ist das richtig?«, fragte sie und zeigte dabei mit ihrem Kugelschreiber auf die Fassade des schmucken, gepflegten Anwesens, dessen Baustil jedoch verriet, dass es schon einige Jahre auf dem Buckel hatte.

»Ja. Sie wohnt hier allein, seit mein Vater gestorben ist.«

»Schildern Sie mir bitte genau, wie Sie Frau Özkan gefunden haben.«

»Ich habe meine Mutter am Bahnhof abgeholt und wir sind hergefahren«, sagte er und räusperte sich. »Dann habe ich die Haustür aufgeschlossen und da lag sie ja gleich. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Ist Ihnen an der Eingangstür etwas aufgefallen? Oder gab es vielleicht ein offenes Fenster, eine offene Tür?«, erkundigte sie sich.

»Nein, es war alles wie immer«, antwortete er schnell, doch dann erschien ein nachdenklicher Ausdruck auf seinem Gesicht. Franziska Kusterer wollte gerade zu einer Nachfrage ansetzen, als er sich an eine Unstimmigkeit erinnerte. »Die Haustür war nicht abgeschlossen. Das hat mich gleich gewundert. Meine Mutter schließt die Haustür immer zweimal ab, wenn sie das Haus verlässt. Vor allem, wenn sie längere Zeit nicht da ist.«

»Sie hatten also nicht erwartet, dass Frau Özkan im Haus sein würde? Verstehe ich das richtig?«

»Ja, das hatte ich nicht.«

»Um wie viel Uhr sind Sie ungefähr hergekommen?«

»So gegen drei würde ich sagen. Ich habe gleich die Polizei verständigt«, verkündete er, während sich Kusterer erneut hastig Notizen machte. Durch die dunklen Wolken des nachmittäglichen Himmels fiel nur noch wenig Licht, sodass ihr das Schreiben etwas Mühe bereitete.

»Wissen Sie noch, wann Sie Frau Özkan das letzte Mal gesehen haben?«

»Nein, tut mir leid. Letzte Woche, würde ich sagen.«

»Hier im Haus?«

»Nein, sie putzt auch in meiner Firma.«

»Und seit wie vielen Jahren hat Frau Özkan für Sie gearbeitet?«

»Das müsste ich in den Unterlagen nachsehen. Auf die Schnelle würde ich sagen, vielleicht seit acht oder neun Jahren.«

»Gut, vielen Dank«, sagte Kusterer und blickte an Christian Ruf vorbei, wo ein paar Polizisten gerade das Grundstück verließen, um routinemäßig die Anwohner zu befragen. Kusterer bemerkte gleich, dass Manuel Bischof ebenfalls von einem ihrer Kollegen mit dieser Aufgabe bedacht worden war.

»Ich würde dann noch gerne kurz mit Ihrer Mutter sprechen«, wandte sie sich wieder an Christian Ruf.

»Ja, natürlich. Aber fragen Sie sie bitte nicht zu viel. Das war ein ziemlicher Schock.«

»Selbstverständlich. Würden Sie bitte einen Moment hier warten?«

Mit großen Schritten kehrte Franziska Kusterer zu dem polizeilichen Van zurück, in dem Hildegard Ruf weiterhin unbewegt auf der bequemen Rückbank verweilte. Gedankenverloren schaute sie auf die gegenüberliegende Lehne und bemerkte die Hauptkommissarin erst, als diese die Schiebetür öffnete und in das unbeheizte Innere kletterte.

»Frau Ruf, fühlen Sie sich in der Lage, kurz mit mir zu reden?«

»Ja, ich denke schon«, antwortete die ältere Dame und musterte ihre bleichen Hände. »Ich kann es immer noch nicht glauben. Ich habe noch am Freitag mit ihr telefoniert. Und jetzt das.«

»Wie lange kannten Sie Frau Özkan denn?«, fragte Kusterer, nahm Platz und entzündete eine Leselampe an der Fahrzeugdecke.

»Sie arbeitet bereits seit ein paar Jahren für mich hier im Haus. Und davor war sie auch schon in unserem Firmengebäude. Es sind bestimmt schon über zehn Jahre.«

»Welche Arbeiten hat Frau Özkan denn durchgeführt?«

»Sie hat sauber gemacht«, sagte Hildegard Ruf und auf ihrem Gesicht erschien ein kurzes Lächeln, das sie beinahe jugendlich wirken ließ. »Die Fenster geputzt, gewischt, abgestaubt, Bad und Toilette gereinigt.« Als sie nach einer nachdenklichen Pause weitersprach, klang ihre Stimme etwas belegt. »Ich mochte Melek wirklich. Sie war immer sehr gründlich und auch sehr freundlich. In all den Jahren gab es nicht ein einziges Problem mit ihrer Arbeit.«

»Würden Sie sagen, dass Sie Frau Özkan, von dieser«, Kusterer suchte nach Worten, »geschäftlichen Beziehung abgesehen, kannten? Wissen Sie vielleicht etwas über ihr Privatleben?«

»Nun, ich möchte nicht behaupten, dass ich sie wirklich gekannt hätte. Aber in all der Zeit haben wir doch ab und an zusammen einen Tee getrunken und uns unterhalten. Und bei der Gelegenheit hat sie mir natürlich auch etwas über sich erzählt.«

»An was können Sie sich erinnern?«, hakte Kusterer in ungewohnt sanftem Ton nach. Aus irgendeinem Grund war ihr Hildegard Ruf auf Anhieb sympathisch.

»Ich weiß, dass ihr Mann schon seit Jahren keine Arbeit findet. Das hat sie sehr belastet. Deswegen hat sie immer viel gearbeitet, nicht nur bei mir. Aber ich weiß nicht, wo sie sonst noch angestellt war.«

»Was ist mit ihrem Mann? Wissen Sie mehr über ihn?«, kam Kusterer auf eine Aussage zurück, die sie gleich hellhörig gemacht hatte.

»Nein, tut mir leid. Ich kann mich gerade an nichts Weiteres erinnern. Ich weiß nur, dass die beiden keine Kinder haben.«

Die Hauptkommissarin legte den Notizblock auf ihrem Oberschenkel ab und schrieb ein paar schwer entzifferbare Worte nieder. »Haben Sie Herrn Özkan persönlich kennengelernt?«

»Nein«, meinte Hildegard Ruf bestimmt und schüttelte den Kopf. »Das heißt, ich habe ihn auf jeden Fall einmal gesehen, vielleicht auch zweimal. Er hat sie mal vor der Firma abgeholt. Das ist aber schon einige Jahre her. Ich kann mich nicht daran erinnern, je mit ihm gesprochen zu haben.«

»Ihr Sohn meinte, Sie kamen vorhin am Hauptbahnhof an. Ist das richtig?«

»Ja. Ich habe eine alte Freundin für ein paar Tage in Tübingen besucht. Eigentlich hatte ich vor, bis Mittwoch zu bleiben, aber sie ist gesundheitlich etwas angeschlagen. Da wollte ich nicht länger stören.«

Franziska Kusterer hob unbewusst ihre Augenbrauen. »Und wer wusste, dass Sie früher heimkommen würden?«, fragte sie nach.

»Ich hatte nur Christian Bescheid gesagt. Also, ich denke, niemand außerhalb der Familie wusste Bescheid.«

»Ihr Sohn hat Sie also abgeholt?«

»Ja, genau. Das hatten wir gestern telefonisch so ausgemacht. Zum Laufen ist es doch sehr weit und ich fahre nicht gerne Bus oder Taxi. Dafür bin ich dann doch zu geizig«, gestand sie und das warme, elegante Lächeln tauchte wieder in ihrem Gesicht auf. »Er war schon auf dem Bahnsteig, als der Zug ankam. Ich musste also nicht einmal auf ihn warten. Dann sind wir gleich hergefahren und er hat in der Einfahrt geparkt. Er hat die Haustür aufgeschlossen und da …«, sie pausierte, »da haben wir sie gesehen.«

»Ist Ihnen am Haus etwas aufgefallen? War etwas anders als sonst?«, erkundigte sich Kusterer.

»Nein, zumindest nicht von außen. Wir haben aber gleich bemerkt, dass jemand eingebrochen sein musste. Das Chaos im Atelier ist ja nicht zu übersehen.«

»Verstehe«, murmelte die Hauptkommissarin, die es gar nicht mehr erwarten konnte, endlich das Innere des Gebäudes besichtigen zu können. Hastig fügte sie ihren Notizen ein paar weitere, für Außenstehende unleserliche Linien an. »Solange die Kriminaltechnik das Haus nicht freigegeben hat, dürfen Sie es leider nicht betreten. Für uns wäre es allerdings sehr hilfreich, wenn Sie schon jetzt mit einem Kollegen eine Liste erstellen würden, von allen Gegenständen, die für einen Einbrecher interessant sein könnten.«

»Ja, selbstverständlich.«

»Was könnte denn möglicherweise fehlen?«

»Nun, als ehemalige Leiterin einer Schmuck- und Uhrenfirma ist es selbstverständlich, dass ich Schmuckstücke im Haus habe. Die wirklich wertvollen verwahrt aber mein Sohn beziehungsweise die Bank. Geld habe ich eigentlich nie besonders viel da, vielleicht 200 Euro, im Schlafzimmer. Ich besitze auch etwas Kunst, ein paar kleinere Plastiken, die wertvoll sind. Die Gemälde im Haus stammen aber alle von mir selbst. Ich bin eine leidenschaftliche Malerin, deswegen habe ich auch das Atelier.« Auf ihrem Gesicht erschien erneut ein sanftes Lächeln, doch genauso schnell war es wieder verschwunden und Hildegard Ruf in ein bedrücktes Schweigen verfallen.

»Mir ist eben eine Überwachungskamera an Ihrer Haustür aufgefallen«, wechselte Kusterer hoffnungsvoll das Thema.

»Ja, das ist sogar eine ziemlich neue. Aber wir haben hier schon seit langer Zeit Überwachungskameras. Das Haus ist doch etwas abgelegen.«

»Wie viele Kameras haben Sie denn?«, hakte die Hauptkommissarin nach.

»Zwei, eine pro Eingangstür. Christian hat das alles einrichten lassen. Ich kenne mich mit der ganzen Technik nicht aus. Wenn Sie Fragen haben, müssen Sie sich an ihn wenden.«

»Haben Sie auch eine Alarmanlage?«

»Ja, aber nur an der Terrassentür«, antwortete Hildegard Ruf. »An der Haustür habe ich aber ein einbruchsicheres Schloss einbauen lassen«, erklärte sie, was sich Kusterer gleich notierte.

»Haben Sie vielleicht einen Zweitschlüssel irgendwo auf dem Grundstück versteckt?«, stellte sie eine weitere Frage, die bei Ermittlungen zu potenziellen Einbrüchen bereits zu ihrem Standardrepertoire zählte.

»Nein, das habe ich nicht. Das war mir schon immer zu unsicher«, antwortete Hildegard Ruf und klang dabei beinahe empört.

»Wer hat denn alles einen Schlüssel für das Haus?«

»Mein Sohn hat zwei Schlüssel. Und Melek hat einen Schlüssel, damit sie auch putzen konnte, wenn ich nicht da war.« Hildegard Ruf hielt kurz inne und ihr Blick fiel nach draußen, auf ein brachliegendes Gemüsebeet des Nachbargartens. »Ich denke, dass einfach jemand bemerkt hat, dass ich nicht zu Hause war«, mutmaßte sie schließlich.

Nachdem sie sich die weiße Schutzkleidung übergestreift hatte, stieg die Hauptkommissarin die wenigen Stufen hinauf, die von der Terrasse in das Gebäude führten. In der breiten Fensterfront spiegelten sich klein die unschönen Plattenbauten des Haidachs, einer Großwohnsiedlung am gegenüberliegenden Hang. Durch die offen stehende Tür betrat Kusterer ein langes Wohnzimmer, in dem es eine großzügige Essecke und eine breite dunkelbraune Schrankwand gab. Gegenüber hingen einige kleine Gemälde an der hellen Tapete, die allesamt Wiesenblumen abbildeten. Thomas Wengler, der neben zwei altmodischen Sesseln stand, bemerkte seine Chefin gleich und winkte sie zu sich.

»Du musst in den Flur«, meinte er und deutete hinter sich.

»Wie weit sind wir schon?«, erkundigte sie sich, als sie ihn erreicht hatte.

»Noch ganz am Anfang. Der Kollege Knoll hat allerdings mittlerweile mit der Befragung der Nachbarn begonnen. Vielleicht hat ja jemand etwas bemerkt. Ich hab den Neuen gleich mitgeschickt. Ich hoffe, das war okay?«

»Ja, klar. Haben wir schon die Heimadresse von Melek Özkan bekommen? Sie war wohl verheiratet. Wir sollten ihren Ehemann also möglichst zeitnah verständigen.«

»Ja, die Frau Köhler hat sich bereits darum gekümmert.«

»Und die Adresse stimmt auch?«, fragte Kusterer misstrauisch, woraufhin ihr Kollege kurz lachte.

»Das werden wir dann wohl sehen.«

»Kannst du im Büro anrufen und Frau Kaplan herbitten? Richte ihr aus, dass ich sie gerne dabeihätte, wenn wir den Ehemann verständigen.«

»Alles klar«, sagte Wengler, passend zu seiner allgemein unkomplizierten Art. Kusterer nickte dankbar, bevor sie den breiten Hausgang betrat. Sie bemerkte das von Hildegard Ruf angesprochene Atelier zu ihrer Linken, doch bevor sie sich dem dort herrschenden Chaos widmen konnte, hatte die andere, hell erleuchtete Seite des Flurs ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Am äußersten Rand der Fliesen war vom Erkennungsdienst bereits eine Linie mit Tape angebracht worden, auf der sich alle am Tatort anwesenden Personen bewegen mussten, um eine Verfälschung potenzieller Spuren möglichst zu verhindern. Kusterer wandte sich dem leblosen Körper zu, der auf dem kalten Fliesenboden unweit der Haustür lag.

Melek Özkan war eine klein gewachsene Frau. Sie hatte sehr dunkle, knapp schulterlange Haare, die sie in einem Pferdeschwanz trug, und eine spitze Nase. Sie lag mit dem Gesicht nach oben in einer großen dunkelroten Blutlache. Ihr linker Arm war ein Stück weit nach außen gestreckt, während der rechte an ihrem kurzen Oberkörper anlag. Sie trug eine dunkle Hose und eine dicke blaue Winterjacke, die sich durch das ausgeströmte Blut bereits sichtlich verfärbt hatten.

»Kein schöner Anblick, das ganze Blut«, meinte Kusterer, als sie sich dem leblosen Körper genähert hatte. Sie bemerkte gleich eine Handtasche, die auf einem flachen hölzernen Schuhschrank neben der Küchentür stand. Darüber hing ein weiteres kleines Gemälde einer bunten Blumenwiese an der weißen Rauputzwand. Einen Moment verweilten die Augen der Hauptkommissarin auf der billig aussehenden Tasche, dann wandte sie sich wieder der Toten zu.

»Das sind Leichen selten«, entgegnete Joachim Augenstein, der Leiter des Erkennungsdienstes. Er kniete neben der Verstorbenen, direkt am Rand der dunklen Blutlache. Langsam richtete er sich auf und kam der Hauptkommissarin ein Stück weit entgegen. Die wenigen gräulichen Haare, die noch auf seinem Kopf wuchsen, wurden von der Kapuze der Schutzkleidung verborgen, standen allerdings in der Regel in alle Himmelsrichtungen ab.

»Was ist denn mit Ihnen los?«, fragte Kusterer, die seine gequälten Bewegungen gleich bemerkt hatte.

»Mein Bruder hat mich gestern zum Bouldern mitgeschleppt. Mir tut alles weh«, sagte er und stemmte seine Hände in die Hüften. »Los geht’s. Schmeißen Sie mir Fragen an den Kopf, die ich noch nicht beantworten kann.«

Die Hauptkommissarin musste lächeln. »Was wissen Sie denn schon?«

»Nicht allzu viel. Wir sind noch keine Stunde da. Die Rechtsmedizin ist übrigens auch schon auf dem Weg, wird aber noch dauern. Ich vermute allerdings, dass die Todesursache ein Sturz war. Sie hat eine große Wunde am Schädel und auch am Hals. Ich könnte mir vorstellen, dass sie sich das Genick gebrochen hat.«

»Könnte also ein Unfall gewesen sein?«

»Ja und nein«, antwortete Augenstein und Kusterers Augen leuchteten auf. »Haben Sie sich das restliche Haus schon genauer angesehen?«

»Nein, ich bin gerade erst reingekommen.«

»Es wurde eindeutig durchsucht. Und der mutmaßliche Einbrecher ist dabei nicht wirklich sanft vorgegangen. Vor allem da hinten im Atelier sieht es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Oben gibt es ein Büro, das auch durchsucht wurde.«

Kusterer drehte ihren Kopf nach rechts, wo die geräumige, hell eingerichtete Küche des Hauses lag.

»Dort scheint niemand gewesen zu sein. Zumindest gibt es keine offensichtlichen Spuren«, meinte Augenstein, der ihren interessierten Blick gleich bemerkt hatte. Unterhalb des Fensters, durch das man die Rhododendren des Vorgartens erkennen konnte, befand sich eine saubere und aufgeräumte Arbeitsfläche, auf der Fensterbank standen ein paar Kräuter in bemalten Töpfen. Die stählerne Spüle glänzte im Schein der Deckenbeleuchtung und auch das dunkle Ceranfeld war auffällig fleckenlos.

»Ich weiß, Sie sind noch nicht lange da. Können Sie mir trotzdem schon eine Einschätzung bezüglich der Spurenlage geben?«, wandte sie sich wieder an den Leiter des Erkennungsdienstes.

»Puh, das ist schwer zu sagen. Spuren gibt es haufenweise, aber vieles sieht eben nach ganz normalen Haushaltsspuren aus. Wie gesagt, augenscheinlich durchsucht wurden nur zwei Zimmer, das Arbeitszimmer oben und das Atelier. Da sind wir aber mit der Sicherung noch ein paar Stunden beschäftigt. Bisher haben wir auf jeden Fall schon einige Fingerabdrücke und Haare festgestellt. Aber ob die vom Täter stammen, möchte ich vorerst bezweifeln«, fasste er zusammen.

»Danke fürs Erste«, sagte Franziska Kusterer. Im wilden Durcheinander der Spurensicherung hatte die Hauptkommissarin die tiefe Stimme von Wolfgang Fischer vernommen, den sie durch den Türrahmen des Ateliers sehen konnte. Trotz der umhüllenden Schutzkleidung war sein grimmiger Gesichtsausdruck auch aus einiger Entfernung unverkennbar. Sie folgte dem langen Klebestreifen zurück zum Eingang des großzügigen Studios, in dem sich ihr Kollege gerade mit einem Kriminaltechniker austauschte.

Neben Regalen voller Utensilien und kleinen Plastiken fiel der Hauptkommissarin beim Eintreten gleich eine große Staffelei ins Auge, die beinahe mittig im Raum platziert war. Aufgespannt war eine quadratische Leinwand mit knapp einem Meter Kantenlänge. Der ursprünglich weiße Grund war bereits komplett übermalt worden, wobei dunkle Farben das Motiv dominierten. Am unteren Bildrand meinte Kusterer, schemenhaft Bäume und die Silhouette eines Kirchturms zu erkennen. Auffälliger waren jedoch ein paar bunte Striche im oberen Teil des Bildes, das offensichtlich noch nicht fertiggestellt war.

»Und was sehen Sie?«, fragte Wolfgang Fischer die Hauptkommissarin, der ihr Eintreten bemerkt hatte. Hinter ihm befand sich ein großer Schreibtisch mit zahlreichen Schubladen, die teilweise offen standen. Auf der Arbeitsfläche waren Schreibutensilien und Dokumente wild durcheinandergeworfen worden, manche hatten auch den Weg auf den Boden gefunden. Auch unterhalb des großen Regals lagen einige Pinsel und Farbtuben auf dem hellen Parkett.

»Schwer zu sagen«, wich sie aus. Ihr eigentliches Interesse galt der Unordnung, die sich von dem sonst so penibel aufgeräumten Haus abhob wie ein dunkler Fleck auf einem weißen Kleid.

»Mich erinnert es an ein Feuerwerk«, meinte der groß gewachsene Kriminaltechniker, mit dem sich Fischer zuvor unterhalten hatte, und der Kommissar schnaubte amüsiert.

»Für mich sind es ein paar Striche und Punkte. Aber ich kann mit Kunst eh nichts anfangen.« Er warf der Hauptkommissarin einen seiner grimmigen Blicke zu. »Sie sind bestimmt nicht hergekommen, um mit mir über Gemälde zu philosophieren.«

»Nein, in der Tat nicht«, meinte Kusterer, ging an der Leinwand vorbei und auf eines der Fenster zu. Sie schaute nach draußen, wo sich die Dämmerung zunehmend über den Südhang legte. Obwohl die hohe Ligusterhecke die Sicht in das Nachbargrundstück erschwerte, konnte man das Flachdach des protzigen Wohngebäudes von hier gut erkennen.

»Haben Sie schon etwas gefunden?«, fragte die Hauptkommissarin, ohne ihren Blick von der darauf befindlichen Photovoltaik-Anlage abzuwenden.

»Ist ein ziemliches Chaos. Es scheint, als hätte der Täter einfach wild Schubladen aufgerissen und die erstbesten Gegenstände auf den Schreibtisch geworfen. Dasselbe bei den Regalen. Wirkt ziemlich planlos.«

»Hildegard Ruf erstellt gerade eine Übersicht ihrer Wertgegenstände. Dann wissen wir vielleicht schon bald, was fehlt«, sagte Kusterer und drehte sich um. »Und dann wirkt das alles vielleicht nicht mehr ganz so planlos«, fügte sie mit einem absichtlich provokativen Unterton an.

»Wenn Sie das meinen.«

»Wissen wir eigentlich schon, wie der Täter ins Haus gekommen ist?«, erkundigte sich die Hauptkommissarin, ohne auf seinen Kommentar einzugehen.

»Wer sagt, dass es nur ein Täter war? Vielleicht waren es ja auch mehrere.«

»Wissen wir es?«, ignorierte sie seinen Einwand, obwohl es ihr auf der Zunge brannte, ihn darauf hinzuweisen, dass er selbst gerade von einem einzigen Täter gesprochen hatte. Einen Moment lang funkelten die beiden sich stumm an.

»Die Kollegen sind dran«, sagte Fischer und brach schließlich den Blickkontakt.

»Sie haben gerade mit der Terrassentür angefangen«, ergänzte der Kriminaltechniker, der das Gespräch der beiden wohl aufmerksam verfolgt hatte.

»In Ordnung. Dann spreche ich gleich mit ihnen.«

Mit nur wenigen Schritten erreichte sie das angrenzende Wohnzimmer, dessen Einrichtung sie sogleich inspizierte. Da gab es einen geschnitzten Holzelefanten, der in einem Abteil der dunklen Schrankwand stand. Gegenüber war ein schwarz-weißes Familienfoto aufgestellt, das ein kleines Mädchen und eine junge Frau zeigte, vermutlich dessen Mutter. Zwei große weiße Kerzen standen mittig auf dem massiven Esstisch, an dem Thomas Wengler sich gerade ein Asservat genauer ansah. An der Gardinenstange hing ein Traumfänger mit bunten Federn. Auf dem flachen, runden Glastisch der Sitzgruppe befand sich ein schlichter Adventskranz, hinter dem ein weiteres eingerahmtes Bild aufgestellt war. Neben Hildegard Ruf stand dort die gesamte vierköpfige Familie ihres Sohnes auf einer grünen, sommerlichen Wiese. Ein alter Schäferhund lag zentral vor den Erwachsenen im sauber gemähten Gras. Die Enkel von Hildegard Ruf knieten auf den entgegengesetzten Seiten des Haustiers.

Franziska Kusterer löste ihren Blick von der Fotografie und näherte sich der breiten Scheibenfront, auf deren Fensterbank unzählige Bromelien und Orchideen blühten. Darunter war ein niedriger Heizkörper zu erkennen, der das Alter des Hauses verriet. Drei Mitarbeiter der Kriminaltechnik untersuchten gerade die offene Terrassentür, wodurch es im Wohnzimmer bereits unangenehm kühl geworden war.

»Wo hab ich denn jetzt …«, murmelte Mario Lazzari, der von innen das Schloss prüfte, und sah sich hektisch um. Bevor er einen breiten Rußpinsel vom nahen, großen Esstisch holen konnte, bemerkte er die Hauptkommissarin.

»Ich sollte mir echt mal merken, wo ich meine Sachen hinlege«, meinte er und grinste.

»Solange Sie mir keine Beweisstücke vergessen … Schon etwas gefunden?«, fragte sie und deutete auf die Tür.

»Bisher noch keine Einbruchsspuren, wenn Sie das meinen. Wir haben schon einen Rundgang gemacht und uns alle Fenster angesehen, die nicht zu klein oder schwer zugänglich sind, und zumindest keine offensichtlichen Spuren feststellen können. Es gibt drei Türen ins Haus, diese, die Haustür und einen Zugang vom Garten zur Garage. Wir brauchen hier aber noch Zeit«, erklärte er und ging zum Esstisch. Während er sprach, musterte Kusterer ein kleines weißes Kästchen am Türrahmen.

»Ist das eine Einbruchssicherung?«, erkundigte sie sich, woraufhin Lazzari seinen Kopf drehte.

»Ähm, ja. Die war auch aktiv. Wir haben sie nur deaktiviert, um ungestört arbeiten zu können«, erklärte er, während er den Spezialpinsel beständig zwischen seinen Fingern drehte. »Es könnte natürlich auch sein, dass eine der Türen oder ein Fenster offen stand und der Täter es selbst geschlossen hat. Das kann man schwer überprüfen.«

»Frau Ruf war ein paar Tage verreist. Daher halte ich das für unwahrscheinlich.« Nachdenklich senkte die Hauptkommissarin ihren Blick auf das neu aussehende Schloss der Terrassentür. »Das heißt, der Täter hatte eventuell einen Schlüssel«, schlussfolgerte sie.

»Oder er wurde ins Haus gelassen«, fügte Thomas Wengler an, der immer noch am Esszimmertisch verweilte, und Kusterer drehte sich ruckartig zu ihm. »Falls Melek Özkan schon im Haus war, meine ich«, ergänzte er.

»Ja, das ist auch möglich«, stimmte sie ihm zu.

»Vielleicht hatte sie ja auch eine Tür geöffnet, zum Lüften«, schlug Mario Lazzari vor. »Wie auch immer, wir bleiben dran. Falls sich etwas Neues ergibt, sind Sie natürlich die Erste, die es erfährt«, meinte er und zwinkerte der Hauptkommissarin zu.