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Ein Selbstinterview zur Frage, ob Sitze im Parlament unter Nichtwählern verlost werden sollen. Diese Vorgehensweise, die erst einmal kontraintuitiv erscheint, kann aber bei der Lösung vieler aktueller Probleme helfen und der nächste Schritt in der Weiterentwicklung der Demokratie sein.
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Seitenzahl: 104
Einleitung
Generelle Idee
Demokratisches Argument
Psychologisches Argument
Reaktionen
Gegenargumente
Rechtliche Umsetzung
Technische Umsetzung
Parlamentarische Praxis
Bundestagswahl 2017
Inspiration
Zusammenfassung
Index
Literaturverzeichnis
Nun, wir sprechen hier, weil ich Ihnen hier meine Idee für eine neue demokratische Ordnung, ja ein neues Demokratieverständnis, vorstellen möchte. Aber bevor ich das mache, möchte ich noch ein paar andere Themen darstellen, damit die Grundannahmen klar sind.
Anteil der Nichtwähler bei den Bundestagswahlen.
Welche Themen wären das?
Die Stellung der Politik in der aktuellen Gesellschaft. Und damit verbunden auch die Stellung der Politiker. Es ist ja unbestritten, dass wir in einer Zeit leben, in der Politik im Leben der meisten Menschen keine große Rolle spielt. Eine Folge davon sehen wir deutlich an den Wahlbeteiligungen. Sie nehmen ab. Bei den Bundestagswahlen hatten wir bis zur Bundestagswahl 1983, mit Ausnahme der ersten Wahl im Jahre 1949, immer Anteile der Nichtwähler von 10 % bis 15 %. Seit der Jahrtausendwende liegt der Anteil typischerweise zwischen 20 % und 30 %. Das können Sie kaum bestreiten.
Aber die Wahlbeteiligung fluktuiert ja stark.
Deswegen rede ich ja auch in Jahrzehnten.
Aber es gab in dieser Zeit auch andere Vorgänge, die die Wahlbeteiligung beeinflussen können.
Ja, natürlich. Aber das ändert nichts an meiner Aussage. Und ich möchte betonen, dass der Anstieg extremer ist, als es auf den ersten Blick aussieht.
Warum?
Der Anteil der Nichtwähler hat sich in etwa verdoppelt. Gehen wir davon aus, dass es einen in etwa konstanten Anteil von Personen gibt, die zum Beispiel kurzfristig erkranken oder verreisen.
Also deren Nichtteilnahme an der Wahl nicht absichtlich ist?
Genau. Wenn wir annehmen, dass dieser Anteil konstant ist, entfällt ein viel größerer Anstieg auf die absichtlichen Nichtwähler.
Anteil der Nichtwähler bei den Landtagswahlen in Hamburg und Nordrhein-Westfalen.
Aber wir wissen nicht, wie groß der Anteil der unabsichtlichen Nichtwähler ist.
Richtig. Und zu sagen, wie groß der Anteil ist, wäre jetzt Spekulation von mir. Man kann aber sagen, dass sich der Anteil der absichtlichen Nichtwähler mindestens etwa verdoppelt hat. Und wenn wir uns Landtagswahlen anschauen, zum Beispiel Nordrhein-Westfalen und Hamburg als zwei sehr unterschiedliche Länder, dann sehen wir den gleichen Prozess auf höherem Niveau: Von einem Anteil von etwa 20 % bis 30 % vor 1990 auf etwa 40 % seit der Jahrtausendwende. Und, da habe ich die Zahlen gerade nicht zur Hand, aber bei Kommunalwahlen und Europawahlen wird es ähnlich sein.
Und was wollen Sie damit zeigen?
Ich möchte zeigen, dass die Politikverdrossenheit in den letzten Jahrzehnten gestiegen ist. Wollen Sie das bestreiten?
Nein. Denn nicht zur Wahl zu gehen kann ja ein Ausdruck von Politikverdrossenheit sein.
Anzahl der Parteimitglieder (in Millionen) der größten Parteien für den Zeitraum von 1990 bis 2019. Zahlen von [1].
Und wir müssen uns fragen, wo das hinführen wird. Die Wahlbeteiligungen können ja nicht immer weiter abnehmen. Und nicht nur die Wahlbeteiligungen nehmen ab, auch die Mitgliederzahlen der Parteien nehmen ab. Im Jahre 1990 waren noch über zwei Millionen Deutsche Mitglied in einer der großen Parteien. Bis heute ist diese Zahl auf etwa eine Million gefallen, das heißt sie hat sich in knapp 30 Jahren etwa halbiert. Die innerparteiliche Demokratie wird dadurch geschwächt, unsere Abgeordneten rekrutieren sich aus weniger Parteimitgliedern. Das ist ja auch eine Entwicklung, die sich nicht ewig fortsetzen kann. Und ich würde ebenso behaupten, dass das politische Wissen des Durchschnittsbürgers abnimmt. Der Hauptberührungspunkt mit der Politik für die meisten Menschen ist doch nur, wenn sie als Quelle der Aufregung beim Lesen oder Anschauen der Nachrichten dient. Ich würde sogar sagen, die meisten Menschen haben eine gewisse Politikverdrossenheit. Würden Sie da zustimmen?
Wenn Sie die Gesellschaft als Ganzes betrachten, vielleicht ja. Es gibt Teile, die eher unpolitisch oder desinteressiert sind. Und es gibt Teile, die politikverdrossen sind. Wir haben aber auch Teile der Gesellschaft, die sehr politisch interessiert und engagiert sind.
Ja, also nur ein Teil ist politisch aktiv, sei es engagiert oder informiert. Aber das ist ein Problem. Denn ich sage, Politik geht alle an. Und ich sage sogar, Politik geht auch jeden einzelnen im gleichen Maße an. Das ist doch der Grundgedanke unserer Demokratie, einer Demokratie, in der jeder die gleichen Rechte besitzt. Stimmen Sie da zu?
Ja. Die gleichen Rechte hat ja jeder.
Und dadurch, dass wir einen Teil der Gesellschaft haben, der sehr politikinteressiert ist, andere Teile aber nicht, spalten wir doch die Gesellschaft.
Das stimmt, aber es ist ja erst einmal nur eine Unterscheidung, genauso als ob ich die Gesellschaft in Fußball-Interessierte und -Uninteressierte aufteile.
Ja, aber zum einen geht, wie ich gesagt habe, Politik alle an, im Gegensatz zu Ihrem Beispiel. Zum zweiten rekrutieren sich die Politiker aus dem Politik-interessierten Teil der Gesellschaft. Die Politiker, die dann uns alle, egal ob interessiert an Politik oder nicht, regieren. Und da besteht die Gefahr, dass diese Politiker nicht Politik für alle machen, sondern nur für die politisch Interessierten.
Diese Gefahr besteht. Und deswegen wollen Sie die Teilung der Gesellschaft aufheben.
Aufheben vielleicht nicht, das wäre utopisch. Abschwächen ist möglich. Dazu ist es nötig, dafür zu sorgen, dass diejenigen, die sich nicht für Politik interessieren, mehr in politische Entscheidungen eingebunden werden und mehr Ahnung von Politik haben. Und deswegen müssen wir auch über die Rolle der Politiker reden.
Wie kommen Sie von Politikverdrossenheit auf die Rolle der Politiker?
Ich meine nicht, ob Politiker politikverdrossen sind oder ob sich Politiker über Politik aufregen, das ist gerade nicht so wichtig. Das Ansehen der Politiker bei durchschnittlichen Menschen, also dem Großteil der Wahlberechtigten, ist was mir Sorge bereitet. Wenn es eine Umfrage gibt, welche Berufsgruppen das geringste Ansehen haben, sind Politiker meist vorne dabei. Und das sollte nicht sein, denn sie sind ja die Personen, die die grundlegenden Entscheidungen treffen. Und des weiteren führt es ja dazu, dass viele Leute nicht Politiker werden wollen. Und wenn sich die Politiker, also die Leute, die wichtige Entscheidungen treffen, sich nicht aus den fähigsten Leuten der Bevölkerung rekrutieren können, wird das zu einem Problem. Wir wollen ja möglichst fähige Politiker haben.
Und wie wäre das zu lösen?
Ich glaube nicht, dass man das ändern kann, indem man Politikern neue Regeln auferlegt mit dem Ziel, sie zu besserem Verhalten zu zwingen um damit ihr Ansehen zu verbessern. Oder eine neue Image-Kampagne startet. Ich glaube, da muss man an den Grundpfeilern unserer Demokratie etwas ändern.
Wäre das nicht eine zu starke Änderung, eine Änderung, die vielleicht Gefahr läuft über das Ziel hinausschießt?
Zugegeben, das hörte sich jetzt vielleicht etwas hochtrabend von mir an. Was ich machen möchte, ist ja erst mal nur eine kleine Änderung. Eine kleine Änderung, die größere Änderungen nach sich zieht. Und wenn die Änderung erfolgreich ist, wird man vielleicht in hundert Jahren nicht mehr verstehen, warum man das nicht schon immer so gemacht hat, so wie es für uns heute ja unverständlich ist, dass früher Frauen nicht wählen durften, oder dass nur Landbesitzer wählen durften. Da kommt jetzt meine Idee ins Spiel.
Würden Sie uns Ihre Idee kurz vorstellen? Was ist Ihre so kleine Änderung, die große Änderungen bewirkt?
Gehen wir der Einfachheit halber von einem System aus, in dem die Sitze im gesetzgebenden Parlament proportional zum Anteil der auf eine Partei abgegebenen Stimmen verteilt werden. Das bedeutet, bekommt eine Partei zum Beispiel 30 % der Stimmen, bekommt sie auch 30 % der Parlamentssitze. Dies ist näherungsweise in Deutschland der Fall, wir ignorieren erst mal Feinheiten wie die Unterscheidung zwischen Erststimmen und Zweitstimmen, Überhangmandate und die Fünf-Prozent-Hürde. In solch einem System ist die Wahlbeteiligung irrelevant, da es nur auf Anteile an abgegebenen Stimmen ankommt. Also ist eine Stimmenthaltung eine verlorene Stimme. Ein Nichtwähler hätte genauso gut nicht existieren können, es hätte auf die Sitzverteilung, und auf die kommt es ja letztlich an, keinen Einfluss gehabt.
Ja, das ist das aktuelle System, wenn auch, wie gesagt, vereinfacht. Und was wollen Sie daran ändern?
Die Grundidee meiner Änderung ist relativ einfach. Wenn es eine Wahl eines Parlaments gibt, zum Beispiel eine Bundestagswahl, dann soll nur ein der Wahlbeteiligung entsprechender Anteil der Parlamentssitze an zur Wahl stehende Politiker vergeben werden, die restlichen Sitze werden unter den Nichtwählern verlost.
Für eine Bundestagswahl hieße das?
Wenn zum Beispiel 70 % der Wahlberechtigten zur Wahl gehen, dann werden auch nur 70 % der Bundestagsmandate an Politiker aus den Parteien vergeben, die restlichen Mandate werden unter den 30 % Nichtwählern verlost. Eine Partei, die in diesem Beispiel 50 % der Stimmen bekommt, bekommt dann nicht 50 % der Sitze, sondern nur 50 % von 70 %, also 35 % der Sitze, entsprechend den 35 % der Wahlberechtigten, die für die Partei gestimmt haben.
Und andere Wahlen?
Genauso könnte man es auch bei Landtagswahlen, Kommunalwahlen und Wahlen zum Europaparlament machen. Und ich würde es ebenso machen mit einem Zuschauerrat für das öffentlich-rechtliche Fernsehen, zum Beispiel.
Bleiben wir bei politischen Wahlen. Kern Ihrer Änderung ist also, dass die Entscheidung, nicht zur Wahl zu gehen, aufgewertet werden soll?
Ja. Ich möchte kurz darauf hinweisen, dass das Grundgesetz ja vorschreibt, dass die Wahl zum Bundestag eine “gleiche” Wahl sein soll. Was genau als gleich zu verstehen ist, ist im Grundgesetz nicht geregelt. Ich wurde sagen, dass die Wahl nicht gleich ist, wenn sie die Entscheidung nicht zur Wahl zu gehen, nicht berücksichtigt.
Alle Wahlberechtigten sind gleich und alle Wähler sind gleich.
Da kommen wir jetzt in die Auslegung. Was ich nur sagen will: Falls mein System erfolgreich sein sollte, wird sich das Verständnis des Wörtchens “gleich” in Zukunft ändern. Ich möchte, dass es einen Unterschied macht, dass jemand, der nicht zur Wahl geht, überhaupt existiert. Eine Möglichkeit die Entscheidung der Nichtwähler, gerade nicht zur Wahl zu gehen, zu berücksichtigen, wäre eben nur einen der Wahlbeteiligung entsprechenden Prozentsatz der Parlamentssitze an Politiker zu vergeben. Das bedeutet, betrüge die Wahlbeteiligung zum Beispiel 70 % werden nur 70 % der nominellen Sitze im Parlament vergeben. Je höher die Wahlbeteiligung wäre, desto größer wäre auch die Anzahl der gewählten Politiker im Parlament. Die Frage ist dann, was mit den restlichen Plätzen passiert.
Man könnte sie leer lassen.
Ja, dann gäbe es für die Politiker den Anreiz, die Wahlbeteiligung möglichst hoch zu halten, aber die Nichtwähler würden immer noch nicht berücksichtigt. Eine bessere Möglichkeit wäre, und das ist was ich vorschlage, dass die verbliebenen Sitze dann unter den Nichtwählern verlost werden. Auf diese Weise hat jeder Wahlberechtigte den gleichen Anteil an Mandaten. Für die Wähler fließt dieser Anteil der gewählten Partei zu, für Nichtwähler verbleibt der Anteil bei ihnen und wird zur Wahrscheinlichkeit, selbst ins Parlament einzuziehen.
Von welchen Wahrscheinlichkeiten reden wir hier?
Für die Bundestagswahl, um bei diesem Beispiel zu bleiben, gibt es etwa 60 Millionen Wahlberechtigte und etwa 600 Sitze im Bundestag. Das bedeutet, dass auf jeden Wahlberechtigten etwa ein Einhunderttausendstel eines Sitzes im Parlament. Geht er zur Wahl, bekommt die gewählte Partei dieses Hunderttausendstel eines Sitzes, geht er nicht zur Wahl, hat er eine Chance von etwa 1:100 000 selbst ausgelost zu werden.
Was bedeutet das dann konkret für den Wähler?
Der Wahlberechtigte hat zwei Entscheidungen, die er treffen muss. Die erste ist, ob er zur Wahl geht, die zweite ist, welcher Partei er seine Stimme gibt. Oder anders formuliert, ob eine Partei zur Wahl steht, die gut genug ist, für sie zu stimmen. Das ist erst einmal unverändert. Nur wenn ein Wähler sich entscheidet, nicht zur Wahl zu gehen, also dass keine Partei gut genug für seine Stimme ist, dann gibt es eine Möglichkeit, dass der Wähler selbst ins Parlament gelost wird und selbst zum Parlamentarier wird. Die Entscheidung wird dann genauer zur Frage, welche Partei die beste Partei ist und ob diese Partei bessere Politik machen könnte als man selbst.
Also um die eigene Stimme zu erhalten, müsste die Partei besser sein als man selbst?
Genau.
Also wo bisher die Frage ist, ob die beste Partei gut genug ist, den Aufwand der Stimmabgabe zu rechtfertigen, wäre dann die Frage, ob die beste Partei besser ist als man selbst?
Wenn Sie genau sein wollen, ist die Frage, ob die beste Partei so viel besser als man selbst, dass es den Aufwand der Stimmabgabe rechtfertigt, aber ja.
Also die Fragestellungen wären teilweise die Gleichen wie und teilweise Andere als im aktuellen System, und die Folgen, wenn ein Wähler sich entscheidet, nicht zur Wahl zu gehen, würden sich ändern?