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Eine Mordserie erschüttert die Medienstadt Köln . . . und ein Reporter überschreitet ethische Grenzen. Marc Bauer ist auf der Suche nach der Story seines Lebens. Als Reporter des umstrittenen Magazins "Excrime" ermittelt er in einem mysteriösen Mordfall in einem Kölner Edelhotel. Die Enthüllung des Täters soll seine Karriere retten, koste es, was es wolle. Doch die Morde um Marc häufen sich. Die Opfer haben eines gemeinsam: Sie alle hüteten dunkle Geheimnisse. Nur ist auch Marcs Weste längst nicht mehr weiß, und die Schatten einer vergangenen Schuld holen ihn ein.
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Seitenzahl: 351
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Sebastian Schmidt, geboren 1985 in Düren, ist im Herzen schon immer Kölner gewesen. Fünfzehn Jahre lang war er in der Redaktion und im Marketing der Mediengruppe RTL Deutschland tätig. 2020 beschloss er, seine Leidenschaft, das Schreiben, zum Vollzeitberuf zu machen, und arbeitet seither als selbstständiger Autor und Werbetexter.
www.schmidtwiemüller.de/sebi-schmidt
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2021 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: istockphoto.com/horstgerlach
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Dr. Marion Heister
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-763-7
Originalausgabe
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Für Nina und Flo
Niemals zuvor hatte sie so einen Hunger verspürt. Ihr ganzer Körper schrie nach Nahrung. In den ersten Tagen waren die Schreie kaum zu ertragen gewesen. Erst mit der Zeit gewöhnte sie sich daran, ihr Körper gewöhnte sich daran. Sie hatte viel über Askese gelesen, Mönche, die auf Essen verzichteten, um eine höhere geistige Ebene zu finden. Doch bei Nicole war es anders. Sie war hier, um den Tod zu finden. Sie starrte eine der beiden Betonwände des kleinen Raumes an, in dem sie eingeschlossen war. Das trostlose Grau passte zu ihrer ausweglosen Situation. Die einzigen Lichtquellen waren eine Neonröhre in der Ecke und das spärliche Tageslicht, das unter der schweren Stahltür zu ihr hereinkriechen konnte. Es war schwer, den Tag-Nacht-Rhythmus einzuhalten. Trotz der Dunkelheit in ihrer Zelle hatte sie die ersten Nächte gar nicht geschlafen. Aus Angst. Und vor Kälte. Die dünne Isomatte, die das Monster ihr überlassen hatte, hielt die Kälte des kahlen Steinbodens kaum fern. Eine Sitzmöglichkeit bot der ansonsten leer stehende Raum nicht, und so drang die Kühle erbarmungslos in ihren Körper ein. Zumindest hatte das Monster ihr die Kleidung gelassen. Etwas, wofür sie dankbar war. Auch wenn ihr bei dem Gedanken übel wurde, dafür Dank zu empfinden.
Nicole starrte gedankenverloren die Stahltür an, die sie von der Freiheit trennte. Das war ein Automatismus. Jedes Mal, wenn sie an das Monster dachte, schaute sie zur Tür. Sie hatte es nie zu Gesicht bekommen, nur manchmal hörte sie Schritte und sah einen Schatten durch den Bodenritz der Tür. Das quälte sie mehr als Hunger und Kälte zusammen. Sie wusste nicht, warum sie hier war. Klar hatte sie sich in ihrem Leben Feinde gemacht, und ihre Familie war durchaus wohlhabend, aber war das Grund genug, ihr das anzutun? Beim ersten Besuch des Monsters war Nicole noch voller Hoffnung, dachte, ihre Rettung wäre da. Sie klopfte gegen die Tür, schrie um Hilfe. Erst als sie ein wegfahrendes Auto hörte, wurde ihr klar, dass es aussichtslos war. Beim zweiten Besuch war sie besser vorbereitet. Sie wollte Antworten. Erst flehte sie. Als eine Reaktion ausblieb, änderte sie die Strategie. Brüllte, fluchte und provozierte. Doch die andere Seite der Tür blieb stumm. Bei den nächsten zwei Besuchen war es dann Nicole, die stumm blieb. Sie ließ den dunklen Schatten an der Tür vorbeiziehen und atmete erst wieder, als das Auto sich entfernte. Dennoch fragte sie sich, warum das Monster immer wiederkam. Es dauerte etwas, bis sie verstand. Sie sollte sterben, und es wollte dabei sein.
Mittlerweile hatte Nicole sämtliches Zeitgefühl verloren. Sie stand auf und ging zu der rostigen Wasserleitung, die genau gegenüber der Tür aus der Wand kam. Sie brauchte einige Sekunden, bis sie sich wieder fing. Mehr als einmal war sie umgefallen. Ihr Kreislauf spielte nicht mehr mit, eine Folge des Nahrungsmangels. Sie stellte ihren dreckigen Becher unter den Wasserhahn und drehte ihn auf. In ihrem alten Leben hätte sie dieses gelbliche Wasser niemals runterbekommen. Doch hier, in diesem wahr gewordenen Alptraum, hielt es sie am Leben. Sie lehnte sich gegen die Betonwand und dachte unter hämmernden Kopfschmerzen nach. Wie lange war sie nun hier? Mit einem Mal versetzte es ihrem Herzen einen Stoß. Der 3. April. War das heute? Konnte das sein? Schon mehrfach hatte sie darüber nachgedacht, mit einem kleinen, spitzen Stein eine Strichliste im Steinboden einzuritzen. Ein Strich für jeden Tag. Doch den Gedanken hatte sie bisher immer wieder verworfen. Anfangs, weil sie sich sicher war, dass sie nur kurz eingesperrt sein würde. Später, weil sie die Vorstellung frustrierte, täglich auf die vielen Striche zu starren. Jetzt ärgerte sie sich, dass sie es nicht gemacht hatte. Sie begann die vergangenen Tage zu rekonstruieren. Jeder Gedanke, der durch ihr Hirn schoss, bereitete ihr Schmerzen.
Am 19. März hatte alles begonnen, da war sie sich sicher. Sie war an dem Tag noch mal in ihrer Agentur gewesen. Normalerweise arbeitete sie sonntags nur, wenn Events stattfanden, aber ein Kunde wollte bis Montagfrüh ein Konzept haben. Es ging um eine Firmenfeier. Sie verließ die Agentur gegen einundzwanzig Uhr und wollte schnell nach Hause. Zu Johanna. Bei dem Gedanken begann Nicole zu weinen. Normalerweise brachte sie nichts zum Weinen, aber seitdem sie an diesem Ort war, weinte sie viel. Und heftig. Es war nicht einmal die Angst vor dem Tod, sondern der Essensentzug, der sie so dünnhäutig werden ließ. Meistens wurde das Weinen schnell zu einem Schluchzen und das Schluchzen zu einem verzweifelten Schreien. Aber nicht jetzt.
Nicole riss sich zusammen. Sie musste wissen, welches Datum heute war. Es war nicht so einfach, die vergangenen Tage nachzuvollziehen.
Für jeden Tag machte sie einen Strich. Sie ging sie noch mal durch. Und noch mal, bis sie sich sicher war. Sie zählte die Striche. Fünfzehn. Wieder begann sie zu weinen. Es war der 3. April. Johanna wurde heute neun Jahre alt. Und ihre Mutter war nicht bei ihr.
Nie wieder würde sie bei ihr sein.
Als er die Augen öffnete, schaute er auf die vergilbte Raufasertapete an der Decke. Fast zwei Jahre war es nun her, dass er Paula einen Antrag gemacht hatte. Er starrte auf einen gelben Fleck, der sich in die Tapete fraß. Er war ihm nie wirklich aufgefallen. Ein Jahr wohnte er jetzt schon hier. Er überlegte, ob es sich länger oder kürzer anfühlte. Eigentlich war es auch egal.
Marc hasste es, in dieser Wohnung wach zu werden. Auch nach all der Zeit hatte er sich nicht daran gewöhnt, brauchte jeden Morgen einige Sekunden, um zu realisieren, wo er war. Er nahm das Handy, das neben seinem Bett auf dem Boden lag, und schaute aufs Display. Es war fast zwölf. Er musste grinsen. Um die Uhrzeit waren Paula und er damals gerade in Barcelona. Er war so nervös gewesen und hatte alles genau durchgeplant. Erst das Essen in dem schicken Restaurant an der Plaça Reial. Danach war er mit ihr zum Park Güell gefahren. Die Fahrt bis zur berühmten Parkanlage von Antoni Gaudí dauerte ewig. Er fragte sich heute noch, wie er es geschafft hatte, zwischen den Scharen an Touristen die kleine, romantische Ecke zu finden, in der er mit Paula ganz allein sein konnte. Er war noch nicht ganz auf den Knien angekommen, da hatte sie ihm schon ein lautes »Ja« entgegengeschrien.
Marc setzte sich auf, und der Raum begann sich zu drehen. Er hatte zu viel getrunken. Wieder. Er war arbeitslos, von der Verlobten verlassen worden und auf dem besten Weg, ein Alkoholproblem zu entwickeln. Aber das Schlimmste war dieses stinkende Loch von Wohnung. Hätte ihm damals in Barcelona jemand gesagt, was aus ihm werden würde, hätte er das niemals geglaubt. Früher hatte Marc höchstens über solche gescheiterten Existenzen in seinen Reportagen geschrieben. Meist mit einem Touch Sarkasmus und Überheblichkeit. Erst seit seinem Absturz hatte er so was wie Demut gelernt.
Marc stand auf. Zum Schwindel gesellten sich starke Kopfstiche hinzu. Dabei hatte er nur Bier getrunken. Den Schnaps hatte er wegen des Termins weggelassen. Nichts zu trinken kam ihm nicht in den Sinn. Die Vögel machten bestialischen Lärm vor seinem Fenster, der nur von dem Quietschen der bremsenden Straßenbahn übertönt wurde. Marc stand auf und machte sich einen Kaffee. Er hätte nicht aufstehen müssen, denn von seinem Bett aus war die Kochnische seiner Wohnung nur eine Armlänge entfernt.
Mit dem fertigen Kaffee setzte er sich auf die Bettkante. Mit jedem Schluck spürte er seine Lebenskräfte zurückkommen. Er schaute in die deprimierenden fünfunddreißig Quadratmeter seines Lebens.
Paula und er hatten geplant, gleich nach der Hochzeit Eigentum im Kölner Speckgürtel zu suchen. Das Kapital war da, und sie hatten sich bereits umgeschaut. Ein gutes Jahr später schlief er nun einsam neben dem Abwasch der letzten drei Tage. Immerhin rauchte er nicht in der Wohnung. Der gelbe Fleck an der Decke konnte also nicht von ihm sein. Er überlegte, ob ihn das jetzt freuen oder beunruhigen sollte, und zog die Jeans an, die er am Abend achtlos neben dem Bett abgestreift hatte.
Als Paula ihn vor die Tür gesetzt hatte, dachte Marc noch, es sei nur eine Phase, eine Meinungsverschiedenheit zweier Liebenden. Er wusste, was er getan hatte, was aus ihm geworden war, aber er hätte nie gedacht, dass sie ihn wirklich verlassen würde. Als er damals nach dem Streit den Mietvertrag unterschrieben hatte, war ihm völlig egal gewesen, wo sein Übergangsquartier war, solange es ein Bett und eine Dusche hatte. Und die kleine Wohnung am Kölner Barbarossaplatz, die er im Internet gefunden hatte, war billiger, als in den überteuerten Kölner Hotels abzusteigen. Er hatte sie nicht mal besichtigt, so sicher war er sich, dass Paula ihn nach ein paar Tagen wieder nach Hause zurückholen würde.
Nach einer Katzenwäsche in dem grellgrünen, fensterlosen Badezimmer und dem Versuch, seine Frisur zu richten, verließ Marc seine Wohnung. Er schloss nie ab. Es erschien ihm sinnlos, da jeder die dünne Holztür hätte auftreten können, wenn er hätte eindringen wollen. Und selbst wenn, was sollte man ihm schon stehlen? Das einzige von Wert war sein Laptop, und den trug er immer in seiner Umhängetasche bei sich.
Marc entschied, zu Fuß zu gehen, um noch ein wenig auszunüchtern. Nach dem Katastrophenjahr ohne Paula und nachdem seine Ersparnisse sich langsam dem Ende zugeneigt hatten, war er fest entschlossen, wieder in die Spur zu kommen. Auch wenn sein Ruf in der Branche beschädigt war, hatte er anfangs noch gedacht, ein Jahr würde reichen, um Gras über die Sache wachsen zu lassen.
Er zündete sich eine Zigarette an und passierte den Neumarkt. Schon jetzt schoben sich die Leute hektisch aneinander vorbei, als hinge ihr Leben davon ab. Er fragte sich, wo sie alle so schnell hinwollten. Vermutlich hatten sie alle einen Job. Dass er auch bald wieder einen haben würde, war kaum vorstellbar. Die ersten Bewerbungen hatte er noch voller Elan geschrieben. Doch je mehr Absagen er erhielt, desto klarer wurde ihm, dass sein Name in der Branche verbrannt war. Schlimmer als die 0815-Absagen, die er erhielt, waren Einladungen zu Vorstellungsgesprächen wie dem, welches er in wenigen Minuten haben würde. Die ersten Gespräche hatte er noch mit Charme und schicker Kleidung bestritten, doch dann bemerkte er, dass seine Einladungen immer nur Versehen waren. Von übereifrigen Personalleuten, die sich nicht die Mühe machten, den Namen »Marc Bauer« in die Suchmaschine einzugeben, und voreilig einen Termin mit ihm ausmachten. Meist realisierten sie noch vor dem Gespräch, wen sie sich da eingeladen hatten, und sagten kurzfristig unter einem Vorwand ab. Schlimmer war es, wenn sie es erst im Gespräch merkten oder sich verpflichtet fühlten, den Termin wahrzunehmen, obwohl es aussichtslos war, eine Anstellung zu bekommen.
Doch es lag nicht in Marcs Natur, aufzugeben. Er zog noch ein letztes Mal an seiner Zigarette, bevor er in das Redaktionsgebäude ging. Früher, als er noch ein gefragter Reporter war, hatte er oft solche Gespräche gehabt. Meistens wollte ihn jemand abwerben. Die Gespräche waren einfach, er hatte nichts zu verlieren. Sein Gegenüber war in der Pflicht, ihn zu umwerben. Das war nun anders. Er hatte alles zu verlieren. Auch wenn er es sich selbst nicht eingestehen wollte, machte er sich Hoffnungen. Jedes Mal. Aber er war nicht naiv. Ihm war klar, dass er kaum eine Chance auf den Job hatte, auch wenn er auf Empfehlung hier war. Er hatte über einen alten Kollegen den Kontakt zu einem Herrn Weiler bekommen. Sie hatten ein nettes Telefonat, an dessen Ende Marc eingeladen wurde. Marc konnte nicht abschätzen, ob Herr Weiler nicht wusste, mit wem er es zu tun hatte, oder ob er sich wegen des gemeinsamen Bekannten, der den Kontakt hergestellt hatte, verpflichtet fühlte.
Am Empfang wurde er freundlich begrüßt und gebeten, im Wartebereich Platz zu nehmen. Dankbar bediente sich Marc an dem dort stehenden Wasserspender. Er hatte völlig vergessen zu trinken. Das Gemisch aus Rauch und altem Bier in seinem Atem würde nicht gerade für ihn sprechen. Zum Glück hatte er am Abend noch Kaugummis gekauft, von denen er sich schnell eins in den Mund steckte.
»Herr Bauer«, trällerte eine sympathische Frauenstimme. Eine Frau Mitte zwanzig näherte sich Marc und streckte ihm die Hand entgegen. »Danke, dass Sie gewartet haben.«
Marc grinste freundlich. Es fiel ihm nicht schwer, die Frau wirkte nett.
»Mein Name ist Jessica Preuß«, fuhr sie fort. »Ist es okay, wenn wir ›Du‹ sagen?«
Es war okay. Marc kannte es nicht anders in der Branche. Das fehlende »Sie« führte in der Regel dazu, dass sich alle nach zwanzig Minuten aufführten, als würde man sich schon ewig kennen. Jessicas nervös wirkender Blick ließ ihn aber vermuten, dass sie keine zwanzig Minuten haben würden.
Sie führte ihn in einen kleinen verglasten Besprechungsraum.
»Danke, dass du dir die Zeit nimmst«, sagte Marc. »Wird Herr Weiler noch dazustoßen?«
»Nun ja«, sagte die junge Frau, die vermutlich vor Kurzem noch in einer Hochschule gesessen und Journalistik studiert hatte. Sie machte eine Pause, um sich zu sortieren.
Diese Pause kannte Marc bereits aus anderen Gesprächen. Es war erstaunlich, wie oft alteingesessene Redakteure Anfänger vorschickten, um Bewerber abzuwimmeln. Das Lächeln auf ihrem Gesicht zitterte ein wenig.
»Weißt du, Herr Weiler hat total viel zu tun gerade, aber ich soll das Gespräch mit dir führen. Ist das okay?« Auch das war okay. Sie war nett, und Marc hatte eh nichts Besseres zu tun. Er nickte sanft. »Dann sag doch mal, Marc, was hast du denn so gemacht die letzten Jahre?«
Die Frage allein machte Marc wütend. Wollte sie ihn provozieren? Jessica schien an Marcs Blick zu merken, dass sie gerade keine kluge Frage gestellt hatte. Sie blätterte nervös in Marcs Lebenslauf.
»Moment. Sind Sie etwa der Marc Bauer?«, entfuhr es ihr. Herr Weiler hatte sie nicht mal informiert, warum sie ihm absagen sollte.
Die junge Frau sammelte sich und fuhr fort: »Marc, was kannst du einbringen, wenn du die Stelle bekommen würdest?«
Ob es am Restalkohol in seinem Blut lag oder an der Tatsache, dass er nach den vielen Gesprächen zu müde war, seinen Lebenslauf runterzubeten und stumpf Stärken und Schwächen aufzuzählen: Marc reichte es.
»Okay, Julia, ich glaube, wir können das hier beenden.«
»Ich heiße Jessica«, entgegnete sie empört. Ihr Lächeln war verschwunden.
Es war keine Absicht, Marc hatte sich ihren Namen nicht gemerkt. Das war jetzt aber auch egal.
»Du kannst nichts dafür, dass dein zuständiger Redakteur dich in dieses Gespräch geschickt hat und noch nicht mal den Anstand hatte, dir zu sagen, dass du ein Gespräch mit dem größten Nestbeschmutzer der Branche vor dir hast. Daher lass uns aus Respekt vor dir und mir dieses Schauspiel hier beenden. Ja, ich bin der Marc Bauer, und nein, ich werde hier keinen Job bekommen. Ich schlage daher vor, dass ich jetzt diesen Raum verlasse und du zu Herrn Weiler gehst und ihm sagst, wie professionell und souverän du mich abgewimmelt hast. Okay?«
Noch bevor Jessica was sagen konnte, stand Marc auf und reichte ihr die Hand. Nach einem wortlosen Abschied verließ er erst den Besprechungsraum und dann das Redaktionsgebäude. Auf der Straße zündete er sich eine Zigarette an. Sein Gesicht fühlte sich taub an.
Das Handy lag vor ihm auf dem massiven Brauhaustisch. Er überlegte, was sein nächster Schritt sein würde. Er leerte sein Glas und winkte damit dem Köbes zu. Der urkölsche Kellner mit Leinenschürze, umgeschnalltem Ledergürtel und gezwirbeltem Schnurrbart nickte und machte sich auf den Weg zum Zapfhahn. Marc ging oft in die Malzmühle. Das Brauhaus am Heumarkt hatte gutes Essen und noch besseres Kölsch. Während er auf den Mittagstisch wartete, überschlug er im Kopf die Bewerbungsgespräche, die er im vergangenen Jahr geführt hatte. Es waren um die zwanzig. Und das heute gehörte zu einem der besseren.
Er musste mit Jens reden. Er hatte keine andere Wahl. Die Ersparnisse waren aufgebraucht. Gerade wollte er zum Handy greifen, da knallte der Köbes das frische Bier auf den feuchten Deckel, der vor ihm lag. So schnell er gekommen war, war er schon wieder verschwunden und ließ nur den Geruch von abgestandenem Zigarettenqualm und Leder zurück. Marc konnte Jens nicht anrufen. Völlig ausgeschlossen.
Er öffnete den Browser auf seinem Handy und gab »Marc Bauer« ein. Damals während seines Volontariats hatte er seinen Namen oft aus Eitelkeit gegoogelt, um zu sehen, welche Artikel von ihm besonders gut ankamen und welche neuen Kommentare es zu seinen Storys gab. Nach der Katastrophe war von der Eitelkeit nicht mehr viel übrig geblieben. Er googelte seinen Namen zwar immer noch, aber aus anderen Gründen. Er war selbst zur Story geworden und im Fokus der Öffentlichkeit. Täglich bemühte Marc seitdem die Suchmaschine, um zu sehen, was andere Journalisten Neues ausgegraben hatten, auf welche Art sie in seine Privatsphäre eingriffen. Immer und immer wieder. Marc machte ihnen keinen Vorwurf. Er hatte es verdient – und sie machten nur ihren Job. Er würde es genauso machen, stünde er auf der anderen Seite.
Unerträglich waren die Berichte über Paula. »Die Verlobte des gewissenlosen Reporters«. Sie hatte das nie wirklich gestört, oder sie ließ es sich nicht anmerken. Selbst als die Staatsanwaltschaft gegen ihn ermittelte, stand sie zu ihm und behielt einen kühlen Kopf.
Paula wollte mit der Sache so schnell wie möglich abschließen und ihr gemeinsames Leben mit Marc zurück. Seine tägliche Suche nach neuen Artikeln über sich machte sie wütend. Sie stritten oft deswegen. Sie wollte, dass er mit der Selbstgeißelung aufhörte und nach vorne schaute. Aber wie hätte er jemals damit abschließen sollen? Stattdessen trank er zu viel. Ein halbes Jahr hatte sich Paula den jämmerlichen Zustand ihres Verlobten angeschaut, seinen immer gleichen Klagen geduldig zugehört. Doch dann hatte sie ihm ein Ultimatum gestellt. Marc hätte es ernst nehmen sollen. Das hatte er nicht, was in der Wohnung am Barbarossaplatz endete.
Die heiße, dampfende Pfanne, die der Köbes stumm vor seinem Gesicht abgestellt hatte, riss Marc aus seinen Gedanken. Er tat es schon wieder. Verlor sich in der Vergangenheit. Durchlebte alles noch einmal. Seit knapp zwei Jahren. Er schaute auf sein Handy. Die Treffer zu seinem Namen waren überschaubar. Keine News, nur alte Geschichten und der Wikipedia-Eintrag »Fall Bauer«, den er sicher schon zwanzigmal gelesen hatte. Er musste es sich eingestehen: Keine namhafte Redaktion der Republik wollte ihn. Er konnte das mit Sicherheit sagen, denn er hatte von allen Absagen erhalten.
Marc begann zu essen und ging seine Optionen durch. Er könnte die Branche wechseln. PR machen oder Bücher schreiben. Einen Blog schreiben oder einen YouTube-Channel anlegen. Er schüttete das dritte Kölsch hinunter, während der Köbes das vierte vor ihn stellte. Er mochte den Laden. Oder er würde eben Promoter oder Influencer. Bei dem Gedanken musste er auflachen. Influencer Marc Bauer. Während er den Kontakt in seinem Handy suchte, schluckte er das große Stück Fleisch in seinem Mund herunter. Er tippte das Profilbild von Jens Brenner an. Wem machte er was vor. Er war Reporter mit Leib und Seele.
»Marc Bauer hier, stellen Sie mich bitte zum Chefredakteur durch.«
Es war ein schickes Viertel, wenn nicht das derzeit schickste in Köln. Alle Firmen, die was auf sich hielten, wollten hierhin. Früher wurde im Rheinauhafen Handel getrieben. Werftarbeiter gab es heute nicht mehr. Die alten Gebäude waren restauriert worden, neue Glaspaläste entstanden. Über allem thronten die drei Kranhäuser, Wohn- und Bürogebäude, die in ihrer Form den Kränen nachempfunden waren, die früher hier im Einsatz waren, um Waren zu verladen. Im Schatten eines der Gebäude fand sich das Redaktionsgebäude der »Excrime«.
Marc hatte sich nach der deftigen Brauhauspfanne auf sein Fahrrad geschwungen und war auf die kleine Halbinsel gefahren, auf der sich der Rheinauhafen befand. Marc war nicht oft hier. Auch wenn die Ecke architektonisch interessant war und sich die Stadt alle Mühe gegeben hatte, hier ein attraktives Erholungsgebiet entstehen zu lassen, fühlte sich Marc immer etwas fehl am Platz. Die teuren und zum Teil versnobten Geschäfte und Weinbars passten nicht zu ihm und er nicht zu ihnen.
Das Redaktionsgebäude war leicht zu finden. Auch wenn es nicht direkt an der Rheinpromenade lag, sondern in der dazu parallel verlaufenden Straße, wollte Marc sich nicht mal vorstellen, was Jens für den Standort gezahlt haben musste. Die Redaktion befand sich in einem restaurierten ehemaligen Hafengebäude mit roten Backsteinwänden. Im Vergleich zu den gläsernen Neubauten wirkte es von außen schon fast bodenständig.
Den Eindruck revidierte Marc sofort, als er den Empfangsraum des Magazins betrat. Die linke Seite des Raums war ein einziger riesiger Bildschirm. In Echtzeit konnte man die News und Postings vorbeirauschen sehen, die in der Redaktion erstellt wurden. Dazu alle Reaktionen von Lesern, gute wie schlechte. Im Social Stream waren vor allem Bilder und kurze Clips aus der Redaktion zu sehen. Auf der anderen Seite des Raumes war in großen roten Lettern das Credo der Excrime zu lesen: »Crime is business«. Darunter hingen ausgewählte Cover des Magazins. Auf einem war der abgetrennte Kopf eines Mannes zu sehen, auf einem anderen eine Frau, die auf den Gleisen einer U-Bahn stand und die heranrasende Straßenbahn erblickte, Sekunden, bevor sie in den Tod gerissen wurde.
Marc kannte die Bilder. Sie waren durch die Presse gegangen, nachdem die Excrime darüber berichtet hatte. Aber nicht die Schicksale des getöteten Mannes auf dem Cover, ein Szene-Anwalt aus Berlin, wie sich Marc erinnerte, oder der armen Frau, die Sekunden vor ihrem Tod von ihrem eifersüchtigen Ex-Freund geschubst worden war, waren Inhalt der öffentlichen Debatte gewesen, sondern die Frage nach Ethik und Moral in den Medien.
Immer wieder hatten die Veröffentlichungen der Excrime Diskussionen darüber ausgelöst, was Medien dürfen. Ob es sein durfte, dass sich ein Magazin am Tod und Elend anderer bereicherte. Politiker, Medienräte und brüskierte Journalisten forderten schon seit der Gründung die Einstellung des Betriebs, aber der Erfolg gab Jens recht. Die Leser rissen ihm das Magazin aus den Händen, fast täglich schauten sie auf den digitalen Seiten der Redaktion vorbei, um ihren Voyeurismus zu befriedigen und ihre Sensationsgier zu stillen. Niemals hätte sich jemand dazu bekannt, Leser der Excrime zu sein, aber die Reichweite entwickelte sich rasant. Auch weil es keinen Wettbewerber gab. Kein anderes Nachrichtenmagazin ging so weit wie die Excrime. Keines wollte so weit gehen.
Während Marc die Titel betrachtete, zog sich sein Magen zusammen. Er konnte hier nicht anfangen. Er riss seinen Blick los und bewegte sich wieder zur Tür, als er eine Stimme hörte.
»Willkommen bei der Excrime, was kann ich für dich tun?«, hallte es durch den Raum.
Marc bemerkte erst jetzt den kleinen weißen Schreibtisch am Ende des Raumes, an dem ein junger Mann mit wilder Frisur saß.
»Ich wollte mich nur umschauen, danke«, log Marc.
»Moment, du bist doch Marc Bauer.« Der junge Mann stand auf und ging auf ihn zu. Das diffuse Licht in dem Raum und sein selbstsicherer Gang verliehen ihm etwas Bedrohliches, was im krassen Gegensatz zu seiner betont jugendhaften Kleidung stand. »Mann, das ist eine Ehre«, sagte er und reichte Marc schwungvoll die Hand.
Marc versuchte, nicht so irritiert zu schauen, wie er es war, und schüttelte die Hand. Der andere stellte sich als Ben vor.
»Als ich dich auf der Empfangsliste für heute gesehen habe, war ich total geflasht. Jens erwartet dich schon. Seine Assistentin holt dich gleich ab. Ich texte ihr, dass du da bist.«
Zufrieden grinsend ging er zurück zum Schreibtisch und tippte dabei in Schallgeschwindigkeit auf sein Smartphone ein.
Marcs Instinkt sagte ihm, dass er so schnell wie möglich verschwinden sollte, doch stattdessen atmete er dreimal tief durch. Bens Worte hallten in seinem Kopf nach. »Eine Ehre«, hatte er gesagt. So etwas hatte er seit Jahren nicht gehört. Er wusste zwar, dass sein alter Freund Jens ein sehr spezielles Magazin erschaffen hatte, eine zweifelhafte Insel in der Medienlandschaft. Doch er fühlte sich wie auf einem völlig anderen Planeten. Wieder fiel sein Blick auf die Frau, die mit erhobenen Armen versuchte, die heranrasende Bahn abzuwehren.
»Hi, ich bin Laura.«
Marc war so in Gedanken versunken, dass er die junge Frau mit dem Pferdeschwanz fast nicht bemerkt hätte. Mit einem einladenden Grinsen bat sie ihn, sie zu begleiten.
»Wir haben leider keinen Aufzug, aber die Aussicht vom Dach ist der Hammer. Da treffen wir uns freitags nach Feierabend immer auf ein Kölsch. Das wird dir gefallen.« Das silberne Piercing in der Unterlippe gab ihrem leicht rundlichen Gesicht eine verführerische Note. Er schätzte sie auf Anfang dreißig.
Nach wenigen Stufen erreichten sie die erste Etage, die genauso weitläufig war wie das Erdgeschoss. Nur ein paar Glaswände unterbrachen den riesigen Raum, wodurch Marc die gesamte Redaktion sofort überschauen konnte. Im hinteren Bereich waren ein paar gläserne Büros und abgeschlossene Besprechungsräume. An den Seiten reihten sich modern gestaltete Holzschreibtische aneinander. Nur das leise Klappern der Tastaturen verriet, dass hinter den großen Bildschirmen Redakteure saßen.
In der Mitte des Raumes befand sich ein großer Konferenztisch, an dessen Kopfende ein kleiner Mann mit kurzen roten Haaren und einem langen, ebenso roten Bart saß. Um den Tisch herum saß ein Dutzend Redakteure. Ein, zwei Gesichter erkannte Marc. Der Rothaarige war gerade in einer wilden Diskussion mit einem der Leute am Tisch. Es war die Nachmittagskonferenz.
»Das ist doch scheiße. Die ganze Branche hat schon darüber berichtet. Und diese Archivbilder kann auch keine Sau mehr sehen. Die Geschichte ist tot.« Gerade wollte er Luft holen, um weiter auf den zerknirschten Redakteur einzureden, da erblickte er Marc. »Wir sind hier fertig. Oli, schick bitte den Themenplan wie besprochen rum. Danke.«
Der Rothaarige stand auf und ging in sein verglastes Büro am Ende des weitläufigen Raumes und bedeutete Marc, ihm zu folgen.
»Gratuliere, du bist genauso ein Arschloch wie unser alter Chefredakteur«, sagte Marc grinsend, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte.
Jens grinste zurück. »Über ein Jahr hast du dich nicht blicken lassen, und das ist das Erste, was du zu mir sagst?«
»Der Bart steht dir unheimlich gut. Ist das besser?«
Jens lachte auf und nahm seinen Freund in die Arme. »Ich bin wirklich froh, dich zu sehen. Es wird auch Zeit, dass du endlich für mich arbeitest.«
»Wer sagt, dass ich für dich arbeiten will?«, sagte Marc mit Nachdruck.
»Du wolltest einen kurzfristigen Termin, um was Persönliches zu besprechen. Was kannst du denn sonst wollen?«
»Du warst mal mein bester Freund, reicht das nicht als Grund, dich in deinem neuen Imperium zu besuchen?«
Jens nahm hinter seinem Schreibtisch auf dem voluminösen Designersessel Platz und bat seinen Gast, sich zu setzen.
»Mensch, Marc, ich bin immer noch dein bester Freund. Und als der weiß ich auch, dass dir die Arbeit hier guttun würde. Wie lange hast du nicht mehr geschrieben?«
»Mach dir um mich keine Sorgen. Ich hab einiges am Laufen«, log Marc.
»Bullshit!«, rief Jens.
Marc wollte etwas erwidern, sich verteidigen. Doch Jens kannte ihn lange und gut. Er hätte ihm nichts vormachen können. Also blieb er sitzen und hörte zu.
»Ich bin froh, dass du mich gerade jetzt kontaktiert hast, Marc. Die Excrime hat Probleme. Noch sind wir obenauf, aber seit ein paar Monaten stagnieren die Reichweiten. Mir fehlen die Reporter. Karla Kolumna könnte bessere Reportagen machen als die Loser da draußen, die mehr an ihren Selfies interessiert sind als an den Opfern von Kriminalfällen. Und die Alten führen sich auf wie die letzten Diven und wollen mir erzählen, wie ich meinen Job zu machen habe. Ich brauche dich hier, Marc. Mit dir an meiner Seite wird die Excrime an Relevanz gewinnen und vom Skandalblatt zu dem relevantesten Magazin in Deutschland aufsteigen. Arbeite für mich. Mit mir. Wie früher.«
Jens’ Worte verklangen in dem gläsernen Büro. Marc überlegte kurz und schüttelte den Kopf. Alles in ihm wollte Nein sagen, aber was war seine Alternative? Wieder in die dreckige Bude am Barbarossaplatz zurückgehen, weitere Bewerbungen schreiben und auf die Absagen warten? Den Frust weiter runterspülen?
»Okay«, sagte Marc resigniert.
Jens sprang von seinem Stuhl auf. »Yes!«
»Aber nur als freier Mitarbeiter. Ich arbeite von zu Hause, und ich will meine Storys selbst aussuchen.«
»Alles klar. Sonst noch was?« Jens wirkte selbstgefällig.
»Ich will den höchsten Tagessatz und eine Erfolgsbeteiligung.«
Jens nahm einen Umschlag aus der obersten Schublade und warf ihn schwungvoll auf den Schreibtisch in Marcs Richtung.
»Hier ist der Vertrag. Du kriegst einen höheren Tagessatz als die Dilettanten hier und eine Zusage über mindestens zehn Beschäftigungstage im Monat. Wenn du mehr machst, ist es natürlich umso besser. Deine Erfolgsbeteiligung richtet sich nach der Anzahl deiner Storys, die es auf den Titel der wöchentlichen Ausgabe schaffen. Auch wenn das Hauptgeschäft digital ist, ist die Printausgabe das Herzstück unserer Arbeit.«
Marc öffnete den Umschlag und überflog ungläubig das Dokument.
»Selbst du kannst nicht so arrogant sein, schon einen Arbeitsvertrag anfertigen zu lassen, bevor wir überhaupt miteinander geredet haben.«
Jens lehnte sich selbstzufrieden in seinen Ledersessel. »Siehst du doch.«
Damit hatte Marc nicht gerechnet. Er überflog den Vertrag und setzte seine Unterschrift darunter.
»Wann habe ich meinen ersten Tag?«
Jens zog die Schultern hoch. »Wann du willst, aber bring besser eine geile Story mit.«
Marc steckte die Kopie des Vertrags zurück in den Umschlag und verließ Jens’ Büro. Dort erwartete ihn Laura bereits mit einem Grinsen und brachte ihn zurück in die Empfangshalle. Ben nickte ihm freundlich zu, als er an dessen Schreibtisch vorbeiging. Laura verabschiedete sich ebenso freundlich, wie sie ihn empfangen hatte. An derselben Stelle, wo sie ihn abgeholt hatte. Vor dem Cover mit der Frau auf den Gleisen, die dem nahenden Unheil entgegensah, ohne etwas ausrichten zu können. Marc ahnte nun, wie sich das anfühlte.
Jan Mäuser stand an der Theke und schaute ungeduldig auf sein Handgelenk. Schon das dritte Mal in den letzten fünf Minuten. Er betrachtete die Armbanduhr, die schon deutlich bessere Zeiten gesehen hatte. Seine Frau wollte ihm schon öfter eine neue kaufen, aber sie war es, die sie ihm damals in der Schulzeit geschenkt hatte. Er hätte sich nie davon trennen können. Weder von ihr noch von dem Schmuckstück an seinem Handgelenk. Es war zehn nach acht. Für gewöhnlich machte dem Zwei-Meter-Mann eine Verspätung nichts aus, aber er freute sich sehr auf seinen Freund Marc. Sie kannten sich seit fast zehn Jahren.
Damals hatten sie sich hier im »Stiefel« am Billardtisch kennengelernt. Er spielte gerade mit einem Kommilitonen, als Marc ihn herausforderte. Sie kamen ins Gespräch und freundeten sich nach ein paar Bieren an. Die ehemalige Jazz- und spätere Punkrockkneipe wurde schnell zu ihrem Stammlokal. Zu der Zeit, im Sommer 2005, hatte Marc sein Kommunikationsstudium begonnen, während Jan seine Ausbildung zum Rechtsmediziner beendet hatte. Die zehn Jahre Altersunterschied waren nie ein Thema zwischen den beiden, da Marc ein sehr reifer Zwanzigjähriger und Jan ein jung gebliebener Dreißigjähriger war. Sie trafen sich gefühlt in der Mitte. Und je älter sie wurden, desto weniger machte sich der Altersunterschied bemerkbar.
»Maus! Natürlich finde ich dich an der Theke.«
Jan Mäuser musste grinsen, als er Marcs Stimme hörte. Auch wenn er seinen verhassten Spitznamen verwendete. Als sie sich kennenlernten, hatte Marc ihm den Namen verpasst. Wegen seines Nachnamens und seiner robusten Erscheinung hielt Marc es für witzig, ihn »Maus« zu nennen. Witzig fand Jan das nie, was Marc eher ermutigte, ihn so zu nennen.
»Marc. Es ist schön, dich zu sehen. Was hast du die ganzen Monate getrieben?«
Beide umarmten sich herzlich.
»Ich habe versucht, wieder aufs Pferd zu kommen.«
»Erfolgreich?«
»Na ja, heute habe ich ein lukratives Jobangebot bekommen.«
Maus nickte anerkennend und nahm eines der beiden Kölschgläser, die Thomas ihnen ungefragt hingestellt hatte. Der tätowierte Barmann mit den freundlichen Augen arbeitete schon ewig im Stiefel. Über die Jahre hatte er seine beiden Stammgäste kennengelernt. Thomas tippte zur Begrüßung zweimal auf den Schirm seiner Kappe, bevor er wieder hinterm Zapfhahn verschwand.
Das zweite Glas drückte Maus seinem Freund in die Hand, noch bevor er die Chance hatte, seine Jacke auszuziehen. Sie stießen an und leerten die Gläser in einem Zug. Wer nicht aus dem Rheinland kam, belächelte die schmalen Null-Komma-zwei-Liter-Gläser nicht selten als »Reagenzgläser«. Rheinländer hingegen verstanden nicht, warum Bayern stundenlang an abgestandenem Bier in ihren Literhumpen rumzuzelten. Marc und Maus gehörten keiner Bierreligion an. Sie tranken, was Thomas ihnen auf den Tisch stellte.
»Ein neuer Job also. Und du hast mich angerufen, um das zu feiern. Da fühle ich mich aber geehrt«, sagte Maus, nachdem er sich den Bierschaum vom Mund gewischt hatte.
Tatsächlich war das der Grund gewesen. Nachdem Marc die Redaktion verlassen hatte, machte sich erst ein flaues Gefühl in ihm breit. Aber je länger er darüber nachdachte, desto mehr konnte er der Sache abgewinnen. Das erste Mal seit Monaten war man ihm mit Wertschätzung und Respekt begegnet. Und allein die Tatsache, dass er nicht mehr arbeitslos war, war Grund genug zur Freude.
Eine Freude, die er mit seinem Freund teilen wollte. Seit der Trennung von Paula hatte sich Marc kaum noch bei Maus gemeldet, seine Anrufe größtenteils ignoriert. Nur zwei Mal hatten sie sich in der ganzen Zeit im Stiefel getroffen. Beide Treffen waren eher deprimierend verlaufen. Die Freundschaft zu Maus war Marc nach wie vor wichtig. Doch er konnte es nicht ertragen, mit ihm über Paula zu sprechen. Maus’ Frau und Paula waren beste Freundinnen. Über ihn hatte Marc sie erst kennengelernt. Die vier waren unzertrennlich gewesen. Nach der Trennung hatte Marc keinen Weg gefunden, damit umzugehen, dass er nicht mehr Teil davon war. Bei jedem Treffen und Telefonat fragte er seinen Freund aus. Wollte wissen, wie es seiner Ex-Verlobten ging. Ob sie andere Männer sah.
Aber heute hatte er sich geschworen, nicht der Vergangenheit nachzuhängen, denn heute gab es was zu feiern. Endlich wieder. Er hatte einen Job. Würde wieder Geld verdienen und könnte die versiffte Einzimmerwohnung hinter sich lassen und in eine ziehen, die zu einem erwachsenen Mann passte.
»Ich hatte wirklich eine Durststrecke«, begann Marc zu berichten. »Kein Schwein wollte mir einen Job anbieten. Alle bringen meinen Namen nur mit dem Knorr-Jungen in Verbindung. Alles andere, mein Lebenslauf, meine Reportagen, meine Storys, alles, was ich bewegt habe, interessiert nicht.«
Maus schaute nachdenklich auf seine Hände. Er hätte gern etwas Tröstliches gesagt, aber der Tod von Malte Knorr war kein Thema, das er gern mit seinem Freund besprach. Er konnte ihm nicht helfen, auch wenn er die Schuld gern von ihm genommen hätte.
»Aber heute Morgen habe ich mich durchgerungen und einen Kontakt spielen lassen, um wieder ins Geschäft zu kommen. Und dir wird es nicht gefallen«, sagte Marc mit einem Augenzwinkern.
Jans Miene verfinsterte sich schlagartig. »Bitte nicht, sag es nicht.«
»Doch.«
»Du hast Jens angerufen?«
»Ja. Ich arbeite jetzt für die Excrime.«
Maus kam aus dem Kopfschütteln nicht mehr raus. Er hatte Marcs Karriere von Beginn an verfolgt und wusste um seine Qualitäten. Ebenso kannte er Jens. Beide waren Journalisten, aber sie waren grundverschieden. Während Marc mit seiner Arbeit und seinen Storys etwas verändern wollte, hatte Jens nur Geld und Macht im Kopf. Für eine öffentlichkeitswirksame Story ging er über Leichen, was die Excrime mit ihren skandalösen Veröffentlichungen immer wieder eindrucksvoll bewies.
Die Freundschaft zwischen Marc und Jens war ihm von Anfang an ein Rätsel gewesen. Nicht nur, dass sie sich trotz aller Unterschiede gut verstanden. Jens hatte immer einen großen Einfluss auf Marc und seine Entscheidungen gehabt. Immer wieder stiftete er seinen Freund an und brachte ihn mit seinen Praktiken in Schwierigkeiten. Maus hielt Marc für einen ausgezeichneten Journalisten mit einem ausgeprägten Wertesystem. Doch mehr als einmal hatte er in der Zusammenarbeit mit Jens die Grenzen von Moral und Ethik überschritten. Nicht zuletzt beim Tod von Malte Knorr. Maus hatte gehofft, dass der tragische Vorfall Marc endlich die Augen geöffnet hätte. Dass er sich endlich von seinem diabolischen Reporter-Freund trennen würde. Doch das Gegenteil war offenbar der Fall. Jetzt wollte er sogar für ihn arbeiten. Maus konnte seine Enttäuschung nicht verbergen.
»Du kannst doch dein Talent nicht bei dem Idioten verschwenden.«
Marc musste grinsen. »Ja, Jens kann ein Idiot sein, aber er hat mir wirklich ein gutes Angebot gemacht. Und wenn ich mir erst mal wieder einen Namen gemacht habe, kann ich ja immer noch in eine seriöse Redaktion wechseln.«
»Wenn du dir bei der Excrime einen Namen gemacht hast, packt dich keine seriöse Redaktion auch nur mit der Kneifzange an. Und das weißt du auch.«
Natürlich wusste Marc das. Aber das wollte er jetzt nicht hören.
Thomas stellte zwei neue Kölsch ab.
Marc nahm eines. »Lass uns das Thema wechseln.«
»Ich kann das Thema jetzt nicht wechseln.« Maus lehnte sich nachdenklich über die Theke und starrte das kühle Bierglas in seinen Händen an. »Jens hat einen schlechten Einfluss auf dich.«
Marc runzelte die Stirn. »Du bist zwar zehn Jahre älter als ich, aber das ist ein bisschen wenig, um meinen Vater zu spielen, meinst du nicht auch?«
Maus holte tief Luft. »Erzähl mir doch nicht, dass du die Sache mit dem Knorr-Jungen so weit getrieben hättest, wenn Jens nicht gewesen wäre. Er hat dich doch auf den Jungen angesetzt.«
»Hey!«, rief Marc und erschrak selbst, wie laut seine Stimme war. Ein paar Gäste drehten sich um. »Was ich dem Jungen angetan habe, ist ganz allein meine Sache. Jens ist ein Arsch, aber ich trage die Verantwortung.«
Maus merkte offenbar, dass er zu weit gegangen war. »Entschuldige. Lass uns wirklich das Thema wechseln.«
»Danke.«
Marc atmete tief durch. Dennoch gab ihm seine heftige Reaktion selbst zu denken. Maus meinte es nur gut mit ihm und wollte ihn schützen. Und tatsächlich war seine Freundschaft zu Jens immer ein Katalysator gewesen. Immer wenn er ethische und moralische Bedenken bei einer Story hatte, war es Jens, der ihn ermutigte, noch tiefer in die Story einzutauchen. Mehr rauszuholen. Aber das würde ihm nicht noch mal passieren.
Mit versöhnlichem Gesichtsausdruck prostete Marc dem Zwei-Meter-Mann zu, der das Friedensangebot dankbar annahm.
»Wie geht es Steffi?«
»Der geht es super. Die ist diese Woche in der Pfalz unterwegs mit …« Er biss sich auf die Zunge. »Einer Freundin.«
»Sie ist mit Paula unterwegs, oder?«
Maus nickte.
Marc spürte einen Stich im Brustkorb, und mit einem Mal war er wieder da. Der Abgrund, das alles verschlingende schwarze Loch in seinem Inneren, das ihn seit Monaten immer tiefer in die Dunkelheit zog. Aber nicht heute. Er kämpfte gegen seine Gefühle an.
»Wir hatten schon mal flüssigere Unterhaltungen«, scherzte Maus.
»Allerdings. Dann hören wir auf zu reden. Der Billardtisch ist gerade frei geworden. Du holst Sambuca, ich baue die Kugeln auf.«
Maus nickte und machte sich auf den Weg zur Theke. Er hätte sich früher um seinen Freund kümmern sollen.
»Kommissar Seger hier, was kann ich für Sie tun?«
»Hallo, Benno, lange nichts gehört.«
Benno Seger erstarrte, als er die Stimme am anderen Ende der Leitung erkannte. Die letzten Monate hatte er gehofft, sich endlich aus dem Würgegriff befreit zu haben. Er war damals den Pakt mit dem Teufel eingegangen. Naiv von ihm zu glauben, es würde einfach aufhören. Er würde ihn einfach in Ruhe lassen.
»Was willst du?«, fragte er wütend.
»Nur reden.«
»Na klar. Dein ›Reden‹ kenne ich. Ich will mit dir nichts mehr zu tun haben. Das ist mir zu heiß.« Nervös sprang Seger von seinem Stuhl auf und schloss die Bürotür aus Angst, ein Kollege könnte etwas mitbekommen.
»Mensch, Marc, ich sitze gerade an einem wichtigen Fall. Ich kann hier wirklich Karriere machen. Da kann ich mir unseren Kontakt nicht leisten.«
»Wusste gar nicht, dass Pädophile bei der Polizei Karriere machen können«, sagte Marc mit einem sarkastischen Unterton.
Seger hasste es, mit Marc zu reden. »Ich bin nicht pädophil. Ich dachte, sie wäre neunzehn. Und wenn du das noch mal behauptest, komme ich vorbei und versohl dir deinen Journalistenarsch.«
»Okay, okay. Ich mach doch nur Spaß. Wie geht es dir, Benno? Ich habe gehört, dass du und deine Frau euch getrennt habt. Das tut mir aufrichtig leid.« Seger merkte, dass die Anteilnahme des Reporters ernst gemeint war, und beruhigte sich wieder.
Marc und Seger hatten sich vor fünf Jahren bei einer Reportage kennengelernt. Damals waren Marc und Jens Volontäre bei einer lokalen Zeitung. Während die meisten Volos in der Redaktion saßen und langweilige Agenturmeldungen abschrieben, zog es Marc und Jens auf die Straße. Sie wollten investigativ arbeiten, eigene Storys schreiben, Skandale aufdecken, was bewirken. Ihr Chefredakteur war ein harter Hund, ihm gefiel aber das journalistische Feuer der beiden Mittzwanziger, und so gab er ihnen die Chance, sich zu beweisen. Und sie nutzten sie. Egal, wie langweilig die Geschichten auch waren, die beiden Nachwuchsreporter gruben, bis sie was fanden. Der Bericht über einen Kleintierverein im Bergischen wurde zu einer Story über Tierquälerei. Ein Interview mit einem lokalen Politiker zu einer Enthüllung über Veruntreuung, ein Ausflug zu einem lokalen Fußballverein zu einer fesselnden Reportage über Schiedsrichter, die in ländlichen Gegenden mit Anfeindungen und Morddrohungen leben müssen.
Mit jeder Story wuchs das Vertrauen ihres Chefredakteurs in ihre Fähigkeiten und damit die Freiheit der beiden Volontäre. Im Herbst des zweiten Ausbildungsjahres nahmen Marc und Jens einen osteuropäischen Mädchenschieberring ins Visier, der sich im Kölner Süden ausgebreitet hatte. Immer mehr Mädchen, meist aus Rumänien, füllten die Straßen nach Sonnenuntergang. Für Stadt und Bürger ein Ärgernis, für die beiden eine Chance, endlich einen echten Enthüllungsbericht zu veröffentlichen. Nächtelang lagen sie auf der Lauer, observierten die Prostituierten, ihre Zuhälter und Freier. Recht schnell fanden sie heraus, dass einige der Mädchen minderjährig waren, was für die meisten ihrer Kunden weniger Hindernis als Anreiz darstellte.
Es ging Marc dabei nicht nur um die Story, er wollte den Mädchen helfen, sie aus dem Elend holen. Jens witterte hingegen den großen Erfolg und eine Festanstellung in der Redaktion. Eines Abends legten sie sich auf die Lauer, um Beweise zu sammeln. In wochenlanger Recherche konnten sie die Geburtsurkunde einer fünfzehnjährigen Rumänin auftreiben. Den ganzen Abend saßen sie vor dem Wohnwagen und machten Fotos von den Freiern und deren Nummernschildern. Auch wenn die Mädchen im Fokus ihrer Berichterstattung standen, hofften sie, jemand Bekanntes aus Politik und Wirtschaft könnte dumm genug sein, bei den minderjährigen Prostituierten abzusteigen.