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Die Welt, in der wir leben, ist an vielen Stellen in sattes Blau getaucht: Unsere Heimat ist der blaue Planet mit seinem azurfarbenen Himmel. Wir verlieren uns in Yves Kleins monochromen Blau-Gemälden, hören beschwingt Gershwins Rhapsody in Blue, geben uns mit Novalis dem romantischen Sehnen nach der blauen Blume hin und genießen die blaue Stunde. Selten und wertvoll ist die blaue Mauritius, alltäglich die Blue Jeans. Die Tiefe und Kraft jener Farbe entspringt den Bedeutungen, die wir ihr zuschreiben: wild, sinnlich und faszinierend; wie in einer Wunderkammer, jenem untergegangenen Museum, das die unterschiedlichsten Fundstücke nebeneinander versammelte, um das Staunen zu lehren, versammelt der meisterhafte Erzähler Jürgen Goldstein verschiedene Facetten vom Reichtum des Blaus, er knüpft Bedeutungsketten, elaboriert und assoziativ, wohl abgewogen und zugleich sprunghaft – Genregrenzen, Chronologien und wissenschaftliche Etikette gelten hier nicht. Dieses gelehrte und elegant verfasste Buch erschafft einen Archipel an essayistischen Miniaturen, die Bedeutungsinseln gleichen und doch untergründig miteinander verbunden sind, und taucht ein in das Geheimnis, das uns am Blau so berührt.
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Seitenzahl: 302
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Jürgen Goldstein
Eine Wunderkammerseiner Bedeutungen
Wer nach dem Blau fragt,der meint das ganze Leben.
Uwe Kolbe
I. Bedeutsames Blau: Eine Wunderkammer
II. Fundstücke und Streifzüge
Der blaue Planet
Das patentierte Blau des Himmels: Yves Klein
Der sich verweigernde Himmel: Caspar David Friedrichs Mönch am Meer
Ausgelöschtes Azur: Von Stéphane Mallarmé über Arthur Rimbaud zu Nick Drake
Das existenzialistische Blau des Albert Camus
Der Duft der Blauen Stunde
Die Ratten im blauen Klavier der Else Lasker-Schüler
Der blaue Klang der Großstadt: George Gershwin und Blue Note Records
Mit John Lennon auf hoher See
Wiederkehrendes Leben: Rainer Maria Rilkes Blaue Hortensie
Schwarzes Blau: Kind of Blue von Miles Davis
Glühendes Blau: Paul Klees Nacht-Blüte
Jim Morrison, Tutanchamun, Patti Smith und die blaue Blume des Novalis
Der blaue Faden des Goldrauschs und der Rebellion: Blue Jeans
Vom Höllenhund gejagt: Robert Johnson und der Blues
La Casa Azul: Das Refugium der Frida Kahlo
Krishna, Rama und die blaue Stadt
Abgesang auf die Blaue Mauritius
Ins Blaue hinein leben: Virginia Woolf
Blue moon
III. Koralle, Rhizom, Archipel: Ein Ausblick auf die Struktur der Bedeutungsnetze
Nachwort
Anmerkungen
Ich suche nicht – ich finde.
Pablo Picasso
Es ist das Glück des Flaneurs, kein Ziel haben zu müssen. Während andere einer Bestimmung folgen, lässt er sich treiben. Die Fülle seiner Eindrücke verdankt er der Planlosigkeit seines Umherstreifens. Er ist der Nomade der großstädtischen Kultur, ein Sammler von Augenblicken. Die modernen Städte sind wie für ihn gemacht. Jede Straße wird ihm zum Boulevard seiner Anschauung, jeder Platz zum Areal seiner Feldforschung. Er erwartet nichts und sieht alles.
Beschränkt man die Figur des Flaneurs nicht auf die untergegangene Epoche ihrer Herkunft – man denke an das Paris des 19. Jahrhunderts –, kommt mit ihr der Typus einer souveränen Absichtslosigkeit noch einmal in den Blick, bei dem es zu verweilen lohnt. Der Flaneur ist die Verkörperung einer Kultur des laissez faire, des freien Spiels der Eindrücke. Er beherrscht die Artistik, dem Einfall zu folgen, der Assoziation Raum zu gewähren, Gedankenketten zu bilden und mit dem Sprunghaften zu spielen. Er verleugnet seine Vorlieben nicht, ohne sich von ihnen zu sehr leiten zu lassen. Was dazwischen kommt, ist ihm willkommen. Daher vermeidet er die Eindeutigkeit, den geraden Weg, den klaren Grundriss seiner Interessen.
Der Flaneur ist an allem interessiert, was ihn anzuregen vermag. Er kultiviert die Fülle. Dadurch gewinnt diese Figur an Bedeutung für die Kultur selbst: Der Flaneur ist einer ihrer schönsten Möglichkeiten. Die menschliche Kultur ist – seit unsere Vorfahren begonnen haben, die Wasserkrüge aus Ton mit ornamentalen Verzierungen zu versehen – eine Verweigerung der reinen Zweckmäßigkeit. Der Reichtum der Kultur lebt geradezu von jenem Spielraum des Nichtnotwendigen, der ausgefüllt wird, sobald die drängendsten Bedürfnisse des Lebens gestillt sind. Niemand wird behaupten, ein Gedicht, ein Gemälde, ein Musikstück sei für das Überleben unverzichtbar. Aber der Überfluss an dem, was zu nichts nütze ist, bereichert unser Leben und bringt zum Ausdruck, worauf es uns ankommt. Der spielerische Ernst dieser kulturellen Vielfalt besteht in dem Aufspannen eines Bedeutungshorizontes, vor dem wir unser Leben verstehen und bewältigen. Es ist der Flaneur, der als kultureller Weltenbummler diesem Ernst Leichtigkeit verleiht. Lustvoll findet er, was er nicht gesucht hat, und bezeugt gerade darin seine Freiheit. Von der Figur dieses Umherschweifenden und planlos Genießenden sind die folgenden Gedankenspaziergänge inspiriert.
Aus der Vielfalt der kulturellen Phänomene nimmt dieses Buch einen Bereich heraus und beschränkt sich auf ein Feld, das so schön wie unübersichtlich ist: das der Farben. Wir haben uns in der Regel abgewöhnt, in der Farbigkeit der Welt etwas Bemerkenswertes zu sehen. Dabei ist sie keinesfalls selbstverständlich. Unbestreitbar haben Farben für uns wichtige Orientierungsfunktionen, aber sie sind nicht unverzichtbar. Es ist nicht überlebensnotwendig, dass die uns umgebende Wirklichkeit farbig erscheint. Farbenblind zu sein ist lästig, nicht aber lebensgefährlich. Überhaupt wäre es denkbar, dass wir in einer Welt lebten, die sich auf schwarze und weiße Farbtöne und ihre Mischformen beschränkte. Die bunte Welt aber, die sich unseren Augen darbietet, stellt bereits einen Luxus dar, einen unverhofften Reichtum, den allein die Gewöhnung als selbstverständlich zu nehmen verleitet. Dabei gehören Farben zum sinnlichen Fundament des lebensweltlich Vertrauten: »Gegen die Reize der Farben, welche über die ganze sichtbare Natur ausgebreitet sind, werden nur wenig Menschen unempfindlich bleiben«,1 bemerkt Goethe in seinen Beiträgen zur Optik. »Auch ohne Bezug auf Gestalt sind diese Erscheinungen dem Auge gefällig und machen an und für sich einen vergnügenden Eindruck. Wir sehen das einfache Grün einer frischgemähten Wiese mit Zufriedenheit, ob es gleich nur eine unbedeutende Fläche ist, und ein Wald tut in einiger Entfernung schon als große einförmige Masse unserm Auge wohl.«2 Farben wirken auf uns, und wir verbinden mit ihnen Stimmungen. Jede Farbenlehre, wie wir sie von Goethe bis zu Johannes Itten kennen, klärt uns darüber auf. Aber Farben sind nicht nur Teil unserer sinnlichen Natur, sondern auch unserer geistigen Kultur: Wir weisen ihnen Signalwirkungen zu – das Rot des Stoppschildes im Straßenverkehr – und laden sie mit symbolischen Bedeutungen auf – Grün als Farbe der Hoffnung und Zuversicht. Das ist so wenig selbstverständlich, dass es Aufmerksamkeit verdient.
Für den Versuch, dem Zusammenhang von Farbe und Bedeutung exemplarisch nachzugehen, ist die Vielfalt der Farben bereits überfordernd. Was in diesem Buch unternommen wird, müsste an jeder beliebigen Farbe aufzeigbar sein. Es wird aber allein um das Blau und seine Bedeutungen gehen. Dafür gibt es einen Grund: In den westlichen Gesellschaften ist das Blau nachweislich zur unangefochtenen Lieblingsfarbe aufgestiegen. Das war nicht immer so: Weder die abendländische Antike noch das Mittelalter haben das Blau geschätzt. Erst mit dem Heraufziehen der Moderne hat der Siegeszug dieser Farbe begonnen. Andere Gesellschaften dagegen haben andere Farbvorlieben ausgebildet. In Japan etwa wird nicht Blau, sondern Weiß bevorzugt.
Der Stellenwert von Farben, ihre Akzeptanz und die ihnen zugeschriebenen Bedeutungen sind somit selbst kulturelle Ergebnisse, die Auskunft geben über die jeweilige Gesellschaft, der sie entstammen. Wie Michel Pastoureau in seiner wegweisenden Studie über die Kulturgeschichte der Farbe Blau aufgezeigt hat, sind die Farben im Allgemeinen und die Blautöne im Besonderen nicht vorrangig ein natürliches Phänomen, sondern vielmehr »ein vielschichtiges kulturelles Gebilde«.3 Sie stellen eine von der Kulturphilosophie bisher unterschätzte Möglichkeit dar, das weitgespannte Netzwerk der humanen Sinnstiftungen exemplarisch zu untersuchen. Daher wird im Folgenden versucht, den verschlungenen Pfaden von Sinnstrukturen stets ein Stück weit zu folgen, auch wenn das Blau als Bedeutungsträger nicht immer im Mittelpunkt steht. Nur auf Umwegen lässt sich mitunter eine Lineatur des Sinns nacherzählen, bis an unverhoffter Stelle das Blau aufblitzt und erst im Zusammenhang seine Bedeutsamkeit preisgibt.
Als vielschichtige kulturelle Gebilde sind Bedeutungen keine Archetypen. Sie sind keine zeitlosen, der Geschichte enthobenen Urgestalten des Sinns. Begreift man sie als kulturelle Produkte, muss man vielmehr einen Wandel der Sinnfiguren erwarten. Auch die Bedeutungen des Blaus haben somit ihre Geschichte: Die Unterscheidung zwischen warmen und kalten Farben etwa ist eine kulturelle Konvention – im Mittelalter galt das Blau als eine warme Farbe, die Moderne begreift sie als kühl. Und während heutzutage der Himmel als der Inbegriff des Blaus gilt, findet sich in der mittelalterlichen Malerei kein blaues Himmelsgewölbe: Die Maler griffen zu weißen, roten oder goldfarbenen Tönen, nicht aber zu Blau. Selbst der Adel verband lange Zeit nichts Gutes mit dem niederen, barbarischen Blau – es dauerte lange, bis die Farbe ab dem 12. Jahrhundert Einzug in die Wappen hielt und ab dem 13. Jahrhundert zum Königsblau wurde.4 Gerade das Wechselspiel von Wandelbarkeit und Beharrungsvermögen der Bedeutungsfiguren macht sie zu einem so spannenden Objekt der Beobachtung.
Lässt man sich auf das Blau und seine Bedeutungen ein, bekommt man es mit einer Fülle an Fundstücken zu tun, die anders als flanierend kaum zu bewältigen ist. Keine vorschnelle Systematik vermag mit einem Griff Klarheit in das Gewirr der mit Bedeutungen aufgeladenen Blauvorkommnisse zu bringen: von der Blauen Grotte auf Capri, den monochromen Blaubildern des Yves Klein, dem Jazzalbum Kind of Blue des Trompeters Miles Davis und Else Lasker-Schülers Gedicht »Mein blaues Klavier« über das blaue Ischtar-Stadttor aus Babylon und die Blaue Moschee in Istanbul bis zur Blue Jeans, den blauen Kacheln von Delft oder den vornehmlich in Blau gehaltenen portugiesischen Fliesen – den Azulejos – und der französischen Fußballnationalmannschaft Les Bleus. Wo man auch hinschaut: Blaues findet sich überall.
Wie der Flaneur in absichtsloser Reihung den einen Eindruck auf den anderen folgen lässt, um das scheinbar Zusammenhanglose zu einem Panorama der modernen Urbanität zu verdichten, kann man auch an den Blauvorkommnissen untergründige Sinnstrukturen und Bedeutungsnetzwerke erkennen. An ihnen lässt sich exemplarisch studieren, was es mit der Sinnkultur des Menschen und ihrem weitverzweigten System der Bezüge, ihren Spiegelungen und Echos, auf sich hat. Das eine bezieht sich auf das andere, das wiederum auf ein Nächstes verweist. Keine Bedeutung steht ganz für sich allein. Vielmehr spannt sich ein Bedeutungshorizont auf, vor dem miteinander verbundene Sinnfiguren ihre Prägnanz gewinnen. So steht der Jazz mit seinen blue notes, nachzuhören auf Platten des Labels Blue Note, in einem wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang mit dem Blues. Es gibt den blue-eyed soul, den Soul der Weißen, und ›The Voice‹ mit seinen Ol’ Blue Eyes: Frank Sinatra. Und so weiter und so fort.
Für die Labyrinthe des Sinnlich-Sinnhaften, die nur vagabundierend zu erkunden sind, werden Genregrenzen zur Makulatur. Daher wird in diesem Buch nicht einmal im Ansatz versucht, einen klaren Grundriss für unsere kulturelle Architektur der Bedeutungen dieser Farbe zu zeichnen. Im Folgenden wird keine weit ausgreifende Kulturgeschichte der Bedeutungsnuancen der Farbe Blau geboten. Nur gelegentlich richtet sich der Blick vom modernen Blau bis in die Tiefen der Geschichte. Die Kontinuität einer Kulturgeschichte soll vielmehr zugunsten eines gewollten Nebeneinanders sich auf den ersten Blick voneinander abhebender Blaufundstücke vermieden werden. Ebenso wenig geht es um eine systematische Erforschung der Blauvorkommnisse in einer Sprache anhand einzelner Wörter oder Redewendungen. William H. Gass hat in seinem Buch On Being Blue verschlungene Pfade durch das Sprachdickicht geschlagen: Seine Studie macht den chaotischen Reichtum der vielen Nuancen von blue augenfällig.5 Um es mit Rosanne Cash zu sagen: »It’s a big wide world with a million shades of modern blue«.6
So bietet dieses Buch einen Archipel an essayistischen Miniaturen, die Bedeutungsinseln gleichen und doch untergründig miteinander verbunden sind. Mal steht dabei eine Blaubedeutung als herausragendes Motiv im Zentrum der Betrachtung, ein anderes Mal dient ein einziges Spurenelement des mit Sinn aufgeladenen Blaus lediglich als assoziativer Ausgangspunkt für lustvolle Ausschweifungen. Walter Benjamin hat im Flaneur die Vorstufe des Detektivs ausgemacht.7 Er teile mit ihm die Lust am Bemerken und Kombinieren. Für jede überraschende Wendung offen, zeichne ihn der Spürsinn für bemerkenswerte Details und verblüffende Zusammenhänge aus. Der Reiz des Kombinierens und Entdeckens wird in diesem Buch stets den Vorsprung vor theoretischen Reflexionen behalten.
Wenn es aber nicht gelingen kann, die vielen Bedeutungsträger der Farbe Blau abschließend in eine Ordnung zu zwingen, da keine Methode, keine Disziplin, kein Zugriff ausreicht, die Vielfalt der blauen Sinnmomente einzuholen, welche Art von Ordnung könnte dem detektivischen Flaneur als Sammler von Bedeutungen offenstehen? Am ehesten die Ordnung eines behutsam zusammengetragenen Sammelsuriums, eines geplanten Durcheinanders. Dafür gibt es ein in Vergessenheit geratenes Vorbild: die Wunderkammer.
Wunderkammern waren in der Spätrenaissance und dem Barock Refugien des Außergewöhnlichen. Wer in sie eintrat, kam aus dem Staunen nicht heraus. Unglaubliches gab es zu sehen. Dem neugierigen Betrachter bot sich auf kleinstem Raum ein kostbares Allerlei an unterschiedlichsten Seltenheiten: Gemälde, Schnitzereien, Bücher, Silber- und Goldgeschirre, kunstvolle Uhrwerke, Mineralien, seltsame Gewächse, Straußeneier, Rhinozeroshörner, Schreibautomaten, Skelette, Muscheln, Schlangenhäute, Münzen und vieles mehr. Eine Wunderkammer glich einem Füllhorn an Kuriositäten. Ihr überbordender Reichtum ermöglichte dem Betrachter eine Schwelgerei der Sinne. Sie war der Inbegriff eines sinnlichen Flanierens auf kleinstem Raum.
Trotz mancher unternommener Versuche, durch Ordnungssysteme den in ihnen gesammelten Reichtum der Welt zu bändigen – man führte Listen des Zusammengetragenen und entwarf Rubriken für das Gesammelte –, bestand der Charme der Wunderkammer in dem genussvollen Kapitulieren vor der Fülle und der Preisgabe künstlicher Abgrenzungen. In einem einzigen Sammlungsraum fanden sich die sogenannten naturalia, also Gegenstände eines Naturalienkabinetts, unvermittelt neben den artificalia, also den künstlichen Erzeugnissen menschlicher Handwerkskunst. Nichts wurde separiert. Eine systematische Trennung der Sammlungsbereiche galt vor der Entstehung der staatlichen Museen wenig. Was zählte, war die Seltenheit des Wundersamen, ganz gleich, aus welchem Bereich es stammte.
Wenngleich sich die Zusammenstellung der Exponate in den untergegangenen Wunderkammern den Ansprüchen heutiger Systematik und historischer Einordnung verweigert, verwiesen die gezeigten Gegenstände doch auf eine eigene Ordnung des Spektakulären, wurden sie doch mit Blick auf die beste Wirkung hin präsentiert. Die seltenen und erlesenen »Raritäten« und »Wunderwerke«, rara und mirabilia, wurden präsentiert, um Staunen zu erregen. Sie dienten nicht ausschließlich der Förderung des Wissens, sondern dem Spektakel. Das hat Caspar Friedrich Neickelius in seinem 1727 in Leipzig und Breslau erschienenen Buch Museographia oder Anleitung zum rechten Begriff und nützlicher Anlegung der Museorum, oder Raritäten-Kammern genau zu benennen gewusst: Das Ziel einer idealen Wunderkammer sei die optimale »Gemüths-« und »Augen-Ergötzung«.8
Das Sammlungsprinzip der Wunderkammer hat sich nicht erhalten. Mit dem Entstehen der staatlichen Museen – etwa dem Louvre im Zuge von Napoleons Eroberungsfeldzügen – hielt eine Systematik Einzug, die in den Sälen und Flügeln der modernen großen Museumsbauten das eine von dem anderen fein säuberlich abzugrenzen versuchte: die ägyptische Sammlung von der babylonischen, die Malerei der italienischen Renaissance von der griechischen Skulptur. Kein ägyptischer Pharao wird seinen Platz neben einem Rembrandt finden, die Nike von Samothrake bleibt auf immer von der Mona Lisa getrennt. Und wer in einem Technikmuseum Meisterwerke der Ingenieurskunst bestaunt, wird durch kein Skelett eines Dinosauriers abgelenkt. Kein Straußenei wird sich neben einen Picasso verirren. Allein das Flanieren durch die Säle eines großen Museums wie dem Louvre und somit das Nacheinander des Getrennten ermöglicht dem Besucher der modernen Sammlungen eine vage Erinnerung an die kulturelle Völlerei der Wunderkammer, die im Kleinen all das Verschiedene gleichzeitig und nebeneinander zu präsentieren unternahm.
Eine Schule des Staunens – die Wunderkammer zur »Gemüths- und Augen-Ergötzung«
Der Verlust ist ungeheuerlich. Man geht wohl nicht zu weit, wenn man in dem Untergang der Wunderkammern den symbolischen Ausdruck eines bedenklichen Siegeszuges des modernen Ordnungswillens erkennt. Das scheinbar wilde Durcheinander der seltsamen Fundstücke ist dem aufgeklärten Betrachter suspekt geworden, der mit Kennerblick jeden Gegenstand einem Sachgebiet und einer Epoche zuzuweisen vermag. Die neue Ordnung der Dinge aber führt in die Falle des kultivierten Spezialinteresses. Die kartographierte Erlebniswelt lässt immer weniger Überraschungen zu. Aufgrund der Monokultur der eigenen Erwartungen findet niemand mehr, was er nicht gesucht hat. Sympathiegeleitete Wahrnehmungsmuster werden zu Aufmerksamkeitsschablonen. Die individuelle Freiheit, dem eigenen Interesse ungestört nachgehen zu können, erweist sich als Falle, in der die Unabgelenktheit der privaten Vorlieben mit einem Verzicht auf Erfahrungen von Fremdartigem erkauft wird. Die Einnistung im Bekannten ist als Ruhigstellung unserer Neugierde durchaus gewollt: Es finden sich stets Handlanger für die Erfüllung unserer Wünsche. Das Spartenradio, um ein Beispiel zu nennen, ist dem Trend der Erwartungsbedienung bereitwillig entgegengekommen: Es gibt eigene Sender für Klassik, für Schlager, für Rockmusik. Mozart und Jimi Hendrix werden dort niemals nacheinander musizieren.
Für unseren Umgang mit Kultur ist dieser Prozess verheerend. Denn Kultur ist vom Prinzip her auf Vielfalt angelegt. Dem lateinischen cultura entstammend, verweist der Begriff der Kultur auf seine Herkunft aus dem Ackerbau, also der Urbarmachung unberührter Natur. Die »Kultivierung« wilden Landes stellte einen formenden Eingriff in die Natur dar, ohne aber deren Vielfalt preiszugeben. Jeder halbwegs intakte Bauerngarten erinnert heute noch daran.
Der Kultivierung des Landes entsprach eine Kultivierung der Seele. Als cultura animi bezeichnete man die »Beackerung« und Pflege des Geistes. Auch die Wunderkammer diente dem Versuch, den Menschen kulturell anzuregen. Wie das Bereisen der Welt einen unvergleichlichen Erfahrungsschatz mit sich brachte, sollte auch die Fülle an Eindrücken in den Kunst- und Naturalienkabinetten – bei aller befriedigten Sensationslust – bilden. Die Steigerung des Präsentierten durch die kreative Kombination in einem überraschenden Nebeneinander glich einem künstlerischen Akt des Sammelns, und der Betrachter wurde durch das Dargebotene gleichsam der weiten Welt im Kleinen ausgesetzt. Wunderkammern boten die Möglichkeit, über die Grenzen der eigenen Vorlieben gezogen zu werden und vertraute Sehgewohnheiten hinter sich zu lassen. Es tut nichts zur Sache, dass die historische Praxis der Wunderkammern dem Ideal, sich dem Fremden zu öffnen, oft nicht entsprach. Das Exotische wurde durch einen europäisierenden Zugriff seiner irritierenden Fremdheit oftmals beraubt und dem vertrauten Horizont eingegliedert.9 Aber als ein materialisiertes Modell möglicher Erfahrungen des Andersartigen sind Wunderkammern ideengeschichtlich nach wie vor bemerkenswert. Unabhängig vom möglicherweise verblüffungsresistenten Blick des Betrachters wurden in ihnen, wie es Henning Ritter resümiert, »Gegenstände und Bilder aus Natur, aus Geschichte und Kunst in ›verrückten‹ Zuordnungen miteinander verklammert«.10 Das ist ihr Geheimnis: Das sich Fremde steigert sich in seiner Wirkung gegenseitig.
Mit dem eigenwilligen Ordnungsprinzip der Wunderkammer ist nun eine Möglichkeit eröffnet, nicht nur Dinge, sondern auch Bedeutungen von Dingen und Phänomenen so zu gruppieren, dass sie sich gegenseitig in verblüffenden Konstellationen ergänzen. Darum ist es nicht nur erlaubt, sondern vielversprechend, unterschiedlichste Sinngehalte der Farbe Blau nebeneinander zu stellen und Bedeutungsketten zu knüpfen, inhaltsschwanger und assoziativ, wohl abgewogen und sprunghaft. Das auf diese Weise Präsentierte soll in seinen untergründigen rhizomartigen Verbindungen ansichtig gemacht werden, ohne einer klaren Ordnung und Systematik unterworfen zu werden. Daher ist für das Unternommene die klassische Anthologie kein Vorbild. Nichts spricht gegen Quellensammlungen, die eine Vielzahl an Blaufunden offerieren.11 Aber die Akribie derartiger Zusammenstellungen verrät einen Hang zur Eindeutigkeit, den die folgenden Ausschweifungen nicht teilen. Dem Ordnungsprinzip der unordentlichen Wunderkammer verpflichtet, verzichten die dargebotenen Deutungen und Interpretationen auf Chronologie und Vollständigkeit zugunsten eines lustvollen Herausgreifens von Bemerkenswertem. Jede Sammlung wird durch das Finderglück des Zusammentragenden und seinen Neigungen bestimmt. Mag auch vieles in dieser vorgelegten Wunderkammer der Bedeutungen der Farbe Blau Erwähnung finden, sind Auslassungen gewollt. Weder der Film Bleu mit Juliette Binoche in der Hauptrolle noch Blue Velvet von David Lynch werden in diesen entfalteten Deutungsraum Eingang finden. Die Erzählung Blaubart von Max Frisch bleibt ebenso unbeachtet wie die blauen Pferde von Franz Marc. Gerade die Unabgeschlossenheit des lediglich Exemplarischen lädt zu gedanklichen Erweiterungen und Fortsetzungen ein.
Dabei muss beim unsystematischen Lustwandeln durch die symbolhaft angereicherten Blauwerte zunächst offenbleiben, was eine »Bedeutung« überhaupt ist. Ernst Cassirer, der Mitbegründer einer Philosophie der Kultur, hat angemerkt, es gebe vielleicht »kein irritierenderes und umstritteneres Problem als die Frage nach der ›Bedeutung der Bedeutung‹«.12 Begriffliche Klarheit kann hier also nicht die Voraussetzung, sondern im besten Fall das Ende eines Nachdenkens sein, das sich bis dahin mit provisorischen Profilierungen behelfen muss. Was wie eine Verlegenheit, wenn nicht gar wie eine Fahrlässigkeit anmuten mag, ist der Hermeneutik als Kunst der Auslegung vertraut: Das vage Vorverständnis erfüllt bereits die Bedingung der Möglichkeit, überhaupt etwas zu verstehen. Zwar muss es das Ziel sein, auf Dauer genauer angeben zu können, mit was wir es jeweils zu tun haben, aber es gibt auch das Recht auf Vagheit und die »Tugend geringerer Präzision«.13 Wenn überhaupt, dann muss auch in diesem Fall – in einer Formulierung Immanuel Kants – »die Definition, als abgemessene Deutlichkeit, das Werk eher schließen, als anfangen«.14
Es mag also für eine erste Annäherung genügen, unter einer Bedeutung zunächst das zu verstehen, »wofür etwas steht«. So verleiht das Blau der monochromen Bilder Yves Kleins einer Sehnsucht nach absoluter Freiheit Ausdruck, und die Blaue Blume des Novalis steht für den Inbegriff einer romantischen Weltsicht. Aber über derartige Zuschreibungen hinaus hat das Bedeutsame und Bedeutungslose für uns einen Verweischarakter auf Wichtiges und Unwichtiges: Wo Bedeutsamkeit herrscht, sind Sinn und Wert nicht weit. Aber auch hier ist Vorsicht geboten: »Bedeutsamkeit«, hat Hans Blumenberg gewarnt, »gehört zu den Begriffen, die sich erläutern, aber nicht im strikten Sinne definieren lassen.«15
Will man daher der Art, wie wir unsere Welt als sinnvoll erfahren oder ihr mit Sinnzuschreibungen begegnen, auf die Schliche kommen, hat man sich auf das unübersichtliche Terrain des Bedeutungsvollen in unserer Kultur beschreibend und erläuternd einzulassen. Bedeutungen bestehen nie an sich, sondern sind immer verbunden mit etwas, dem diese Bedeutung beigemessen wird. Sie sind oftmals eingebettet in Zusammenhänge, die sich nur erzählerisch darstellen lassen. Und es sind immer konkrete Personen, für die etwas bedeutungsvoll ist. Daher werden sie in diesem Buch stets mitbedacht. Bedeutungen sind stets biographisch grundiert, eingesponnen in eine von uns bewohnte Welt. Darin besteht Wilhelm Diltheys wegweisender Fingerzeig für eine Lebensphilosophie der Kulturwelten: Man überlegt sich keine Bedeutsamkeiten, man denkt sie sich nicht aus. Bedeutsamkeit wird vielmehr »aus dem Leben selbst herausgeholt«.16 Sie verdankt sich dem unmittelbaren Lebensvollzug, der durch unübersichtliche Verstrickungen von Erfahrungen, Wünschen, Erkenntnissen und Hoffnungen bestimmt ist. Als Bob Dylan seinen meisterlichen Song »Tangled Up in Blue«, der 1975 auf seinem Album Blood on the Tracks erschienen war, auf Konzerten spielte, kündigte er ihn mit den Worten an: »It took me ten years to live and two years to write.«17 So hart kann die Arbeit an der Bedeutsamkeit sein: In ihr kommen ganze Lebensvollzüge zum Ausdruck.
Die Verwendung von Bedeutungen erlernt man wie die gesprochene Sprache: indem man in sie hineinwächst. Niemand eignet sich seine Muttersprache durch einen Blick in ein Lehrbuch an. Und kaum jemand, der der Sprache mächtig ist, ist in der Lage, ihr grammatisches Regelwerk zu verfassen. Grammatiken sind stets ein spätes Stadium eines gelungenen Sprachgebrauchs. Vergleichbares gilt für die Sinnhorizonte der Bedeutungen. Unsere Lebenswelt ist mit Bedeutungen ausgestattet, bevor wir über sie nachzudenken beginnen. Wie das möglich ist, was wir da tun, wenn wir in einer Welt der Bedeutungen leben, ist stets eine nachträgliche Frage. Wie uns Wörter immer schon bereitliegen, wenn wir sie uns allmählich aneignen, greifen wir auch auf schon vorhandene Bedeutungsmuster zurück, wenn wir die Welt als sinnhaft erfahren oder gestalten. Wir können diese Bedeutungsmuster variieren oder weiterentwickeln, aber wir müssen sie nicht erst erfinden.
Gerade dieser Ursprung von Bedeutungsstiftungen in Lebenszusammenhängen verbürgt aber, dass das der Farbe Blau zugeschriebene Bedeutungsspektrum weder zufällig noch beliebig ist. Kaleidoskopartig folgen die Sinnhaftigkeiten der Blauvorkommnisse einer hintergründigen Bedeutungsstruktur, die Zusammenhänge stiftet und Spiegelungen ermöglicht: Das Blau der Unendlichkeit des Himmels ist von dem Ideal der Freiheit nicht zu trennen; das Sehnsuchtsblau birgt die Emphase der Ferne ebenso wie die Trauer um Verlorenes oder nie Erlangtes; das blaue Blut des Adels symbolisiert die gehobene Herkunft wie der »Blaumann« die Lebenswelt des Arbeiters repräsentiert.
Das Blau kann die Bedeutungen von Freiheit, Weite, Sehnsucht, Ferne und Trauer annehmen und dadurch den Horizont menschlicher Sinnvorstellungen in Farbe tauchen, ohne dabei eine kristalline Eindeutigkeit annehmen zu müssen – eine Eindeutigkeit, die auch im Lebensvollzug nur einen Grenzwert und eine Ausnahme darstellt. Ein Lexikon der Bedeutungen, und sei es auf die der Farbe Blau beschränkt, ist das Gegenteil des in diesem Buch Intendierten. Wer Vollständigkeit und Klarheit will, wird sie hier vergeblich suchen.
Weil sich unser Leben aber gerade im Medium der vielfältigen Bedeutsamkeiten vollzieht, mag dem jede Systematik unterlaufenden Reichtum der Wunderkammer eine heilsame Stimulanz zukommen. Henning Ritter hat von einer Wiederkehr der Wunderkammer gesprochen und die Grenzen des gegenwärtigen Ordnungsideals aufgezeigt. Vielleicht lässt sich dieses nur scheinbar überholte Ordnungsund Sammlungsprinzip auf einen geistesgeschichtlichen Umgang mit Bedeutungswelten übertragen: In einer Wunderkammer der Bedeutsamkeit der Farbe Blau hätte dann der blaue Mantel Marias auf einem Bild Stephan Lochners von 1450 ebenso seinen Ort wie das Album Blue von Joni Mitchell. Das Blau des Himmels und die Blaue Mauritius fänden ihren Weg in einen Reflexionsraum, der Interpretationen des Disparaten verbindend nebeneinanderzustellen sucht.
Im Gegensatz zu den Exponaten der alten Wunderkammern haben sich die nunmehr vorgestellten Blaufunde in kaum einem Fall als Raritäten auszuweisen. Aber noch das Alltäglichste verdient einen aufmerksamen Blick, der das in seiner Selbstverständlichkeit Verdeckte erneut ansichtig macht. Die heilsame Verwunderung über die Wirklichkeit ist nach Robert Walser Folge der Verwandlung, »Selbstverständliches unverständlich« zu nehmen und »für Leichtbegreiflichkeiten eine Grundlage des Unerklärlichen zu finden«.18 Auf diese Weise entsteht eine Wunderkammer im Kopf. Neugierde und Nachdenklichkeit sind die Tugenden des modernen Sammlers. Erfahrungen, Einsichten und Sinnfiguren sind sein Reichtum. In einer scheinbar überraschungsfrei gewordenen Welt, so hat es Ritter in Aussicht gestellt, werden »Kontemplation und ästhetische Betrachtung … selbst zu Rara und Mirabilia«.19 Die modernen Museen verlangen nach Kennerschaft, die Wunderkammern dagegen wollen das Staunen lehren. Eine fiktive Wunderkammer der Imaginationen und Reflexionen, die das Allzubekannte wieder zu etwas Aufmerksamkeitswürdigem werden ließe, könnte zu dem werden, was Horst Bredekamp als einen »Übungsraum der Verschmelzung von Sinn und Form«20 ausgemacht hat. Ohne Respekt vor Genregrenzen und der Forderung nach einer schlüssigen Theorie über all das zu Behandelnde böte eine Wunderkammer mit Fundstücken der Farbe Blau Bedeutsames. Es ist einen Versuch wert.
Plötzlich taucht hinter dem Rande des Mondes in langen, zeitlupenartigen Momenten von grenzenloser Majestät ein funkelndes, blauweißes Juwel auf, eine helle, zarte, himmelblaue Kugel, umkränzt von langsam wirbelnden weißen Schleiern. Allmählich steigt sie wie eine kleine Perle aus einem tiefen Meer empor, unergründlich und geheimnisvoll. Du brauchst eine kleine Weile, um ganz zu begreifen, daß es die Erde ist.
Edgar Mitchell, an Bord der Apollo 14, 31. Januar bis 9. Februar 1971
Am 12. April 1961 umkreiste Juri Alexejewitsch Gagarin an Bord der Wostok als erster Mensch die Erde. Einen Tag später berichtete der Heimgekehrte, welchen Anblick ihm die Erde vom Raumschiff aus geboten hatte: »Die Tagesseite der Erde ist aus dieser Höhe sehr gut zu sehen, man kann die Küsten der Kontinente, die Inseln, die großen Ströme, die großen Wasserbecken und die Terrainfalten gut unterscheiden.«1 Von Flugzeugen kannte man derartige Ansichten, wenn auch nicht aus vergleichbarer Höhe. Neu war daher die Sicht auf die Erde als Ganzes: »Während des Fluges konnte ich zum erstenmal mit eigenen Augen die Kugelgestalt der Erde sehen. So wirkt sie, wenn man auf den Horizont blickt. Ich muß sagen, daß der Horizont ein höchst eigenartiges und ungewöhnlich schönes Bild bietet. Man kann den ungewöhnlich schönen Übergang von der beleuchteten Erdoberfläche zum völlig schwarzen Himmel sehen, an dem die Sterne sichtbar sind. Dieser Übergang vollzieht sich in sehr feinen Abstufungen, es ist, als umgürte eine Folie von zart hellblauer Farbe den Erdball.«2 Seit Juri Gagarins Flug um die Erde spricht man vom ›blauen Planeten‹.
Die Exklusivität des Blicks auf die Erde, wie er Astronauten vorbehalten war, hielt nicht lange an. Bereits Scott Carpenter machte während seiner Erdumrundung an Bord des amerikanischen Raumschiffs Aurora 7 am 24. Mai 1962 Fotos von der Erde, die der Weltöffentlichkeit präsentiert wurden. Die Aufgabe, dem deutschen Lesepublikum zu erläutern, was an ihnen bemerkenswert war, übernahm Heinz Haber: »Ein Element dieser Bilder ist … sehr auffallend – die Farbe. Unser Planet erscheint eingehüllt in ein leuchtendes, tiefes Aquamarin.«3 Das war noch so wenig selbstverständlich, dass es eines Hinweises bedurfte: »Für einen Planeten ist die Farbe Blau eine Besonderheit in unserem Sonnensystem. Mars ist rötlich, Saturn gelblich; die anderen Planeten sind weiß, und die beiden äußersten großen Planeten, Uranus und Neptun, zeigen einen grünlichen Schimmer. Nur unser Planet ist blau.«4
Für die Astronauten war die Schönheit des Anblicks der Erde etwas durchaus Unerwartetes. Dafür gibt es einen eindrucksvollen Beleg, der umso wertvoller ist, da er sich beinahe dem Zufall verdankt und spontane Äußerungen hervorrief. Die Verlautbarungen Gagarins erfüllten mitunter willfährig jene propagandistischen Schablonen, die die russische Führung von ihm erwartete. Auch Neil Armstrong verließ sich beim ersten Betreten des Mondes am 21. Juli 1969 nicht auf seine Spontaneität. Er tat diesen Schritt, der, wie er sagte, für einen Menschen ein kleiner, für die Menschheit ein großer sei,5 gut präpariert und vorbereitet. Wer verlässt sich schon auf sich selbst, wenn man Weltraumgeschichte schreibt, einem die zurückgebliebene Menschheit am Fernseher über die Schulter schaut und einen weltgeschichtlichen Kommentar erwartet? Umso bedeutsamer sind die unmittelbaren Reaktionen auf einen Anblick, der sich unverhofft eingestellt hatte und der bis heute das spektakulärste Bild von der Erde bereithält. Im Dezember 1968 umrundete das erste bemannte Raumschiff des amerikanischen Apollo-Programms den Mond. Ziel war es, mögliche Landestellen für einen späteren Flug zu dem Erdtrabanten auszumachen. Dabei bekamen die Astronauten William Anders, Frank Borman und James Lovell an Bord der Apollo 8 zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte die Rückseite des Mondes zu Gesicht. So außergewöhnlich der Anblick des Mondes aus der Nähe auch war, so wenig Überraschendes hielt seine erdabgewandte Seite bereit. Man bekam zu sehen, was man hatte vorausahnen können.
»Wow, is that pretty!« – die aufgehende Erde vom Mond aus gesehen
Aber die Mondumrundung offenbarte einen Anblick, mit dem man nicht gerechnet hatte. Bereits zwei Runden hatten die Astronauten am 24. Dezember mit ihrem Raumschiff absolviert, um Fotos von der Mondoberfläche zu machen, da änderte Borman die Ausrichtung der Apollo 8 ein wenig und es ging völlig unverhofft die Erde am Horizont des Mondes auf. Die vom NASA Goddard Space Flight Center 2013 veröffentlichte, computeranimierte Rekonstruktion des Erdaufganges bietet sowohl die damals gemachten Fotos als auch die Tonspur, die die Unterhaltung der Astronauten wiedergibt.6 Es war Anders, der als Erster die aufgehende Erde bemerkte: »Oh my God, look at that picture over there! There’s the Earth comin’ up. Wow, is that pretty!«
Zunächst macht er ein Schwarz-Weiß-Foto. Auf ihm ist die leicht gekrümmte und verkraterte Mondoberfläche zu sehen, am Horizont – vor tiefschwarzem, sternenlosem Hintergrund – die Erdkugel, zu zwei Dritteln über den Rand des Mondes ragend. Die weißen Wolkensysteme setzen sich gut sichtbar von den grauen, wolkenlosen Regionen ab. Im Gegensatz zur pockennarbigen Mondoberfläche erscheint die Erde als eine vollkommene Kugel – die messbare Abplattung an den Polen beeinträchtigt ihren optischen Eindruck nicht.
Ist das Foto, so beeindruckend es auch sein mag, nicht lediglich eine Umkehrung der gewohnten Perspektive von der Erde auf die Sonne und auf den Mond? Die eigentliche Sensation, so muss es Anders in Bruchteilen von Sekunden durch den Kopf gegangen sein, liegt nicht so sehr in dem Blick auf die Erde, der ja seit den ersten Flügen in das All bekannt war. Es ist der überraschende Farbkontrast, der sich als überwältigend erweist. »You got a color film, Jim?«, fragt Anders. »Hand me a roll of color, quick, would you?« Lovell, der nun auch den Erdaufgang betrachtet, ist begeistert: »Oh man, that’s great!« Anders treibt an: »Hurry. Quick.« Aufgrund der Rotation der Apollo 8 um ihre eigene Achse droht der Blick auf die Erde aus dem Sichtfeld zu geraten. »Just grab me a color … Hurry up.« Als Lovell nach einer C-368-Kamera sucht, treibt ihn Anders erneut zur Eile: »Anything. Quick.« Eine Minute ist seit dem Auftauchen der Erde vergangen. Als Anders endlich die Farbkamera in den Händen hält, ist der Erdaufgang aus dem Sichtfeld des Fensters geraten. »Well, I think we missed it.« Doch durch ein anderes Fenster tritt die Erde erneut ins Blickfeld. Anders macht das Foto seines Lebens. »Got it?«, fragt Lovell, »Yep«, antwortet Anders. Sie schießen noch weitere Fotos. Die Erdkugel, ein Drittel ist verschattet, schwebt nun klar über dem Mondhorizont. Vor der Nachtschwärze des Himmels hebt sie sich mit strahlendem Blau ab. Man sieht einige Wolkenbänder und braune Kontinente. Zwei Minuten haben ausgereicht, das Bild von der Erde grundlegend zu verändern. Es ist der Kontrast zum grauen Mond und zur Leere der tiefschwarzen Himmelsweite, der den blauen Planeten als etwas Außergewöhnliches zeigt. Mögen auch auf der Erde die Regenwälder mit ihrem unermesslichen Artenreichtum das Grün zum Symbol des Lebendigen gemacht haben – von der Warte der lebensfeindlichen kosmischen Bedingungen aus ist es das Blau, das die Voraussetzungen unseres Lebens symbolisiert.
Was die spontanen Kommentare der drei Astronauten zum Anblick der aufgehenden Erde zum Ausdruck gebracht haben, ist der Einbruch eines unerwarteten Empfindens von Schönheit. Angesichts des enormen finanziellen und technischen Aufwandes der Apollo-Missionen drohten der Erfolg und die wissenschaftliche Rendite zum ausschließlichen Rechtfertigungskriterium dieser Anstrengungen zu werden. Die Eroberung des Mondes wurde als nationale Aufgabe und als ein Triumph der modernen Wissenschaft begriffen. Im Taumel der Begeisterung über das eigene Können schien der Mensch nur noch sich selbst im Blick zu haben. Vor der grauen Mondoberfläche und dem kosmischen Schwarz aber tauchte unerwartet der Heimatplanet in seiner überwältigenden Einzigartigkeit auf. Der Anblick der aufgehenden Erde bot eine sich selbst genügende Anschauung.
Seit der antiken Astronomie kennt die Tradition den »Sternenbetrachter«, den contemplator caeli. Dessen Aufschauen zu den Sternen kam in der vormodernen Welt einer Versenkung in die kosmisch-göttliche Ordnung gleich. Der Blick vom Mond auf die Erde hat den Menschen dagegen zum Erdbetrachter werden lassen, zum Betrachter der schönen Ausnahme in den Weiten unseres Sonnensystems und des Sternenhimmels. Darin liegt der wichtigste Ertrag der Astronautik. Günther Anders hat von dem ersten Weltraumflug zum Mond als der »Selbstbegegnung der Erde« gesprochen: »Das große Erlebnis auf dieser Mondfahrt war nicht das Ziel, sondern der Ausgangspunkt; nicht das Unbekannte, sondern das Bekannte; nicht das Fremde, sondern das Verfremdete; nicht der Mond, sondern die Erde.«7 Man mochte viel erwartet haben, aber die blaue Schönheit des Heimatplaneten war die eigentliche Entdeckung. Gegenüber dem Mond war »unsere von niemandem gestützte und vereinsamt in der unermeßlichen Schwärze des Himmels hängende Erde so ungewöhnlich, so ungewöhnlich schön und so ungewöhnlich trostlos wie nichts, was wir früher auf Erden gesehen hatten, und auch in der Erinnerung ist sie etwas auf atemberaubende Weise Unbekanntes«.8
Am 7. Dezember 1972 wurde von Bord der Apollo 17 erstmalig der völlig von der Sonne beschienene, von keiner Nachtsichel beschränkte und in seinen blau-weiß-rötlichen Farben erstrahlende Erdkörper fotografiert, gerahmt von einem satten Schwarz in einem quadratischen Foto. Dieses Bild des schwebenden Erdkörpers ist unter dem Titel Blue Marble bekannt geworden. Die »Blaue Murmel« wurde – auch aufgrund des einsetzenden Bewusstseins der ökologischen Gefährdung – zu einer Ikone der Umweltaktivisten. Der Anblick der blauen Atmosphäre wurde nicht, wie wenige Jahre zuvor, vor allem in seiner Schönheit bestaunt, sondern – vor dem Hintergrund des entdeckten Ozonlochs und der sich abzeichnenden Klimaerwärmung – als ein Zeichen der Fragilität genommen.
Die Aufnahmen von der Erde markieren den Höhepunkt in der Geschichte einer modernen Anthropozentrik, die die Welt vom Menschen aus in den Blick zu nehmen gewillt ist. Dabei hat schon Martin Behaim diese gottgleiche Perspektive verwirklicht, als er in den Jahren 1492 und 1493 einen ersten Globus anfertigte. Dieses älteste kugelförmige Modell der Erde, als ›Erdapfel‹ bekannt, mit leuchtenden Brauntönen für die Kontinente, war zwar bereits im Jahr seiner Fertigstellung veraltet, da es die von Kolumbus entdeckte Neue Welt nicht abbildete. Unerhört aber war die eingenommene Blickdistanz auf die Erde mit der Möglichkeit der Umrundung durch den Betrachter beziehungsweise der gottgleichen Drehung durch die eigene Hand. Anschaulicher ließ sich das neue Selbstverständnis des Menschen am Ausgang des Mittelalters nicht darstellen.
Hatte die christliche Tradition die Welt als für den Menschen geschaffen begriffen – noch Kopernikus hat von einer Weltmaschine gesprochen, »die um unseretwillen vom besten und genauesten aller Werkmeister gebaut ist«9 –, hat die moderne Astronomie die Erde zunehmend als die unwahrscheinliche Ausnahme begreiflich werden lassen. Noch zu Zeiten der entschiedenen Religionskritik im 17. Jahrhundert ließ sich der erkennbar werdende Sonderstatus der Erde als ein Gottesbeweis nutzen. Walter Charleton hat in seinem Buch The Darknes of Atheism Dispelled by the Light of Nature von 1652 die Weisheit des Schöpfers gelobt, die Distanz der Erde zur Sonne so lebensfreundlich bestimmt zu haben: Wäre die Sonne näher an der Erde, würde auf ihr alles verbrennen, wäre sie weiter entfernt, wäre es auf ihr zu kalt.10 Ohne die ordnende Hand Gottes aber wird die prekäre Anordnung im Planetensystem zu einer Zumutung für das menschliche Selbstbewusstsein, kommt doch dem Zufall ein ungeahntes Gewicht zu. Schon Bernard de Fontenelle hat in seinen Dialogen über die Mehrheiten der Welten den kühnen Gedanken ausgesprochen, es sei ausgemacht, dass das »bloße Ungefähr der Lage«11 unserer Erde im Planetensystem über unser Glück entscheide. Nichts als der bloße Zufall, »le seul hasard«,12 heißt es in den 1686 in Paris im Original erschienenen Entretiens sur la pluralité des mondes, soll über die Position der Erde im Sonnensystem und somit über die Möglichkeit unserer Existenz entschieden haben! Und als wäre das nicht schon der Zumutung genug, wies René Descartes darauf hin, die Erde sei angesichts der Ausmaße des Weltalls kleiner als ein Sandkorn im Hinblick auf ein Gebirge.13 Sie sei nicht mehr als ein Punkt.14
Erst der ›Overview-Effekt‹, das Umkreisen der Erde im Weltall, hat diesen Reflexionen eine unverhoffte Anschaulichkeit verliehen. Erst die Entfernung von der Erde hat einen Blick zurück ermöglicht und die Heimkehr als das eigentliche Ziel des Aufbruchs erkennbar werden lassen. So vertraut der Gedanke inzwischen geworden ist, so überwältigend muss er beim ersten Anblick der Erde von einem ehemals göttlichen Standpunkt aus gewesen sein: Es gibt für uns keine Alternative zu ihr. Nur so konnte die »kosmische Oase, auf der der Mensch lebt«, so Hans Blumenberg, »dieses Wunder von Ausnahme, der blaue Eigenplanet inmitten der enttäuschenden Himmelswüste«15 in den Blick kommen.