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Mit norddeutscher Gelassenheit und Berliner Elan machen sich die ungleichen Schwestern Tessa und Jana an die Lösung ihres ersten Mordfalls. Tessa, 32, träumt vom Leben auf dem Land, mit Rüschchen-Schick und Obstkuchen. Jana, 63, lebt auf dem Land, mit Gummistiefeln und Misthaufen. Eigentlich haben die beiden nichts gemeinsam. Bis auf die Tatsache, dass sie Halbschwestern sind - und das Haus am See, das sie zusammen geerbt haben. Ach ja, und natürlich die Leiche in ebenjenem See ...
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Ein Niedersachsen-Krimi
Roman von
Mareike Marlow
– Digitale Originalausgabe –
Überarbeitete Ausgabe
– 2023 –
1. Auflage
Copyright © 2016 - 2023 by Marion Meister
v1.20231502
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Über das Buch
Tessa, 32, träumt vom Leben auf dem Land, mit Rüschchen-Schick und Obstkuchen. Jana, 63, lebt auf dem Land, mit Gummistiefeln und Misthaufen. Eigentlich haben die beiden nichts gemeinsam. Bis auf die Tatsache, dass sie Halbschwestern sind – und das Haus am See, das sie zusammen geerbt haben. Ach ja, und natürlich die Leiche in ebenjenem See … Mit norddeutscher Gelassenheit und Berliner Elan machen die ungleichen Schwestern sich an die Lösung ihres ersten Mordfalls.
Die Autorin
Mareike Marlow erfand ihre ersten Geschichten im Urstromtal der Isar, wenn sie dort mit ihrem Hund auf Entdeckungstour war. Als junge Frau in Berlin gestrandet, genoss sie zwar die Annehmlichkeiten der Großstadt, die niemals schläft, doch tief im Herzen wuchs die Sehnsucht nach Landluft. Und so zog sie mit ihrem Mann von der Hauptstadt in ein wunderbares niedersächsisches Örtchen. Dort widmet sie sich ihrem Garten, stromert mit ihren Kindern durch die Natur und findet dadurch immer wieder neue Ideen für ihre Bücher.
Inhaltsverzeichnis
1
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Danksagung
Ein Zitronenfalter landete auf dem Lauf der Pistole.
Abigail hatte weder mit Pistolen noch mit Schmetterlingen Erfahrung – aber der Anblick verstörte sie. Es fühlte sich falsch an, dieses zierliche Tier auf der todbringenden Waffe zu sehen.
Ungläubig starrte die junge Frau den Falter an, hielt die Waffe ganz ruhig in die warme Frühlingsluft und versuchte, ihn nicht zu verschrecken. Für einen Moment kam es ihr vor, als hole die Welt noch einmal Luft. Sie spürte die Sonnenstrahlen im Gesicht, hörte den Gesang der Vögel, das Plätschern des Bachs und roch die nasse Erde und das frische Grün. Hier am sonnenbeschienen Bachufer, war alles voller Leben.
Die Pistole hatte sie aus ihrer Handtasche geholt, um sich zu beruhigen, um sie näher bei sich zu wissen. Sie rief sich Nicks Worte ins Gedächtnis, der ihr eingeschärft hatte, wie man die Waffe entsicherte, wie man zielte und abdrückte.
So lautlos, wie der Schmetterling gekommen war, flatterte er davon, glitt über die uralten Zaunpfähle, an denen Brombeeren und Rosen rankten, und flog den Bachlauf entlang. Schließlich trieb er mit dem lauen Frühlingswind in den Birkenhain auf der anderen Seite des Flüsschens.
Abigail musterte die Waffe in ihrer Hand. Erstaunlicherweise war Nicks Walther PPK warm. Die Sonne hatte das Metall erwärmt.
Bisher hatte sie gedacht, Waffen seien kalt. Wie konnte etwas, das den Tod brachte, so angenehm warm sein?
Mit einem unguten Gefühl steckte Abigail die Pistole in den Bund ihrer Jeans.
»Und wenn was schief läuft?« Das waren Nicks Worte gewesen. Deshalb hatte er ihr die Waffe gegeben. Er war immer so voller Sorge. Sie hingegen dachte nur an Isla. Es war ausgeschlossen, dass ihr Plan fehlschlug. Er durfte nicht fehlschlagen. Schon Isla zuliebe nicht.
Doch der Gedanke an ihre 10-jährige Tochter konnte das flaue Gefühl nicht vertreiben.
Und wenn was schief läuft?
Auf dem Grund des Bachbetts konnte sie das Laub des vergangenen Jahres erkennen. Zersetzt und modrig.
Wie alles aus meiner Vergangenheit, dachte Abigail. Alles stirbt und wird zu einem stinkenden Matsch, der sich an meine Fersen heftet und schlammige Spuren hinterlässt.
Ich werde niemals hierher zurückkehren. Nach Burgheide. Niemals wieder.
Wie zum Abschied blickte sie hinter sich über die Wiese. Dort führte die Straße entlang, auf der sie gekommen war. Die roten Ziegeldächer und der Kirchturm des Dorfes lugten über den sanften Hügel. Die Uhr am Kirchturm von Burgheide zeigte zehn nach neun. Abigail konnte sich noch an ihre Restaurierung erinnern und an das Dorffest zur Einweihung der neuen Glocken.
Sie strich ihre roten Locken aus der Stirn und schloss die Augen, während sie durchatmete. Sie spürte das Sonnenglitzern des Bachlaufs auf ihren Wangen.
Alles wird gut. Es wird alles gut, sprach sie sich Mut zu.
In einer Stunde fuhr der Bus, und wenn alles nach Plan lief, dann würde sie die Pistole nicht brauchen.
Es wurde Zeit.
Abigail gab sich einen Ruck, sprang über den Bach und versuchte, mit ihren Trekkingschuhen nicht in den Morast zu geraten. Sie eilte den Trampelpfad am Ufer entlang. Die Waffe drückte bei jedem Schritt gegen ihre Hüfte.
»Jana? … Soll das auch mit?«
Jana Hinrichs saß im Halbdunkeln da und starrte auf die leere Untersuchungsliege vor sich. Der taubengraue Kunstlederbezug war am Fußende durch die unzähligen Patienten, die sie hier untersucht hatte, abgeschabt.
»Jana?«, piepste eine verstellte Stimme. »Jaaaanaaaa …?«
Mit dem zerknüllten Papiertaschentuch, das sie seit Stunden in der Hand knetete, tupfte sie sich die Träne aus dem Augenwinkel. Normalerweise funkelten in diesen blauen Augen keine Tränen, sondern verschmitzter Frohsinn. Sie setzte ihre Brille wieder auf. Die vielen Fältchen um ihre Augen verrieten, dass sie oft lachte. Und genau dieses Lachen hatten ihre Patienten mit am meisten an ihrer Dorfärztin geschätzt. Jana hatte für jeden einen guten Rat und fuhr selbst in der Silvesternacht zum Hausbesuch – auch wenn das Kind mal wieder nur zu viele Weihnachtskekse gefuttert hatte.
Sie drehte sich auf ihrem Rollhocker um und sah einen grün-rot-geringelten Plüsch-Hirsch im Türspalt zappeln.
»Huhu! Jaaaaanaaaaaa! Darf ich mit dir mitfahren?«, fragte er mit seiner piepsenden Stimme. »Fabian und Ruth haben den Wagen vollgeladen. Aber ich kann noch reinhüpfen.« Aufgeregt wackelte er mit dem Kopf und blieb prompt mit seinem schlabbernden Filzgeweih an der Türklinke hängen.
Jana musste schmunzeln. »Ich fürchte, du musst hier in der Praxis bleiben. Doktor Fabian braucht dich doch in der Spielecke im Wartezimmer.«
»Wirklich?« Diesmal fragte Gustav mit sonorer Stimme. Der 67-jährige lugte in Arbeitslatzhose herein. Seine hagere Gestalt und sein zerfurchtes Gesicht erinnerten Jana stets an Alberto Giacometti. Vermutlich hatte dieser Künstler jedoch kein so ausgeprägtes Faible für Prinz-Heinrich-Mützen.
»Bist du sicher, dass du in deinem neuen Domizil keinen Mitbewohner brauchst«, fragte er. »Das wird dir doch sonst viel zu einsam da draußen.«
»Einsam? Mir?« Jana stand auf und schob den Hocker unter den Schreibtisch, rückte ein letztes Mal die Tastatur des Computers zurecht, so wie sie es immer zum Feierabend getan hatte. »Du weißt gar nicht, wie sehr ich mich auf mich allein freue.« Sie stupste das Kuscheltier auf die Nase.
»Und auf einen guten Weißwein.«
»Einen guten Weißwein vor dem Kamin, genau. Und die Einzige, die mir ungefragt Gesellschaft leisten darf, ist Billie Holliday.« Sie setzte ein frohes Gesicht auf und öffnete die Tür ganz.
»Fünfunddreißig Jahre Notdienst, schnoddernde Kinder, humpelnde Bauern, keuchende Mamis. Also mir wird wirklich nichts davon fehlen.« Lächelnd schüttelte Jana den Kopf, so dass ihr grauer Bob wippte.
»Keuchende Mamis und jede Menge Leben. Du kannst mir erzählen, was du willst, Jana. Du wirst das alles hier in zwei Wochen schmerzhaft vermissen. Ich wette du … Sind das etwa Tränen?« Der Hirsch hob einen Huf und deutete auf ihre Wange.
Jana lüpfte schnell ihre Brille und tupfte die verräterischen Tränen weg.
»Kumm erstmol her, ole Deern.« Gustav nahm sie in den Arm.
»He!« Sie sträubte sich gespielt. »Ole Deern? Das nimmst du zurück, du alter Kauz!« Doch seine Umarmung tat ihr gut. Für einen Moment legte Jana ihre Wange an seine knochige Brust. Sie konnte sich noch genau erinnern, wie sie sich vor zweiundfünfzig Jahren kennengelernt hatten. Natürlich auf dem Schützenfest. Ein halbes Jahrhundert, schoss es ihr durch den Kopf.
»Na gut, du junger Hüpper«, korrigierte sich Gustav und zupfte an ihren grauen Haaren. »Aaaalso, das lass dir mal von deinem greisen Kumpel sagen: Als ich die Flinte ins Korn geschmissen hab, da hab ich drei Tage nichts gegessen. Und Karuso – der hat da noch gelebt -, der hat drei Tage geheult, weil wir keinem Hasen mehr nach sind.«
»Gustav …«
»Aber meine Haare …«
»Gustav …«
»… aber meine Haare …«
»Gustav! Lass gut sein.« Wenn er erst mal in seinen Erinnerungen schwelgte, waren sie vor Sonnenuntergang hier nicht raus.
»Meine Haare …«, fuhr er fort. »Also die sind ja schlagartig wieder schwarz geworden. Echt.«
Jana prustete los. »Was für Haare denn bitte? Und außerdem – ich werfe die Flinte nicht ins Korn. Ich gebe nur die Praxis ab, das ist alles.«
»Na klar. Das ist alles. Ganz leicht nach fünfunddreißig Jahren.« Er hakte sie bei sich unter und führte sie durch den Flur. Im Vorbeigehen setzte er den Hirsch auf den Tresen der leeren Rezeption.
Die letzten drei Tage hatte Jana gemeinsam mit Gustav und ihrer Freundin Ruth erst ihre Wohnung über der Praxis ausgeräumt und schließlich auch alles Persönliche aus den Räumen unten.
Mit Kartons unter dem Arm kam Fabian ihnen entgegen. »Wir sind soweit fertig. Das Büro erstrahlt in männlichem Glanz. Was ist mit den Bildern im Wartezimmer, überlässt du die mir, Jana?«
»Hab ich dir doch gesagt. Sicher.«
Der Vollbart ließ Doktor Fabian Kerner wesentlich älter erscheinen, als er war. Jana hatte lange nach einem Nachfolger für die Praxis gesucht, weil kaum Ärzte aufs Land ziehen wollten. Hier, irgendwo im Niemandsland zwischen Bremen, Hamburg und Hannover, gab es mehr Pferde als Einwohner. Burgheide zählte gerade einmal 3134 Seelen.
Als sich letztes Jahr Fabian vorgestellt hatte, hatte sie gezögert. Nicht nur, dass Fabian frisch von der Universität kam, er hatte auch einen extra gestärkten Arztkittel und Bügelfalte in der Hose getragen. Konnte ein 32-jähriger Hamburger der Richtige für ihre Dorfpraxis sein?
Er konnte, denn in weniger als zwei Wochen hatte er sie mit seiner zupackenden Art und seinem Fachwissen überzeugt. Die letzten Monate hatten sie sich die Praxis geteilt, und Jana hatte ihn in alles eingewiesen. Jetzt, nachdem Janas Vater verstorben war, hatte sie ihm angeboten, den Betrieb schon zwei Monate früher zu übernehmen.
Sie ging am Tresen vorbei und warf noch einen letzten Blick in das neu gestaltete Wartezimmer. »Hübsch geworden.«
»Danke.« Fabian hielt ihnen die Tür auf.
Draußen begrüßte sie der Tag mit viel Sonne. Janas Landrover stand vollgepackt vor dem Eingang des Fachwerkhauses, in dem die Arztpraxis untergebracht war. Ein paar Meisen jagten sich über den Parkplatz und verschwanden piepsend im Knöterich, der das Haus beinahe vollkommen in Besitz genommen hatte.
»Du musst noch ein neues Schild anfertigen lassen.« Jana nickte zu dem gusseisernen Namenszug samt Äskulapstab.
»Ist schon in Auftrag.« Fabian blinzelte gegen die Sonne. »Ein bisschen Bammel hab ich ja schon vor Montag.«
»Wieso, du hast den richten Händedruck, du kennst schon fast alle Patienten und zur Not ist Ruth ja immer noch hier. Die greift dir bei den schwierigen Fällen unter die Arme. Und wenn’s Fragen gibt, rufst du mich an.«
»So viel zu Weißwein und Kaminabend mit Billie Holliday«, frotzelte Gustav.
»Das ist das Stichwort … Ruth!«, rief Jana in die Praxis. »Komm! Wir wollen los.«
»Ihr drei fahrt die Sachen allein ins Häuschen?«, wollte Fabian wissen.
»Wieso?«
»Ihr wollt doch nicht die Standuhr und die schweren Bücherkisten selbst abladen.«
Ruth, die gerade aus der Praxis trat und ihren Sommerhut aufsetzte, bedachte Fabian mit einem beleidigten Seitenblick. Sie war ein paar Jahre jünger als Jana und arbeitete seit Ewigkeiten als Sprechstundenhilfe in der Praxis. »Hält der uns für alt?«
»Nein, nur für gebrechlich und schwach«, ergänzte Jana trocken.
»Na aber, Herr Doktor«, tadelte Ruth und zupfte sich den Hut in die Stirn.
»Fabian, kümmer du dich lieber um deine Praxis.« Jana öffnete die Fahrertür. »Wir schaffen das schon.«
»Nein, nein … Das kann ich nicht zulassen. Wirklich. Ihr fahrt voraus, und ich schlepp mit. Basta.«
»Aber …«
»Keine Widerrede, Jana.«
»Na gut. Du bist der neue Chef.« Lachend zog Jana eine bunte Schachtel mit Brot und Salz und einen Cognac aus ihrem Geländewagen. »Herzlichen Glückwunsch, Doktor med. Fabian Kerner. Alles Gute.«
Als sie Fabian das Willkommensgeschenk überreichte und ihn erröten sah, spürte auch sie Vorfreude. Alle Melancholie wich, und Jana packte das Fieber, endlich ihr neues Leben anzufangen. Es brauchte nur noch ein paar Umbauten.
Die Grillhütte war von ein paar Bauernjungen aufgestellt worden. Ein schwarz getünchter Holzbau aus Bohlen mit einer aus Feldsteinen gemauerten Feuerstelle, derben Bänken und romantischem Ausblick auf mannshohe Findlinge und die Birken des Hains. Jeder konnte hier Feste feiern, mit Freunden grillen oder ein Schäferstündchen abhalten. Letzteres war riskant, denn die Hütte lag direkt an einem beliebten Wanderweg und besaß keine Tür.
Als Abigail eintrat und an der Feuerstelle vorüberging, wirbelte sie etwas Asche auf, die in der Frühlingsluft tanzte.
Obwohl es erst Anfang April war, hatte die Dorfjugend also bereits angegrillt. Abigail konnte sich nicht erinnern, jemals einen Erwachsenen hier gesehen zu haben.
Er war noch nicht eingetroffen. Sie hatte also etwas Zeit.
Neugierig suchte sie die Wände ab. Zahlreiche Namen waren über die Jahrzehnte ins Holz geschnitzt oder gebrannt und Hunderte Namen mit Edding neben anzüglichen Sprüchen verewigt worden. Da war es. Mit einem Lächeln fuhr sie die Gravur ab.
Abigail was here. Summer 05.
Summer, und was für ein Sommer.
Es waren herrliche Monate gewesen. Wochen, die wie das Wasser des Bachs gefunkelt hatten … bis … Bis der Tage Schönheit in wenigen Stunden verschrumpelte, bis sich das wahre Gesicht unter der Oberfläche zeigte.
Dieser stinkende Brei aus Hass, Habgier und Angst.
»Ja, ja … Der Sommer 2005.«
Erschrocken fuhr Abigail herum. Auf den Gedanken, die Pistole zu ziehen, kam sie nicht. Sie blickte in sein lächelndes Gesicht.
»Du hast wirklich geglaubt, du kommst damit durch?« Er schüttelte den Kopf. »Seit wann bist du so naiv, Abigail?«, fragte er und hob das Jagdgewehr.
Der Schuss verhallte zwischen den Birken.
Jana wich einem der Schlaglöcher aus, die der schmelzende Schnee in den unbefestigten Weg gespült hatte. Er schlängelte sich durch den Laubwald und war für den Verkehr eigentlich gesperrt, aber die kürzeste Strecke zum Haus.
Souverän lenkte sie ihren Landrover durch die Pfützen. Schon als Mädchen hatte sie von einem Geländewagen geträumt, und als ihr klappriger Kombi vor vier Jahren den Geist aufgab, hatte sie sich dieses Schätzchen geleistet. Normalerweise wäre sie mit diebischer Freude durch die Löcher und über die Wurzeln gerauscht, aber sie musste auf ihre Umzugsfracht achtgeben, denn in einer der Kisten steckten ihre Lieblingstonschalen. Ihnen durfte nichts passieren. Und auch ihrer Freundin nicht.
»Festhalten«, warnte sie Ruth, die sofort nach ihrem Sommerhut griff und sich mit der anderen Hand an den Dachgriff klammerte. Die sechs Kartons mit Janas privaten Büchern und veralteten Fachblättern schaukelten heftig, und die auf der Rückbank festgezurrte Standuhr gab einen Schlag von sich.
Jana kontrollierte im Rückspiegel, ob Fabian mit seinem Wagen aufsetzte, aber sie hatte sein rotes Cabriolet abgehängt. »Bin mal gespannt, ob er mit dem Flitzer auch Hausbesuche bei Thoms macht.«
Ruth lachte. »Ohne Verdeck wird das eine ziemlich stinkende Angelegenheit.«
»Da fliegt ihm ganz schön die Gülle um die Ohren.«
Thoms war einer der mächtigsten Rinderzüchter in der Umgebung, und bei seiner Frau mussten regelmäßig die Zuckerwerte kontrolliert werden. Jana schüttelte den Gedanken an die Patientin ab. Das war jetzt alles Fabians Sache. Sie wollte sich lieber auf das konzentrieren, was vor ihr lag. Buchstäblich.
Sie freute sich auf die nächsten Meter, denn diesen Ausblick hatte sie schon als Kind geliebt …
Der Wald teilte sich, die Lichtung lief auf einer Wiese aus, deren Grasmeer sich wie ein geschwungenes Laken über einen sanften Hügel legte. Ihre grünen Wellen brandeten an den See, an dessen Ufer das Haus stand.
Es war das Haus ihrer Kindheit, in dem ihr Vater bis zum letzten Atemzug gewohnt hatte. Ein Fachwerkhaus, dessen leichtes Gelb in der Sonne strahlte und dessen reetgedecktes Dach sich wunderbar vom glitzernden See abhob. Ein zweites Gebäude, eine Scheune aus Backstein, flankierte das Wohnhaus und schuf so einen gemütlichen Hof mit Wendekreis und Magnolie. Jana hatte sie vor dreißig Jahren gepflanzt.
In mühevoller Arbeit hatte ihr Vater das Anwesen zu einem Kleinod ausgebaut. Joona hatte es 1957 als Ruine erstanden, und beinahe alle Freunde aus dem Dorf hatten dem Tierarzt prophezeit, er werde sich mit dem Gehöft gehörig übernehmen. In Janas Erinnerungen spielte ihre ganze Kindheit und auch Jugend auf einer einzigen Abenteuerbaustelle. Die besten Verstecke waren hinter den Mischeimern und Baupaletten voller historischer Backsteine gewesen, und zwischen den Lieferwagen von Schreinern, Maurern und Trockenbauern hatte sie Fahrradfahren gelernt. Die dicken Holzbohlen, die nun die Wohnzimmerdecke des einstöckigen Reethauses trugen, waren einst ihre Zirkusmanege gewesen, um Akrobatik-Kunststücke und gefährliche Shows mit Tigern und Löwen aufzuführen.
Das Haus war Joonas Lebenswerk. Selbst als Janas Mutter vor fünfzehn Jahren unerwartet gestorben war, hatte ihr Vater nie ans Wegziehen gedacht.
Bis vor drei Wochen hatte der 86-Jährige noch alle Arbeiten selbst erledigt, war zum Einkaufen gefahren, hatte den Zaun gestrichen und das Unkraut gezupft. Und am zweiten Sonntag im März dann, an einem stillen Morgen, war er einfach auf der Couch eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht.
Ein perfekter Tod, wie Jana fand. Ein perfektes Ende für ein erfülltes Leben.
Sie warf einen Blick zu Ruth, die angesichts des romantischen Hauses nicht aufhören konnte zu lächeln. Jana wusste genau, was ihre Freundin derart zum Lächeln brachte, denn das Seehaus beherbergte etwas, das den meisten Häusern fehlte: Zauber. Eine Magie, die jeden, der das Haus betrat, mit Glück und Zufriedenheit erfüllte.
Das Einzige, das absolut nicht ins romantische Bild passte, war ein Auto.
Bertholds dunkler Kombi parkte vor der Magnolie.
Anscheinend wollte Joonas bester Freund Jana einen Besuch abstatten. Er verstand sich als eine Art Onkel, und spielte diese Karte auch jetzt, im hohen Alter, gerne noch aus. Als Notar besaß Berthold Finke einen Schlüssel, weil er ab und an nach Joona gesehen und sich um die Finanzen und Papiere gekümmert hatte. Jana hatte die bedingungslose Freundschaft der beiden Männer immer bewundert, auch wenn sie mit Bertholds Pedanterie auf Kriegsfuß stand. Berthold hatte mit seinem Beruf als Notar eindeutig die richtige Wahl getroffen, aber wahrscheinlich war seine überkorrekte Art einfach seinen stattlichen 83 Lenzen geschuldet.
»Was will der denn hier?«, fragte Ruth.
»Keine Ahnung. Wartest du hier kurz?«
»Liebend gern. Auf Bertholds Kommentare kann ich gut verzichten.« Ruth fächelte sich frische Luft mit ihrem Sommerhut zu. »Ich warte auf die Männer. Mal sehen, ob Fabians Wagen in einem Stück hier ankommt.«
Kurz darauf betrat Jana das Haus. Sie überprüfte den Sitz ihrer Kleidung, bevor sie in die Diele ging, denn sie hasste es, dass Berthold zwanghaft jeden Fussel von ihr abzupfen musste. »Berthold?«
»Wohnzimmer«, knurrte es.
Im Haus war es angenehm kühl. Von der breiten Diele ging es rechts ins WC und links in die Küche. Geradeaus stand die Wohnzimmertür halb offen. Es war albern, aber ein weiteres Mal zog Jana an ihrem Blazer herum. Sie hatte keinerlei Lust, ihm auch nur den kleinsten Anlass zu geben, sie in irgendeiner Form zurechtzuweisen. Als Joonas bester Freund hatte Berthold sie mit aufwachsen sehen und zwickte sie noch immer zu gerne onkelhaft in die Wange oder meinte, ihr Ratschläge fürs Leben erteilen zu müssen. Diese Bevormundung, gepaart mit seiner Pedanterie, brachte Jana regelmäßig auf die Palme. »Gebraucht der Zeit, sie geht so schnell von hinnen, doch Ordnung lehrt euch Zeit gewinnen«, sagte er immer.
Jana betrat das Wohnzimmer, an das sich der Wintergarten mit Blick auf den See anschloss. Lichtreflexe des Wassers tanzten an der weiß getünchten Decke und über die zahlreichen Umzugskartons, die Jana einfach wild abgestellt hatte. In den Wintergarten kam man nur im Zickzack.
»Berthold!« Fassungslos sah sie auf seinen dicken Hintern.
»Ja, doch! Nu wes man stille!« Der Notar kniete hinter einem von Janas Sesseln und hielt umständlich ein Smartphone in seinen von der Gicht knotigen Fingern. Anscheinend suchte er einen guten Blickwinkel für ein Foto von … ja wovon eigentlich? Vom Dielenboden? Ungeduldig schob er einen von Janas Umzugskartons beiseite, damit der nicht aufs Bild kam.
»Was … Was machst du da?« Mit drei Schritten war sie bei ihm und zog ihn auf die Füße. Das war gar nicht so einfach, denn unter Bertholds Sakko und seinem blütenweißen Hemd samt Weste wölbte sich ein schwerer, kugelrunder Bauch.
»Danke, Kindchen«, keuchte er, zupfte seine Ärmel wieder unter dem Sakko hervor und richtete seine Manschettenknöpfe. »Ich bin hier auch fertig.«
»Fertig? Womit fertig?«
»Fotos.«
»Ach.«
»Ja.«
»Von meinem Fußboden?«
»Deinem Fußboden? Sehr lustig.« Er kicherte, dass alles an ihm wackelte. »Kindchen, die Fotos sind für deinen Vater … Ähm … also das ist so nicht korrekt. Oder doch?«
Jana zog mahnend eine Augenbraue hoch und versuchte, Berthold mit ihrem strengsten Blick zum Reden zu bringen. Das beeindruckte den Notar jedoch in keiner Weise.
»Es war der Wunsch deines Vaters. Aber das wirst du ja alles bei der Testamentseröffnung hören.« Altväterlich tätschelte er Jana die Wange und wollte einfach gehen.
»Testamentseröffnung? Berthold, Moment mol. Was denn für ein Testament?« Jana machte Berthold Platz, als er in seinem wiegenden Schritt an ihr vorbeiging.
»Na, Testament. Willenserklärung, Verfügung nach dem Tode.«
»Ich weiß, was ein … Ich wusste nur nicht, dass er eins gemacht hat.« Mit einem Mal wurde Janas Hals trocken. Sie spürte, wie ihr die Spucke wegblieb. Ihr Vater hatte nie erwähnt, dass er etwas bei Berthold hinterlegt hatte.
»Selbstverständlich hat er, Kindchen. Selbstverständlich.« Berthold nahm seine Herrenhandtasche von ihrer Lieblingscouch. »Vor ein paar Jahren schon. Und Joona hat mir genaue Instruktionen erteilt, was nach seinem Tod zu arrangieren ist.«
»Fotos vom Fußboden zum Beispiel.«
»Ja, könnte man sagen. Richtig.«
Jana war endgültig sprachlos. »Aber …«, war das Einzige, was sie noch herausbrachte. »Das ist doch mein Haus. Ich meine … Mama ist doch schon lange tot.«
Berthold sah sich genötigt, jetzt doch ein paar Aspekte zu erläutern. »Also es ist so. Dein Vater hat mich gebeten, Fotos von dieser Immobilie zu machen.« Etwas ungehalten sah er sich um. »Allerdings dürften deine Möbel nicht hier sein. Jana Hinrichs, dazu hattest du keine Befugnis. Das muss ich hier schon in aller Deutlichkeit sagen.«
»Immobilie? Befugnis? Ich glaube, du solltest mal wieder zur Vorsorgeuntersuchung, Berthold. Du weißt schon noch, dass ich hier groß geworden bin. Das sage ich dir mal in aller Deutlichkeit. Warum zum Kuckuck soll ich mein Erbe nicht betreten?«
»Weil’s noch nicht deins ist, Kindchen. Formaljuristisch. Bevor das Testament nicht eröffnet wurde und der Erbschein ausgestellt ist.«
Jana konnte deutlich die Freude über diese Paragrafen-Spitzfindigkeit in seinen Augen blitzen sehen.
»Es ist so. Das deutsche Erbrecht ist im Bürgerlichen Gesetzbuch verankert, im fünften Buch. In Paragraf …«
»Berthold, komm schon. Dat is doch dumm Tüüch. Wir kennen uns sechzig Jahre, und meinen Vater kennst du seit, seit … Was weiß ich. Lass uns das auf dem kurzen Dienstweg klären.«
»Ach, und das geht wie?«
»Ich lad dich auf ein Bier ein.«
»Eine Erbschaft klären? In den Fief Düwelskeerls? Auf einem Bierdeckel?«
Jana nickte zaghaft. Genau, ungefähr so hatte sie sich das vorgestellt. Ihre Mutter lebte nicht mehr, sie war das einzige Kind. Was sollte denn der ganze Aufstand?
»Hast du deine Diagnosen auch immer auf einen Bierdeckel gekritzelt? … Liebe Jana Hinrichs, ein Notar ist eine Instanz. Eine Instanz. Und ich nehme meinen Beruf sehr ernst. Dein Vater hat mich um etwas gebeten, und genau das mache ich. Ohne Wenn und Aber!« Als begeisterter Schauspieler des Dorftheaters und Shakespeare-Liebhaber hatte Berthold nicht nur seine Stimme ins Fanal erhoben, sondern außerdem seinen sündteuren Füllfederhalter aus der Hemdtasche gezogen und wie ein Zepter geschwungen.
Jana ließ sich auf das Sofa plumpsen. »Sag mir bitte eins. Berthold, bitte. War Papa etwa dement? Sag nicht, er vermacht das hier irgendeinem Gnadenhof?«
»Weil er Tierarzt war?« Der Notar kratzte sich mit dem Füller am Kinn, dann schüttelte er den Kopf. Aber anstatt Jana zu beruhigen, fügte er hinzu: »Juristisch schwierig. Der Gnadenhof, meine ich. Und dir bliebe so oder so ein Pflichtteil. Dann müsstest du dich mit dem Gnadenhof arrangieren – oder du klagst. Aber du wirst dich nicht wirklich gegen den Willen deines …«, er legte erneut zwei Pfund Bedeutungsschwere in seine Stimme »… toten Vaters auflehnen, oder Kindchen?«
Das durfte jetzt doch nicht wahr sein! »Du weißt ganz genau, was in diesem Testament steht, hab ich recht?«
Berthold schmunzelte. »Testamentseröffnung ist am Montag. Um zehn Uhr in meiner Kanzlei. Die schriftliche Einladung habe ich an deine Praxis zustellen lassen.«
Jana nickte wortlos. Der Schrieb war wohl in den ganzen Umräumwirren untergegangen.
»Und bis dahin, Kindchen …« Berthold fuhr sich über seine kurz geschorenen, schlohweißen Haare. »Muss ich dich leider bitten, nichts im Haus zu verändern. Du kannst hier auch nicht einfach einziehen. Ich meine damit, das muss hier alles wieder raus.« Er zeigte mit seinen knotigen Fingern reihum. Auf die Kisten, ihre geliebte, über hundert Jahre alte Nussholzvitrine, ihren antiken Esstisch aus echten Schiffsplanken und das durchgesessene, aber urgemütliche rote Sofa, das Jana bereits vor ein paar Tagen von einer Spedition hatte herbringen lassen.
»Alles ausräumen. Aber nur deine Sachen, sonst muss ich die Polizei hinzuziehen.«
»Aha. Natürlich. Selbstverständlich«, brummelte sie zerknirscht, das Gesicht in den Händen vergraben.
»Ignorantia iuris nocet. Unkenntnis schützt vor Strafe nicht, Kindchen.«
Wie aufs Stichwort rumpelte Ruth mit Fabian und Gustav herein. Die beiden Männer schleppten die schwere Standuhr. Eigentlich trug Fabian das ganze Gewicht. Gustav mochte alt sein, aber nicht dumm.
»Achtung mit der Ecke oben«, rief Ruth. »Oh, Herr Finke«, fügte sie gespielt überrascht hinzu. »Jana, wohin soll die Uhr?«
»Marktplatz 5, erster Stock«, entgegnete Berthold kühl.
Verwirrt blickten die drei ihn an, während Jana sich auf dem Sofa zur Seite fallen ließ, den Kopf in eines der Kissen vergrub und abwinkte.
»Ähm. Da wohne ich doch jetzt, oder?« Unsicher sah Fabian zu den beiden Frauen. »Das ist doch meine neue Adresse? Äh, Marktplatz 5. Über der Praxis.«
Berthold drückte seinen Kugelbauch an Fabian und der Uhr vorbei. »Dann wischen Sie da am besten richtig durch. Diese Dame hat noch mehr unterzustellen. Habe die Ehre.« Sich an einen imaginären Hut tippend ließ der Notar die vier allein.
»Das ist jetzt nicht euer Ernst, oder?«, fragte Fabian unsicher. »Haha. Lustig. Das ist so Dorf-Humor, ja?«
Mitleidig musterten alle den jungen Arzt.
»Nein, nein! Georg soll sich erst mal die Fotos ansehen.«
»Okay.«
»Wenn der die sieht, dann packt er das auf jeden Fall ins Spargel-Spezial. Bin ich mir sicher.«
»Wenn du meinst.«
»Was soll denn das heißen?« Tessa Eichhorn stieß die Tür zum Großraumbüro mit der Schulter auf, damit die beiden Fototaschen nichts abbekamen, die lässig über ihrer Motorradjacke baumelten und gegen ihre Lederhose schlugen. In der einen Hand ihr Smartphone, in der anderen ihren Tablet-PC, eilte sie an den Arbeitsplätzen ihrer Kollegen vorbei. In der Redaktion von LandChic herrschte betriebsame Stille. Viele der Büroverschläge waren verwaist, seitdem die Tegler Verlagsgesellschaft von einem großen Medienkonzern aus Hamburg übernommen worden war. Im Großraumbüro roch es nach Reiniger und Lasertoner. Trotz der nicht zu öffnenden Fenster im fünften Stock des Hochhauses, drang der Lärm des Potsdamer Platzes gedämpft herauf.
Die Absatzzahlen der Zeitschrift für Landleben, Kochen und Lifestyle befanden sich seit vier Monaten im Sinkflug. Nicht etwa, weil niemand mehr Gartentipps und Rezepte für Schmorpfannen lesen wollte, sondern weil die Konkurrenz in den letzten vier Jahren extrem zugenommen hatte.
Tessa schrieb für alle Blätter des Hauses. Mit ihren zweiunddreißig Jahren war sie nicht mehr die Jüngste. Kaum von der Hochschule hatte sie ein Volontariat ergattert und schon mit dem ersten Artikel einen Fachpreis abgeräumt. Mittlerweile waren einige hinzugekommen, die sie in ihrer packschachtelgroßen Büroecke in einem Weidenkorb stets präsentierte. Den Jahreszeiten entsprechend dekorierte sie ihre Preise, in Anflügen von Humor und Stolz, immer mal wieder um. Mal mit Herbstlaub und Beeren, mal mit Trockenblumen und Früchten oder Stechpalmen und Lebkuchenherzen.
»Ich kürz den Artikel nicht«, fuhr sie unbeirrt fort. »Sag ihm das. Mir ist egal, was die Konkurrenz …«
Ein lautes »Au!«, unterbrach sie. »Sybille?«
Ihre junge Assistentin war mit ihrem Stapel LandChic-Zeitschriften gegen die Doppeltür gelaufen, die Tessa einfach hatte zufallen lassen. Sybille rückte ihre Brille zurecht und brummelte einen Fluch. »Tessa, ’tschuldige. Wie war das?«
»Vergiss es. Der Artikel und die Fotos kommen ins Spargel-Spezial. Die Stängel sind so sexy, das ist der Hammer. Schick mir Georg her, der kriegt triefende Zähnchen, wenn er die Stiele sieht.«
»Tessa«, tadelte Sybille und musste ein Giggeln unterdrücken.
»Ups. Ich darf das.« Tessa musste lachen. Georg war so ziemlich der schwulste Mann, den sie kannte – und ihr bester Freund. Eigentlich ihr einziger, wenn sie recht überlegte. Schon am ersten Tag hatte er sie unter seine Fittiche genommen. »Georg wird wirklich begeistert sein. Ich mein, es ist erst Anfang April, aber der Spargel … Und das Licht. Dieser Hof war ein Traum. Ich hab die noch ’n Gaul herholen lassen und die Spargelkörbe an den Sattel gehängt …« Sie deutete mit spitzen Lippen ein Fantastico an. »So, gib mir den Kram und hol ihn, ja?«
Sybille zögerte, denn sie hatte noch die Zeitschriften in der Hand und ihre Chefin war zu beladen, um sie ihr zu reichen. Kurzerhand klemmte Tessa ihr Smartphone zwischen die Zähne und griff sich den Stapel.
»Er woll wiff beeilen«, befahl sie und ließ sich auf ihren Bürostuhl fallen. »Iff muff in einer Fumfe nach Leifig.«
»Okay. Aber Georg hat ’ne Stinklaune«, meinte Sybille noch, dann war sie zwischen den Großraumverschlägen verschwunden.
Tessa ließ die Zeitschriften auf den Tisch rutschen und wollte sich gerade von den Fototaschen befreien, als das Handy in ihrem Mund zu klingeln begann. Hektisch versuchte sie, die Taschen von der Schulter zu schütteln und gleichzeitig den richtigen Button auf dem Handydisplay zu erwischen.
»Ja, Karsten-Schatz?«
Ihr Freund war vier Jahre jünger als sie und ein echter Jackpot. Er sah nicht nur gut aus und war eloquent, er hatte auch eine smarte Villa in Lichterfelde und mit seiner Start-up-Firma in den letzten drei Jahren so viel Geld gemacht, wie Tessa in ihrer ganzen Karriere.
»Bist du schon wieder im Büro?«
Tessa seufzte. »Gott sei Dank, ja. Bauernhöfe … Kennste einen, kennste alle.«
»Nana, das sagt ausgerechnet LandChics Karla Kolumna?« Er lachte.
So sehr Tessa es liebte, verwunschene Gasthöfe, paradiesische Gärten und uralte Klöster aufzusuchen, so sehr freute sie sich darauf, ins hektische Großstadtgetümmel zurückzukehren. Das Leben auf dem Land war ihr eindeutig zu ruhig und die Leute so furchtbar unhip. Immerhin machte es unbändigen Spaß, mit dem neuen Motorrad durch die wunderschönen Landschaften um Berlin zu cruisen. Die Indian war ein Traum, Coolness und Ästhetik vereint in strahlendem Rot. Zwar hatte Tessa keine Ahnung, wie sie im Notfall das Ding reparieren sollte, aber die Maschine passte vom Styling her einfach perfekt zu ihr. Und das war die Hauptsache.
Genau dieser geschmackssichere Blick fürs Design hatte sie auch zur besten Fotojournalistin gemacht, die LandChic je gesehen hatte.
»Im Ernst. Heute der Spargel, das war sensationell, aber wie es auf dem Hof gestunken hat! Und dann bin ich mit meinen neuen Bikerboots, die roten, weißt du, glatt durch den Mist gelaufen.«
»Du Arme, lass dich küssen. Pass auf, ich wollt nur fragen, ob du mir Leipziger Allasch mitbringst?«
»Was? Likör? Seit wann trinkst du sowas?«
»Für Hilde. Die steht drauf.«
Tessa musste schmunzeln. Sie hatte Karstens Mutter zwar erst drei Mal getroffen, das Berliner Urgestein aber sofort sympathisch gefunden. Tessas Mutter war vor vier Jahren gestorben. Mit ihr hatte Tessa wenig verbunden, während sie Hilde sofort ins Herz geschlossen hatte.
»Bring ich dir mit, kein Problem, Schatz. Ich bin dann morgen früh aus Leipzig wieder da.«
Bevor sie sich mit Küsschen verabschiedeten, kam der 55-jährige, sonnenstudioaffine Redakteur Georg Hauser und lehnte sich an den Schreibtisch. Er zwinkerte Tessa nett zu, doch ruhig weiterzusprechen, aber sie legte auf.
Tessa konnte Georgs Parfüm riechen. Nautic Spirit. Der Duft von Holz und Pfirsich war unverkennbar und passte perfekt zu seinem Boss-Hemd, den stoned-washed Jeans und seinem Ziegenbart, der sich von seiner faltigen, braungebrannten Haut wie weißglühende Stahlwolle abzeichnete.