Blutroter Flieder - Mareike Marlow - E-Book

Blutroter Flieder E-Book

Mareike Marlow

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Beschreibung

In Burgheide könnte es Ihnen gefallen: Irgendwo zwischen Lüneburg und Bremen gelegen, Pferde auf den Weiden, trockener norddeutscher Humor. Und ab und an eine Leiche. Keine von der friedlich entschlafenen Sorte, versteht sich. Hier teilen sich die Halbschwestern Tessa und Jana – 30 Jahre auseinander, Berliner Großstadtgewächs die eine, Burgheider Urgestein die andere – das Haus am See. Und hin und wieder einen Mordfall. Wenn zum Beispiel die Gutsbesitzerin bei einem Reitunfall ums Leben kommt. Ohne Helm soll sie geritten sein, der hängt nämlich noch im Stall. Nur warum duftet das Ding wie frisch aus dem Laden?

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Seitenzahl: 272

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Mareike Marlow

Blutroter Flieder

Kriminalroman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. KapitelKlassische Scones8. Kapitel9. Kapitel10. KapitelButterkuchen11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. KapitelErdbeer-Cupcakes mit Zartbitterschokolade und Erdbeersahne33. Kapitel34. KapitelBaileys-Schokokuchen mit Whiskey35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. KapitelDanksagung
[home]

1

Der Flieder stand in voller Blüte. Seine lila Dolden leuchteten im Morgenlicht.

Sara bog einen Zweig zu sich und atmete den intensiven Geruch ein. Sie liebte diese Wiese mit ihren schiefen Apfelbäumen und den zahlreichen Fliederbüschen, durch die sich der schmale Reitpfad schlängelte. Zu jeder Jahreszeit ritt sie hier ihre morgendliche Runde.

Ihr Blick glitt von dem hummelumschwirrten Flieder zu den weiß strahlenden Obstbäumen. War der Mai nicht der beste aller Monate? Alles quoll über vor Leben … und Liebe. Sie lächelte still in sich hinein und warf dem Flieder einen wissenden Blick zu.

Gerade war Peaceful Fury noch ein Fohlen gewesen, und nun hatte sie die Stute bereits ihren neuen französischen Besitzern gebracht. Die Zeit verging wirklich wie im Flug.

Sie schloss die Augen, roch den Flieder und lauschte auf das Hier und Jetzt. Der frische Wind, der ihr über die Wangen strich, die Sonnenflecken, die ihr Gesicht wärmten – es fühlte sich alles so herrlich an.

Genau wie seine Küsse.

Ihre Gedanken kreisten um die letzten Tage in der Camargue, und sie bemerkte, wie ihr Herzschlag beschleunigte. War es ein Fehler gewesen, sich ihm hinzugeben? Eigentlich war es eine Geschäftsreise gewesen. Er war ihr Assistent. Er hat dich verführt, Sara, dachte sie leicht belustigt. Und du hast es genossen.

Sie war inzwischen über vierzig. Und er … Konnte diese Beziehung zu Hause, hier auf dem Hof, überhaupt Bestand haben? Er war so viel jünger. Sie schmunzelte, als sie an ihr letztes heimliches Rendezvous dachte.

Seit zwölf Tagen war sie aus dem französischen Küstenort Saintes-Maries-de-la-Mer zurück, und der Alltag hatte sie sofort gepackt. Eine Reihe unangenehmer Entscheidungen war zu treffen gewesen.

Ihr Leben hatte sich grundsätzlich geändert. Jetzt, wo er da war. Und sie sich gegen ihren Verlobten entschieden hatte. Tobias Beeke, Tierarzt, Langweiler und eifersüchtiger Volltrottel.

Du hast wirklich alles richtig gemacht, redete sie sich gut zu. Die Beziehung war doch schon keine mehr, noch bevor wir verlobt waren. Dir hat der Mut gefehlt, endlich einen Schlussstrich zu ziehen. Und dann – zack – warst du verlobt. Die Zeit verfliegt.

Und Sara wollte ihr Leben nicht mehr mit falschen Höflichkeiten in einem Winterschlaf versauern lassen. Das hatte sie sich in Saintes-Maries-de-la-Mer geschworen.

Die Vorstellung, Tobias weiterhin bei den Untersuchungen der Pferde gegenübertreten und die nächsten Jahre in seine bettelnden Augen blicken zu müssen, ließ sie erschaudern.

Du hast die Verlobung aufgelöst, besser du siehst dich auch nach einem neuen Veterinär um. Und wenn sich deine Liebelei als Strohfeuer erweist? Dann wohl auch nach einem neuen Stallmeister. Sei nicht so pessimistisch. Schau, der Frühling ist da. Deine Zukunft ist rosa!

»Wollen wir weiter, Queeny?«, flüsterte sie und bekam ein Schnauben zur Antwort. Lachend tätschelte sie der Hannoveraner Stute den Hals. »Braves Mädchen.«

Sie ließ Dancing Queen antraben, dann fiel sie in Galopp. Jeder auf Saras Gestüt konnte die Uhr nach ihr stellen, denn egal, ob Regen oder Sonnenschein, sie begann den Tag stets mit einem Ritt auf ihrer Stute Dancing Queen einmal um das ganze Gestüt.

Sara beugte sich tief zum Hals des Pferdes, spürte die Geschwindigkeit und die Blüten, die um sie herumwirbelten. Männer! Pah! Sie und Queeny verstanden sich auch ohne Worte. Sie vertrauten sich bedingungslos. Warum machten Menschen immer alles so kompliziert?

Dancing Queen flog mit ihr dahin. Die Sonne, der Frühling, der Duft des Flieders, die tanzenden Blüten. Das Leben war rosa.

Mitten im Galopp riss etwas die Stute von den Hufen. Wirbeln, Baumstämme, der Fliederbusch, der Boden.

Sara schlug auf, schrie und hörte Queeny schreien, wie sie nie zuvor ein Pferd schreien gehört hatte. Ganz benommen sah sie auf. Was war passiert? Ihre Stute, sie versuchte vergeblich aufzustehen. Was war nur passiert?

»Queeny.« Sie kroch auf ihre Stute zu und bemerkte erst jetzt das Blut. War das ihres? Nein, Queeny blutete. Was passierte hier?

Das Pferd war in einen der Fliederbüsche gestürzt. Die Blütendolden bedeckten den Boden, wurden in den Boden gedrückt. Sara wollte Queeny beruhigen, doch der Schmerz in ihrem Oberschenkel raubte ihr den Atem. Hilflos sah sie mit an, wie ihr Pferd versuchte, auf die Beine zu kommen.

»Alles wird gut!«, flüsterte sie und tastete nach ihrem Handy. Blut verschmierte das Display, und jetzt bemerkte sie endlich, dass ihr das Blut vom Kinn tropfte. Ihr wurde schwarz vor Augen. Es war doch ihr Blut. Zitternd tastete sie nach ihrem Helm. Sie brauchte Luft. Der Kinnriemen schnitt ihr ins Fleisch. Sie musste atmen, musste das Ding vom Kopf …

»Warte, ich helf dir.« Eine ruhige Stimme zerschnitt Dancing Queens Wimmern.

Benommen blickte Sara auf und blinzelte gegen die Sonne. Alles drehte sich. Ihr war so schwindlig.

»Schon gut«, hörte sie die ruhige Stimme und spürte eine Hand unter ihrem Kinn. Ihr Helm landete neben ihr im Gras.

»Du musst Queeny helfen … Du musst ihr helfen«, brachte sie heraus.

»Mach dir keine Sorgen, alles wird gut, Sara. Alles wird gut.«

Verschwommen nahm sie die Hand vor dem Sonnenlicht wahr. Sie dachte, die Hand wolle ihr aufhelfen, dann begriff sie, dass sie etwas umklammert hielt.

Sara wurde hart am Kopf getroffen.

Mit einem letzten Stöhnen sackte sie auf die Blüten des Flieders. Ihr Blut färbte die Blüten rot.

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2

Im Fief Düwelskeerls, dem größten Gasthaus Burgheides, zog der Zigarettenqualm wie eh und je aus den Separees und vermischte sich zwischen den zweihundert Jahre alten Eichenständern mit dem Geruch von Essen, Bier und Schnaps.

Hinter dem wuchtigen Tresen gruppierte Hase, der Wirt des Fief Düwelskeerls, auf einem Tablett eine neue Runde Bulldogs, sein Spezialgetränk und der Verkaufsschlager im Dorfkrug Burgheides. Was genau Albrecht Dürer, wie Hase eigentlich hieß, genau hineinmischte, war sein Geheimnis. Das Einzige, was zählte, waren die PS der Mischung. Und die hatten es in sich. Neben die drei Schnäpse stellte er noch die Teller mit den Schnitzeln und winkte seiner Frau, das Tablett zu Jana, Ruth und Gustav zu tragen.

Wie jeden Donnerstag hatte es sich die Skatrunde in einem der Separees gemütlich gemacht.

»So. Hinten scheißt die Ente.« Schwungvoll knallte Ruth ihre Karte auf den Tisch und stach Janas weg.

Gustav stöhnte auf. »Mien Deern, wat is denn los? Jana, Mensch, du bist gar nicht bei der Sache.«

»Hab ich dich so geschockt?« Lachend sackte Ruth ihren Stich ein.

»Geschockt?« Jana, die seit kurzem pensionierte Dorfärztin, legte die Spielkarten beiseite, um Platz für die Teller zu schaffen, die von der Wirtin auf den Tisch geschoben wurden. »Ach, Dünnschnack«, erwiderte die Dreiundsechzigjährige, doch ihr war anzumerken, dass ihre beste Freundin Ruth eine empfindliche Ader bei ihr getroffen hatte.

Vor einer halben Stunde, kaum hatten sie den Skatabend begonnen, hatte Ruth doch glatt verkündet, dass sie Jana »aus der Gleichförmigkeit ihres lethargischen Lebens« reißen wolle. Genau so hatte sich die Sprechstundenhilfe gegenüber ihrer Ex-Chefin ausgedrückt. Ruth war nur wenige Jahre jünger als Jana, arbeitete aber noch immer in der Praxis.

Gleichförmigkeit ihres lethargischen Lebens. Ja, Jana war geschockt, zumal seit sechs Wochen gar nichts mehr gleichförmig war und sie von Lethargie in ihrem Rentnerinnenleben bloß träumen konnte.

Seit sechs Wochen hatte sie eine ungeplante Mitbewohnerin in ihrem Haus am See: Tessa Eichhorn. Ihre dreißig Jahre jüngere Halbschwester, die sie erst einen Tag vor ihrem Einzug bei der Testamentseröffnung ihres gemeinsamen Vaters kennengelernt hatte. Die beiden Schwestern mussten sich das Haus ein Jahr teilen, ansonsten würde die malerische Villa an den örtlichen Tierschutzverein fallen und die beiden bloß ihr Pflichtteil bekommen. Das jedoch würde Jana niemals zulassen, hing sie doch viel zu sehr an dem alten Gebäude, in dem sie aufgewachsen und in dem ihr Vater zeitlebens gewohnt hatte.

Gleichförmigkeit ihres lethargischen Lebens. Frechheit!

»Ich finde nicht, dass mein Leben in letzter Zeit irgendwie eintönig gewesen ist.« Jana stürzte den 38-PS-Bulldog hinunter und aß einen Happen.

»Ja, vielleicht in letzter Zeit nicht«, hielt Ruth dagegen. Ihre neonfarbenen Ohrringe klapperten, als sie sich vorbeugte. »Eher so generell, meine Liebe. So im Ganzen gesehen.«

»Im Ganzen?«

»Ja. Dein Leben, mein ich, da fehlt irgendwie die Frische.«

»Die Frische? In meinem Leben? Was soll denn das heißen?« Nun war Jana nicht mehr geschockt, sondern ziemlich angefressen. Egal, ob sie Ruth nun schon fast ein halbes Jahrhundert kannte, so etwas von ihrer besten Freundin zu hören war ein echter Magenschwinger. Auf der anderen Seite mochte Jana an Ruth eben genau das so gern, dass sie so geradeheraus war.

Gustav, Jäger im Ruhestand und treue Seele, erhob sich, obwohl er erst wenig von seinem Schnitzel gegessen hatte. »Äh, ja, de Daamens hevet woll noch ’n beeten wat to vertellen … Ich geh mir dann noch mal ’n Bier holen. Oder zwei. Oder drei.«

Kaum war er außer Hörweite, versuchte Ruth sich zu erklären. »Nimm’s mir nicht übel, Jana, aber du bist dreiundsechzig und läufst wie … wie fünfundsiebzig rum. Total … total verbeiget.«

»Ver… was?«

»Verbeiget. Beige. Die Farbe. Dir fehlt Pep. Spontaneität.«

»Aha. Du meinst, wieder mit dem Töpfern anzufangen, das bringt Spontaneität?«

»Ja … Doch … Ist ein Anfang.«

»Ich hab seit fünfunddreißig Jahren nicht mehr getöpfert, ich weiß nicht mal, wo die Töpferscheibe ist.«

»Das findet sich alles. Wenn du wieder damit anfängst, wirst sehen, dann kommt die Kreativität, die Farbe, der Pep. Das kommt doch alles von allein, Jana. Die Tassen und Teller, die waren super. Das waren Spitzendinger. Ich meine, Martin hat noch immer deine Tassen im Revier.«

»Der war noch nicht mal geboren, als ich aufgehört habe«, grummelte Jana.

»Ja, ja, mag ja sein, aber er fand sie so schön, dass er sie von seiner Mutter mitgenommen hat und heute noch immer seinen Kaffee draus trinkt. Richtig? Ich sag dir, der Kunsthandwerkermarkt wird der Hammer. Da kommen alle möglichen Leute, und du hast selbst gesagt, du brauchst ’n Hobby.«

»Habe ich.«

»’n Hobby?« Überrascht sah Ruth sie an.

»Nein, gesagt.«

»Meine, ja.«

»Ach?«

»Ja, ach.«

Jana sah ihrer Freundin tief in die Augen. »Da steckt doch was anderes dahinter. Ruth, sech mi de Wohrheit!«

Verlegen schob Ruth ein paar Möhrenkugeln durch die Jägersoße, setzte an, schloss den Mund aber wieder, nur um sich dann den letzten Tropfen Bulldog reinzuschütten.

»Ruuuuhuuuuth …«

Seufzend schob Ruth das Glas beiseite. »Also, es ist so. Der Otto vom Kulturverein, der hat mich angesprochen. Also, na ja, der macht doch den Kunsthandwerkermarkt. Und der ist voll verzweifelt, weil sich dieses Jahr so wenig angemeldet haben. Un he is so ’n Seuten.«

»Was? Du hast dem Otto Pietsch schöne Augen gemacht, und Jana muss jetzt für dich einen Stand auf dem Kunstmarkt schmeißen?«, stellte Gustav fest, während er sich mit seinem Bier vor die Frauen in die Bank drückte.

Ruth räusperte sich und meinte dann sehr kleinlaut zu ihren Möhrenkugeln: »Also, das ist jetzt etwas verkürzt, also … aber … Ja, kann man so sagen.« Erst Janas bohrender Blick ließ sie von ihrem Möhrengeschiebe aufblicken. »Ich habe ihm doch schon zugesagt, dass du dein Revival gibst und da deinen Stand machst. Vor fünfunddreißig Jahren, dat gung wech wie warme Semmeln mit deinen Töpfersachen. Und wenn er zu wenig Tische hat, also, weil, wenn das nicht stattfindet, also, das wäre doch schade für Burgheide.«

Janas Brummeln klang absolut nicht überzeugt.

»Ich … ich hab schon mit Fabian Flyer designt.«

Auch das noch. Müde rieb sich Jana die Augen. Sie überlegte, ob sie wütend werden oder lachen sollte, und entschied sich, die Frage mit einem weiteren Bulldog zu beantworten. Sie streckte die Hand aus und machte ein kompliziertes Zeichen mit den Fingern, das Hase hinter dem Tresen sofort verstand. Diesmal ein Bulldog mit fünfundfünfzig PS.

»Wir haben ein Foto mit Martins Tassen gemacht, und Fabian hat am Computer alles zusammengefrickelt.« Ruth kramte aufgeregt in ihrer Handtasche. Sie schob Jana einen Ausdruck hin. »Ganz cool, oder?«

Skeptisch sah sich Jana das Werbeblättchen an. Es sah wirklich nicht schlecht aus. »Revival! Jana Hinrichs’ einzigartige Töpferkreationen auf dem Kunsthandwerkermarkt Burgheide.«

»Toll, echt. Aber ihr hättet mich fragen sollen.« Jana schob Ruth das Blättchen zurück. »Tut mir leid. Ich hab Besseres zu tun.«

»Ach.«

»Ja, ach!«

»Ach, was denn?«

Jana schwieg. Sie hatte natürlich absolut nichts zu tun, außer sich mit ihrer neu gewonnenen Schwester rumzuplagen. Aber sie fand, Ruth ging es einfach nichts an, ob oder was sie zu tun hatte. Basta.

»Ich hab den Stand schon bezahlt, und die Flyer … ähm, die hat Otto schon drucken lassen. Und ich …« Jana bremste ihre Freundin mit einem Blick, woraufhin diese abwinkte: »Schon gut. Mein Fehler. Mein Fehler. Fällt der Kunsthandwerkermarkt eben ins Wasser, und du bleibst halt verbeiget.«

»Verbeiget?!« Gerade wollte Jana schimpfen, als Gustav dazwischenging.

»Jana kann es sich ja noch mal überlegen. So, die Karten werden kalt. Wollen wir jetzt spielen oder zicken? Außerdem finde ich, Jana steht das doch ganz gut. Das Weiß und Beige mein ich. Das lässt unsere ehemalige Dorfärztin eben klassisch wirken. Eine Frau, auf die Verlass ist.«

»Klassisch? Ich wirke klassisch?« Geschockt starrte Jana ihren alten Freund an.

»Was? Ist doch so! Ehrlich, aufrichtig, ordentlich. So bist du eben. Schluss jetzt, wer gibt?«

»Verbeiget.« Zu ihrem Glück formte Ruth dieses Wort nur mit den Lippen, und Jana ignorierte es.

Jana biss die Zähne zusammen. Ihre Freunde hielten sie für verbeiget. Sie schluckte ihren Ärger hinunter. »Schluss. Gib der lethargischen, verbeigeten Klassikerin jetzt sofort die Karten!«

 

Zwei Stunden später, Jana hatte die allwöchentliche Skatrunde haushoch verloren, knipste sie das Licht in ihrem Badezimmer an und zog sich aus. Sie streifte sich ihren Pyjama über, den sie seit zwanzig Jahren anzog, und stellte sich vor den Spiegel. Sie wollte sich kämmen, fand ihre Bürste aber nicht.

Grummelnd musste sie sich durch eine Flut von Tiegeln und Döschen kämpfen, die ihre junge Halbschwester freizügig auf allen Ablagen verteilt hatte. Tessa war also endlich shoppen gewesen und hatte sich nach Wochen eigene Sachen angeschafft.

Jana fand ihre Bürste ganz unten zwischen Tessas sechs verschiedenen Haarpflegeprodukten.

Im Haus war es still. Wahrscheinlich hockte Tessa in ihrem Zimmer noch vor dem Laptop, wie fast jeden Abend. Die letzten Wochen hatte sie immer irgendwelche Sachen geschrieben, war durch Burgheide mit ihrem Motorrad getuckert und hatte Fotos geschossen. Wofür, wusste Jana nicht. Aber sie nahm an, dass Tessa ihrem Berliner Chef das Dorf Burgheide als das ländliche Idyll und Schatzkammer vergangener Zeiten verkaufen wollte.

Mit meinem Schwesterchen muss ich noch so einiges klären, überlegte sie und stapelte Tessas Kosmetika zu einem wackligen Turm, so dass wieder Platz für ihre Sachen war.

Hielt Gustav sie wirklich nur noch für … klassisch? Was war das überhaupt für ein Wort! Männer! Wie konnte er so was sagen? Antiker Plunder ist klassisch. Sie seufzte. Altes Zeug. Ja, alt, angestaubt, grau, das bedeutete klassisch.

Jana stellte sich ans Fenster. Hier aus dem ersten Stock der Villa hatte man einen phantastischen Blick auf den See. Der Mond spiegelte sich im Wasser, der Steg mit dem Ruderboot lag wie ein gemalter Schatten auf den nachtglitzernden Wellen.

Verbeiget.

Wann war sie das letzte Mal spontan gemeinsam mit einem Spritzbeutel geschlagener Sahne ins Erdbeerfeld gezogen, um kiloweise Beeren zu futtern? Wo waren die Nächte hin, in denen sie und Ruth aus einer Laune heraus ans Meer gefahren waren, um dort nackt zu baden?

Klassisch. Unbeweglich. Langweilig. Verbeiget.

Sie zupfte ihre Haare aus der Bürste und stockte mit einem Mal. Sie hatten dieselbe Farbe wie ihre Strickjacke und ihre Marlene-Dietrich-Hose. Weiß, beinahe beige.

[home]

3

Es ist Nacht.«

»Tag.«

»Nacht.«

»Es ist schon sechs.«

»Erst sechs!«

»Schon sechs!«

»Erst!«

»Schon!«

»Erst! Erst, erst, erst! Und jetzt hör bitte auf, an meinem Bett zu rütteln.« Fassungslos starrte Tessa ihre Schwester an, das heißt, sie versuchte zu starren, bekam ihre verquollenen Augen aber nicht auf. Draußen krähte der Hahn so laut, dass es in ihren Ohren klingelte. Mistvieh, verfluchtes.

In ihren Turnschuhen und einem Jogginganzug, ein lavendelfarben leuchtendes Ungetüm aus Jersey, und ihrem bunten Froteestirnband sah Jana wie ein Fehler in der Zeit aus. Eine Zeitreisende, die vom Dallas-Schauen mitten aus den Achtzigern herausgerissen und vor Tessas Bett gebeamt worden war.

»Is was passiert? Du siehst so … bunt aus.«

»Ich dachte, ein bisschen Farbe wäre hübsch.«

Tessa brummelte ein »Aha«. Dann sagte sie gähnend: »Gib mir noch vier Stunden. Da war ein Marder! War die ganze Nacht auf unserem Dachboden. Der hat da Möbel geschoben. Wenn das Lessies Mörder ist, dann …« Sie machte ein Geräusch, als würde ihr die Gurgel durchgeschnitten, dann erstickte ihr Gähnen alles.

»Das war ich.«

»Du?« Tessa blinzelte.

»Erzähl ich dir beim Frühstück. Los, komm schon, raus aus den Federn. Los geht’s!« Trällernd deutete Jana eine ihrer Yoga-Figuren an. »Auf! Auf! Der frühe Vogel fängt den Wurm.«

Tessa vergrub ihren Kopf wieder in den Kissen. »Und die zweite Maus bekommt den Käse.«

»Komm schon, Schwesterchen. Es ist ein phantastischer Tag.«

»Es wird ein phantastischer Tag. Das ist ein Unterschied.« Sie zog sich die Decke über den Kopf. »Viel Spaß.«

Erst nachdem Jana das Bettgestell losgelassen und einen Aretha-Franklin-Song vor sich hin summend die Treppe hinuntergegangen war, streckte Tessa den Kopf hervor und wagte einen zweiten Versuch, die Augen zu öffnen.

Durch das Fenster ihres Turmzimmers konnte sie den Himmel über dem See sehen. Er war tatsächlich in ein vielversprechendes Rosa getaucht. Sie setzte sich auf die Bettkante. Draußen war es windstill, so dass sich die Federwolken perfekt im ruhigen Wasser spiegelten. Ein paar Enten zogen ihre Kreise, und am klapprigen Steg, den sie in der letzten Woche zu renovieren begonnen hatten, dümpelte das Ruderboot.

Seufzend kam Tessa auf die Beine und schlappte, ohne sich zu recken, ihrer Schwester die Treppe ins Wohnzimmer nach. Dabei murrte sie, bloß mit Slip und Tanktop bekleidet, ihr allmorgendliches Mantra vor sich hin: »Kaf-fee-Kaf-fee-Kaf-fee-Kaf-fee-Kaf-fee …«

Sie bog von der Treppe ab und lief in die Töpferscheibe. Irgendwer hatte den verdreckten und staubigen Arbeitstisch und ein paar Kisten voll Kram in den Weg gestellt. Wahrscheinlich der Marder. Maulend umrundete sie den Arbeitstisch, schlurfte an der Küche vorbei ins Wohnzimmer und ließ sich auf Janas Sofa nieder. Sie bereute es sofort. Der Muff der letzten dreißig Jahre und abgestandene Erinnerungen krochen ihr in die Nase. Auch wenn Jana ihre Halbschwester war, hier stank’s nach Oma. Einen Moment lang starrte Tessa auf ihre dreißig Jahre ältere Schwester, die draußen auf der Terrasse im Sonnenaufgang ihre Yogaübungen vollführte.

»Es würde dir nicht schaden, dir auch irgendeinen Sport zu suchen«, riss ein Rufen Tessa aus den Gedanken. Leicht verwirrt sah sie sich um. Jana war mittlerweile fertig mit ihren Verrenkungen und Tessa glatt wieder auf dem Sofa eingenickt.

»Was?« Tessa sah gähnend zu, wie ihre Schwester durch den Wintergarten ins Wohnzimmer kam.

»Sport. Wenn mir eins in den letzten zwanzig Jahren als Ärztin aufgegangen ist, dann das: Sport tut gut.«

»Brillant. Dafür brauchst du zwanzig Jahre?«

»Haha. Wie lange willst du noch rumgammeln?«, fragte Jana.

»Ich gammle nicht. Hier gammeln ganz andere Sachen.« Sie schleuderte eins der Oma-Sofakissen quer über den niedrigen Tisch zum Sessel.

Jana sog hörbar die Luft ein. »Wir sollten wirklich endlich reden. Das mein ich ernst, Tessa.«

»Nein.« Trotzig rollte sich Tessa zusammen und starrte auf die Fotosammlung auf dem Kaminsims. Nette, altmodische Familien- und Porträtfotos in schönen hölzernen Rahmen. Jana hatte wahrscheinlich als Zeichen ihres guten Willens auch einen Schnappschuss von ihr dazugestellt. Tessa mit Schlammspritzern im Gesicht, eine furchterregende Grimasse ziehend, wie sie ihr Huhn Lassie umklammerte, das heftig mit den Flügeln schlug. Lassie, das arme Marderopfer. Das Foto steckte in einem versilberten Rahmen, der einer Rosenranke nachempfunden war. Es war das einzige Farbfoto auf dem Sims.

»Tessa, wir müssen reden. So kann es wirklich nicht weitergehen. Du hast eine Laune … indiskutabel. Wirklich. Du musst dich entscheiden.«

Tessa schloss die Augen und verharrte in der Embryohaltung. Ihre Halbschwester hatte ja recht. Wie so oft. Wie viele Wochen hauste sie nun schon hier? Vier? Fünf? Wie lang war das her, seitdem Joonas Testament sie hier nach Burgheide und in dieses phantastische Seehaus verschlagen hatte. Der letzte Wille eines Vaters, von dem Tessa achtundzwanzig Jahre lang überzeugt gewesen war, er sei tot. Nun war er es tatsächlich und hatte ihr nicht nur ein wunderschönes, aber halbes Haus irgendwo auf dem Land hinterlassen, sondern auch eine Schwester, die gefühlt ein Jahrhundert älter war als sie.

»Ich mach uns jetzt eine schöne Tasse Tee, und dann klären wir das endlich, Tessa.«

Eine altmodische Schwester, die ausschließlich Tee trank.

Tessa versuchte, sich an ihr Berlin zu erinnern. An den Duft und den Geschmack des wunderbaren Milchkaffees in ihrem Stammlokal. Schoko-Caramel XXL-Latte-macchiato Double Shot Caramel flavoured. Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen.

»Siehst du, Tee muntert auf.«

Ärgerlich sprang Tessa vom Sofa. »Tee, Tee, Tee!«

»Ja, Tee.«

»Nein, keinen Tee. Bitte, keinen Tee. Keinen Pfefferminz-, keinen Hagebutten-, keinen Brennnessel-, keinen Nichts-, keinen Gar-nichts-Tee. Bitte.«

»Gut, dann mach ich dir halt Kaffee.«

Für eine Sekunde stand die Zeit still. Tessa starrte ihre Schwester an, als hätte die gerade die Entdeckung eines neuen Kontinents verkündet. »Was? … Ich meine, wie bitte?«, fragte sie leise, und ihr versagte die Stimme. »Kaffee? Hier? Im Haus? Kaffee?« Tessas Augen begannen angesichts der Verheißung zu glänzen.

»Klar.« Und schon hatte Jana die Dose mit dem Instantpulver aus dem Regal gezogen.

»Stopp! Halt! Stopp! Zurück damit! Zurück, sonst ruf ich die Polizei! Du willst mich umbringen! Stopp!« Es musste etwas geschehen. Dringend. Sofort! »Das da, meine große Schwester, das da ist kein – ich wiederhole – KEINKAFFEE!«

»Wieso?«

Tessa fiel die Kinnlade runter. »Weil, also, weil …« Was sollte sie dazu sagen?

Wenn ich in diesem Haus bleiben will, muss es hier Kaffee geben, echten, richtigen, wohltuenden Kaffee, dachte Tessa. Ich bring sonst noch wen um.

»Jana, stell die Dose zurück. Ja, so ist es gut. Ganz laaaangsam zurück damit. Gut so. Okay, pass auf, ich klär das jetzt ein für alle Mal.«

Sie schnappte sich ihren Laptop, der noch vom gestrigen Bloggen auf dem Couchtisch lag, und klickte die Seite ihres Lieblingsshops an. Siebenundvierzig Sekunden später hatte sie etliche Kundenkommentare abgescrollt und einen Kaffeevollautomaten deluxe ausgewählt. Ein Gerät mit allem Schnick und Schnack und sechzig Sonderfunktionen. Ein Traum. Befriedigt lauschte sie dem Klickgeräusch, als sie auf Overnight-Expresslieferung klickte.

»Was machst du da?« Neugierig kam Jana um den Laptop.

»Ich hab ein Stück Heimat für diese Wildnis hier gekauft«, sagte sie und dachte: Schoko-Caramel XXL-Latte-macchiato Double Shot Caramel flavoured.

Jana nickte und sagte bloß lapidar: »Aha.« Sie setzte sich Tessa gegenüber in den Sessel. »Apropos Wildnis. Was ist nun, gehst du zurück nach Berlin, oder bleibst du das komplette Jahr hier und pendelst zur Arbeit? Wie ist das bei euch Journalisten?«

Tessa holte Luft. Seit einigen Tagen nervte Jana, sie solle sich endlich entscheiden. Aber sie wusste es ja selbst noch nicht. Was sollte sie ihrer Schwester da antworten? Ich hab dich angelogen? Ich hab keinen Job, die haben mich wegrationalisiert in meinem tollen LandChic-Verlag, ich hab keine Ausbildung und kann nichts, als nette Texte über nette Dinge zu schreiben? Mein Freund hat mich betrogen, und außerdem bin ich in ein paar Tagen total blank, da ich meine Ersparnisse für neue Klamotten ausgeben musste, weil mein Ex-Chef meine Umzugskisten mit all meinem Hab und Gut in Hamburg einfach verloren hat?

Tessa atmete langsam aus. Jana würde sie für noch dämlicher halten, als sie es wahrscheinlich so schon tat. Und am schlimmsten, sie würde sie bemitleiden in ihrer gütigen, verständigen Dorfärztinnen-Kaffee-Instantpulver-Art. Und sich dann noch mehr wie eine Glucke benehmen. Sie holte erneut Luft.

»Ja, sag doch mal, Tessa.«

»Also, das ist so«, begann sie. »Ich warte noch.«

»Worauf?«, fragte Jana und setzte ihren gnadenlosen Kommen-Sie-mir-nicht-damit-nehmen-Sie-jetzt-Ihre-Pillen-Blick auf.

»Es ist sechs Uhr morgens, Jana. Hier gibt’s keinen Kaffee, der mein Hirn schmieren könnte, und ich krieg die Augen kaum auf.«

»Dann mach sie zu und sag mir, was du willst. Hierbleiben oder Berlin?«

Tessa stand seufzend auf, schlappte in die Küche und roch am Instantpulver. Angewidert schob sie es in den Schrank zurück. »Na ja …« Sie wandte sich um. »Mit Berlin, das ist ein Problem, weil … Ich … ich muss dir da was sagen. Das mit Berlin …«

Das Bimmeln an der Haustür unterbrach Tessa.

»Ist offen!«, rief Jana sofort.

Tessa schnappte nach Luft. »Wie oft hab ich dir gesagt, du kannst nicht einfach alle ins Haus lassen! Im Ernst, wer mitten in der Nacht unterwegs ist, der führt nichts Gutes im Schilde. Was glaubst du, wer zu dieser gottverlassenen Uhrzeit wohl an einem so gottverlassenen Haus klingelt!«

»Jemand, der ein wichtiges Anliegen hat?«

»Hallo?«, ertönte eine sonore Männerstimme.

»Kommen Sie durch, wir sind im Wohnzimmer.«

Tessa verdrehte die Augen und zeigte leicht genervt an sich hinunter auf ihr Schlaf-Outfit, das nur aus Slip und knappem Top bestand.

Jana zuckte mit den Schultern. »Es ist helllichter Tag. Warum hast du dich nicht angezogen, als du aufgestanden bist?«

»Es ist Nacht! Und ich bin nicht aufgestanden! Du hast mich aus dem Schlaf gerissen. Zusammen mit diesem dämlichen Hahn, den du angeschleppt hast.«

»Moment, das Huhn war deine Idee.«

»Ja, das Huhn! Das legt Eier, das ist nützlich. Ein Hahn ist nichts anderes als ein Folterinstrument!«

»Entschuldigung?« In der Tür zur Diele stand ein junger Mann, vielleicht Ende zwanzig, der verlegen eine speckige Schirmmütze in der Hand drehte und die beiden Frauen musterte.

»Sie bringen nicht zufällig Kaffee?«, fragte Tessa sarkastisch.

»Nein. Wieso?«

»Dann könnten wir ihn trinken.« Der Mann sah Tessa in ihrem Slip und dem Tanktop verdattert an, aber die winkte bloß ab. »Vergessen Sie’s.«

»Meine Schwester ist koffeinabhängig«, wandte Jana ein. »Beachten Sie sie nicht weiter. Sie schläft noch.«

»Aha. Das fällt schwer«, meinte er angesichts der halb nackten Schönheit.

»Haha!« Tessa ließ sich wieder auf das Sofa fallen und presste sich ein Kissen vor die Brust.

»Jetzt im Ernst.« Jana trat auf ihn zu. »Was möchten Sie?«

»Sven. Sven Rothenbrink. Ich arbeite bei Hensel.«

»Hensel? Oh …« Jana klang betroffen. »Ich hab von dem schlimmen Unfall gehört.«

»Welcher Unfall?«, hakte Tessa nach.

Zögerlich trat Sven näher, drehte seine Schirmmütze und rang mit sich, wie er am besten anfangen könnte. »Ich … ich habe gehört, Sie beide … Also, Sie beide haben mit der Sache Schwanbeck zu tun gehabt«, murmelte er. »Mit dem Mord, mein ich.«

»Na ja, das war etwas unglücklich«, erklärte Jana. »Anna wurde hier im See gefunden, und da …«

»Welcher Unfall? Was für Hansels?«

»Hensel«, korrigierte Jana.

»Was für ein Unfall bei Hensel?« Neugierig war Tessa herangekommen und musterte den Mann. Er hatte Arbeitssachen an, Gummistiefel, eine dreckige Latzhose, ein grobes Fleece. Und er roch definitiv nach Tiermist. Vermutlich Pferd.

»Sara hatte …« Seine Stimme brach. »Also, Frau Hensel … Sara Hensel … Sie … sie hatte einen Reitunfall.«

»Und?« Tessa runzelte die Stirn. »Geht es ihr gut?«

Vorwurfsvoll sah Jana sie an, während der Mann seinen Blick betroffen abwandte. »Du wohnst hier seit anderthalb Monaten und liest immer noch nicht Zeitung. Du bist doch Journalistin.«

»Euer Käseblatt? Interessiert mich, ob die Freiwillige Feuerwehr schon wieder grillt und welcher Töpferverein einen Kurs gibt?«

»Das vielleicht nicht, aber dass Sara Hensel bei einem Reitunfall tödlich gestürzt ist.«

»Oh.« Tessa biss sich auf die Lippe. »Entschuldigung. Mein Beileid.«

Der Mann nickte. Seine Augen waren feucht. Mitleidig legte Tessa ihm die Hand auf die Schulter. Jegliche kesse Art war von ihr gewichen. »Setzen Sie sich. Wollen Sie einen Kaff… Wollen Sie einen Tee?«

»Nein. Nein danke.« Sven Rothenbrink seufzte. »Eigentlich wollte ich nur, dass Sie mir helfen.«

»Wobei?« Stirnrunzelnd sahen sich die beiden Schwestern an.

»Zu beweisen, dass Sara ermordet wurde.«

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4

Und, bist du jetzt endlich wach?«, raunzte Jana ihre Schwester an und versuchte, den Motorradhelm aufzubekommen. Ihre Finger zitterten stark. Auch ihre Knie waren weich wie Pudding, denn Tessa war mit diebischer Freude hinter Sven hergerast. Sie war gar nicht zu stoppen gewesen, als sie erfahren hatte, dass er mit seiner Motocross-Maschine zu ihnen an den See gekommen war. Er hatte die Süd-Koppeln des Gestüts überprüft und sich dabei entschlossen, zu ihnen an den See zu fahren und sie um Hilfe zu bitten. Der vermeintliche Unfalltod seiner Chefin hatte Sven auf seiner Kontrollfahrt keine Ruhe gelassen.

Trotz ihrer Müdigkeit war Tessa sofort Feuer und Flamme gewesen. Querfeldein war sie mit Jana auf dem Sozius über Wald- und Wiesenwege, über Stock und Stein direkt zum Gestüt gerast.

Eigentlich mochte Jana das Kribbeln im Bauch, wenn Tessas Maschine vom Boden abhob, aber die Vorstellung, was passieren könnte, wenn ihre Schwester die Kontrolle über ihren so heiß geliebten Feuerstuhl verlor, versetzte sie in Panik. Die Bilder verselbständigten sich in ihrem Kopf, und dann kam das Zittern.

»Sei doch nicht immer so steif.« Tessa packte ihren Helm auf die Satteltaschen der Indian. »Entspann dich mal. Du musst dich auf so einen Ritt einlassen, das Kribbeln genießen.«

»Das Kribbeln ist es nicht«, brummte Jana.

»Mit deinem Landrover hätten wir doppelt so lange gebraucht.«

»Ja, wären aber nicht doppelt so oft gestorben.« Maulend drückte sie Tessa den Helm vor die Brust.

»Beinahe gestorben, wenn überhaupt. Und außerdem dachte ich, ich bin heute die mit der schlechten Laune.« Tessa zückte ihre Kamera und ging zu Sven hinüber, der seine Maschine vor einem Springbrunnen aufbockte. »Wahrscheinlich einfach zu wenig Yoga heut Nacht, Jana.«

»Es war schon sechs.« Vergeblich probierte Jana, ihre Haare zu richten, dann folgte sie ihrer Schwester. Sie spürte jede Wurzel und jeden Stein im Rücken.

Das Gestüt Hensel setzte ganz auf Pferde-Romantik. Als Jana vor Jahrzehnten hier Reitunterricht genommen hatte, hatte es bloß einen schmalen Stall, das geklinkerte Wohnhaus und eine Reithalle gegeben. Nun standen ein halbes Dutzend Gebäude um einen malerischen Hof. Drei Reitställe und ein Trainingshaus für Pferde säumten mit dem Wohnhaus den kopfsteingepflasterten Hof. Alle Häuser waren dem ortstypischen Baustil mit Fachwerk-Klinker angepasst. Anscheinend hatten die Kinder von Christian Hensel, der damals den Reiterhof leitete, ordentlich Geld reingesteckt. Die von Rosen berankten Stallungen sahen gepflegt aus, und das Wohnhaus, das einen Glasvorbau als Bürotrakt bekommen hatte, wirkte einladend. Überall blühte es, und selbst Mistforken und Schubkarren atmeten ländliche Romantik.

»Hier stehen alle unter Schock«, sagte Sven und führte die beiden Frauen zu einem der Ställe. »Und ich auch. Ich … ich brauche einfach wen, der sich mit einem klaren Blick mal alles ansieht. Verstehen Sie?«

Jana und Tessa nickten und folgten Sven zum Stall.

»Wenn ich ’nen Kaffee krieg, ist mein Blick aber so was von klar«, meinte Tessa.

»Wie kannst du an Kaffee denken? Vielleicht ist hier ein Mord passiert.«

»Ich zeig Ihnen erst mal Dancing Queen. Sie steht unter Schock. Der Tierarzt hat aber ansonsten grünes Licht gegeben. Sie wird wieder.« Er schob das Rolltor des Stalls zur Seite und betrat mit den beiden Schwestern die Boxengasse. Die Stallung war sehr sauber und gut gepflegt. Neugierig lugten einige Pferde über die halbhohen Boxentüren.

»Puh, die müssen duschen.« Tessa drückte sich den Saum ihres T-Shirts vor die Nase und gab so einen herrlichen Blick auf ihren Bauchnabel frei. Und zwar genau im richtigen Augenblick, denn aus einer der Boxen trat ein athletischer Mann heraus. Üppige dunkle Haare, gerade richtig, um darin herumzuwuscheln, verruchter Dreitagebart und hinreißend blaue Augen. Tessa rannte prompt gegen eine Schubkarre mit Pferdemist. Beinahe hätte sie dem Kerl die volle Ladung über die Stiefel gekippt.

»Nicht so stürmisch«, meinte der, und sein Lachen war zum Dahinschmelzen.

Obwohl Tessa sich das Shirt vors Gesicht hielt, wusste Jana, dass ihre Schwester den Mann mit offenem Mund anstarrte. Anscheinend wurde Tessa klar, dass sie ihm freie Sicht auf ihren Bauch und ihren rosa gepunkteten BH gab, und stopfte verlegen das Shirt in den Jeansbund.