Bleak House - Charles Dickens - E-Book

Bleak House E-Book

Charles Dickens.

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Beschreibung

Mit 40 Zeichnungen Bleak House ist der neunte Roman von Charles Dickens. Ein viele Jahre anhaltender Erbschaftsstreit und eine verschleierte Herkunft stellen die Rahmenhandlung für diese Geschichte, die eher zu Dickens Unbekannten gezählt wird; aber umso mehr verdient, entdeckt zu werden. Richard Carstone und Ada Clare -eigentlich Cousin und Cousine - heiraten heimlich. Beide müssen damit fertig werden, dass sich ihre Hoffnungen auf ein Erbe in endlosen Rechtsstreitigkeiten zu zerschlagen drohen. Gemeinsam mit ihnen im titelgebenden Bleak House lebt Esther Summerson. Um ihre Herkunft rankt sich ein düsteres Geheimnis. In den letzten Kapiteln schließlich entwickelt sich das Buch sogar zu einem Kriminalroman. Dickens zeichnet in dieser bissigen Sozialkritik ein groß angelegtes Gesellschaftspanorama mit zeitlos liebenswürdigen, schrägen und finsteren Figuren. Zu ihnen gesellt sich der erste Detektiv der Romanliteratur: Inspector Bucket. Es ist ein Vergnügen, der Handlung zu folgen und die - zunächst noch breit gestreuten - Mosaikteilchen des Panoptikums zusammenzufügen. Dickens, dessen Familie selbst durch Rechtsstreitigkeiten in die Armut getrieben wurde, rechnet mit der englischen Justiz ab, den endlosen Prozessereien und der Hoffnungslosigkeit der Armen, die sich keine Anwälte leisten können. Dickens ist einer der meistgelesenen Schriftsteller der englischen Literatur. Der als Kind Mittellose hinterlässt bei seinem Tode ein stattliches Vermögen. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 1704

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Charles Dickens

Bleak House

Illustrierte Fassung

Charles Dickens

Bleak House

Illustrierte Fassung

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Gustav Meyrink 3. Auflage, ISBN 978-3-954185-85-6

null-papier.de/angebote

Inhaltsverzeichnis

Über die­ses Buch

Über den Au­tor

Dan­ke

Vor­re­de

1. Ka­pi­tel – Im Kanz­lei­ge­richt

2. Ka­pi­tel – In der vor­neh­men Welt

3. Ka­pi­tel – Die Ge­schich­te ei­ner Ju­gend

4. Ka­pi­tel – Men­schen­lie­be mit dem Fern­rohr vor den Au­gen

5. Ka­pi­tel – Ein Mor­ge­n­aben­teu­er

6. Ka­pi­tel – Ganz zu Hau­se

7. Ka­pi­tel – Der Geis­ter­weg

8. Ka­pi­tel – deckt eine Men­ge Sün­den zu.

9. Ka­pi­tel – An­zei­chen

10. Ka­pi­tel – Der Ad­vo­ka­ten­schrei­ber

11. Ka­pi­tel – Un­ser ge­lieb­ter Bru­der

12. Ka­pi­tel – Auf der Lau­er

13. Ka­pi­tel – Esthers Er­zäh­lung

14. Ka­pi­tel – An­stand

15. Ka­pi­tel – Bell Yard

16. Ka­pi­tel – »Toms Ein­öd«

17. Ka­pi­tel – Esthers Er­zäh­lung

18. Ka­pi­tel – Lady Ded­lock

19. Ka­pi­tel – Marsch vor­wärts

20. Ka­pi­tel – Ein neu­er Mie­ter

21. Ka­pi­tel – Die Fa­mi­lie Small­weed

22. Ka­pi­tel – Mr. Bucket

23. Ka­pi­tel – Esthers Er­zäh­lung

24. Ka­pi­tel – Eine Ge­richts­ver­hand­lung

25. Ka­pi­tel – Mrs. Snags­by auf der Lau­er

26. Ka­pi­tel – Scharf­schüt­zen

27. Ka­pi­tel – Schach­zü­ge

28. Ka­pi­tel – Der Hüt­ten­be­sit­zer

29. Ka­pi­tel – Der jun­ge Mann

30. Ka­pi­tel – Esthers Er­zäh­lung

31. Ka­pi­tel – Wär­te­rin und Kran­ke

32. Ka­pi­tel – Um die be­stimm­te Stun­de

33. Ka­pi­tel – Mr. Small­weed mischt sich ein

34. Ka­pi­tel – Un­ter der Schrau­be

35. Ka­pi­tel – Esthers Er­zäh­lung

36. Ka­pi­tel – Ches­ney Wold

37. Ka­pi­tel – Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce

38. Ka­pi­tel – Ein See­len­kampf

39. Ka­pi­tel – Ad­vo­kat und Kli­ent

40. Ka­pi­tel – Häus­li­che und Staats-An­ge­le­gen­hei­ten

41. Ka­pi­tel – In Mr. Tul­king­horns Zim­mer

42. Ka­pi­tel – In Mr. Tul­king­horns Woh­nung

43. Ka­pi­tel – Esthers Er­zäh­lung

44. Ka­pi­tel – Der Brief und die Ant­wort

45. Ka­pi­tel – Im Ver­trau­en

46. Ka­pi­tel – Auf­hal­ten! Auf­hal­ten!

47. Ka­pi­tel – Jos letz­ter Wil­le

48. Ka­pi­tel – Das Ver­häng­nis nimmt sei­nen Lauf

49. Ka­pi­tel – Hie Pf­licht, hie Freund­schaft!

50. Ka­pi­tel – Esthers Er­zäh­lung

51. Ka­pi­tel – Mir geht plötz­lich ein Licht auf

52. Ka­pi­tel – Hals­star­rig­keit

53. Ka­pi­tel – Die Spur

54. Ka­pi­tel – Eine Mine fliegt auf

55. Ka­pi­tel – Flucht

56. Ka­pi­tel – Ver­fol­gung

57. Ka­pi­tel – Esthers Er­zäh­lung

58. Ka­pi­tel – Ein Win­ter­tag und eine Win­ter­nacht

59. Ka­pi­tel – Esthers Er­zäh­lung

60. Ka­pi­tel – Aus­sich­ten

61. Ka­pi­tel – Eine Ent­de­ckung

62. Ka­pi­tel – Noch eine Ent­de­ckung

63. Ka­pi­tel – Stahl und Ei­sen

64. Ka­pi­tel – Esthers Er­zäh­lung

65. Ka­pi­tel – Ein neu­es Le­ben

66. Ka­pi­tel – Un­ten in Lin­colns­hi­re

67. Ka­pi­tel – Der Schluss von Esthers Er­zäh­lung

Dan­ke

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Anna Ka­re­ni­na

Der Graf von Mon­te Chri­sto

Die Schat­zin­sel

Ivan­hoe

Oli­ver Twist oder Der Weg ei­nes Für­sor­ge­zög­lings

Ro­bin­son Cru­soe

Das Got­tes­le­hen

Meis­ter­no­vel­len

Eine Weih­nachts­ge­schich­te

und wei­te­re …

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Über dieses Buch

Bleak Hou­se ist der neun­te Ro­man von Charles Di­ckens.

Ein vie­le Jah­re an­hal­ten­der Erb­schaftss­treit und eine ver­schlei­er­te Her­kunft stel­len die Rah­men­hand­lung für die­se Ge­schich­te, die eher zu Di­ckens Un­be­kann­ten ge­zählt wird; aber umso mehr ver­dient, ent­deckt zu wer­den.

Richard Car­sto­ne und Ada Cla­re –ei­gent­lich Cou­sin und Cou­si­ne – hei­ra­ten heim­lich. Bei­de müs­sen da­mit fer­tig wer­den, dass sich ihre Hoff­nun­gen auf ein Erbe in end­lo­sen Rechtss­trei­tig­kei­ten zu zer­schla­gen dro­hen. Ge­mein­sam mit ih­nen im ti­tel­ge­ben­den Bleak Hou­se lebt Esther Sum­mer­son. Um ihre Her­kunft rankt sich ein düs­te­res Ge­heim­nis. In den letz­ten Ka­pi­teln schließ­lich ent­wi­ckelt sich das Buch so­gar zu ei­nem Kri­mi­nal­ro­man.

Di­ckens zeich­net in die­ser bis­si­gen So­zi­al­kri­tik ein groß an­ge­leg­tes Ge­sell­schaft­span­ora­ma mit zeit­los lie­bens­wür­di­gen, schrä­gen und fins­te­ren Fi­gu­ren. Zu ih­nen ge­sellt sich der ers­te De­tek­tiv der Ro­man­li­te­ra­tur: In­spec­tor Bucket. Es ist ein Ver­gnü­gen, der Hand­lung zu fol­gen und die – zu­nächst noch breit ge­streu­ten – Mo­sa­ik­teil­chen des Pan­op­ti­kums zu­sam­men­zu­fü­gen.

Di­ckens, des­sen Fa­mi­lie selbst durch Rechtss­trei­tig­kei­ten in die Ar­mut ge­trie­ben wur­de, rech­net mit der eng­li­schen Jus­tiz ab, den end­lo­sen Pro­zes­se­rei­en und der Hoff­nungs­lo­sig­keit der Ar­men, die sich kei­ne An­wäl­te leis­ten kön­nen.

Di­ckens ist ei­ner der meist­ge­le­se­nen Schrift­stel­ler der eng­li­schen Li­te­ra­tur. Der als Kind Mit­tel­lo­se hin­ter­lässt bei sei­nem Tode ein statt­li­ches Ver­mö­gen.

»Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce« ist zu ei­nem Witz­wort ge­wor­den. Das ist das ein­zig Gute, was je­mals da­bei her­aus­ge­kom­men ist. Der Fall hat vie­len den Tod ge­bracht, aber den Ju­ris­ten ist er ein Jux. Je­der Bei­sit­zer des Kanz­lei­ge­richts hat dar­über zu be­rich­ten ge­habt. Je­der Kanz­ler hat, als er noch An­walt war, dar­in plä­diert. Blau­n­a­si­ge alte Ad­vo­ka­ten mit plum­pen dick­soh­li­gen Schu­hen ha­ben in aus­er­le­se­nen Port­wein­sit­zun­gen nach dem Es­sen in der Hall ihre Wit­ze dar­über ge­ris­sen. An­fän­ger auf der Ju­ris­ten­lauf­bahn ha­ben ih­ren Scharf­sinn dar­an ge­übt. Als Mr. Blo­wers, der aus­ge­zeich­ne­te Ad­vo­kat, ein­mal sag­te: »Das oder je­nes kann nur ge­sche­hen, wenn es Kar­tof­feln vom Him­mel reg­net«, hat­te der letz­te Lord­kanz­ler ver­bes­sernd be­merkt: »Oder wenn wir mit ›Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce‹ fer­tig wer­den, Mr. Blo­wers!« – ein Scherz, über den be­son­ders die Pe­del­le und Ge­richts­die­ner lach­ten.

Über den Autor

Charles John Huf­fam Di­ckens (als Pseud­onym auch Boz; geb. 7. Fe­bru­ar 1812 in Land­port bei Ports­mouth, Eng­land; gest. 9. Juni 1870 auf Ga­d’s Hill Place bei Ro­che­s­ter, Eng­land) ist ein eng­li­scher Schrift­stel­ler und Jour­na­list.

Er gilt als ei­ner der her­aus­ra­gends­ten Au­to­ren sei­ner Zeit und als ei­ner der Ers­ten, die in rea­lis­ti­schen Schil­de­run­gen das Leid ei­ner un­ter­pri­vi­le­gier­ten Be­völ­ke­rung auf­zeich­ne­ten.

Zu sei­nen be­kann­tes­ten Wer­ken ge­hö­ren »Oli­ver Twist«, »Da­vid Cop­per­field«, »Eine Ge­schich­te aus zwei Städ­ten«, »Gro­ße Er­war­tun­gen« so­wie »Eine Weih­nachts­ge­schich­te«. Di­ckens ver­wen­det einen blu­mi­gen und poe­ti­schen Stil, der vie­le hu­mo­ris­ti­sche Ele­men­te be­sitzt. Be­son­ders sei­ne Sei­ten­hie­be auf die Bri­ti­sche Ari­sto­kra­tie sind weit ver­brei­tet und be­liebt.

Di­ckens ist das Zwei­te von acht Kin­dern von John Di­ckens (1786–1851), ei­nem mit­tel­lo­sen Ma­ri­ne­schrei­ber. 1823 kann der Va­ter die hung­ri­ge Fa­mi­lie nicht mehr er­näh­ren und kommt ins Schuld­ge­fäng­nis von Lon­don. Eine Tra­gö­die, die den Jun­gen Charles Di­ckens fürs Le­ben prägt - nicht um­sonst kri­ti­siert er in sei­nen Schrif­ten den un­ge­rech­ten Um­gang mit schuld­los Ver­schul­de­ten. Charles muss schon mit 12 Jah­ren als La­ger- und Fa­brik­ar­bei­ter sei­ne Fa­mi­lie un­ter­stüt­zen; auch die­se Er­fah­rung fließt in sein Werk um »Da­vid Cop­per­field« ein.

Als sein Va­ter 1824 aus dem Ge­fäng­nis ent­las­sen wird, geht Charles bis 1826 zu­rück in die Schu­le und wird 1827 als Schrei­ber bei ei­nem Rechts­an­walt an­ge­stellt. Er ar­bei­tet sich bis zum Par­la­ment­ss­te­no­gra­fen hoch (1929).

1836 hei­ra­tet Di­ckens Ca­the­ri­ne Ho­garth (1816–1879), von der er sich 1858 trennt. Das Ehe­paar hat zehn Kin­der.

Ab 1831 ver­dient Di­ckens sei­nen Le­bens­un­ter­halt als Jour­na­list für ver­schie­de­ne Zei­tun­gen. 1836–37 er­schei­nen in mo­nat­li­chen Hef­ten die »Pick­wick Pa­pers«, durch die Di­ckens rasch Be­kannt­heit als Schrift­stel­ler er­langt. Eben­so sei­ne fol­gen­den Ro­ma­ne ent­ste­hen als Fort­set­zungs­ge­schich­ten in Zei­tun­gen. Oft schreibt er an meh­re­ren gleich­zei­tig.

Aber Di­ckens will nicht nur li­te­ra­ri­schen Er­folg, son­dern auch auf ge­sell­schaft­li­che Miss­stän­de hin­wei­sen und den Weg für so­zia­le Re­for­men eb­nen. 1838 er­scheint »Oli­ver Twist« und Di­ckens wird Her­aus­ge­ber der li­be­ra­len Ta­ges­zei­tung »Dai­ly News«.

Auf ei­ner er­folg­rei­chen Le­se­rei­se in die Ve­rei­nig­ten Staa­ten bringt Di­ckens, der un­ter nicht au­to­ri­sier­ten Ver­öf­fent­li­chun­gen auf dem ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nent lei­det, die Idee ei­nes welt­wei­ten Ur­he­ber­rech­tes auf, aber ern­tet da­für kei­ne Un­ter­stüt­zung.

1843 ver­öf­fent­licht Di­ckens sei­ne be­kann­te »Weih­nachts­ge­schich­te«, in der er eine fan­tas­ti­sche Hand­lung mit der mo­ra­li­schen Idee von So­li­da­ri­tät und Nächs­ten­lie­be ver­knüpft.

1856 er­lau­ben ihm sei­ne Ein­künf­te, den Land­sitz Ga­d‘s Hill Place in Ro­che­s­ter zu er­wer­ben. Am 9. Juni 1865 über­lebt Di­ckens den schwe­ren Ei­sen­bah­n­un­fall von Staple­hurst. Die­sen über­steht er kör­per­lich un­ver­sehrt, wird aber zeit­le­bens an den Erin­ne­run­gen lei­den.

1869 macht er eine letz­te Le­se­rei­se durch Groß­bri­tan­ni­en, auf der er wäh­rend ei­ner Le­sung einen Schlag­an­fall er­lei­det. Am 9. Juni 1870 stirbt Charles Di­ckens auf sei­nem Land­sitz an ei­nem zwei­ten Schlag­an­fall. Er wird am 14. Juni in der West­mins­ter Ab­bey bei­ge­setzt.

Di­ckens ist ei­ner der meist­ge­le­se­nen Schrift­stel­ler der eng­li­schen Li­te­ra­tur. Der als Kind Mit­tel­lo­se hin­ter­lässt bei sei­nem Tode ein statt­li­ches Ver­mö­gen.

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Charles Di­ckens bei Null Pa­pier

null-pa­pier.de/di­ckens

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Danke

Wenn es Sie in­ter­es­sie­ren soll­te, wie ein E-Book er­stellt wird, so kön­nen Sie hier eine klei­ne Ge­schich­te aus mei­ner Werk­statt le­sen: null-pa­pier.de/sto­ry

Ich hof­fe, Sie ha­ben Freu­de mit die­ser Ge­schich­te.

Ihr

Jür­gen Schul­ze, Ver­le­ger, js@­null-pa­pier.de

Neuss, 2015

Vorrede

Vor ei­ni­gen Mo­na­ten war ein Kanz­lei­ge­richts­bei­sit­zer so lie­bens­wür­dig, bei ei­ner öf­fent­li­chen Fei­er und in ei­ner Ge­sell­schaft von hun­dert­fünf­zig Da­men und Her­ren, von de­nen man nicht gut an­neh­men kann, dass sie ver­rückt sind, die Be­haup­tung auf­zu­stel­len, das Kanz­lei­ge­richt sei eine fast feh­ler­lo­se In­sti­tu­ti­on, wenn es auch das Lieb­lings­the­ma ge­wis­ser, in Vor­ur­tei­len be­fan­ge­ner Leu­te bil­de – bei wel­cher Äu­ße­rung be­sag­ter Rich­ter mir einen Sei­ten­blick zu­zu­wer­fen ge­ruh­te –, sie her­ab­zu­set­zen. Es habe viel­leicht, gab er zu, klei­ne un­be­deu­ten­de Män­gel hin­sicht­lich Schnel­lig­keit, was Er­le­di­gun­gen be­trä­fe, aber al­les an­de­re sei über­trie­ben und le­dig­lich eine Fol­ge der »Eng­her­zig­keit und Knau­se­rei des Pub­li­kums«. In Wirk­lich­keit hat nun aber das ge­rüg­te Pub­li­kum noch bis vor kur­z­em die al­le­rent­schie­dens­te Nei­gung an den Tag ge­legt, die Zahl der Kanz­lei­rich­ter zu ver­meh­ren, die an­fäng­lich, wenn ich nicht irre, Richard II. – es kann ge­ra­de­so­gut ein an­de­rer ge­we­sen sein – fest­ge­setzt hat. Die­ser Witz schi­en mir zu gut, um ihn in die­ses Buch auf­zu­neh­men, sonst hät­te ich ihn Kon­ver­sa­ti­ons-Ken­ge oder Mr. Vho­les in den Mund ge­legt. Ich hät­te ihn recht pas­send mit ei­nem Zi­tat aus Sha­ke­s­pea­res So­net­ten ver­bin­den kön­nen:

Ich wer­de dem Stof­fe gleich, in dem ich ar­bei­te, wie ei­nes Fär­bers Hand, Be­klag mich denn, und wün­sche an­ders mich!

Da es im­mer­hin von Be­lang ist, wenn das »eng­her­zi­ge und knau­se­ri­ge« Pub­li­kum er­fährt, wie in die­ser Hin­sicht die Din­ge stan­den und noch ste­hen, so stel­le ich hier fest, dass al­les, was in die­sem Buch vom Kanz­lei­ge­richt han­delt, sei­nem We­sen nach wahr und kei­nes­wegs über­trie­ben ist. Der »Fall Grind­ley« un­ter­schei­det sich in kei­nem we­sent­li­chen Punk­te von ei­nem tat­säch­li­chen Be­geb­nis, das ein Un­be­tei­lig­ter, der als Ad­vo­kat das gan­ze un­er­hör­te Un­recht von An­fang bis zu Ende ken­nen­lern­te, ver­öf­fent­licht hat.

Ge­gen­wär­tig liegt dem Ge­richts­hof ein Pro­zess vor, der vor fast zwan­zig Jah­ren an­ge­fan­gen hat, in dem ein­mal drei­ßig bis vier­zig Ad­vo­ka­ten bei ei­ner Tag­fahrt er­schie­nen und des­sen Kos­ten sich jetzt auf sieb­zig­tau­send Pfund be­lau­fen. Er ist ein »Pro­for­mapro­zess« und, wie man mir ver­si­chert, sei­nem Schlus­se nicht nä­her als zu An­fang. Noch ein an­de­rer wohl­be­kann­ter Kanz­lei­ge­richtspro­zess, der vor Be­ginn des vo­ri­gen Jahr­hun­derts an­fing und in dem die Kos­ten mehr als dop­pelt so viel ver­schlun­gen ha­ben, ist heu­te noch in Schwe­be. Wenn ich noch mehr Be­le­ge für »Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce« und »die Knau­se­rei des Pub­li­kums« brauch­te, so könn­te ich Bän­de da­mit fül­len.

Noch über einen an­de­ren Punkt möch­te ich mir hier eine Be­mer­kung ge­stat­ten. Man hat seit dem Tode Mr. Krooks die Mög­lich­keit der so­ge­nann­ten Selbst­ver­bren­nung ge­leug­net, und mein gu­ter Freund Mr. Le­wes (der irr­tüm­li­cher­wei­se, wie er bald dar­auf ent­deck­te, in dem Glau­ben leb­te, dass alle Au­to­ri­tä­ten von Ruf die Sa­che hät­ten fal­len las­sen) schrieb sei­ner­zeit ei­ni­ge geist­rei­che Brie­fe an mich, in de­nen er be­wei­sen woll­te, dass Selbst­ver­bren­nung ein Un­ding sei. Ich glau­be nicht erst be­mer­ken zu müs­sen, dass ich mei­ne Le­ser nicht bös­wil­li­ger- oder nach­läs­si­ger­wei­se ir­re­füh­re und, ehe ich je­nen To­des­fall be­schrieb, Sor­ge trug, die­sen Din­gen nach­zu­ge­hen. Man kennt un­ge­fähr drei­ßig Fäl­le, de­ren be­rühm­tes­ten, den der Grä­fin Cor­ne­lia de Bau­di, der Schrift­stel­ler und Stifts­geist­li­che in Ve­ro­na, Si­gnor Ce­se­na­te Gui­sep­pe Bian­chi­ni, ge­nau un­ter­sucht und be­schrie­ben hat. Er ver­öf­fent­lich­te dar­über im Jahr 1731 in Ve­ro­na einen Be­richt, den er spä­ter in Rom noch­mals dru­cken ließ. Alle bei die­sem Fall be­ob­ach­te­ten Er­schei­nun­gen, die sich ver­nünf­ti­ger­wei­se nicht be­zwei­feln las­sen, sind die­sel­ben wie die bei Mr. Krook ge­schil­der­ten. Der nächst be­kann­tes­te Fall er­eig­ne­te sich in Reims sechs Jah­re frü­her und wur­de von Le Cat, ei­nem der be­rühm­tes­ten Chir­ur­gen Frank­reichs, be­schrie­ben. Es han­del­te sich da­bei um eine Frau, de­ren Mann we­gen an­geb­li­chen Mor­des an­ge­klagt und ver­ur­teilt wur­de. Die nächst­hö­he­re In­stanz sprach ihn je­doch frei, da aus den Zeu­gen­aus­sa­gen her­vor­ging, dass die Frau an Selbst­ver­bren­nung ge­stor­ben war.

Ich hal­te es nicht für not­wen­dig, die­sen wohl­be­kann­ten Tat­sa­chen und den Be­rich­ten der be­tref­fen­den Au­to­ri­tä­ten noch die in ver­schie­de­nen Wer­ken nie­der­ge­leg­ten An­sich­ten und Be­rich­te aus­ge­zeich­ne­ter fran­zö­si­scher, eng­li­scher und schot­ti­scher Ge­lehr­ter aus neue­rer Zeit hin­zu­zu­fü­gen, und be­gnü­ge mich mit der Be­mer­kung, dass ich an der Rich­tig­keit der Tat­sa­chen nicht eher zwei­feln wer­de, als bis nicht auch hin­sicht­lich al­ler der Be­wei­se, die Vor­fäl­le im mensch­li­chen Le­ben als glaub­wür­dig re­gis­trie­ren, eine um­fas­sen­de Selbst­ver­bren­nung statt­ge­fun­den hat.

In Bleak Hou­se habe ich ab­sicht­lich die ro­man­ti­sche Sei­te des all­täg­li­chen Le­bens her­vor­ge­ho­ben. Ich glau­be, ich habe noch nie­mals so vie­le Le­ser wie bei die­sem Bu­che ge­habt. Auf Wie­der­se­hen.

Lon­don, im Au­gust 1853

1. Kapitel – Im Kanzleigericht

Lon­don. Der Mi­chae­li­ter­min ist vor­über, und der Lord­kanz­ler sitzt in der Lin­coln’s-Inn-Hall. Ab­scheu­li­ches No­vem­ber­wet­ter. So viel Schmutz in den Stra­ßen, als ob die Was­ser des Him­mels sich eben erst von der neu­ge­schaf­fe­nen Erde ver­lau­fen hät­ten und es gar nichts Wun­der­ba­res wäre, wenn man ei­nem vier­zig Fuß lan­gen Me­ga­lo­sau­rus be­geg­ne­te, wie er ge­ra­de – ein Ele­fant un­ter den Ei­dech­sen – Hol­born-Hill hin­auf­wat­schelt.

Der Rauch senkt sich von den Schorn­stei­nen nie­der, ein dich­ter schwar­zer Re­gen von Ruß­bat­zen, so groß wie aus­ge­wach­se­ne Schnee­flo­cken, die in schwar­zen Klei­dern den Tod der Son­ne be­trau­ern wol­len. Hun­de, un­kennt­lich vor Schmutz, Pfer­de, nicht viel bes­ser dran, bis an die Scheu­klap­pen mit Kot be­spritzt. Fuß­gän­ger drän­gen sich, von der all­ge­mei­nen Seu­che üb­ler Lau­ne an­ge­steckt, mit Re­gen­schir­men an­ein­an­der vor­bei und glit­schen an den Stra­ßen­e­cken aus, wo be­reits Zehn­tau­sen­de vor ih­nen den trü­ben Tag über aus­ge­rutscht sind und neue Schich­ten zu den Schmutz­krus­ten hin­zu­ge­fügt ha­ben, die an die­sen Stel­len zäh am Pflas­ter kle­ben und sich an­häu­fen mit Zin­ses­zin­sen.

Ne­bel über­all, Ne­bel strom­auf, wo der Fluss zwi­schen Busch­werk und Wie­sen da­hin­fließt; Ne­bel stromab, wo er sich schmut­zig zwi­schen Rei­hen von Schif­fen und dem Ufe­run­rat der großen, un­sau­be­ren Stadt durch­wälzt. Ne­bel auf den Sümp­fen von Es­sex und Ne­bel auf den Hö­hen von Kent. Ne­bel kriecht in die Ka­bu­sen der Koh­len­schif­fe; Ne­bel liegt drau­ßen auf den Ra­hen und klimmt durch das Tau­werk; Ne­bel senkt sich auf die Deck­ver­klei­dung der Bar­ken und Boo­te. Ne­bel dringt in die Au­gen und Keh­len der al­ten Green­wi­chin­va­li­den, die am Ka­min in ih­ren Käm­mer­chen hus­ten und keu­chen, dringt in das Rohr und den Kopf der Shag­pfei­fe des grim­mi­gen Schiffs­eig­ners un­ten in sei­ner en­gen Ka­jü­te und beißt grau­sam in Ze­hen und Fin­ger des frös­teln­den klei­nen Schiffs­jun­gen auf Deck. Passan­ten schau­en von den Brücken her­ab über die Ge­län­der in einen Ne­bel­him­mel und sind rings von Ne­bel um­ge­ben, als ob sie in ei­nem Luft­bal­lon mit­ten in grau­en Wol­ken hin­gen.

Gas­lam­pen stie­ren in den Stra­ßen trü­b­äu­gig durch den Ne­bel wie drau­ßen die Son­ne wohl auf den durch­weich­ten Fel­dern. Die meis­ten Lä­den ha­ben zwei Stun­den vor der Zeit an­ge­zün­det, und das Gas­licht scheint es zu wis­sen, denn es sieht schmal und mür­risch aus.

Am raues­ten ist der Nach­mit­tag; da ist der Ne­bel am dicks­ten, die Stra­ße am schmut­zigs­ten in der Nähe je­nes dick­schäd­li­gen stei­ner­nen Hin­der­nis­ses, das so recht eine pas­sen­de Zier für die Schwel­le der dick­schäd­li­gen al­ten Kor­po­ra­ti­on – des »Tem­pels« – ist. Und dicht beim »Tem­pel« in der Lin­coln’s-Inn-Hall, mit­ten im Her­zen des Ne­bels sitzt der Lord-Ober­kanz­ler in sei­nem ho­hen Kanz­lei­ge­richts­hof.

Nie kann der Ne­bel zu dick, nie der Schmutz und Kot zu tief sein, um dem ver­sumpf­ten und ver­schlamm­ten Zu­stand zu ent­spre­chen, in dem sich die­ser hohe Kanz­lei­ge­richts­hof, die­ser schlimms­te al­ler er­grau­ten Sün­der, an ei­nem sol­chen Tage dem Him­mel und der Erde prä­sen­tiert.

An ei­nem sol­chen Nach­mit­tag sitzt der Lord-Ober­kanz­ler da mit ei­ner Ne­bel­glo­rie um das Haupt, ein­gehüllt und um­ge­ben von Schar­lach­tuch und Vor­hän­gen und vor sich einen di­cken Ad­vo­ka­ten mit star­kem Ba­cken­bart, ei­ner dün­nen Stim­me und end­lo­sen Pro­zess­ak­ten, der sei­ne Bli­cke auf die La­ter­ne an der De­cke rich­tet, wo er nichts als Ne­bel sieht.

An ei­nem sol­chen Nach­mit­tag sit­zen ein paar Dut­zend Mit­glie­der des Bar­re­aus, des ho­hen Kanz­lei­ge­richts, hier, be­schäf­tigt mit ei­nem der zehn­tau­send Sta­di­en ei­nes end­lo­sen Pro­zes­ses. Sie le­gen ein­an­der Sch­lin­gen mit schlüpf­ri­gen Prä­ze­den­zi­en; knie­tief in tech­ni­schen Aus­drücken wa­tend ren­nen sie ihre mit Zie­gen- und Pfer­de­haar ge­schütz­ten Köp­fe ge­gen Wäl­le von Wor­ten und füh­ren ein Schau­spiel von Ge­rech­tig­keit auf; Ko­mö­di­an­ten mit ernst­haf­ten Ge­sich­tern.

An ei­nem sol­chen Nach­mit­tag müs­sen die ver­schie­de­nen So­li­zi­to­ren in ei­ner Rechtssa­che, die zwei oder drei von ih­ren da­bei reich ge­wor­de­nen Vä­tern ge­erbt ha­ben, in ei­ner Rei­he sit­zen in ei­nem mit Stroh­mat­ten aus­ge­leg­ten Brun­nen, auf des­sen Grund man ver­ge­bens nach der Wahr­heit su­chen wür­de – zwi­schen dem ro­ten Tisch des Re­gis­tra­tors und den sei­de­nen Tala­ren –, Re­pli­ken, Du­pli­ken, Schluss­wor­te, De­kre­te, Ein­ga­ben, In­for­ma­tio­nen und Ber­ge geld­ver­schlin­gen­den Un­sinns vor sich auf­ge­häuft. Kein Wun­der, dass der Saal trü­be ist, nur hie und da von schmel­zen­den Ker­zen spär­lich er­hellt, wenn Ne­bel schwer dar­in hängt, die bun­ten Glas­fens­ter die Far­be ver­lo­ren ha­ben und kein Ta­ges­licht her­ein­las­sen; kein Wun­der, wenn die Un­ein­ge­weih­ten auf der Stra­ße, die durch die Glas­schei­ben in den Tü­ren her­ein­bli­cken, sich von dem Ein­tritt ab­schre­cken las­sen durch den licht­scheu­en, eu­len­haf­ten An­blick und das schläf­ri­ge Ge­summ, das matt zur De­cke hin­auf­tönt von dem ge­pols­ter­ten Bal­da­chin, von wo der Lord-Ober­kanz­ler zu der La­ter­ne auf­blickt, in der kein Licht ist, und wo die Perücken der bei­sit­zen­den Rich­ter in Ne­bel­dunst ver­schwim­men.

Das ist das Kanz­lei­ge­richt, das Häu­ser hat ver­fal­len ma­chen und Äcker ver­wüs­tet in je­der Graf­schaft, sei­ne le­bens­mü­den Wahn­sin­ni­gen hat in je­dem Ir­ren­haus und sei­ne To­ten auf je­dem Kirch­hof, das sei­ne Pro­zes­sie­ren­den aus­saugt, bis sie mit nie­der­ge­tre­te­nen Ab­sät­zen und ab­ge­schab­tem Rock bei al­len, de­ren Be­kannt­schaft sie ma­chen, reihum bor­gen und bet­teln ge­hen; das Kanz­lei­ge­richt, das dem Rei­chen Mit­tel an die Hand gibt, das Recht müde zu het­zen. Das Geld, Ge­duld, Mut, Hoff­nung so er­schöpft, Köp­fe ver­wirrt und Her­zen bricht, dass kein Ad­vo­kat, so er eh­ren­wert ist, an­ste­hen wird zu war­nen: »Lie­ber je­des Un­recht lei­den als hier­her­kom­men.«

Wer ist zu­fäl­lig an die­sem trü­ben Nach­mit­tag in des Lord­kanz­lers Ge­richt au­ßer dem Lord­kanz­ler selbst, dem Ad­vo­ka­ten in der zu ver­han­deln­den Sa­che, zwei oder drei Rechts­an­wäl­ten, die nie­mals et­was zu tun ha­ben, und dem eben er­wähn­ten Brun­nen voll So­li­zi­to­ren? Der Re­gis­tra­tor, im Ran­ge un­ter dem Rich­ter, in Perücke und Talar, und die Pe­del­le und Sä­ckel­meis­ter in ih­rer Amt­stracht. Sie gäh­nen alle, denn kein Trop­fen Witz ist von dem Rechts­fall Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce, der schon seit vie­len, vie­len Jah­ren tro­cken aus­ge­quetscht ist, zu er­war­ten. Die Ste­no­gra­fen, die Ge­richts­schrei­ber und Zei­tungs­be­richt­er­stat­ter ent­flie­hen re­gel­mä­ßig mit dem üb­ri­gen Per­so­nal, wenn »Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce« an die Rei­he kommt. Ihre Plät­ze sind leer.

Auf ei­ner Bank an der Sei­ten­wand steht, um bes­ser in das mit Vor­hän­gen um­schlos­se­ne Hei­lig­tum bli­cken zu kön­nen, eine klei­ne ver­rück­te alte Frau in ei­nem zer­drück­ten Hut, die je­der Ver­hand­lung von An­fang bis Ende bei­wohnt und be­stän­dig ir­gend­ein un­be­greif­li­ches Ur­teil zu ih­ren Guns­ten er­war­tet.

Ei­ni­ge sa­gen, sie sei wirk­lich Par­tei in ei­ner Rechtssa­che oder sei es ge­we­sen; aber nie­mand weiß es ge­nau, weil sich nie­mand dar­um küm­mert. Sie trägt in ih­rem Strick­beu­tel ein klei­nes Pa­ket mit sich her­um, das sie ihre Do­ku­men­te nennt und das größ­ten­teils aus Pa­pier­fi­di­bus­sen und ge­trock­ne­tem La­ven­del be­steht.

Ein blas­ser Ge­fan­ge­ner un­ter Ob­hut ei­nes Ge­richts­die­ners er­scheint zum halb­dut­zends­ten Male vor den Schran­ken, um sich per­sön­lich ge­gen die An­schul­di­gung der Un­ter­schla­gung zu ver­tei­di­gen, was ihm schwer­lich je­mals ge­lin­gen wird, da er als letzt­über­le­ben­der Te­sta­ments­voll­stre­cker mit Rech­nun­gen in Ver­wick­lung ge­ra­ten ist, von de­nen er wahr­schein­lich nie et­was ge­wusst oder ver­stan­den hat.

Un­ter­des­sen sind sei­ne Aus­sich­ten im Le­ben ver­nich­tet wor­den.

Ein an­de­rer zu­grun­de ge­rich­te­ter Pro­zes­sie­ren­der trifft pe­ri­odisch von Shrops­hi­re ein und macht am Ende je­der Ver­hand­lung krampf­haf­te An­stren­gun­gen, den Kanz­ler an­zu­re­den; man kann ihn in kei­ner Wei­se über­zeu­gen, dass der Kanz­ler, ob­gleich er ihm seit ei­nem Vier­tel­jahr­hun­dert das Le­ben schwer ge­macht hat, ge­richt­lich nichts von sei­ner Exis­tenz weiß. Er hat sich einen gu­ten Platz aus­ge­sucht und wen­det kein Auge von dem Rich­ter, be­reit, je­den Au­gen­blick, wenn sich die Ge­le­gen­heit er­ge­ben soll­te, in kla­gen­dem Bass: »Myl­ord!« zu­ru­fen. Ein paar Ad­vo­ka­ten­schrei­ber und an­de­re, die den Mann von An­se­hen ken­nen, blei­ben da in der Hoff­nung, er wer­de viel­leicht An­lass zu ei­nem Spaß ge­ben und die Trüb­se­lig­keit des ab­scheu­li­chen Wet­ters ein we­nig un­ter­bre­chen.

»Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce« geht sei­nen schlep­pen­den Gang. Die­ses Un­ge­heu­er von Pro­zess ist im Ver­lauf der Zeit so ver­wi­ckelt ge­wor­den, dass sich kein Mensch auf Er­den mehr dar­in zu­recht­fin­den kann. Die Par­tei­en ver­ste­hen ihn am we­nigs­ten, und nicht ein­mal zwei Kanz­lei­ge­richts­ad­vo­ka­ten kön­nen fünf Mi­nu­ten da­von spre­chen, ohne nicht schon über die Vor­fra­gen gänz­lich un­ei­nig zu wer­den. Zahl­lo­se Kin­der sind in den Pro­zess hin­ein­ge­bo­ren wor­den, zahl­lo­se jun­ge Paa­re ha­ben hin­ein­ge­hei­ra­tet, zahl­lo­se alte Leu­te sind her­aus­ge­stor­ben. Dut­zen­de von Per­so­nen sind zu ih­rem Schre­cken auf ein­mal Par­tei in Sa­chen »Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce« ge­wor­den, ohne zu wis­sen, wie und warum; gan­ze Fa­mi­li­en ha­ben sa­gen­haf­te Stam­mes­feind­schaft mit dem Pro­zess ge­erbt.

Der klei­ne Klä­ger oder Be­klag­te, dem man ein neu­es Schau­kel­pferd ver­spro­chen, wenn »Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce« ge­schlich­tet sein wür­de, ist dar­über groß ge­wor­den, hat sich ein le­ben­des Pferd ge­kauft und ist in die an­de­re Welt ge­trabt. Ju­gend­fri­sche Mün­del sind zu Müt­tern und Groß­müt­tern ver­welkt; eine lan­ge Pro­zes­si­on von Kanz­lern ist ge­kom­men und ge­gan­gen; das Ver­zeich­nis der Par­tei­en in dem Pro­zess ist zu ei­nem lan­gen Lei­chen­zet­tel ge­wor­den; viel­leicht le­ben nicht mehr drei Jarn­dy­ce auf der Erde, seit­dem sich der alte Tom Jarn­dy­ce in ei­nem Kaf­fee­haus in der Kanz­lei­ge­richts­gas­se aus Verzweif­lung eine Ku­gel durch den Kopf ge­schos­sen – aber »Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce« schleppt sich im­mer noch in un­ab­seh­ba­rer Län­ge vor dem Ge­richts­hof hin, und auf ein Ende ist nicht zu hof­fen.

»Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce« ist zu ei­nem Witz­wort ge­wor­den. Das ist das ein­zig Gute, was je­mals da­bei her­aus­ge­kom­men ist. Der Fall hat vie­len den Tod ge­bracht, aber den Ju­ris­ten ist er ein Jux. Je­der Bei­sit­zer des Kanz­lei­ge­richts hat dar­über zu be­rich­ten ge­habt. Je­der Kanz­ler hat, als er noch An­walt war, dar­in plä­diert. Blau­n­a­si­ge alte Ad­vo­ka­ten mit plum­pen dick­soh­li­gen Schu­hen ha­ben in aus­er­le­se­nen Port­wein­sit­zun­gen nach dem Es­sen in der Hall ihre Wit­ze dar­über ge­ris­sen. An­fän­ger auf der Ju­ris­ten­lauf­bahn ha­ben ih­ren Scharf­sinn dar­an ge­übt. Als Mr. Blo­wers, der aus­ge­zeich­ne­te Ad­vo­kat, ein­mal sag­te: »Das oder je­nes kann nur ge­sche­hen, wenn es Kar­tof­feln vom Him­mel reg­net«, hat­te der letz­te Lord­kanz­ler ver­bes­sernd be­merkt: »Oder wenn wir mit ›Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce‹ fer­tig wer­den, Mr. Blo­wers!« – ein Scherz, über den be­son­ders die Pe­del­le1 und Ge­richts­die­ner lach­ten.

Wie vie­le mag nicht schon die an­ste­cken­de Berüh­rung des Fal­les Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce kor­rum­piert ha­ben! Von dem Bei­sit­zer, auf des­sen Ak­ten­schrank gan­ze Stö­ße von Er­las­sen in Sa­chen Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce in form­lo­sen Hau­fen ver­staub­ten, bis hin­ab zu dem Ab­schrei­ber in dem Büro der »Sechs­schrei­ber«, der Zehn­tau­sen­de von Kanz­lei­fo­lio­sei­ten mit die­ser ewi­gen Über­schrift ko­piert hat, ist kei­nes Men­schen Herz da­durch bes­ser ge­wor­den.

Aus Über­lis­tung, Aus­flüch­ten, Ver­schlep­pung, Aus­beu­tung und Ver­wir­rung al­ler Art ent­sprin­gen Ein­flüs­se, die nie zu ir­gen­det­was Gu­tem füh­ren kön­nen.

Selbst die Lauf­bur­schen der So­li­zi­to­ren, die den un­glück­li­chen Pro­zessan­ten seit un­vor­denk­li­chen Zei­ten den Trost vor­spie­gel­ten, dass Mr. Chizz­le, Mizz­le oder sonst wer vor­mit­tags drin­gend be­schäf­tigt wä­ren, ha­ben viel­leicht durch den Fall Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce einen krum­men Weg mehr ge­hen ge­lernt.

Der Se­que­stra­tor in der Sa­che hat ein schö­nes Stück Geld da­bei ver­dient, aber sei­ner eig­nen Mut­ter miss­trau­en und das gan­ze Men­schen­ge­schlecht ver­ach­ten ge­lernt. Chizz­le, Mizz­le und wer sonst noch ha­ben sich all­mäh­lich an­ge­wöhnt, ihr Ge­wis­sen mit dem un­be­stimm­ten Vor­satz ein­zu­lul­len, die­se oder jene Klei­nig­keit zu re­geln oder dies oder das für Drizz­le, der un­ver­ant­wort­lich ver­nach­läs­sigt wor­den, nach­zu­ho­len, bis die Sa­che »Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce« er­le­digt sei. Hin­aus­schie­ben und Ver­tu­schen in ih­ren man­nig­fal­tig wech­seln­den Ge­stal­ten hat der un­glück­se­li­ge Rechtss­treit in zahl­lo­sen Fäl­len auf dem Ge­wis­sen, und selbst die­je­ni­gen, die un­be­rührt von die­sem Übel sei­ne Ge­schich­te ver­folgt ha­ben, sind un­merk­lich in Ver­su­chung ge­ra­ten, nie ein­zu­grei­fen, das Schlech­te sei­nen schlech­ten Weg ge­hen zu las­sen und zu der An­sicht zu nei­gen, al­les müs­se in der Welt schief ge­hen, weil sie wahr­schein­lich schlam­pi­ger­wei­se dazu be­stimmt sei.

So tagt in­mit­ten die­ser Ver­rot­tung und im Her­zen des Ne­bels der Lord-Ober­kanz­ler in sei­nem ho­hen Kanz­lei­ge­richts­hof.

»Mr. Tan­gle«, sagt der Lord-Ober­kanz­ler. – Der Re­de­schwall die­ses ge­lehr­ten Herrn hat ihn ein we­nig un­ru­hig ge­macht.

»Ml­ord!« sagt Mr. Tan­gle.

Er weiß mehr von »Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce« als ir­gend­je­mand sonst. Er ist des­halb be­rühmt, und es heißt, er habe nichts an­de­res ge­le­sen, seit­dem er aus der Schu­le ist.

»Sind Sie mit Ihrem Ar­gu­ment bald fer­tig?«

»Ml­ord, nein, – noch mas­sen­haft Punk­te –, hal­te es je­doch für mei­ne Pf­licht, mich Ew. Lord­schaft Spruch zu un­ter­wer­fen«, flüs­tert Mr. Tan­gle ehr­er­bie­tig.

»Meh­re­re der Her­ren Rechts­an­wäl­te wol­len heu­te noch plä­die­ren, glau­be ich?« sagt der Kanz­ler mit ei­nem kaum merk­li­chen Lä­cheln.

Acht­zehn von Mr. Tangles ge­lehr­ten Freun­den, je­der mit ei­nem klei­nen Ak­ten­aus­zug von acht­zehn­hun­dert Bo­gen be­waff­net, tau­chen wie acht­zehn Häm­mer in ei­nem Pia­no­for­te em­por, ma­chen acht­zehn Ver­beu­gun­gen und tau­chen wie­der in die Dun­kel­heit auf ih­ren acht­zehn Plät­zen un­ter.

»Wir wol­len die Sa­che Mitt­woch über vier­zehn Tage wei­ter hö­ren«, sagt der Kanz­ler.

Es han­delt sich näm­lich heu­te nur um einen Kos­ten­punkt. Um eine blo­ße Knos­pe an dem zu ei­nem gan­zen Wald ge­wor­de­nen Baum des ur­sprüng­li­chen Pro­zes­ses.

Der Kanz­ler er­hebt sich; das Bar­reau er­hebt sich; der Ge­fan­ge­ne wird ei­lig an die Schran­ken ge­bracht; der Mann aus Shrops­hi­re ruft: »Myl­ord!« Pe­del­le und Ge­richts­die­ner ru­fen ent­rüs­tet: »Still!« und mes­sen den Mann aus Shrops­hi­re mit er­zürn­ten Bli­cken.

»Was das jun­ge Mäd­chen –« fährt der Kanz­ler, im­mer noch in Sa­chen Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce, fort, »be­trifft –«

»Bit­te Ew. Lord­schaft um Ver­zei­hung – den Kna­ben«, un­ter­bricht Mr. Tan­gle vor­ei­lig.

»Was das Mäd­chen«, be­ginnt der Kanz­ler mit grö­ßerm Nach­druck von Neu­em, »und den Kna­ben – die bei­den jun­gen Leu­te – be­trifft –«

Mr. Tan­gle ist ver­nich­tet.

»– die ich heu­te vor­ge­la­den habe und die sich jetzt in mei­nem Pri­vat­zim­mer be­fin­den, so wer­de ich selbst mit ih­nen spre­chen und mich über­zeu­gen, ob es an­ge­mes­sen er­scheint, ih­nen die Er­laub­nis, bei ih­rem On­kel zu woh­nen, zu er­tei­len.«

Mr. Tan­gle er­hebt sich wie­der.

»Bit­te Ew. Lord­schaft – Ver­zei­hung – ist tot.«

»Mit ih­rem –«, der Kanz­ler buch­sta­biert mit sei­nem zu­sam­men­ge­leg­ten Au­gen­glas in den Pa­pie­ren auf sei­nem Pult – »Groß­va­ter.«

»Bit­te Ew. Lord­schaft – Ver­zei­hung – Op­fer ei­ner über­eil­ten Tat. Kopf ge­schos­sen.«

Plötz­lich er­hebt sich ein ganz klei­ner Ad­vo­kat mit ei­ner furcht­ba­ren Bass­s­tim­me in den rück­wär­ti­gen Re­gio­nen des Ne­bels mit großer Wich­tig­keit und sagt:

»Will Ew. Lord­schaft mir ge­stat­ten? Ich ver­tre­te den Mann. Er ist ein Vet­ter ent­fern­ten Gra­des. Ich bin in die­sem Au­gen­blick nicht vor­be­rei­tet, dem Ge­richts­hof Aus­kunft zu ge­ben, in wel­chem Ver­wandt­schafts­grad er steht, aber er ist ein Vet­ter.«

Der sehr klei­ne Ad­vo­kat lässt die­se mit Gra­bes­s­tim­me ge­spro­che­ne An­re­de an dem Ge­bälk der De­cke ver­klin­gen, taucht un­ter im Ne­bel, und weg ist er. Alle su­chen ihn mit den Au­gen. Nie­mand kann ihn mehr ent­de­cken.

»Ich will mit den bei­den jun­gen Leu­ten spre­chen«, sagt der Lord­kanz­ler aber­mals, »und mich in­for­mie­ren, wie sich das mit dem Woh­nen bei ih­rem Vet­ter ver­hält. Ich wer­de die Sa­che mor­gen früh bei Er­öff­nung der Sit­zung wie­der zur Spra­che brin­gen.«

Der Kanz­ler will sich ge­gen das Bar­reau ver­nei­gen, da wird der Ge­fan­ge­ne vor­ge­führt.

Die Sa­che mit dem An­ge­klag­ten kann na­tür­lich kei­ne an­de­re Fol­ge ha­ben, als dass der Mann wie­der ins Ge­fäng­nis zu­rück­ge­schickt wird, was auch sehr rasch ge­schieht. Der Pro­zes­sie­ren­de aus Shrops­hi­re wagt noch ein bit­ten­des: »Myl­ord!« aber der Kanz­ler hat die Ge­fahr er­späht und ist ge­schickt ver­schwun­den. Alle üb­ri­gen An­we­sen­den ver­schwin­den eben­falls rasch. Eine Bat­te­rie von blau­en Ak­ten­beu­teln wird mit Pa­pier ge­la­den und von Schrei­bern fort­ge­schleppt. Die ver­rück­te Alte trip­pelt mit ih­ren Do­ku­men­ten hin­aus, und das Ge­richts­lo­kal wird zu­ge­schlos­sen.

Wenn alle Un­ge­rech­tig­keit, die schon hier be­gan­gen wur­de, und al­les da­durch ver­ur­sach­te Elend mit hin­ein­ge­schlos­sen und zu Asche ver­brannt wer­den kön­nen, umso bes­ser wäre es für alle Par­tei­en, nicht nur für die im Fal­le Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce.

Haus­meis­ter in öf­fent­li­chen In­sti­tu­tio­nen  <<<

2. Kapitel – In der vornehmen Welt

Nur ein flüch­ti­ger Blick in die fei­ne Welt an die­sem schmut­zi­gen Nach­mit­tag.

Sie ist dem Kanz­lei­ge­richts­hof nicht so un­ähn­lich, wie es viel­leicht schei­nen mag. Die vor­neh­me Welt und das Kanz­lei­ge­richt sind bei­de Kin­der des Her­ge­brach­ten und ei­nes hei­lig ge­wor­de­nen Brauchs, ver­schla­fe­ne Rip van Winkles, die selt­sa­me Spie­le wäh­rend lan­ger Ge­wit­ter­zeit ge­spielt ha­ben, schlum­mern­de Dorn­rös­chen, die der Rit­ter ei­nes Ta­ges er­we­cken wird, wenn alle still­ste­hen­den Brat­spie­ße in der Kü­che sich mit wun­der­ba­rer Em­sig­keit zu dre­hen an­fan­gen wer­den.

Die vor­neh­me Welt ist kei­ne große Welt. Selbst im Ver­hält­nis zu un­se­rer, die auch ihre Gren­zen hat, wie selbst Sei­ne Lord­schaft fin­den wür­den, wenn sie rund um die­sel­be her­um­zu­rei­sen und an dem Ran­de, wo sie zu Ende geht, ste­hen zu blei­ben ge­ruh­ten, ist sie nur ein klei­nes Stück­chen. Es ist viel Gu­tes dar­in; es le­ben bra­ve und ehr­li­che Leu­te in ihr; sie füllt ih­ren be­stimm­ten Platz aus, aber das Schlim­me an ihr ist, dass sie zu sehr in fei­ne Baum­wol­le ein­ge­wi­ckelt ist und die brau­sen­den Wo­gen der grö­ße­ren Welt nicht hö­ren kann und nicht se­hen, wie sie um die Son­ne kreist. Es ist eine ver­dor­ren­de Welt, und ihr Wachs­tum ist zu­wei­len be­hin­dert durch den Man­gel an Luft.

Lady Ded­lock ist auf ei­ni­ge Tage in ihre Stadt­woh­nung zu­rück­ge­kehrt, ehe sie nach Pa­ris reist, wo sie sich ei­ni­ge Wo­chen auf­hal­ten wird. Wo­hin sie sich spä­ter zu be­ge­ben ge­denkt, ist noch un­ge­wiss. Die »fa­shio­na­blen Nach­rich­ten« ver­kün­den es zum Tros­te der Pa­ri­ser, und sie wis­sen al­les, was in der vor­neh­men Welt ge­schieht. Et­was an­de­res zu wis­sen wäre un­chic.

Myla­dy Ded­lock kommt von ih­rem Land­sitz in Lin­colns­hi­re. Die Was­ser sind über die Ufer ge­tre­ten in Lin­colns­hi­re. Ein Brücken­bo­gen im Park ist un­ter­wa­schen und ein­ge­sun­ken. Die nahe Nie­de­rung, eine hal­be eng­li­sche Mei­le breit, ist ein Sumpf ge­wor­den. Mit me­lan­cho­li­schen Bäu­men als In­seln dar­in und ei­ner Ober­flä­che, die den gan­zen Tag lang bei dem fal­len­den Re­gen wie punk­tiert aus­sieht.

Lady Ded­locks Land­sitz ist sehr un­ge­müt­lich ge­wor­den. Das Wet­ter ist seit vie­len Ta­gen und Näch­ten so nass ge­we­sen, dass die Bäu­me bis un­ter die Rin­de durch­weicht sind und die feuch­ten Spä­ne, wenn sie der Holz­fäl­ler ab­haut, sich ge­räusch­los vom Stam­me tren­nen und ohne Laut zu Bo­den fal­len. Das Wild trieft und lässt Pfüt­zen zu­rück, wo­hin es tritt. Der Schuss aus der Büch­se ver­liert sei­nen schar­fen Knall in der feuch­ten Luft, und der Rauch schwebt lang­sam in ei­ner klei­nen Wol­ke der grü­nen, busch­ge­krön­ten Höhe zu, die einen Hin­ter­grund für den fal­len­den Re­gen bil­det. Die Aus­sicht aus den Fens­tern Lady Ded­locks ist eine Land­schaft, ab­wech­selnd in Blei­zeich­nung und in Tu­sche. Die Va­sen auf der Ter­ras­sen­mau­er im Vor­der­grund fan­gen den Re­gen auf den gan­zen Tag, und die schwe­ren Trop­fen fal­len trip, trip, trip auf die brei­ten Sand­stein­plat­ten des Gan­ges, der schon seit al­ter Zeit der »Geis­ter­weg« heißt. Sonn­tags riecht die klei­ne Kir­che im Park mod­rig; die Ei­chen­kan­zel bricht in kal­ten Schweiß aus, und ein Ge­ruch und Ge­schmack liegt in der Luft, der an die Grä­ber der al­ten Ded­locks er­in­nert.

Lady Ded­lock, die kin­der­los ist, hat im frü­hen Zwie­licht aus ih­rem Bou­doir einen Blick auf das Häu­schen des Park­wäch­ters ge­wor­fen; der Schein ei­nes Feu­ers schim­mer­te durch die Ja­lou­si­en, Rauch stieg aus dem Schorn­stein, und ein Kind, ver­folgt von ei­ner Frau, lief hin­aus in den Re­gen, ei­nem in eine Ka­pu­ze gehüll­ten Mann beim Parktor ent­ge­gen. Der An­blick hat die Gnä­di­ge in üble Lau­ne ver­setzt. Sie sagt, sie habe sich töd­lich ge­lang­weilt.

Des­halb hat Lady Ded­lock von ih­rem Land­sitz in Lin­colns­hi­re Ab­schied ge­nom­men und über­lässt ihn dem Re­gen, den Krä­hen, den Ka­nin­chen, dem Rot­wild, den Reb­hüh­nern und Fa­sa­nen. Die Bil­der der Ded­locks ent­schwun­de­ner Zei­ten sind aus pu­rer Nie­der­ge­schla­gen­heit in den feuch­ten Wän­den ver­schwun­den, als der Kas­tel­lan durch die al­ten Ge­mä­cher ging und die Lä­den zu­mach­te. Wann sie wie­der er­schei­nen wer­den, kann der Be­richt­er­stat­ter der fa­shio­na­beln Nach­rich­ten, der gleich dem bö­sen Feind die Ver­gan­gen­heit wohl weiß und die Ge­gen­wart, aber die Zu­kunft nicht, jetzt noch nicht sa­gen.

Sir Lei­ces­ter Ded­lock ist nur Baro­net, aber es gibt kei­nen mäch­ti­ge­ren Baro­net als ihn. Sei­ne Fa­mi­lie ist so alt wie die Hü­gel von Lin­colns­hi­re, nur un­end­lich vor­neh­mer. Er ist der Über­zeu­gung, dass die Welt ganz gut ohne Hü­gel und Ber­ge be­ste­hen könn­te, ohne Ded­locks je­doch zu­grun­de ge­hen müss­te. Er gibt im All­ge­mei­nen zu, dass die Na­tur eine gute Ein­rich­tung ist – ein we­nig rup­pig zwar, wenn sie nicht von ei­nem Park­zaun um­schlos­sen wird –, aber eine Ein­rich­tung, die in ih­rer Ge­stal­tung ganz von den großen Fa­mi­li­en der Graf­schaft ab­hängt. Er ist ein Gent­le­man von strengs­ter Ge­wis­sen­haf­tig­keit, ver­ach­tet alle Klein­lich­keit und Nied­rig­keit und ist be­reit, bei der ge­rings­ten Ver­an­las­sung eher je­den be­lie­bi­gen Tod zu ster­ben als den kleins­ten Fle­cken auf sei­nem Ruf zu dul­den. Er ist ein eh­ren­wer­ter, hals­star­ri­ger, wahr­heits­lie­ben­der, stol­zer Mann voll kras­ser Vor­ur­tei­le, und voll­kom­men un­ver­nünf­tig.

Sir Lei­ces­ter ist vol­le zwan­zig Jah­re äl­ter als Myla­dy. Fün­fund­sech­zig er­lebt er nicht noch ein­mal, viel­leicht auch nicht sechs- oder sie­ben­und­sech­zig. Er hat von Zeit zu Zeit einen Gicht­an­fall, und sein Gang ist ein we­nig steif. Er ist eine vor­neh­me Er­schei­nung mit sei­nem grau­en Haar und Ba­cken­bart, dem fei­nen Spit­zen­hemd, der ta­del­los wei­ßen Wes­te und dem hoch­ge­schlos­se­nen blau­en Frack mit den glän­zen­den Knöp­fen. Er ist sehr förm­lich, zu al­len Zei­ten ge­gen Myla­dy aus­neh­mend höf­lich und zollt ih­ren per­sön­li­chen Rei­zen die höchs­te Aner­ken­nung. Sei­ne Galan­te­rie ge­gen die Gnä­di­ge ist sich seit dem Braut­stan­de un­ver­än­dert gleich­ge­blie­ben und bil­det die ein­zi­ge klei­ne Stel­le Ro­man­tik und Poe­sie in ihm.

Er hat sie aus Lie­be ge­hei­ra­tet. Man flüs­tert sich so­gar zu, dass sie nicht ein­mal von »Fa­mi­lie« sei, aber Sir Lei­ces­ter hat­te für bei­de »Fa­mi­lie« ge­nug, und sie be­saß Schön­heit, Stolz, Ehr­geiz, Ar­ro­ganz und Ver­stand ge­nug, um es mit ei­ner gan­zen Le­gi­on vor­neh­mer Da­men auf­zu­neh­men. Reich­tum und Rang mit die­sen Ga­ben ver­eint setz­ten sie bald an die Spit­ze, und seit Jah­ren hat Lady Ded­lock den Mit­tel­punkt der vor­neh­men Welt ge­bil­det und in der Mode die Füh­rung an sich ge­ris­sen.

Dass Alex­an­der der Gro­ße Trä­nen ver­goss, als er kei­ne Wel­ten mehr zu er­obern hat­te, weiß je­der­mann oder soll­te es we­nigs­tens wis­sen, denn der Um­stand wird häu­fig ge­nug er­wähnt. Als Lady Ded­lock ihre Welt er­ober­te, ver­riet ihre Tem­pe­ra­tur mehr den Ge­fri­er- als den Schmelz­punkt. Eine er­schöpf­te Ge­las­sen­heit, eine müde Ruhe, ein ge­lang­weil­ter Gleich­mut, die sich we­der durch In­ter­es­se noch durch Be­frie­di­gung stö­ren lie­ßen, wa­ren ihre Sie­ge­stro­phä­en. Sie ist durch und durch vor­nehm. Wenn sie mor­gen in den Him­mel ver­setzt wer­den soll­te, wür­de sie frag­los ohne die min­des­te Ver­zückung em­por­schwe­ben.

Sie ist im­mer noch schön, und wenn auch nicht mehr in der Blü­te, so doch nicht in ih­rem Herbst. Sie hat ein fei­nes Ge­sicht; der Na­tu­r­an­la­ge nach sind ihre Züge eher sehr hübsch als schön zu nen­nen, aber der an­ge­lern­te Aus­druck der vor­neh­men Welt­da­me ver­leiht ih­nen et­was Klas­si­sches. Ihre Fi­gur ist ele­gant und macht den Ein­druck von Schlank­heit. Nicht, dass sie wirk­lich so ist, aber alle ihre Vor­zü­ge sind gut her­aus­ge­ar­bei­tet, wie Bob Sta­bles hoch­wohl­ge­bo­ren wie­der­holt auf Eid ver­si­chert hat. Der­sel­be Ge­währs­mann be­merkt, dass sie ta­del­los auf­ge­zäumt sei, und sagt lo­bend von ih­rem Haar, sie sei die best­ge­strie­gel­te Frau im gan­zen Ge­stüt.

Mit al­len ih­ren Rei­zen ist Lady Ded­lock von ih­rem Land­sitz in Lin­colns­hi­re, Schritt für Schritt von den Fa­shio­na­beln der Mo­de­zei­tung ver­folgt, ein­ge­trof­fen, um ei­ni­ge Tage in ih­rer Stadt­woh­nung zu ver­wei­len, be­vor sie nach Pa­ris reist, wo sie ei­ni­ge Wo­chen zu blei­ben ge­denkt.

In ih­rer Stadt­woh­nung stellt sich an die­sem trü­ben Nach­mit­tag ein alt­mo­di­scher al­ter Gent­le­man ein, At­tor­ney und So­li­zi­tor beim ho­hen Kanz­lei­ge­richt, der die Ehre hat, Rechts­an­walt der Ded­locks zu sein, und vie­le ei­ser­ne Käs­ten mit die­sem Na­men dar­auf in sei­ner Kanz­lei auf­zu­wei­sen hat. Durch die Vor­hal­le die Trep­pen hin­auf, die Kor­ri­do­re ent­lang und durch die Zim­mer, die in der Sai­son sehr glän­zen und au­ßer der Zeit sehr un­wirt­lich sind – ein Feen­land für den Be­su­cher und eine Wüs­te für den Be­woh­ner –, führt den al­ten Herrn ein Mer­kur mit ge­pu­der­tem Kopf zu der Gnä­di­gen.

Der alte Herr sieht ein we­nig ver­ros­tet aus, steht aber in dem Rufe, durch Hei­rats­ver­trä­ge und Te­sta­men­te für den Adel viel Geld er­wor­ben zu ha­ben und sehr reich zu sein. Ein un­durch­dring­li­cher Ne­bel von Fa­mi­li­en­ge­heim­nis­sen, als de­ren stum­men Be­wah­rer man ihn kennt, um­gibt ihn. Es gibt ad­li­ge Mau­so­leen, die seit Jahr­hun­der­ten in ab­ge­le­ge­nen Par­kal­leen un­ter ur­al­ten Bäu­men und wu­chern­dem Farn­kraut ste­hen und viel­leicht we­ni­ger Fa­mi­li­en­ge­heim­nis­se be­wah­ren, als in Mr. Tul­king­horns un­ter Men­schen wan­deln­der Brust ver­bor­gen sind.

Er ge­hört der al­ten Schu­le an, das heißt, der Schu­le, die nie­mals jung ge­we­sen ist, und trägt kur­ze Ho­sen, die an den Kni­en mit Bän­dern be­fes­tigt sind, und Ga­ma­schen oder St­rümp­fe. Die Ei­gen­tüm­lich­keit sei­ner schwar­zen Klei­der und St­rümp­fe, mö­gen sie von Sei­de oder Wol­le sein, ist, dass sie nie glän­zen. Stumm, ver­schlos­sen, ohne Ant­wort für ein neu­gie­ri­ges Licht, ist sein An­zug wie er selbst. Er un­ter­hält sich nie, wenn man ihn nicht in Be­rufs­sa­chen zu Rate zieht. Man fin­det ihn zu­wei­len stumm, aber zwang­los und ganz zu Hau­se am Eck der Gast­ta­feln in vor­neh­men Land­sch­lös­sern oder nicht weit von Sa­lons sit­zen, von de­nen die Mo­de­zei­tung so viel zu re­den hat. Je­der­mann kennt ihn dort, und der hal­be Hochadel bleibt mit den Wor­ten ste­hen: »Wie geht’s Ih­nen, Mr. Tul­king­horn?« Er nimmt die Be­grü­ßung mit Ernst ent­ge­gen und be­gräbt sie ne­ben all dem üb­ri­gen, was er weiß.

Sir Lei­ces­ter Ded­lock ist in Ge­sell­schaft der Gnä­di­gen und schätzt sich glück­lich, Mr. Tul­king­horn zu emp­fan­gen. Es liegt et­was Vor­schrifts­mä­ßi­ges in Mr. Tul­king­horns Be­neh­men, das Sir Lei­ces­ter im­mer sehr an­ge­nehm be­rührt und ihn wie eine Art Tri­but an­mu­tet. Er fin­det auch an Mr. Tul­king­horns An­zug Ge­fal­len und sieht auch dar­in eine Art Hul­di­gung. Er ist un­ge­mein re­spek­ta­bel ge­schnit­ten und hat et­was Sach­wal­ter­haf­tes. Er ist fast wie die Li­vree ei­nes Auf­se­hers der Rechts­mys­te­ri­en oder ei­nes ju­ris­ti­schen Kel­ler­meis­ters.

Ist sich Mr. Tul­king­horn selbst dar­über klar? Es kann sein, kann aber auch nicht sein. Und doch ist die­se Fra­ge bei al­lem, was mit Lady Ded­lock als der Füh­re­rin und dem Glanz­stern der vor­neh­men Welt in Berüh­rung kommt, von großer Be­deu­tung. Sie hält sich für ein un­er­forsch­li­ches We­sen, das weit über der Be­ur­tei­lungs­sphä­re ge­wöhn­li­cher Sterb­li­cher steht. So kommt sie sich im Spie­gel vor, in dem sie auch wirk­lich so aus­sieht. Den­noch kennt je­der klei­ne Stern, der sich um sie dreht, von der Kam­mer­zo­fe an bis zum Di­rek­tor der ita­lie­ni­schen Oper, ihre Schwä­chen und Vor­ur­tei­le, ih­ren Hoch­mut, ihre Tor­hei­ten und Lau­nen und rich­tet sich in sei­nem Ver­kehr mit ihr nach ih­ren Cha­rak­ter­zü­gen, wie die Putz­ma­che­rin nach ih­ren Kör­per­pro­por­tio­nen. Je nach­dem es gilt, eine neue Mode, einen neu­en Klei­dungs­schnitt, eine neue Sit­te, einen neu­en Sän­ger, eine neue Tän­ze­rin, einen neu­en Schmuck, einen Zwerg, einen Rie­sen, eine Ka­pel­le oder sonst et­was in Mode zu brin­gen.

Es gibt ehr­er­bie­ti­ge Leu­te in Dut­zen­den von Be­ru­fen, von de­nen al­len Lady Ded­lock glaubt, sie lä­gen be­stän­dig auf den Kni­en vor ihr, und die da­bei ge­nau wis­sen, dass sie wie ein Kind zu lei­ten ist; – Leu­te, die ein gan­zes Le­ben lang an nichts den­ken als wie man ihr schmei­cheln kann und die sich stel­len, als sei­en sie de­mü­tig und un­be­dingt ge­hor­sam, da­bei aber sie und ihr gan­zes Ge­fol­ge im Schlepp­tau ha­ben, mit ihr wie mit ei­nem Kö­der an­geln und sie füh­ren, wo­hin sie wol­len, wie Le­mu­el Gul­li­ver die statt­li­che Flot­te des Reichs Li­li­put nach Be­lie­ben di­ri­gier­te.

»Wenn man bei die­ser Sor­te re­üs­sie­ren will«, sa­gen Bla­ze & Sparkle, die Ju­we­lie­re – und sie ver­ste­hen un­ter »die­ser Sor­te« Lady Ded­lock und ih­ren An­hang –, »so darf man nicht ver­ges­sen, dass man es nicht mit dem großen Pub­li­kum zu tun hat; man muss ›die­se Sor­te‹ an ih­rer schwächs­ten Sei­te fas­sen, und ihre schwächs­te Sei­te ist die­se und die­se.«

»Um Ihre Ar­ti­kel ab­zu­set­zen, mei­ne Her­ren«, ra­ten Sheen & Gloss, die Tuch­händ­ler, ih­ren Freun­den, den Fa­bri­kan­ten, »so müs­sen Sie zu uns kom­men, weil wir die Leu­te der fei­nen Ge­sell­schaft zu be­han­deln wis­sen und da­durch die Mode be­stim­men kön­nen.«

»Wenn Sie die­sen Kup­fer­stich bei mei­ner hoch­ge­stell­ten Kund­schaft an­brin­gen wol­len, Sir«, sagt Mr. Slad­de­ry, der Kunst­händ­ler, »oder wenn Sie die­sen Zwerg oder Rie­sen zu deich­seln wün­schen oder für die­se Un­ter­neh­mung der Un­ter­stüt­zung mei­ner ho­hen Kun­den be­dür­fen, so müs­sen Sie mir das über­las­sen, denn ich ken­ne die füh­ren­den Per­so­nen in die­sen Krei­sen, Sir, und kann Ih­nen, ohne zu über­trei­ben, sa­gen, dass ich sie um den Fin­ger wi­ckeln kann«, – worin Mr. Slad­de­ry, der ein eh­ren­wer­ter Mann ist, durch­aus nicht über­treibt.

Wenn da­her Mr. Tul­king­horn wirk­lich nicht wis­sen soll­te, was ge­gen­wär­tig in der See­le der Gnä­di­gen vor­geht, so ist doch auch das Ge­gen­teil sehr leicht mög­lich.

»Myla­dys An­ge­le­gen­heit ist also wie­der vor dem Kanz­ler ver­han­delt wor­den, Mr. Tul­king­horn?« fragt Sir Lei­ces­ter und reicht dem An­walt die Hand.

»Ja, sie kam heu­te zur Ver­hand­lung«, ent­geg­net Mr. Tul­king­horn und macht der Gnä­di­gen, die auf ei­nem Sofa am Kamm sitzt und das Ge­sicht mit ei­nem Hand­schirm schützt, eine sei­ner stum­men Ver­beu­gun­gen.

»Es ist wohl nutz­los zu fra­gen, ob ir­gen­det­was ge­sche­hen ist«, sagt Myla­dy, noch im­mer von der trü­ben Stim­mung, die ihr der Land­sitz in Lin­colns­hi­re ver­ur­sacht hat, be­drückt.

»Es ist nichts ge­sche­hen, was Gnä­digs­te er­wäh­nens­wert nen­nen wür­den.«

»Es wird nie et­was ge­sche­hen«, meint Myla­dy.

Sir Lei­ces­ter hat ge­gen den end­lo­sen Gang der Kanz­lei­ge­richtspro­zes­se nichts ein­zu­wen­den. Es ist eine lang­sa­me, kost­spie­li­ge, echt bri­ti­sche, kon­sti­tu­tio­nel­le Sa­che. Al­ler­dings han­delt es sich für ihn in dem frag­li­chen Pro­zess nicht um Sein oder Nicht­sein, son­dern bloß um die ge­ring­fü­gi­ge Mit­gift, die ihm Myla­dy zu­brach­te, und er hat eine dunkle Ah­nung, dass es ein höchst lä­cher­li­cher Zu­fall ist, wenn der Name Ded­lock in ei­nem Pro­zess als Par­tei vor­kommt. Er sieht in dem Kanz­lei­ge­richt et­was, das im Ve­rein mit an­de­ren In­sti­tu­tio­nen von der vollen­dets­ten mensch­li­chen Weis­heit er­son­nen wur­de und in Be­zie­hun­gen zur ewi­gen ge­setz­mä­ßi­gen Ord­nung steht, wenn auch hie und da die Ge­rech­tig­keit ein we­nig nach­hinkt und zu­wei­len Ver­wir­rung zur Fol­ge hat. Be­schwer­den dar­über bei­zu­stim­men, hie­ße viel­leicht ir­gend­je­mand der nie­de­re­ren Klas­sen er­mu­ti­gen, sich auf­zu­leh­nen – wie etwa Wat Ty­ler bö­sen An­ge­den­kens.

»Da ei­ni­ge neue Zeu­gen­aus­sa­gen zu den Ak­ten ge­kom­men«, sagt Mr. Tul­king­horn, »und über­dies kurz ge­fasst sind und ich nach dem et­was weit­schwei­fi­gen Prin­zip ver­fah­re, mei­ne Kli­en­ten um Er­laub­nis zu bit­ten, ih­nen alle neu­en Schrit­te in Pro­zes­sen vor­le­gen zu dür­fen«, – Mr. Tul­king­horn ist ein vor­sich­ti­ger Mann und über­nimmt nie mehr Verant­wort­lich­keit, als un­be­dingt nö­tig ist – »und da die Herr­schaf­ten au­ßer­dem nach Pa­ris rei­sen, so habe ich al­les mit­ge­bracht.«

Sir Lei­ces­ter geht näm­lich eben­falls nach Pa­ris, wenn auch der Glanz­punkt der Fa­shio­na­blen die Gnä­di­ge ist.

Mr. Tul­king­horn zieht sei­ne Ak­ten aus der Ta­sche, bit­tet um Er­laub­nis, sie auf ein gol­de­nes Spiel­zeug von Tisch­chen ne­ben der Gnä­di­gen le­gen zu dür­fen, setzt die Bril­le auf und fängt an, bei dem Schim­mer ei­ner Schirm­lam­pe vor­zu­le­sen:

»Kanz­lei­ge­richts­hof. In Sa­chen John Jarn­dy­ce kon­tra –«

Die Gnä­di­ge un­ter­bricht ihn mit der Bit­te, so viel wie mög­lich von dem tech­ni­schen Form­wus­te weg­zu­las­sen.

Mr. Tul­king­horn blickt über die Bril­le und fängt tiefer un­ten von Neu­em an. Myla­dy fin­det es nicht der Mühe wert, ihm ihre Auf­merk­sam­keit zu schen­ken. Sir Lei­ces­ter in sei­nem Lehn­stuhl blickt ins Feu­er und scheint ein stol­zes Wohl­ge­fal­len an den ju­ris­ti­schen Wie­der­ho­lun­gen und Weit­schwei­fig­kei­ten, die ihm wie na­tio­na­le Boll­wer­ke er­schei­nen, zu fin­den. Die Hit­ze ist zu­fäl­lig groß, wo Myla­dy sitzt, und der Hand­schirm ist we­ni­ger nütz­lich als schön; er ist un­schätz­bar, aber klein. Myla­dy setzt sich an­ders und er­blickt da­bei die Pa­pie­re auf dem Tisch, – be­sieht sie nä­her, be­sieht sie noch nä­her und fragt im­pul­siv: »Wer hat denn das ge­schrie­ben?«

Mr. Tul­king­horn hält, ver­wun­dert über die Leb­haf­tig­keit und den un­ge­wohn­ten Ton der Gnä­di­gen, inne.

»Es ist das, was Sie eine Kanz­lis­ten­hand­schrift nen­nen?« fragt sie, blickt ihn wie­der in ih­rer teil­nahms­lo­sen Wei­se an und spielt mit dem Schirm.

»Nicht so ganz. Wahr­schein­lich hat sie den Kanz­lei­ch­a­rak­ter erst an­ge­nom­men, als sie schon aus­ge­bil­det war. Wa­rum fra­gen Gnä­digs­te?«

»Um eine Ab­wechs­lung in die­se ab­scheu­li­che Ein­för­mig­keit zu brin­gen. Bit­te, fah­ren Sie fort.«

Mr. Tul­king­horn liest wei­ter.

Die Hit­ze wird grö­ßer. Die Gnä­di­ge be­deckt das Ge­sicht mit dem Schirm. Sir Lei­ces­ter nickt ein, fährt plötz­lich auf und ruft:

»He? Was sag­ten Sie?«

»Ich fürch­te«, flüs­tert Mr. Tul­king­horn, der has­tig auf­ge­stan­den ist, »Lady Ded­lock be­fin­det sich nicht wohl.«

»Ich füh­le mich nur schwach«, lis­pelt Myla­dy mit wei­ßen Lip­pen. »Wei­ter nichts; aber es ist wie die Schwä­che des To­des. Spre­chen Sie nicht mit mir. Klin­geln Sie und las­sen Sie mich in mein Zim­mer brin­gen!«

Mr. Tul­king­horn zieht sich in ein an­de­res Zim­mer zu­rück. Klin­geln schel­len, Schrit­te kom­men und ge­hen, und Stil­le tritt wie­der ein. End­lich bit­tet der ge­pu­der­te Mer­kur Mr. Tul­king­horn, wie­der her­ein­zu­kom­men.

»Es geht Myla­dy jetzt be­reits bes­ser«, sagt Sir Lei­ces­ter und winkt dem Ad­vo­ka­ten, Platz zu neh­men, um sich al­lein vor­le­sen zu las­sen. »Ich bin sehr er­schro­cken. Ich kann mich nicht er­in­nern, dass Myla­dy je­mals ohn­mäch­tig ge­wor­den wäre. Aber das Wet­ter ist ab­scheu­lich, und sie hat sich auf un­serm Gut in Lin­colns­hi­re wirk­lich töd­lich ge­lang­weilt.«

3. Kapitel – Die Geschichte einer Jugend

Es wird mir sehr schwer, den An­fang zu fin­den, um mei­nen Teil der Ge­schich­te nie­der­zu­schrei­ben, denn ich weiß, dass ich nicht be­son­ders ge­scheit bin. Ich wuss­te das im­mer. Schon als ganz klei­nes Mäd­chen pfleg­te ich zu mei­ner Pup­pe zu sa­gen, wenn wir al­lein bei­sam­men wa­ren: Lie­be Pup­pe, ich bin nicht klug, du weißt es selbst und musst mit mir Ge­duld ha­ben, Herz­chen. Und dann saß sie in einen großen Arm­stuhl ge­lehnt mit dem rot und wei­ßen Ge­sicht und den ro­si­gen Lip­pen da und starr­te mich an – oder viel­mehr ins Lee­re –, wäh­rend ich em­sig näh­te und ihr alle mei­ne Ge­heim­nis­se er­zähl­te.

Mei­ne lie­be alte Pup­pe!

Ich war als Kind so in mich ge­kehrt und scheu, dass ich sel­ten den Mund auf­tat und nie­man­dem mein Herz aus­zu­schüt­ten wag­te. Ich muss fast wei­nen, wenn ich dar­an den­ke, wel­cher Trost es für mich war, wenn ich aus der Schu­le nach Hau­se kam, hin­auf in mein Käm­mer­chen lau­fen und sa­gen konn­te: »O du gute treue Pup­pe, ich wuss­te, dass du mich er­war­test.« Und dann setz­te ich mich auf den Bo­den, stütz­te den Ell­bo­gen auf ih­ren großen Lehn­stuhl und er­zähl­te ihr al­les, was ich er­lebt hat­te, seit wir uns nicht ge­se­hen.

Von je­her be­saß ich einen Hang zu be­ob­ach­ten, aber ich fass­te nicht rasch auf. Durchaus nicht. Ich be­ob­ach­te­te still, was vor­ging, und wünsch­te nur, ich könn­te es bes­ser ver­ste­hen. Ich war kei­nes­wegs scharf­sin­nig. Wenn ich je­man­den gern habe, scheint mein Ver­stand kla­rer zu wer­den. Aber viel­leicht ist das nur Ei­tel­keit und Ein­bil­dung von mir.

Mein Pa­tin er­zog mich, so­weit ich mich zu­rück­erin­nern kann, wie eine der Prin­zes­sin­nen in den Feen­mär­chen; nur dass ich nicht so schön war. Ich wuss­te bloß, dass sie mei­ne Pa­tin war und eine gute, gute Frau. Sie ging drei­mal am Sonn­tag in die Kir­che und Mitt­wochs und Frei­tags zur Früh­mes­se und in die Bet­stun­den, so oft wel­che ge­hal­ten wur­den. Sie hat­te ein schö­nes Ge­sicht, und wenn sie nur ein­mal ge­lä­chelt ha­ben wür­de, so hät­te sie wie ein En­gel aus­se­hen müs­sen; – aber sie lä­chel­te nie. Sie war im­mer ernst und streng, aber im­mer so au­ßer­or­dent­lich gü­tig, dass wohl nur die Schlech­tig­keit an­de­rer Men­schen die Schuld trug, dass sie ihr gan­zes Le­ben so fins­ter war.

Ich kam mir so ganz an­ders ge­ar­tet vor als sie, selbst wenn ich den Un­ter­schied zwi­schen Kind und Er­wach­se­ner in Ab­zug brach­te, kam mir so un­be­deu­tend und arm­se­lig und ihr so fern­ste­hend vor, dass ich nie­mals rech­tes Ver­trau­en zu ihr fas­sen, ja, sie nicht ein­mal so lie­ben konn­te, wie ich ge­wünscht hät­te. Mir mach­te der Ge­dan­ke viel Schmerz, wie gut sie und wie un­wür­dig ich ih­rer sei; und ich nähr­te in mei­nem In­nern eine in­brüns­ti­ge Hoff­nung, mein Herz möge mit der Zeit bes­ser wer­den. Und ich sprach dar­über sehr oft mit mei­ner lie­ben Pup­pe. Aber ich lieb­te mei­ne Pa­tin eben doch nie so, wie ich hät­te sol­len und müs­sen, wenn ich ein bes­se­res Kind ge­we­sen wäre.

Da ich mir dies be­stän­dig vor­hielt, wur­de ich noch schüch­ter­ner und stil­ler, als oh­ne­hin schon in mei­ner Na­tur lag; und mei­ne ein­zi­ge Freun­din war die Pup­pe, bei der al­lein ich mich wohl fühl­te. Aber, als ich noch ein ganz klei­nes Ding war, ge­sch­ah au­ßer­dem noch et­was, was mich dar­in noch be­stärk­te.

Ich hat­te nie von mei­ner Mut­ter spre­chen hö­ren. Eben­so­we­nig von mei­nem Va­ter; aber mei­ne Mut­ter in­ter­es­sier­te mich sehr. Ich konn­te mich nicht ent­sin­nen, je ein Trau­er­kleid ge­tra­gen zu ha­ben. Man hat­te mir nie­mals mei­ner Mut­ter Grab ge­zeigt und mir nie ge­sagt, wo es sei, mich auch nie für eine an­de­re Ver­wand­te als für mei­ne Pa­tin be­ten ge­lehrt. Mehr als ein­mal er­wähn­te ich die­sen Ge­gen­stand mei­nes be­stän­di­gen Grü­belns ge­gen Mrs. Ra­cha­el, die im­mer mein Licht fort­nahm, wenn ich zu Bet­te ge­gan­gen, und un­se­re ein­zi­ge Die­ne­rin war. Aber sie sag­te je­des Mal nur: »Esther, gute Nacht!« und ging fort und ließ mich al­lein.

Ob­gleich sich sie­ben Mäd­chen in der na­hen Schu­le be­fan­den, wo ich Un­ter­richt er­hielt, und sie mich die klei­ne Esther Sum­mer­son nann­ten, so war ich doch bei kei­nem von ih­nen je zu Be­such ge­we­sen. Alle wa­ren weitaus äl­ter als ich, aber es schi­en noch eine an­de­re Schei­de­wand zwi­schen uns zu be­ste­hen au­ßer dem Um­stan­de, dass sie, äl­ter und klü­ger als ich, mehr wuss­ten. Eine von ih­nen lud mich in der ers­ten Wo­che mei­ner Schul­zeit, wie ich mich noch ge­nau er­in­ne­re, zu mei­ner großen Freu­de zu ei­nem klei­nen Fest ein. Aber mei­ne Pa­tin schrieb einen stei­fen Ab­sa­ge­brief, und ich durf­te nicht hin­ge­hen. Ich kam nie auf Be­such in an­de­re Häu­ser.

Mein Ge­burts­tag war wie­der ge­kom­men. Den an­de­ren be­deu­te­ten Ge­burts­ta­ge Fei­er­ta­ge – mir nie­mals; die an­de­ren hat­ten bei sol­chen Ge­le­gen­hei­ten Fest­lich­kei­ten zu Hau­se, wie ich sie ein­an­der er­zäh­len hör­te; – ich nie­mals. Mein Ge­burts­tag war die lan­gen Jah­re hin­durch der trübs­te Tag mei­nes Le­bens.

Wenn mich mei­ne Ei­tel­keit nicht täuscht, was wohl der Fall sein kann, denn so et­was weiß man nicht sel­ber, so wird mei­ne Fas­sungs­kraft mit mei­ner Zu­nei­gung ge­weckt. Ich habe ein lie­be­be­dürf­ti­ges und wei­ches Ge­müt, und viel­leicht wür­de ich noch heu­te eine sol­che Wun­de, wie ich sie da­mals an mei­nem Ge­burts­tag emp­fing, wenn man sie mehr als ein­mal über­haupt er­lei­den kann, eben­so tief füh­len wie zu je­ner Zeit.

Das Mit­ta­ges­sen war vor­über, und mei­ne Pa­tin und ich sa­ßen am Tisch vor dem Feu­er. Die Uhr tick­te, das Feu­er knis­ter­te, und kein an­de­rer Ton war hör­bar im Zim­mer und im Hau­se –, ich weiß nicht, wie lan­ge Zeit schon. Ich er­hob zu­fäl­lig die Au­gen schüch­tern von mei­ner Näh­ar­beit und sah, wie mich mei­ne Pa­tin über den Tisch hin­weg trü­be an­blick­te, als woll­te sie sa­gen: Es wäre viel bes­ser, klei­ne Esther, wenn du nie­mals einen Ge­burts­tag ge­habt hät­test und nie­mals ge­bo­ren wor­den wä­rest.

Ich fing an zu schluch­zen und zu wei­nen: »Ach lie­be Pa­tin, sage mir, bit­te, sage mir, starb Mama an mei­nem Ge­burts­tag?«

»Nein«, war die Ant­wort. »Fra­ge mich nicht wei­ter, Kind.«

»Bit­te, sage mir et­was von ihr! Nur ein Wort! Ich bit­te dich, lie­be Pa­tin! Was hab ich ihr ge­tan? Wie hab ich sie ver­lo­ren? Wa­rum bin ich so ver­schie­den von an­de­ren Kin­dern, und was kann ich da­für, lie­be Pa­tin? Nein, nein, nein, geh nicht fort! O sag es mir!«

Eine Angst, die grö­ßer war als mein Schmerz, hat­te mich be­fal­len, und ich hielt mei­ne Pa­tin am Klei­de fest und knie­te vor ihr nie­der.

Bis jetzt hat­te sie fort­wäh­rend ge­sagt: »Lass mich ge­hen«, aber plötz­lich blieb sie ste­hen.

Der fins­te­re Aus­druck ih­res Ge­sich­tes übte eine sol­che Ge­walt auf mich aus, dass ich mit­ten in mei­ner Verzweif­lung in­ne­hielt. Ich woll­te mit mei­ner zit­tern­den Hand die ihre fas­sen und von gan­zer See­le um Ver­zei­hung bit­ten, zog sie aber bei ih­rem Blick schnell wie­der zu­rück, und das Herz klopf­te mir. Sie hob mich auf, setz­te sich in ih­ren Stuhl und sprach in kal­tem ge­dämpf­tem Ton zu mir – ich sehe sie mit ge­run­zel­ter Stirn und stra­fend er­ho­be­nem Fin­ger noch heu­te vor mir –:

»Dei­ne Mut­ter, Esther, ist dei­ne Schan­de, und du warst ihre. Die Zeit wird früh ge­nug kom­men, wo du das bes­ser ver­ste­hen und auch füh­len wirst, wie es nur ein Weib kann. Ich habe ihr ver­zie­hen« – das Ge­sicht mei­ner Pa­tin zeig­te nicht den ge­rings­ten Zug von Ver­söhn­lich­keit- »ich habe ihr ver­zie­hen, was sie mir Bö­ses ge­tan hat, und spre­che nicht mehr da­von, ob­gleich ihr Un­recht grö­ßer war, als du je­mals er­fah­ren wirst oder ir­gend­je­mand au­ßer mir, die ich da­von be­trof­fen wur­de, ah­nen kann. Was dich be­trifft, un­glück­li­ches Kind, warst du ver­waist und be­schimpft vom ers­ten un­se­li­gen Ge­burts­tag an; bete du täg­lich, dass die Sün­den an­de­rer nicht auf dein Haupt kom­men mö­gen, wie es ge­schrie­ben steht. Ver­giss dei­ne Mut­ter und hin­de­re nicht, dass die Men­schen es tun; dei­net­we­gen. Jetzt geh.«

Sie hielt mich, als ich wort­los ge­hen woll­te – so bis ins In­ne­re er­starrt war ich – noch ein­mal fest und setz­te hin­zu:

»Un­ter­wür­fig­keit, Selbst­ver­leug­nung, Fleiß sind die Weg­zei­chen für ein Le­ben, das mit ei­nem sol­chen Fle­cken be­gon­nen hat. Du bist an­ders als die an­de­ren Kin­der, Esther, weil du nicht wie sie in ge­mein­sa­mer Sünd­haf­tig­keit und im Zor­ne ge­bo­ren bist. Du bist ge­zeich­net.«

Ich schlich in mein Käm­mer­chen hin­auf und kroch ins Bett und leg­te das Ge­sicht mei­ner Pup­pe an mei­ne trä­nen­nas­se Wan­ge, und mit die­ser ein­zi­gen Freun­din an der Brust wein­te ich mich in Schlaf. So we­nig ich mir auch über mei­nen Schmerz klar wer­den konn­te, so wuss­te ich doch, dass ich zu kei­ner Zeit je­mand eine Freu­de ge­we­sen, und nie­mand auf Er­den mich so lieb hat­te wie ich mei­ne Pup­pe.

Ach Gott, ach Gott, wie oft und lan­ge wir spä­ter al­lein mit­ein­an­der ver­brach­ten und ich der Pup­pe die Ge­schich­te mei­nes Ge­burts­ta­ges er­zähl­te und ihr an­ver­trau­te, wie sehr ich mich be­mü­hen woll­te, den Feh­ler, der mir mit mei­ner Ge­burt an­haf­te­te, wie­der gutz­u­ma­chen und mich zu be­stre­ben, mit den Jah­ren flei­ßig, zu­frie­den und freund­li­chen Her­zens zu wer­den und mir ei­nes Men­schen Lie­be zu ge­win­nen, wenn es mir ge­lin­gen soll­te, und ihm al­les nur mög­li­che Gute zu tun! Vi­el­leicht ist es selbst­ge­fäl­lig, wenn ich bei dem Ge­dan­ken dar­an jetzt noch Trä­nen ver­gie­ßen muss. Ich den­ke mit großer Dank­bar­keit zu­rück und bin fröh­lich, aber doch kann ich nicht ver­hin­dern, dass sie mir in die Au­gen tre­ten.

– So! Jetzt hab ich sie weg­ge­wischt und kann wie­der fort­fah­ren.

Ich war mir der großen Kluft zwi­schen mei­ner Pa­tin und mir seit je­nem Ge­burts­tag nur noch mehr be­wusst und emp­fand so sehr, in ih­rem Hau­se einen Platz ein­zu­neh­men, der leer hät­te sein sol­len, dass es mir schwe­rer wur­de, mich ihr zu nä­hern als je, so in­nig ver­pflich­tet ich mich ihr im Her­zen auch fühl­te.

Genau so emp­fand ich ge­gen mei­ne Mit­schü­le­rin­nen und ge­gen Mrs. Ra­cha­el, die Wit­we war, und ge­gen ihre Toch­ter, auf die sie sehr stolz war und die sie ein­mal alle vier­zehn Tage be­such­te. Ich blieb sehr schüch­tern und still und be­müh­te mich nach Kräf­ten, flei­ßig zu sein.

An ei­nem son­ni­gen Nach­mit­tag, als ich eben mit mei­ner Map­pe ans der Schu­le ge­kom­men war und den lan­gen Schat­ten ne­ben mir be­ob­ach­te­te und wie ge­wöhn­lich die Trep­pe hin­auf in mein Käm­mer­chen ei­len woll­te, öff­ne­te mei­ne Pa­tin die Wohn­zim­mer­tür und rief mich hin­ein. Bei ihr saß ein Frem­der, was et­was sehr Un­ge­wöhn­li­ches war: ein be­hä­bi­ger, wich­tig aus­se­hen­der Herr, ganz schwarz ge­klei­det, mit ei­ner wei­ßen Hals­bin­de, großen gold­nen Pet­schaf­ten an der Uhr­ket­te, ei­ner gold­nen Bril­le und ei­nem großen Sie­gel­ring am klei­nen Fin­ger.

»Das ist das Kind«, sag­te mei­ne Pa­tin mit ver­hal­te­ner Stim­me zu ihm. Dann setz­te sie mit ih­rem ge­wöhn­li­chen erns­ten Ton hin­zu:

»Das ist Esther, Sir.«

Der Herr setz­te sei­ne Bril­le auf, sah mich an und sag­te:

»Komm zu mir, lie­bes Kind!«

Er reich­te mir die Hand und hieß mich den Hut ab­neh­men und be­trach­te­te mich un­abläs­sig da­bei. Als ich sei­nen Wunsch er­füllt hat­te, sag­te er: »Ah! Ja!« nahm sei­ne Bril­le ab, steck­te sie in ein ro­tes Fut­te­ral, lehn­te sich in den Arm­stuhl zu­rück und nick­te mei­ner Pa­tin zu und spiel­te mit dem Etui. Da­rauf fing mei­ne Pa­tin wie­der an:

»Du kannst hin­auf­ge­hen, Esther.« Ich mach­te dem Herrn mei­nen Knicks und ging.

Es muss zwei Jah­re spä­ter ge­we­sen sein, und ich war fast vier­zehn Jah­re alt, als ich an ei­nem Abend, an den ich voll Ent­set­zen zu­rück­den­ken muss, mit mei­ner Pa­tin vor dem Ka­mi­ne saß. Ich las ihr vor. Ich war, wie im­mer, um neun Uhr her­un­ter­ge­kom­men, um ihr aus der Bi­bel vor­zu­le­sen, und hielt ge­ra­de bei der Stel­le im Evan­ge­li­um Jo­han­nis, wo es heißt, dass un­ser Er­lö­ser sich nie­der­bück­te und mit dem Fin­ger auf die Erde schrieb, als sie die Ehe­bre­che­rin vor ihn brach­ten: Als sie nun an­hiel­ten, ihn zu fra­gen, rich­te­te er sich auf und sprach zu ih­nen: Wer un­ter euch ohne Sün­de ist, der wer­fe den ers­ten Stein auf sie.

Ich hielt inne, denn mei­ne Pa­tin stand auf, leg­te ihre Hand an die Stirn und rief mit schreck­li­cher Stim­me den Satz aus der Bi­bel: So wa­chet nun, auf dass er nicht schnell kom­me und fin­de euch schla­fend. Was ich aber euch sage, das sage ich euch al­len: wa­chet.

Sie stand vor mir und wie­der­hol­te die­se Wor­te. Dann brach sie plötz­lich zu­sam­men. Ich brauch­te nicht um Hil­fe zu ru­fen; ihre Stim­me war durch das gan­ze Haus ge­drun­gen und bis auf die Stra­ße ge­hört wor­den.

Man leg­te sie auf ihr Bett. Län­ger als eine Wo­che lag sie dort, äu­ßer­lich nur we­nig ver­än­dert. Das alte schö­ne ent­schlos­se­ne Stirn­run­zeln, das ich so gut kann­te, war auf ih­rem Ge­sicht er­starrt. Vie­le, vie­le Male bei Tag und bei Nacht leg­te ich mei­nen Kopf auf das Kis­sen ne­ben sie, da­mit sie mein Flüs­tern bes­ser ver­stün­de, und küss­te sie und dank­te ihr, be­te­te für sie, bat sie um ih­ren Se­gen und ihre Ver­zei­hung und fleh­te sie an, mir nur ein ein­zi­ges Zei­chen zu ge­ben, dass sie mich er­ken­ne oder höre. Nichts, nichts, nichts! Ihr Ge­sicht blieb un­be­weg­lich. Bis zu­letzt. Und selbst dann wich der fins­te­re Aus­druck nicht von ih­rer Stirn.

Am Tag nach dem Be­gräb­nis mei­ner gu­ten Pa­tin stell­te sich der schwar­ze Herr mit dem wei­ßen Hals­tuch wie­der ein. Mrs. Ra­cha­el schick­te nach mir, und ich fand ihn auf der­sel­ben Stel­le, als wäre er nie­mals weg­ge­gan­gen.

»Ich hei­ße Ken­ge«, sag­te er. »Merk dir den Na­men, lie­bes Kind; Ken­ge & Car­boy, Lin­coln’s-Inn.«

Ich gab zur Ant­wort, dass ich mich er­in­ner­te, den Herrn schon frü­her ein­mal ge­se­hen zu ha­ben.

»Bit­te, setz dich – hier ne­ben mich. Wei­ne nicht, es nützt nichts. Mrs. Ra­cha­el! Ich brau­che Ih­nen, die Sie mit der se­li­gen Miss Bar­ba­ry An­ge­le­gen­hei­ten be­kannt wa­ren, nicht erst zu sa­gen, dass ihr Ein­kom­men mit ih­rem Le­ben zu Ende ging und dass die­se jun­ge Dame jetzt nach dem Tode ih­rer Tan­te -«

»Mei­ner Tan­te, Sir?«

»Es hat ja doch kei­nen Zweck, eine Täu­schung auf­recht zu er­hal­ten, die kei­nen Sinn mehr hat«, sag­te Mr. Ken­ge be­sänf­ti­gend. »Tat­säch­lich war sie dei­ne Tan­te, wenn auch nicht vor dem Ge­set­ze. Aber wei­ne doch nicht. Wei­ne nicht! Be­ru­hi­ge dich! – Mrs. Ra­cha­el, un­se­re jun­ge Freun­din hat zwei­fel­los ge­hört – von – der – hm – Sa­che Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce?«

»Nie«, sag­te Mrs. Ra­cha­el.

»Ist es denn mög­lich«, fuhr Mr. Ken­ge fort und setz­te sei­ne Bril­le auf, »dass un­se­re jun­ge Freun­din – aber geh, wei­ne doch nicht – nie­mals von ›Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce‹ ge­hört hat?«

Ich schüt­tel­te den Kopf und hat­te nicht die lei­ses­te Ah­nung, worum es sich han­del­te.

»Nichts von ›Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce‹?« wie­der­hol­te Mr. Ken­ge, blick­te mich über die Bril­le hin­weg an und lieb­kos­te das Fut­te­ral mit den Hän­den. »Nichts von ei­nem der größ­ten al­ler be­kann­ten Kanz­lei­ge­richtspro­zes­se, nichts von dem Fall ›Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce‹, – der für sich schon – hm – ganz für sich al­lein ein Denk­mal in der Kanz­lei­ge­richt­spra­xis be­deu­tet? – In dem, möch­te ich sa­gen, jede Schwie­rig­keit, jede Mög­lich­keit, jede Rechts­fik­ti­on, jede Pro­zess­form, die bei die­sem Ge­richts­hof be­kannt ist, sich im­mer und im­mer wie­der ver­kör­pert? Es ist ein Rechts­fall, der nir­gends als in un­serm großen und frei­en Lan­de exis­tie­ren könn­te! Ich möch­te be­haup­ten, dass die Ge­samt­kos­ten in Sa­chen Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce – Mrs. Ra­cha­el – ich fürch­te –« er wen­de­te sich von mir ab, weil ich mich un­auf­merk­sam zeig­te – »sich ge­gen­wär­tig auf sech­zig- bis sieb­zig­tau­send Pfund be­lau­fen«, er­gänz­te Mr. Ken­ge, in sei­nen Stuhl zu­rück­ge­lehnt.

Der Ge­gen­stand war mir so gänz­lich un­be­kannt, dass ich da­mals auch nicht das All­er­ge­rings­te da­von ver­stand.

»Und sie hat wirk­lich nie et­was von der Sa­che ge­hört? Höchst er­staun­lich!«

»Miss Bar­ba­ry, Sir«, er­klär­te Mrs. Ra­cha­el, »die jetzt un­ter den Se­ra­phim weilt –«

»Das hof­fe ich zu­ver­sicht­lich«, un­ter­brach Mr. Ken­ge höf­lich.

»– wünsch­te, dass Esther nur ler­ne, was ihr von Nut­zen sein kön­ne. Und sie ist hier auch wei­ter nichts ge­lehrt wor­den.«

»Hm«, sag­te Mr. Ken­ge. »Das ist im großen gan­zen sehr rich­tig. Aber jetzt zur Sa­che!« fuhr er zu mir ge­wen­det fort. »Miss Bar­ba­ry, dei­ne ein­zi­ge Ver­wand­te – tat­säch­lich näm­lich – denn ich muss dir be­mer­ken, dass du von Ge­set­zes we­gen kei­ne Ver­wand­ten hast –, ist jetzt tot, und da man na­tür­lich von Mrs. Ra­cha­el nicht er­war­ten kann –«

»O Gott nein«, fiel Mrs. Ra­cha­el schnell ein.

»Sehr rich­tig!« pflich­te­te Mr. Ken­ge bei » – dass sie die Sor­ge für dei­nen Le­bens­un­ter­halt auf sich nimmt, so sehe ich mich ver­an­lasst, ein Aner­bie­ten zu er­neu­ern, das ich schon vor un­ge­fähr zwei Jah­ren Miss Bar­ba­ry zu ma­chen be­auf­tragt war und das da­mals ab­ge­lehnt wur­de. Wir hat­ten uns je­doch da­hin ge­ei­nigt, dass es für den Fall des To­des dei­ner Tan­te wie­der­holt wer­den soll­te. Ich glau­be nun, nicht im Ge­rings­ten ge­gen die in mei­nem Be­ru­fe üb­li­che Re­ser­ve zu ver­sto­ßen, wenn ich ver­ra­te, dass ich in Sa­chen Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce und auch in an­de­rer Hin­sicht einen sehr men­schen­freund­li­chen, wenn auch zu­gleich sehr ei­gen­tüm­li­chen Mann ver­tre­te.« Mr. Ken­ge lehn­te sich wie­der in sei­nen Stuhl zu­rück und sah uns bei­de ru­hig an.