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Eine schicksalhafte Begegnung, die alles verändert - Bestsellerautorin Judith W. Taschler erzählt ergreifend von Liebe, Verrat und dem Streben nach Glück. Mit "Die Deutschlehrerin" gewann Judith W. Taschler den renommierten Friedrich Glauser-Preis. In ihrem neuen Roman "bleiben" gelingt ihr abermals das Kunstwerk, literarisches Niveau mit leichter Sprache zu verbinden. Eindrucksvoll schreibt sie über die großen Themen im Leben, wie Liebe und Verrat, Tod und Vertrauen. Es ist eine kurze, zufällige Begegnung auf der Reise nach Italien: Max, Paul, Felix und Juliane – vier junge Leute, voller Träume für die Zukunft, treffen im Nachtzug nach Rom aufeinander. Juliane und Paul werden heiraten, Max und Felix sich auf eine Weltreise begeben. Nach zwanzig Jahren trifft Juliane Felix zufällig in einer Galerie wieder und die beiden beginnen eine leidenschaftliche Affäre, die er jedoch ohne jede Erklärung abbricht. Erst Monate später erfährt Juliane - ausgerechnet von ihrem Mann - den schockierenden Grund. Die Wahrheit ist furchtbar und lässt das Leben aller eine dramatische Wendung nehmen. Ein ergreifender Roman über Schicksalsschläge, Freundschaft und die Suche nach dem Glück.
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Seitenzahl: 352
Judith W. Taschler
Roman
Knaur eBooks
Max, Paul, Felix und Juliane - vier junge Leute, voller Hoffnungen und Träume für die Zukunft, reisen nach Italien.Alle stehen sie an einem Wendepunkt im Leben. Es ist eine kurze, zufällige Begegnung im Nachtzug nach Rom, doch prägt sie das Leben der Vier entscheidend: Juliane und Paul heiraten, Max und Felix unternehmen eine gemeinsame Weltreise. Zwanzig Jahre später trifft Juliane in einer Ausstellung Felix wieder und die beiden beginnen eine leidenschaftliche Affäre. Eines Tages bricht Felix den Kontakt ohne jede Erklärung ab. Erst Monate später erfährt sie den Grund dafür -ausgerechnet von ihrem Mann. Die Wahrheit ist furchtbar und lässt das Leben aller vier eine dramatische Wendung nehmen.
Zitat
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Danksagung
Leseprobe »David«
So schön ist also die Welt, dachte er nach einigen
Minuten aufmerksamen Prüfens in kindlich
aufwallender, fast jubelnder Verzückung.
Was für eine Pracht! Wie viele Farben sie hat,
welch wunderbare Winkel und Linien …
Wie schön das alles ist!
SÁNDOR MÁRAI, Die Fremde
Paul
Lass uns noch ein bisschen bleiben.
Mich würde es freuen, wenn ich heute Nacht nicht alleine sein muss.
Ob meine Frau nicht auf mich wartet? Nein, das tut sie nicht, sie ist bei jemand anderem. Jetzt hast du aber überrascht geschaut! Wenn du willst, erzähle ich dir, wo sie ist und was sie dort macht. Es ist vielleicht gar nicht schlecht, wenn ich einmal darüber rede. Bevor es mich ganz auffrisst. Und du bist der einzige Mensch, dem ich es erzählen möchte. Bei dir habe ich keine Bedenken, dir alles, wirklich alles anzuvertrauen. Du bist immer noch mein bester Freund, obwohl wir uns so selten sehen, seitdem du in Sydney wohnst.
Ich finde es schön, hier mit dir zu sitzen und zu reden, so wie in alten Zeiten. Hat sich kaum verändert, das Kosmos, nicht wahr? Meine Güte, wie viel Zeit haben wir hier als Studenten verbracht, haben diskutiert, philosophiert und viel geschwafelt. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich denke gerne an diese Zeit zurück. Ich freue mich, dass du es bist, der mir heute gegenübersitzt, und das ausgerechnet hier in dieser Bar. Ich war eine Ewigkeit nicht mehr hier! Und dann vor einem halben Jahr zum ersten Mal wieder. Mit dem Mann, bei dem meine Frau jetzt gerade ist.
In jener Nacht fand ich heraus, dass die beiden eine Affäre haben. Wie ich das herausgefunden habe? Durch ein besonderes Dessert. Es stimmt! Aufgrund von Eiskugeln erfuhr ich von der Affäre meiner Frau.
Möchtest du auch noch ein Bier? Ja?
Es wird mir guttun, wenn ich mir alles von der Seele rede. Eigentlich bräuchte ich eine Beichte. Du lachst? Ich weiß, es klingt seltsam, meine Frau hat eine Affäre, und ich bin derjenige, der eine Beichte nötig hat.
Und zwar eine ehrliche Beichte, vor einem Priester und vor allem vor Gott!
Erinnerst du dich an unsere erste Beichte in der Schule? Der Religionslehrer marschierte geschlossen mit uns hinüber in die kalte Kirche, wo wir in den Bankreihen warteten, nervös und mit Bauchkrämpfen, und uns Sätze zurechtlegten, die wir im engen, finsteren Beichtstuhl dem alten Pfarrer aufsagen würden. Wir wussten nicht, was wir sagen sollten! Wir waren Kinder, und angestellt hatten wir im Grunde nichts. Die meisten plapperten einfach ein paar Sätze nach, die uns der Lehrer gesagt hatte, um uns unsere Angst ein bisschen zu nehmen: Ich habe meine Eltern angelogen, ihnen nicht gehorcht, mit meinen Geschwistern gestritten. Auch ich sagte zitternd solche Sätze auf, obwohl sie nicht stimmten. Ich folgte meinen Eltern immer, hätte mich nie getraut, sie anzulügen, und mit meiner Schwester stritt ich auch nicht. Wir waren immer höflich zueinander, schon als Kinder, bei uns zu Hause gingen wir immer respektvoll miteinander um, das weißt du sicherlich noch. Dir hat das so gut gefallen? Ja, manchmal fiel mir auf, dass deine Bewunderung meiner Familie gegenüber fast schon ehrfürchtig war.
Ich beneidete dich um deine Familie.
Irgendetwas sagte ich dem Priester, ohne genau zu überlegen, was ich wirklich angestellt hatte, ich glaube, wir alle taten das. Ich war nicht ehrlich, ich log mir und dem Priester etwas vor. Denn es gab schon damals einiges, das ich hätte beichten können: Ich war hochmütig, weil ich mir besser vorkam als meine Mitschüler, und ich hasste meine Eltern und Großeltern, weil sie mich so erzogen, dass ich mir eben besser vorkam als die anderen Kinder. Aber ich war mir nicht sicher, ob mein Beichtvater das hören wollte, er war nämlich ein guter Freund meiner Eltern. Ich sah ihn jeden Sonntag, und manchmal kam er zu uns zum Essen. Es war also keine ehrliche Beichte, sondern eine Farce.
Warum erzähle ich dir das? Vielleicht weil es symptomatisch ist für mein ganzes Leben? Ich weiß es nicht. Eigentlich wollte ich von etwas ganz anderem reden. Richtig, von jenem Abend, an dem ich herausfand, dass mich meine Frau betrügt.
An dem Tag, es war kurz vor Weihnachten, arbeitete ich etwas länger in der Kanzlei, gegen neun Uhr abends wollte ich nach Hause fahren und entschloss mich, noch schnell bei einem Klienten vorbeizuschauen, weil ich dringend ein paar Unterschriften brauchte.
Ich rufe also meinen Klienten, er heißt Felix Hofmann, auf seinem Handy an, doch er hebt nicht ab, und da die Adresse, Döblinger Hauptstraße 27 – du hast richtig gehört, der Mann wohnt im selben Haus, sogar in derselben Wohnung, in der ich als Student wohnte –, nicht weit weg ist von der Kanzlei, entschließe ich mich, spontan vorbeizuschauen.
Die Eingangstür unten ist offen, und schon im Treppenhaus überfällt mich eine eigenartige Stimmung. Ich läute direkt an seiner Wohnungstür, und als er sie öffnet, ist er überrascht, mich zu sehen. Wer erwartet schon seinen Anwalt um neun Uhr abends? Zuerst meint er, er werde am nächsten Tag in die Kanzlei kommen und die Papiere unterschrieben mitbringen, dann bittet er mich doch hinein, um es sofort zu erledigen.
Ich betrete also nach dreiundzwanzig Jahren meine alte Wohnung wieder, sie erscheint mir immer noch vertraut, der Geruch ist derselbe wie damals. Überall stehen gepackte Kartons herum, auch zahlreiche Bilder lehnen an den Wänden, die meisten sind Fotos, offensichtlich auf Reisen aufgenommen, aber auch Gemälde sind darunter. Ich wanke zwischen ihnen durch, vorsichtig, dem Mann hinterher.
Kennst du das? Wenn man das Gefühl hat, man löst sich aus der Gegenwart und befindet sich wieder in der eigenen Vergangenheit? Ich gehe den Gang entlang und schaue mich um, der Boden ist nackt, ein alter fleckiger Parkettboden im Fischgrätenmuster. Ich sehe den alten Perserteppich vor mir, ein sauteures Ding, ein Erbstück von meiner Großmutter, den wir dort liegen hatten und den Isabella nicht leiden konnte. Eines Tages rollte sie ihn einfach zusammen und trug ihn weg. Sie schenkte ihn zwei Obdachlosen, erfuhr ich später, ich war fassungslos.
Ich komme mir vor wie an einem Schauplatz. Plötzlich bin ich wieder der junge Mann, der hier mit seiner ersten Freundin wohnt. Ja, ich bin überzeugt davon, dass sich der Körper an Orte erinnern kann, an denen er länger gelebt oder an denen er etwas Prägendes erlebt hat. Du nicht? Mein Körper erinnert sich, als ich in die Wohnung hineingehe. Ich merke zu meinem Erstaunen, dass mir übel ist, alles tut mir weh, außerdem fühle ich mich plötzlich alt, müde und ausgelaugt.
Der Mann geht mit mir in das Wohnzimmer. Als wir dort wohnten, diente uns der Raum als Schlafzimmer, nur eine Doppelmatratze lag auf dem Boden, denn Isabella hielt ein Bett für zu bieder. Ich weiß noch genau die Stelle, an der sie lag, ich sehe die bunte Bettwäsche vor mir, die zerknäulten Polster, die unordentlich verstreuten Kleidungsstücke rings herum, die mich immer halb wahnsinnig machten. Meine Knie zittern.
Plötzlich passiert etwas Merkwürdiges. Während wir so im Wohnzimmer stehen und miteinander reden, schleicht sich, zusätzlich zu den alten Erinnerungen, noch ein weiteres Gefühl bei mir ein, eine Ahnung, dass etwas Explosives vorhanden ist, in dem Raum, in der Wohnung. Nicht wirklich etwas Explosives, das ist natürlich übertrieben, aber etwas liegt eindeutig in der Luft, etwas, das mich sehr verwirrt, etwas, das ich unbedingt verstehen und begreifen sollte.
Es gelingt mir schließlich, meine Erinnerungen und dieses Gefühl zu verscheuchen und mich auf mein Gegenüber zu konzentrieren. Ich gebe dem Mann die Papiere, erkläre ihm den Inhalt und zeige ihm, wo er unterschreiben muss. Hofmann, er ist neun Jahre jünger als ich, steht vor mir, hört mir aufmerksam zu und blättert dann die Unterlagen durch. Er trägt ein einfaches blaues T-Shirt, eine Jeans und schwarze Socken, mehr nicht, keine Hausschuhe. Der Mann ist mir sympathisch, und ich denke in dem Augenblick noch, dass ich ihn gerne näher kennenlernen würde. Ich lernte ihn vor zwanzig Jahren im Nachtzug nach Rom kennen, eine mehr als flüchtige Reisebekanntschaft ist er, ich weiß kaum etwas über ihn. Außer von der Sache mit der Wohnung.
Zwei Wochen vorher suchte er mich in der Kanzlei auf, unangemeldet. Er kam mir zwar vage bekannt vor, aber ich wusste seinen Namen nicht, du weißt, mit wie vielen Leuten ich tagtäglich zu tun habe. Wer merkt sich schon den Namen eines Menschen, mit dem er vor zwei Jahrzehnten eine Nacht lang in einem Zugabteil saß und sich unterhielt? Aber er wusste meinen Namen noch und auch, dass ich Anwalt bin, und er wollte von mir vertreten werden, in einer Sache gegenüber dem Hausbesitzer, er sagte, er kenne keinen anderen Anwalt in Wien. Er erzählte mir von der Wohnung und dass er so schnell wie möglich ausziehen müsse. Die Gründe dafür verschlugen mir regelrecht die Sprache. Ich versprach ihm, seinen Fall persönlich zu übernehmen und nicht einem Mitarbeiter zu übergeben, ich konnte nicht anders, da war irgendwie etwas Zwingendes an der Situation. Und auch Belastendes, ja, sie belastete mich, seine Situation, ich konnte nach seinem Besuch in der Kanzlei tagelang an nichts anderes mehr denken und kaum schlafen.
Was mich belastete, fragst du? Warte, zuerst möchte ich fertig erzählen, von diesem eigenartigen Abend.
Wir unterhalten uns kurz über seinen Auszug aus der Wohnung. Ich erkundige mich, ob es schwierig war, so schnell eine neue zu finden, und ob er jemanden habe, der ihm beim Umzug helfe oder ob er Hilfe benötige. Der Mann bedankt sich und sagt etwas von einem guten Freund, Max, der ihn sehr unterstütze. Mit einer achtlosen Bewegung schiebt er zwei benützte Teller zur Seite und legt die Papiere auf den Tisch, um sie zu unterschreiben. Ich frage ihn, ob er Besuch hat und ob ich ihn gestört habe.
›Eine Freundin war zum Essen da, sie musste aber dringend nach Hause‹, antwortet er, während er den Stift ansetzt.
Ich schaue auf seinen gekrümmten Rücken hinunter, sehe ihm zu, wie er schwungvoll seinen Namen schreibt, und dann schweift mein Blick hinüber zu den Desserttellern. In mir gefriert alles. Ich erkenne an den Essensresten auf den Tellern, dass es meine Frau war, die mit Hofmann gegessen hat.
Du lachst? Wie ich das an Essensresten erkennen kann?
Auf einem Dessertteller sind wirklich nur noch Reste zu sehen, zerschmolzenes Vanilleeis, und auch eine dunkle Soße ist darunter. Auf dem anderen Teller befindet sich aber noch die unangerührte, zerschmolzene Nachspeise. Es ist ein Bananensplit, angerichtet in der Form männlicher Geschlechtsteile: Die Banane wurde nicht halbiert, die zwei Eiskugeln rechts und links an einem Ende plaziert und einige Spritzer Schokosoße am anderen Ende der Banane.
Es ist ein aussagekräftiger Nachtisch und trägt unverkennbar Julianes Handschrift.
Die gleiche Nachspeise machte sie einmal für mich, vor vielen Jahren, noch vor unserer Hochzeit. Ich erinnere mich so genau daran, weil es eben das einzige Mal war, dass sie so etwas Doppeldeutiges für mich zubereitete, sie war dabei ein bisschen betrunken. Später dachte ich mir, dass diese Aktion nicht zu ihr gepasst hatte, denn was Sexualität betrifft, war und ist Juliane immer eher, wie soll ich es ausdrücken, zurückhaltend.
In unserer Ehe standen auch nie irgendwelche schlüpfrigen Späße an der Tagesordnung. Wir redeten auch nie über bestimmte Vorlieben im Bett, das hätte ich auch gar nicht gewollt. Als Juliane mir diese Nachspeise servierte, kannten wir einander noch nicht gut, wir wussten noch nicht, wie der andere tickte oder was er bevorzugte. Ohne sich vorher anzukündigen, kam sie zu mir, mit einer Einkaufstasche in der Hand, und umarmte mich so stürmisch wie sonst nie. Sie zog sich in die Küche zurück und kochte für mich, sie bereitete ein Rindersteak zu mit Beilagen und ebendiese Nachspeise. Beim Servieren sagte sie: ›Voilà, meine Kreation mit dem Namen Bananenerektion.‹ Dass sich das reimte, fand sie sehr witzig, sie bekam einen Lachkrampf. Anschließend hatten wir Sex, und dabei wiederholte sie mehrmals, wie sehr sie mich liebte und brauchte.
Ich stehe also in der Wohnung meines Klienten und starre auf die Nachspeise Bananenerektion und ringe um Fassung, während der Mann die Papiere durchsieht und unterschreibt. Ich weiß es einfach: Juliane war hier gewesen. Vermutlich rief eines der Kinder an, und sie musste schnell aufbrechen, vermutlich verpassten wir uns nur knapp.
Sie hätte auch noch dort sein können, sagst du, in irgendeinem Zimmer.
Diesen Gedanken habe ich auch kurz. Vielleicht ist sie es auch, aber ich glaube es nicht. Ich läutete ja direkt an der Wohnungstür, Hofmann öffnete ziemlich rasch, ohne zu wissen, wer denn davorstand, und hatte deshalb auch keinen Grund, Zeit übrigens auch nicht, jemanden zu verstecken. Außerdem sehe ich Julianes Sachen nicht, keine Tasche, keine Schuhe.
Meine Gedanken überschlagen sich in dem Moment. Die Tatsache, dass sie mir nichts von einer Einladung und einem Abendessen bei Hofmann erzählte, lässt mich die Unschuldsvermutung beiseiteschieben. Ich erinnere mich, dass ich mich ein paar Monate zuvor einmal fragte, ob sie eine Affäre habe. Warum? Weil sie eine Zeitlang öfter wegging als sonst und auch verändert wirkte. Ich tippte dabei aber auf einen Arbeitskollegen in der Musikschule, auf ihn, Hofmann, wäre ich nicht gekommen. Nie im Leben. Wann nahmen die beiden Kontakt auf, frage ich mich.
Krampfhaft überlege ich, wie ich reagieren soll. Soll ich ihn direkt fragen: War meine Frau hier? Hat sie das Dessert gemacht? Habt ihr eine Affäre?
Ich blicke auf ihn hinunter und weiß, dass ich es nicht kann, ich schaffe es einfach nicht. Warum? Weil ich ihn und mich nicht bloßstellen will. Ich kann mit Bloßstellungen und Peinlichkeiten nicht umgehen, ganz gleich, ob sie von mir ausgehen oder ich ihr Ziel bin. Das war schon immer so.
Du weißt das?
Nenn mich ruhig einen Feigling!
Zum Glück verpassten wir uns, denke ich mir. Der Peinlichkeit, sie bei ihm vorzufinden, wäre ich nicht gerne ausgesetzt gewesen, und Juliane hätte ich ebenfalls nicht in dieser peinlichen Lage sehen wollen. Und nein, auch den Mann, der da vor mir steht, nicht.
Es gelingt mir, tief durchzuatmen. Hofmann schreibt die letzte Unterschrift und richtet sich auf. Wir beginnen zu smalltalken, und ich rede auf einmal über die Fahrt nach Rom und welch ein Zufall es damals war – angesichts der großen Anzahl der Waggons und Abteile –, dass er sich ausgerechnet in das Abteil setzte, in dem ich schon saß und auch Juliane.
Ja, ich lernte meine Frau auf dieser Reise kennen.
Er sieht mich aufmerksam an und fragt mich, ob ich mit ihm noch etwas trinken gehen will. Ich überlege kurz und sage dann: ›Ja, warum nicht?‹
Wir verlassen die Wohnung und gehen hierher, ins Kosmos, wo wir ein bisschen zu viel trinken und uns über alles Mögliche unterhalten, auch über Zufälle und ob es sie überhaupt gibt. Zwei Stunden sitzen wir zusammen und reden, das heißt, die meiste Zeit redet er, und ich bin froh darüber, ich beschränke mich auf Belanglosigkeiten. Er erzählt mir, wie es ihm in den letzten Wochen ergangen ist, und während ich ihm zuhöre, spüre ich keine Wut, im Gegenteil. Ich spüre, wie sich Erleichterung in mir breitmacht, wie seltsam, denke ich, der Kreis schließt sich. Ich sehe Hofmann und Juliane vor mir, wie sie vor zwanzig Jahren neben mir auf den ausgezogenen Sitzen lagen und sich im Glauben, die anderen im Abteil würden schlafen, zaghaft küssten.
Es ist gut, denke ich, dass er es ist und kein anderer, er ist kein ernstzunehmender Rivale, und das Ganze wird nicht lange dauern, im Grunde habe ich großes Glück mit Julianes Wahl. Ich bin Scheidungsanwalt, ich weiß, dass die meisten früher oder später fremdgehen, und ich kenne nur zu gut die Konsequenzen.
Je mehr ich also darüber nachdenke, umso mehr finde ich meine Gelassenheit wieder, die Affäre meiner Frau verliert ihren Schrecken. Ich frage mich weiter: Gönne ich dem Mann vielleicht sogar die Liebschaft mit meiner Frau? Kann ich dann wieder schlafen? Fühle ich mich dann weniger verantwortlich, weniger schuldig? Und einen Moment lang flackert es in mir hoch: Ja, vermutlich ist es wirklich so.
Ich entscheide mich, vorerst Juliane nicht auf Felix anzusprechen, sondern einfach abzuwarten und zu beobachten. Indem ich Bescheid weiß, sie aber nicht wissen, dass ich es weiß, befinden sich die Fäden gewissermaßen auch in meiner Hand. Ja, das gibt mir ein Gefühl von Sicherheit. Das denke ich mir, als ich ins Auto steige und nach Hause fahre. Zu meiner Frau und zu meinen Kindern.
So war das, vor sechs Monaten. So fand ich die Affäre heraus.
Und heute Nacht, fragst du? Heute wird sie die ganze Nacht bei dem Mann bleiben, das weiß ich, vielleicht auch noch morgen.
Und warum ich jetzt eine Beichte bräuchte? Du willst alles hören?
Juliane
Welches Foto hast du da?
Ach das.
Wie alt wir da waren? Sechzehn.
Elena, Marie, Mike und sein Freund – wie hat der geheißen? Tommy, du, ich und Andreas. Auf meinem Schoß.
Nächsten Monat wäre er zweiunddreißig geworden.
Ob ich noch viel daran denke? Was verstehst du unter viel?
Ich will ehrlich sein, es gibt jeden Tag einen Augenblick, in dem es mich durchzuckt: Dein Bruder lebt nicht mehr. Wegen dir.
Du rollst mit den Augen.
Es war ein Unfall, sagst du.
Jeder sagte es damals, die Psychologin wiederholte es bis zum Erbrechen. Auch meine Mutter. Mein Vater allerdings nicht. Er zog einfach von zu Hause aus, schon drei Wochen danach. Andreas war sein Liebling gewesen. Und ein halbes Jahr später waren sie geschieden. Aber das hast du ja mitbekommen. Es war vorher schon nicht mehr gutgegangen zwischen ihnen, Andreas war wahrscheinlich der Grund gewesen, warum sie es miteinander ausgehalten haben.
Ein Unfall.
Natürlich kann man sagen, dass das Wort seine Berechtigung hat, weil keine Absicht dahinter steckte. Sozusagen ein Unfall aus Versehen, nicht nur herbeigeführt von mir, auch verursacht von mir. In der Zeitung stand jedenfalls ein anderer Wortlaut, oder weißt du das nicht mehr? Mädchen tötete kleinen Bruder.
Ich drängte meine Eltern, auf Andreas aufpassen zu dürfen! Ich! Es war nicht umgekehrt, dass sie mich gezwungen hätten, seine Babysitterin zu sein. In dem Fall wäre es etwas anderes gewesen für mich, zumindest ein bisschen. Nur damit ich in den Sommerferien nicht arbeiten musste. Er hätte in den Kindergarten gehen sollen. Mein Vater war total dagegen, und meine Mutter wollte auch lieber, dass ich Geld verdiene, um zu verstehen, was es heißt, eigenes Geld zu verdienen.
›Damit du lernst, dass der Bankomat die Scheine nicht einfach so ausspuckt‹, das war ihr Spruch.
Sie hatte recht. Ich war ein verwöhntes Ding, mehr nicht. Es ist nett, dass du mich vom Gegenteil überzeugen willst, aber ich weiß, wie ich damals war, mit fünfzehn, sechzehn. Ich kam mir so großartig vor, stark, unbesiegbar. Das ganze Leben liegt vor dir! Du kannst alles erreichen, was du willst! Du wirst nicht wie die Erwachsenen um dich herum enden, du bist etwas Besonderes. Ich erinnere mich so gut an dieses Gefühl.
So dachten wir alle, ja, da hast du vielleicht recht.
Aber ich war eingebildet. Ich genoss es, dass die Jungen mir nachliefen, dass sie mich anhimmelten, wenn ich auf der Decke saß, im Schwimmbad, Gitarre spielte und sang. Faulenzen und herumhängen wollte ich, mit dir und den anderen, und mit Mike. Mein Gott, war ich verknallt in den Typen! Er war der Hauptgrund, warum ich in jenem Sommer nicht kellnern wollte. Deshalb gab ich nicht auf zu betteln, und meine Eltern gaben schließlich nach. Ich konnte ziemlich stur sein, wenn ich etwas wollte.
Weißt du, wenn es wenigstens Unaufmerksamkeit gewesen wäre! Aber ich ließ Andreas ja bewusst und mit voller Absicht alleine am Beckenrand sitzen, und warum? Aus purer Eitelkeit und Angeberei. Ich trichterte ihm ein, sich nicht von der Stelle zu rühren und mir zuzusehen, wie ich einen Salto vom Zehn-Meter-Turm machen würde. Er konnte halbwegs schwimmen und gut tauchen, was sollte da schon passieren? Er winkte mir noch stolz nach. Mike und seine Freunde hatten mich gehänselt, ich würde mich ohnehin nicht trauen, und ich wollte sie beeindrucken. Das war alles.
Das hast du nicht mitbekommen?
Ich sehe mich heute noch vor ihm die Stufen hinaufgehen, schon im Voraus innerlich triumphierend, weil ich einen perfekten Salto hinlegen würde und wusste, dass mir den so schnell keiner nachmachen konnte. Er und seine Freunde ließen mir den Vortritt, grinsten blöd, als ich mich sprungbereit hinstellte. Mike begrabschte noch meinen Hintern, ich musste lachen und drohte ihm mit dem Zeigefinger. Das war das letzte Mal, dass er mich ansah und mit mir redete. Doch, im Ernst! Wenn ich ihm begegnete, wechselte er die Straßenseite. Aber gut, wie konnte ich erwarten, dass ein Siebzehnjähriger mit so einer Situation umgehen kann? Zuerst schmust du mit einem Mädchen hinter den Kabinen herum, greifst ihr mutig unter den Bikini, und ein paar Minuten später ziehst du den toten Bruder des Mädchens aus dem Wasser. Ja, er nahm ihn mir ab und schwamm mit ihm zum Beckenrand, wo schon der Bademeister stand.
Das hast du gesehen vom Café aus? Meinen Salto, mein Auftauchen und wieder Untertauchen? Wie ich mit Andreas im Arm wieder auftauchte und Mike sprang?
Ich habe wie eine Irre geschrien, sagst du?
Davon weiß ich nichts mehr, überhaupt weiß ich von der einen Stunde nach dem Sprung nichts mehr. Meine Mutter erzählte es mir später einmal, weil ich darauf bestand. Ich erinnere mich nur, dass mir der Salto gelang und ich kerzengerade ins Becken hineinschoss, und daran, dass mein Vater vor mir stand, mich an der Schulter gepackt hielt und nicht aufhörte zu schreien: ›Du solltest auf ihn aufpassen! Wieso springst du vom Turm, wenn du doch auf ihn aufpassen sollst!‹
Die Stunde dazwischen ist verlorengegangen.
Im Krankenhaus hörte ich am Abend eine Krankenschwester zur anderen sagen: ›Sie hat den Buben mit voller Wucht am Kopf getroffen.‹
Weißt du, dass ich in meinem Kopf immer wieder Unfallszenarien durchspielte, danach? Andreas entwischt mir beim Fangenspielen, hüpft ins Wasser und will bis zum anderen Beckenrand tauchen, irgendjemand springt unerlaubterweise vom abgesperrten Turm und ausgerechnet auf ihn. Oder: Er rutscht am Beckenrand aus, fällt hart auf den Hinterkopf und rollt bewusstlos ins Wasser hinein, was niemandem auffällt, weil so viel los ist, und er ertrinkt.
Was anders gewesen wäre?
Natürlich hätte ich mich auch schuldig gefühlt, weil ich ja auf ihn aufpassen sollte, aber es wäre trotzdem ein Unterschied gewesen. Weil es dann wirklich ein Unfall gewesen wäre, auch für mich! Andreas wäre dann nicht durch mich gestorben. Ich hätte ihn schmerzhaft vermisst, aber nicht herumwürgen müssen an meiner großen Schuld. Ich wünschte mir einfach, dass es nicht meine Füße gewesen wären, die ihn tödlich trafen, sondern andere. Ich konnte meine Füße nicht mehr anschauen, hätte sie am liebsten abgehackt.
Du schaust erschrocken. Ich weiß, das habe ich dir nie erzählt. Wir haben überhaupt nie darüber gesprochen, nicht wahr? Ich bin dir auch dankbar dafür, dass du mich nicht gedrängt hast zu reden. Ich habe mich in der Zeit danach wohl ziemlich abweisend dir gegenüber verhalten, obwohl du meine beste Freundin warst. Und du bist es immer noch, auch wenn wir uns so selten sehen. Das tut mir leid. Aber weißt du, ich sah dich und wurde daran erinnert. Weil du dabei warst an jenem Nachmittag, im Schwimmbad. Ich hasste euch sogar manchmal, Marie, Elena und dich. Ihr hättet mich davon abhalten können, dachte ich mir, ihr hättet mir zurufen können: Denk daran, was du deinem Papa versprochen hast! Du sollst bei deinem Bruder bleiben!
Du hast keine Ahnung, was mir alles durch den Kopf gegangen ist. Am schlimmsten war der Wunsch, die Zeit zurückdrehen zu können und dann in diesen zehn Minuten alles anders zu machen. Nur zehn verdammte Minuten!
Nein, mit meinem Mann rede ich nicht viel darüber, eigentlich gar nicht, ich erzählte es ihm kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten, und das war es. Ich will ihn nicht damit belasten, er hat genug um die Ohren. Und was soll es mir bringen, ständig die Sache durch Reden aufzuwärmen? Das habe ich vier Jahre lang zu Hause gemacht, mit der Psychiaterin, der Therapeutin.
Es bringt mir nichts, im Gegenteil, es zieht mich herunter und fühlt sich wie ein Stein um den Hals an, mit dem ich mühsam versuche, an der Wasseroberfläche zu bleiben. Einfach schauen, dass man einen Tag nach dem anderen schafft und das Beste daraus macht. Ich glaube, Paul erkannte das und war einfach für mich da. Das half mir mehr. Überhaupt war der Umzug nach Wien die beste Entscheidung. Zu Hause erinnerte alles an Andreas und an das, was passiert war. Jeder im Ort wusste es! Jeder! Und auch in den Nachbarorten! An die halb mitleidigen und halb sensationsgierigen Blicke mag ich gar nicht denken.
Als ich dann nach Wien zog, war alles anders. Ich war ein normaler Mensch, eine gewöhnliche Studentin unter Hunderten! Ich konnte ein neues Leben anfangen. Hier wusste niemand von meinem toten Bruder, niemand außer Paul. Bis jetzt ist das so.
Nein, falsch, vor einem Jahr erzählte ich es noch jemandem.
Ich denke mir oft, was ich für ein Riesenglück hatte, dass ich Paul damals in Italien kennenlernte. Ich wollte mich auf der Reise finden und fand meinen Mann. Ohne ihn hätte ich mich nie getraut, von zu Hause wegzugehen, und wer weiß, ob ich dann noch leben würde. Ich soll nicht so reden? Ich hätte es wieder versucht.
Wenn der Unfall nicht passiert wäre, wäre ich damals nicht alleine nach Italien abgehauen. Da hast du recht.
Irgendwie hängt alles zusammen in unserem Leben. Es ist wie ein Spinnennetz, in dem wir gefangen sind. Wir tun, was wir tun, weil unsere Vergangenheit geschehen ist, wie sie geschehen ist. Ein Kreislauf. Oder eben ein Spinnennetz.
Lassen wir die alten Geschichten ruhen. Ich will es jetzt einfach genießen, dass du da bist, und einen schönen Tag mit dir verbringen.
Gib mir das Foto. Es ist besser, ich räume die Fotoschachtel weg, und wir fahren in die Stadt. Ja?
Du willst wissen, wer das war, der es vor einem Jahr erfahren hat?
Ich werde es dir erzählen.
Felix
Wenn es dich nicht stört, dass ich nur flüstern kann, erzähle ich dir gerne die Geschichte mit dem Hai. Die interessiert dich? Ja? Schlafen können wir ja sowieso nicht.
Nein, nein, Halsschmerzen habe ich nicht, das nicht, nur meine Stimme ist weg, schon seit längerem, keine Ahnung, warum das so ist. Als würde der Rest nicht schon reichen.
Vor fünfzehn Jahren war ich ein ganzes Jahr lang unterwegs, mit einem Katamaran und zwei Freunden, wir sind von Australien bis nach Südafrika gesegelt, über Lombok, Bali, Madagaskar und Mosambik. Den Katamaran bauten wir uns eigenhändig, in der Nähe von Perth.
Ich sage dir, das war ein Jahr! Rückblickend das schönste in meinem Leben. Das lässigste, das geilste, das aufregendste. Das weiß ich jetzt. Und dort, vor Lancelin, das ist ein kleines Nest an der Westküste Australiens, kämpfte ich mit einem Hai. Nein, ich verarsch dich nicht.
Im Juli 1999 flog ich mit einem guten Freund nach Australien. Max. Wir wohnten in Wien zusammen mit einem anderen Studenten in einer Wohngemeinschaft.
Du kennst ihn. Er war schon ein paarmal hier. Er ist derjenige, der immer die Salate mitbringt.
Was ich studierte? Geographie und Informatik.
In Perth erwartete uns ein anderer Freund von mir, Alessandro, er kam aus Rom. Alessandro segelte von Kindesbeinen an, besaß seit mehreren Jahren zusammen mit seinem Vater eine eigene kleine Yacht und war somit der Segelprofi unter uns. Diesen Segeltörn hatten er und ich schon lange geplant. Weil ich es zu dritt besser fand, hatte ich Max gefragt, ob er mitkommen wolle, und Alessandro war einverstanden gewesen. Max war Koch von Beruf, er würde also die Kombüse übernehmen, das Einteilen der Lebensmittel, den Einkauf auf den Märkten, das Feilschen, die Reinigungsarbeiten unter Deck. Richtig, seine Kochkünste waren auch ein Grund, ihn mitzunehmen. Außerdem war er witzig, ein lustiger Vogel, mit dem man sich gut betrinken konnte. Alessandro war eher schweigsam und manchmal etwas streng. Ich konnte auch ganz leidlich segeln, sollte Logbuch führen, Alessandro unterstützen oder ihn ablösen, war zuständig für diverse Reparaturarbeiten an Bord und für das Fischen. Wir drei ergänzten uns perfekt.
Wir kauften einen alten, völlig kaputten Katamaran mit zehn Metern Länge und fünf Metern Breite und machten ihn innerhalb von zwei Monaten seetüchtig. Aus einer Laune heraus tauften wir das Boot Marilyn. Vorangegangen waren zahlreiche Diskussionen, da jeder das Boot nach seiner jeweiligen Freundin benennen wollte, drei Namen aber nicht in Frage kamen.
Apropos Freundinnen. Die waren natürlich zu Hause geblieben. Wie meine hieß zu der Zeit? Verena. Wir studierten gemeinsam. Meine erste große Liebe. Aber als ich nach einem Jahr zurückkehrte, war sie nicht mehr meine Freundin, sie hatte einen anderen gefunden. Wie Max’ Freundin hieß, weiß ich nicht mehr, Alessandro hatte eine Giulia.
Aber Frauen gab es auch an den Stränden von Perth. Mit einer Neuseeländerin, Jane, und zwei Engländerinnen, Liz und Samantha, kamen wir für ein paar Wochen näher in Kontakt. Ich erinnere mich so genau daran, weil mir vor kurzem das Logbuch wieder in die Hände fiel, das war beim Umzug in die neue Wohnung, ich erzählte dir davon. Stundenlang saß ich in der alten Wohnung auf dem Boden, neben dem halb eingepackten Karton, und las darin. Alles wurde wieder so gegenwärtig. Ich meinte das Meer neben mir rauschen zu hören und das schrille Kreischen der Möwen.
Und dann überkam mich so ein Jammer, dass ich zu weinen anfing. Bis Max auftauchte und total sauer reagierte, weil ich die Bücher aus dem Regal immer noch nicht fertig eingepackt hatte. Er schleppte nämlich die vollen Kartons aus der Wohnung hinaus, verstaute sie in seinem Bus und fuhr sie hinüber in die neue Wohnung. Das Logbuch nahm er mir aus der Hand, ich schenkte es ihm. Was sollte ich noch damit? Meine neue Wohnung ist viel kleiner, ich hatte also ohnehin keinen Platz, um alles aufzuheben, vieles verschenkte ich, und vieles schmiss ich einfach weg. War eine gute Übung. Im Loslassen, meine ich.
Tut mir leid, ich schweife ab. Um meine Konzentration ist es momentan nicht besonders gut bestellt.
Zurück zu Marilyn und zu dem Hai. Und zu Jane, Liz und Sam. Die drei Frauen hielten sich untertags am Strand auf, surften, schwammen, schnorchelten. Manchmal halfen sie uns beim Bootsbau oder versorgten uns mit Essen. Sie waren nicht zu bremsen in ihrem Überschwang. Sam war ziemlich verknallt in Alessandro. Ihren Unterhaltungen zuzuhören war sehr lustig, da sein Akzent im Englischen einfach köstlich klang. Liz krallte sich Max und ließ sich fast jeden Abend von ihm bekochen, dabei nahm sie an die zehn Kilo zu, na ja, das ist jetzt übertrieben. Jane sagte mir, dass ich einen ›great body‹ hätte und ›that’s it‹, einmal meinte sie, es wäre ›funny‹ mit mir, mehr gab es da offensichtlich nicht, Gott sei Dank, sie war die unkomplizierteste von allen. Wir sechs verbrachten viele gemeinsame Abende, ja auch Nächte, nein, so meine ich das nicht, jeweils zu zweit natürlich. Bevor wir ausliefen, feierten wir ausgiebig mit einem grandiosen Abendessen an Deck und Unmengen von Alkohol.
Um zehn Uhr morgens liefen wir aus, es ging Richtung Lombok und Bali, der Westküste entlang. Bekannte winkten uns nach. Ich fühlte mich ein bisschen wehmütig, denn es war eine wunderschöne Zeit am Strand gewesen, mit interessanten Bekanntschaften und Gesprächen. Der Bootsbau an sich war schon spannend gewesen, eine großartige Erfahrung und Herausforderung.
Ein paar Meilen von der Küste entfernt krochen plötzlich Jane, Liz und Sam aus dem Segelstauraum, völlig verkatert. Wir konnten es nicht fassen! Sie hatten sich dort noch in der Nacht versteckt. Bei der Abschiedsfeier hatten wir alle zu viel getrunken, vor allem die Frauen, als wir jeweils zu zweit in die Kojen fielen. Wer mit wem in der Koje gewesen war, wussten wir nicht mehr so genau, aber wir nahmen an, dass Jane bei mir, Liz bei Max und Sam bei Alessandro geschlafen hatte. Als dieser mich um neun Uhr früh geweckt hatte, hatte er noch beeindruckt gemeint: ›Sie haben also doch Format und ersparen uns eine Szene.‹
Keine von ihnen war nämlich mehr da gewesen.
Und dann standen sie vor uns, auf sehr wackligen Beinen. Alessandro war so sauer, dass er mit dem rechten Fuß gegen die Bordwand drosch und sich dabei verletzte, Max kriegte sich vor Lachen nicht mehr ein. Es war klar, wir mussten sie an die Küste zurückbringen, das würde uns Stunden kosten. Die Windbedingungen waren gerade ideal. Ich konnte mir ein Lachen auch nicht mehr verkneifen, die drei sahen aus wie Leichen, und Sam fing auch gleich an zu kotzen, mitten an Deck, woraufhin Alessandro noch einmal einen Tobsuchtsanfall bekam. Sie saßen dann elend in der Kombüse herum, bis wir vor Lancelin unser Dinghi ins Wasser ließen und sie an Land brachten. Sam wollte sich wieder Alessandro an den Hals schmeißen, aber der wandte sich abrupt ab, sie sah auch nicht wirklich appetitlich aus, so grün im Gesicht und das T-Shirt voll Erbrochenem und immer noch eine Fahne. Wir machten uns im Dinghi schnell davon, die drei schauten uns nach und wurden am Steg immer kleiner.
Da wir auch noch die Auswirkungen des Alkohols spürten, verbrachten wir den restlichen Tag und den Abend vor Lancelin. Wir lagen in der Sonne, später kochte Max Spaghetti. Alessandro war so grantig, dass er kein Wort redete. Am Nachmittag machte ich die Bekanntschaft mit dem Hai. Er schwamm auf mich zu, während ich schnorchelte, ich sah ihn zuerst gar nicht. Als ich kurz auftauchte, bemerkte ich, dass Max und Alessandro auf der Marilyn heftig mit den Armen fuchtelten und auf etwas deuteten.
Da entdeckte ich die Schwanzflosse. Es war wie im Film! Eine Schwanzflosse steuert geradewegs auf dich zu, und du bekommst Panik. Nur dass du eben nicht auf der Couch liegst. Zum Katamaran zurückschwimmen kann ich nicht, weil er zu weit weg ist und sich außerdem der Hai im Weg befindet. Die Flosse schießt auf mich zu, und ich starre ihr wie versteinert entgegen, na ja, schießen ist jetzt übertrieben, sie kommt eher gemütlich auf mich zu, und das bringt mich auf den Gedanken, ob es nicht vielleicht ein junger Hai ist. Ich zwinge mich also zu ruhigen, langsamen Bewegungen und tauche unter die Wasseroberfläche, um ihn mir anzusehen. Und tatsächlich, es ist ein kleiner Hai, er muss sehr jung sein, ich weiß, ich muss ihn beim Schwanz packen und festhalten, so kann ich ihn töten. Dafür bräuchte ich aber ein Messer, das ich nicht habe. Das ist mein Problem. Es gelingt mir tatsächlich, ihn mit beiden Händen am Schwanz festzuhalten, er schlägt wie wild um sich.
Ich tauche wieder auf und schreie Max und Alessandro zu, dass ich ein Messer brauche. Bis sie mich verstehen, dauert es eine Weile, ich werde fast panisch, weil der Hai so wild herumschlägt und zappelt. Ich muss mich extrem konzentrieren, dass er mir nicht entkommt. Ich sehe, dass die zwei hektisch unser Jagdmesser suchen, bis endlich, wie eine Ewigkeit kommt mir das vor, Max ins Wasser springt, mit dem größten Küchenmesser im Mund, das wir an Bord haben. Er krault auf mich zu, taucht hinter mir unter und sticht auf den Hai ein, der zuerst noch wilder zappelt und dann allmählich immer schwächer wird. Alessandro, mit dem Jagdmesser in der Hand, schwimmt auf uns zu und hilft uns, den toten Hai zur Marilyn zu ziehen. An Bord genehmige ich mir erst mal ein Bier, während die anderen den Hai hochhieven. Ich bin völlig fertig. Alessandro gratuliert mir zur schnellen Reaktion, und beide freuen sich über den Vorrat, den wir jetzt anlegen können. Haifischfleisch ist sehr eiweißhaltig und schmackhaft.
Ich war froh, dass sie genauso dachten wie ich und nicht herumjammerten, ach die armen lieben Tiere und Mord und schrecklich. Wir mussten uns schließlich Vorräte an getrocknetem Fisch anlegen! Wir zerteilten also den Hai, spannten unser Netz auf, legten die rohen Stücke zum Trocknen darauf und ein Moskitonetz darüber, denn die Fliegen waren ziemlich lästig. Am Abend servierte Max Haifischsteaks, und ich backte nach seiner Anleitung Brot.
Das war also unser Start.
Ein paar Tage später fand Alessandro einen BH im Segelstauraum. Wir rätselten, wem er wohl gehörte, Max tippte anhand der Körbchengröße auf Liz. Alessandro schmetterte den Song Time to Say Goodbye, die Version von Andrea Bocelli und Sarah Brightman, er presste den BH dabei an seine Brust, machte auf Drama-Queen und warf ihn dann ins Meer. Endlich konnte er auch über die Sache lachen.
Wie es weiterging? Es langweilt dich noch nicht? Im Gegenteil?
Wir blieben mehrere Tage vor der Nordwestküste und den vorgelagerten Inseln, um weitere Vorräte anzusammeln, es war unglaublich, wie viele Fische innerhalb einer Stunde anbissen! Das kannst du dir nicht vorstellen! Es war wie im Paradies, so unbeschwert und entspannt. In der Woche entdeckte ich meine passion to fish fish, no girls, so nannte es Max. Auf jeder Reise war mir das dann wichtig, dass ich nach Herzenslust fischen konnte und mir am Abend meinen selbst gefangenen Fisch in der Pfanne briet oder am Feuer, je nachdem.
Dann ging es weiter Richtung Lombok.
Für Max war es die erste lange Hochseefahrt, der Ärmste wurde furchtbar seekrank, die Magenkrämpfe machten ihn fertig, tagelang. Er fiel als Koch aus, weshalb ich die Kombüse übernahm. Natürlich meckerte Alessandro über meine Kochkünste.
Die Einklarierung im ersten Hafen auf Lombok, ich glaube, es war in Kuta, war die abenteuerlichste. Drei Zollbeamte kamen an Bord, wollten nicht nur die Liste der mitgeführten Waren sehen, sondern durchwühlten alles ziemlich frech. Schließlich deuteten sie auf die vier Stangen Zigaretten und wollten sie haben, ich weigerte mich. Daraufhin griffen sie im Lebensmittelschrank nach dem großen Reissack, und Max rastete völlig aus. Die Beamten gaben uns zu verstehen, dass sie entweder die Zigaretten oder den Reis haben wollten, doch wir weigerten uns beharrlich, sie begannen, uns zu beschimpfen, aber wir verstanden nicht viel von dem, was sie von sich gaben. Schließlich schnappten sie unsere Pässe und verschwanden mit ihnen. Wir waren völlig aufgelöst und wussten nicht, was wir tun sollten. Am Nachmittag tauchten sie wieder auf und forderten Zigaretten und Reis, keine Rede mehr von entweder oder. Vom Dorf legte ein großes Kanu mit zwanzig Männern ab und steuerte auf unsere Marilyn zu, ich wurde panisch und war mittlerweile so weit, dass ich ihnen alles gegeben hätte. Was diese Männer mit uns vorhatten, wagte ich mir nicht auszumalen.
Alessandro ließ sich aber nicht erweichen, er hatte auf früheren Segelreisen mit seinem Vater schon genügend Erfahrung mit korrupten Zollbeamten gesammelt, und schrie sie auf Englisch an. Was nicht viel nützte, sie schienen nicht wirklich zu reagieren. Einer zeigte sogar auf seine Leinenhose und auf Max’ Hut, die Sachen sollten wir auch noch herausrücken und ihnen aushändigen. Schließlich reichte es Alessandro, er ließ den Außenbordmotor an und bedeutete mir, den Anker zu lichten. Wir wirkten vermutlich sehr entschlossen, denn sie gaben plötzlich klein bei, knallten unsere Pässe auf das Deck und stiegen in ihr kleines Boot. Sie hatten keine Zeit mehr, denn die Strömung war sehr stark, und das Zurückrudern in ihrem kleinen Boot würde umso schwieriger werden, je länger sie bei uns an Bord blieben. Die Männer im Riesenkanu drohten uns mit ihren Fäusten.
In Buleleng auf Bali wurden wir von den Zollbeamten sehr freundlich behandelt, und auch später in allen anderen Häfen. Auf Bali ankerten wir abwechselnd in Buleleng und Benoa und lebten ein mehr als fürstliches Leben. Nach einem Monat waren wir wieder scharf aufs Segeln, wir hatten uns oft genug verwöhnen und abschleppen lassen. Dieses Mal waren es drei Amerikanerinnen gewesen. Wir machten uns auf zur Überquerung des Indischen Ozeans.
Es gab so wunderbare Tage, an denen wir alle drei ein unglaubliches Hochgefühl verspürten, ich kann das nicht beschreiben! Wir waren so stolz auf unsere Marilyn, die sich so gut steuern ließ. Was für einen Katamaran hatten wir uns da gebaut! Oft lagen wir einfach an Deck in der Sonne und dachten an Lärm, Verkehr und Gestank, manchmal auch an Frauen, ich gebe es zu. Manchmal passierte es, dass ein fliegender Fisch uns in den Schoß fiel, während wir so dalagen und nur witzelten. Wenn er zu mickrig war, warf ihn Max wieder über Bord, wenn er die Größe halbwegs passend fand, aßen wir ihn zum Abendessen.
Jetzt kommt gleich das Essen, hörst du es auch? Nein, mein Hunger hält sich noch in Grenzen.
Wo wir noch anlegten?
Christmas Island, Mauritius, Madagaskar, nur um ein paar zu nennen, und an vielen anderen kleinen unbekannten Inseln. Die letzte Station war Praia do Tofo in Mosambik, und in Durban, Südafrika, verkauften wir unsere Marilyn. Schweren Herzens, wie du dir vorstellen kannst. Wir stiegen in das Flugzeug, das uns nach Europa zurückbrachte, und dort hatte uns der Alltag wieder. Ja, ein neuer Lebensabschnitt begann, vor allem für Alessandro, der seine Giulia heiratete und schnell hintereinander vier Kinder bekam. Und einen dicken Bauch. Die Zeit der langen Segeltörns war für ihn vorbei, und für mich eigentlich auch.
Warum? Na ja, weil das Studentenleben vorbei war und ich anfing zu arbeiten. Wo? In einer großen Werbeagentur. Seit fünf Jahren bin ich aber selbständig, als Fotograf und Webdesigner. Und weil ich keine so guten Segelpartner mehr fand, mit denen ich monatelang auf engem Raum hätte zusammenleben wollen. Max bewarb sich als Koch auf der Queen Mary 2,