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Am 21. Dezember 2012 hätte die Welt untergehen sollen. Für die meisten Menschen war es bloß ein Tag wie jeder andere. Die Welt von Katharina Bergmüller hingegen brach zusammen. Gerade erst schien es, als wäre es ihr gelungen, ihrem unbefriedigenden Leben eine neue Richtung zu geben und das Glück zu finden - da stirbt ihr Mann in einem Verkehrsunfall. Erst nach und nach erschließt sich Katharina, durch welche Geheimnisse ihr Schicksal, mit dem einer im sowjetischen Gulag verschollenen Pianistin und dem einer Architektin verknüpft sind: Eine nicht unwesentliche Rolle dabei spielt ihr Schwiegervater … Meisterhaft und raffiniert komponiert Judith W. Taschler eine generationenübergreifende Familiensaga, in deren Mittelpunkt drei starke Frauen stehen. Herzergreifend, dramatisch, fesselnd bis zur letzten Seite!
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Seitenzahl: 427
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Für meine Familien, alle
Copyright © 2014 Picus Verlag Ges.m.b.H., WienAlle Rechte vorbehaltenGrafische Gestaltung: Dorothea Löcker, WienUmschlagabbildung:© Jessica Neuwerth Photography/Getty ImagesISBN 978-3-7117-2018-4eISBN 978-3-7117-5216-1
Informationen über das aktuelle Programmdes Picus Verlags und Veranstaltungen unterwww.picus.at
Judith W. Taschler, 1970 in Linz geboren, im Mühlviertel aufgewachsen. Studium der Germanistik und Geschichte. Sie lebt mit ihrer Familie in Innsbruck, arbeitete als Lehrerin und ist freie Schriftstellerin. Im Picus Verlag erschienen ihr Roman »Sommer wie Winter«, 2013 der Bestseller »Die Deutschlehrerin«, zuletzt der Erzählband »Apanies Perlen«. www.jwtaschler.at
Judith W. Taschler
Roman
Aber was hätte das für einen Wert? Am Endewird alles ganz einfach, alles, was war undwas hätte sein können.
SÁNDOR MÁRAI, Die Glut
Autorenporträt
NOVEMBER 2012: KATHARINA DER UNGEBETENE GAST
NOVEMBER 2012: KATHARINA EINSAMKEIT
NOVEMBER 2012: JULIUS DEM TOD ENTGANGEN
NOVEMBER 2012: FAMILIE BERGMÜLLER
NOVEMBER 2012: KATHARINA UND JULIUS EIN NEUANFANG?
NOVEMBER 2012: KATHARINA EIN NEUER ARBEITSAUFTRAG
THOMAS’ GESCHICHTE
NOVEMBER 1972: ARTHUR DER STREIT DER GROSSMÜTTER
21. DEZEMBER 2012: KATHARINA WELTUNTERGANGSPARTY
THOMAS’ GESCHICHTE
JÄNNER 1995: KATHARINA UND JULIUS EIN FOLGENSCHWERER SATZ
FEBRUAR UND MÄRZ 1995: KATHARINA HUT AB, MEIN SOHN, SCHÖNES MÄDCHEN!
THOMAS’ GESCHICHTE
1973–1987: KATHARINA EIN VATER NAMENS VINCENT
1978: JULIUS DIE BERGMÜHLE
1995–2001: KATHARINA FAMILIENLEBEN
THOMAS’ GESCHICHTE
2001–2005: KATHARINA NOCH EIN KIND
1978–1981: ARTHUR DER EINSAME WOLF
THOMAS’ GESCHICHTE
1997–2001: JULIUS MRS. ROBINSON
THOMAS’ GESCHICHTE
2001–2006: JULIUS DIE ERTRÄGLICHE LEICHTIGKEIT DES SEINS
THOMAS’ GESCHICHTE
21. DEZEMBER 2012: PHILIPP HUMBERT HUMBERT UND WILBUR LARCH
THOMAS’ GESCHICHTE
THOMAS’ GESCHICHTE
DEZEMBER 2012: KATHARINA UND JULIUS KATHARINA WILL THOMAS KENNENLERNEN
THOMAS’ GESCHICHTE
JÄNNER 2013: PHILIPP KATHARINA FÜHLT SICH SCHULDIG
JÄNNER 2013: PHILIPP THOMAS BERGMÜLLER
FEBRUAR 2013: ARTHUR EIN TOTGEGLAUBTER BRUDER
21. DEZEMBER 2012: JULIUS MIT DIR WILL ICH ALT WERDEN
FRÜHLING UND SOMMER 1945: SUSANNA DU MACHST KEINEN MUCKS!
Katharina saß mit ihren vier Kindern beim Abendessen, als der Gast zur Tür hereinkam.
Er hatte weder geklopft noch geläutet, er war einfach eingetreten, die Haustür stand ja stets offen, wurde nur in der Nacht abgesperrt. Er schloss leise die Küchentür und näherte sich langsam dem großen Esstisch. Katharina wusste sofort, wer er war und was er von ihr verlangen würde. Behäbig wirkte er und gleichzeitig autoritär, ein Mann, der gewohnt war, dass man sich ihm nicht widersetzte. Umständlich nahm er neben ihr Platz, ohne jemanden zu begrüßen. Katharina bedeutete ihm mit ihren Augen, er möge doch warten, bis die vier aufgestanden und in ihr Zimmer gegangen wären. Er ignorierte das und fing ohne Umschweife zu sprechen an, dabei sah er jedem Kind unverhohlen neugierig ins Gesicht.
Er erinnerte Katharina daran, dass Krieg war und die Eindringlinge mordend durch das Land zogen, ganze Familien grausam ausrottend. Vor den Augen der Eltern wurde jedes einzelne Kind gefoltert, bevor man ihm schließlich den erlösenden Tod gewährte. Zum Schluss wurden auch die Eltern getötet, indem man jedes Fenster, jede Tür von außen mit Brettern zunagelte und das Haus schließlich anzündete. Bald schon, sehr bald würden die Soldaten auch in dieses Dorf kommen und ein Gemetzel in jeder Familie anrichten.
Allein er könnte ihr helfen zu verhindern, dass ihre Kinder und sie selbst gefoltert und ermordet wurden. Er hatte gute Verbindungen zu den Soldaten und mit ihnen eine Verordnung ausgearbeitet: Jede Familie dürfe ein Kind opfern, dann würde der Rest verschont werden.
Sie müsse ihm nur den Namen eines ihrer Kinder nennen, dieses Kind würde er zu den Soldaten bringen und es würde schnell und schmerzlos sterben. Dafür aber werde keinem anderen auch nur ein Haar gekrümmt, kein Soldat werde seinen Fuß in das Haus setzen, das garantiere er mit seinem Namen. Katharina starrte ihn an. Nach den Erzählungen, die sie gehört hatte, hatte sie ihn sich anders vorgestellt, irgendwie größer, weißhaariger, strahlender. Schließlich zwang sie sich, den Blick abzuwenden, sie schaute in der vertrauten Küche herum, bevor sie sich ihm wieder zuwandte.
Der Mann lächelte sie gütig an und sagte: »Nennen Sie mir nur einen Namen und alles wird gut. Nur einen Namen und Sie können die anderen retten. Denken Sie an die gefolterten und getöteten Familien und Sie wissen, dass mein Angebot gnädig ist.«
Sie wusste, dass er wusste, was sie sagen würde und sagte es trotzdem: »Ich gehe mit Ihnen.«
»Das geht leider nicht, es muss eines Ihrer Kinder sein«, antwortete er wie aus der Pistole geschossen, unentwegt lächelnd, »so lautet einfach das Gesetz.«
Die Kinder rührten sich nicht und starrten abwechselnd auf den Mann und auf ihre Mutter, dabei sagten sie kein Wort, Katharinas Gedanken überschlugen sich.
Ja, es war Krieg. Jeden Tag war Krieg.
Nur einen Namen sollte sie nennen und damit die anderen retten. Aber welchen Namen sollte sie aussprechen? Welches Kind verraten und dem Tod preisgeben? Denn es war Verrat, das stand fest, das Kind, das sie dem Mann mitgeben würde, war das, das sie am wenigsten liebte, so würden zumindest alle denken.
Sie wusste es, die Kinder wussten es, der Gast wusste es. Sie zermarterte sich ihr Gehirn, was sie tun sollte. Sollte sie einfach aufstehen und den mächtigen Mann hinauswerfen? Sie sah ihm an, dass er das nicht gewohnt war. Mit großer Genugtuung würde sie ihm »Du kannst mich mal mit deiner Gnade!« an den Kopf schmeißen.
Aber dann würde man ihren Kindern bei lebendigem Leib die Haut abziehen oder sie in siedend heißes Wasser werfen oder sie vierteilen. Sie stellte sich all diese schrecklichen Dinge bildhaft vor, sah beim Ankündigen der jeweiligen Foltermethode das verzweifelte Entsetzen in den Augen ihrer Kinder und hörte sie dann schreien, schreien, schreien. Einen Namen! Sie musste einen Namen sagen.
Ihre zwei Großen flehte sie mit den Augen an, einer von ihnen möge doch ihre Verzweiflung spüren und sich für die Familie opfern. Einer von beiden sollte mit ruhiger Stimme sagen: »Ich geh freiwillig, Mama.« Es hätte zu ihnen gepasst, sie waren doch immer die verständigen Großen, wenn es um die Kleinen ging. Doch sie taten es nicht, wie die zwei Jüngeren hingen sie mit weit aufgerissenen Augen an ihren Lippen: Welchen Namen würde sie sagen?
Einen Namen! Sie musste endlich einen Namen sagen! Welches von den Kindern würde ihr den Verrat verzeihen können, dachte sie, welches Kind könnte gehen und ihr dabei einen Blick zuwerfen, der sagte: Ich bin dir nicht böse. Gleichzeitig wusste sie, kein Kind würde das können. Sie würde ihn einfach schnell flüstern, den Namen, dann die Hände vor das Gesicht schlagen, um nicht zusehen zu müssen, wie das Kind abgeführt wurde. Unmöglich konnte sie ihm in die Augen schauen.
Die Geduld des Gastes war erschöpft, er befahl Katharina mit lauter Stimme: »Sie sagen mir sofort einen Namen!« Sie hatte einen auf der Zunge, konnte ihn aber nicht aussprechen. Verzweifelt blickte sie in die Runde, streifte dabei Julius’ leeren Stuhl und plötzlich durchzuckte es sie voller Zorn: Warum musste sie diese Entscheidung alleine treffen? Warum war ihr Mann nicht da und half ihr? Warum war er eigentlich nie bei seiner Familie?
In dem Moment hauchte sie – innerlich auf Julius wütend – einen Namen, wusste selbst nicht, welcher es war, doch der Gast schien es mit unbeirrbarer Sicherheit zu wissen, er stand auf und streckte seine Hand aus, wem streckte er sie entgegen?
Nachdem der ungebetene Besucher das fünfte Mal an Katharinas Tisch gesessen war, stand sie abrupt während des Essens auf, nahm ihr Handy und verschwand damit im Schlafzimmer. Die Kinder sahen ihr perplex nach. Sie rief ihre Freundin Doris an und fragte sie, ob sie Lust hätte, spontan mit ihr nach Linz zu fahren, ins Kino zu gehen und eventuell anschließend noch irgendwo etwas zu trinken. Doris bedauerte, sie war verkühlt, auch Sabine konnte nicht, die kleine Tochter war krank. Katharina warf sich stöhnend auf das Bett.
Sie überlegte, ob sie sich an den Computer setzen sollte, um an der Biografie von Frau Hausmann weiterzuarbeiten oder ob sie alleine fahren sollte. Sie entschied sich, alleine zu fahren. Sie zog ihre Jeans aus, schlüpfte in eine helle Hose, zog ein elegantes schwarzes Oberteil an und hohe Schuhe. Im Badezimmer rollte die sechsjährige Luisa mit den Augen, als sie sich auffälliger als sonst schminkte und die Haare hochsteckte.
Im dunklen, zugigen Kinosaal fröstelte sie die ganze Zeit. Rings um sie herum saßen nur Pärchen oder befreundete Leute und sie fühlte sich so einsam wie noch nie. Ein älteres Paar, sie schätzte die beiden auf an die siebzig, saß ein paar Stühle weiter, der Mann hatte den Arm um die Schulter der Frau gelegt. Katharina konnte die Augen nicht von den beiden lassen, immer schon hatten sie alte, verliebte Menschen mehr beeindruckt als junge Pärchen, die giggelnd Hand in Hand gingen. Sie wünschte sich, Julius säße neben ihr.
Früher, als die Kinder noch kleiner gewesen waren, war sie oft alleine in die Stadt gefahren und ins Kino gegangen, es war wie eine Art Flucht vor dem eigenen Leben gewesen, nie hatte sie sich dabei einsam gefühlt, im Gegenteil, sie hatte es genossen: Man taucht in eine fremde Geschichte ein, betäubt sich mit ihr und vergisst zumindest für zwei Stunden die eigene. Sie war jahrelang lieber alleine ins Kino gegangen als in den Familienurlaub zu fahren, keinem hatte sie je davon erzählt. Sie war überzeugt davon, sie hätte von ihren Bekannten nur Unverständnis geerntet. Zu jedem Kindergarten- oder Schulbeginn wurden die Wochen am Meer, in einer fremden Stadt oder in einer exotischen Landschaft enthusiastisch als so erholsam, entzückend, bezaubernd beschrieben, und lange Zeit fragte sie sich, ob den Leuten der Urlaub wirklich so gut gefallen hatte oder ob es nur das übliche Spiel war, nämlich die subtile Demonstration, wer hier der Interessantere, der Aufgeschlossenere war und vor allem, wer sich mehr leisten konnte. Sie war lieber im dunklen Kino gesessen: Mit den großen Bildern vor sich auf der Leinwand war der Alltag weit weg. Um halb sechs Uhr früh mit einem oder sogar zwei Kleinkindern an der Hand im Hotelgang herumtapsend, ständig mit dem Zeigefinger an den Lippen und »sch-scht« flüsternd, da wog der Alltag doppelt so schwer.
An diesem Abend nahm die Einsamkeit von ihrem ganzen Körper Besitz. Unentwegt zitterte sie vor Kälte, sie hatte Bauchschmerzen, der Kopf dröhnte, die Beine waren schwer. In einer Bar saß sie auf einem hohen Barhocker, nippte an ihrem Cocktail und fühlte sich von den meisten Leuten beobachtet, der Barkeeper flirtete mit ihr und aus Dankbarkeit trank sie zu viel. Bei der Heimfahrt stierte sie vornübergebeugt und konzentriert aus der Windschutzscheibe. Ein Reh huschte über die Straße, sie konnte gerade noch rechtzeitig bremsen. Dann begann sie plötzlich heftig zu weinen und musste anhalten. Schluchzend und schlotternd umklammerte sie das Lenkrad und konnte sich kaum beruhigen.
Am nächsten Morgen fasste sie beim Aufwachen den Entschluss.
Nach dem Frühstück verließen die Kinder nacheinander das Haus. Katharina warf ein paar Sachen in einen kleinen Koffer und ging dann zu Arthur und Olga hinüber.
»Willst du Kaffee?«, fragte Olga mit ihrem starken Akzent, den die Kinder so lustig fanden und stets nachahmten.
Katharina bejahte. Arthur kam dazu, zu dritt saßen sie am Küchentisch und frühstückten.
»Ich wollte euch um was bitten«, sagte Katharina.
»Wir passen gern auf die Kinder auf«, sagte Olga.
»Na, wo drückt der Schuh?«, fragte Arthur freundlich.
Arthur, Katharinas Schwiegervater, war zweiundsiebzig, er hatte im selben Haus eine Wohnung mit eigenem Eingang. Vor einem halben Jahr hatte er sich die Hüfte gebrochen und seither wohnten abwechselnd Olga und Mascha, zwei Pflegerinnen aus der Slowakei, bei ihm und kümmerten sich um alles. Der Hauptgrund, warum Arthur eine Pflegerin haben wollte, war nicht so sehr seine eigene Eingeschränktheit gewesen, sondern die Tatsache, dass er Katharina bei den Kindern, im Haus und im Garten nicht mehr unterstützen konnte. Von Anfang an vereinbarte er mit beiden Pflegerinnen einen höheren Lohn als vorgesehen, dafür, dass sie nicht nur für ihn zuständig waren, sondern gelegentlich bei Katharina einspringen mussten.
Es waren Mutter und Tochter, nach zwei Wochen fuhr die eine nach Hause und die andere löste sie ab. Sie hätten unterschiedlicher nicht aussehen können: Die zweiundfünfzigjährige Olga hatte schwarze schulterlange Haare, die sie alle drei Wochen sorgfältig färbte, wasserblaue Augen und war auffallend blass, weshalb Luisa sofort herausplatzte: »Du siehst aus wie das alte Schneewittchen!«
»Luisa!«, entfuhr es Katharina daraufhin, doch Olga lachte nur herzlich.
Die zweiundzwanzigjährige Mascha war braun gebrannt und trug ihre weißblonden Haare raspelkurz. In ihrem Wesen jedoch waren sie einander ähnlich, beide waren temperamentvoll.
»Ich möchte zu Julius fahren«, sagte Katharina und erzählte von dem Entschluss, den sie gefasst hatte.
»Wird höchste Zeit!«, sagte Olga.
»Wir unterstützen euch auf alle Fälle«, sagte Arthur.
Arthur und Olga begleiteten sie zum Auto und umarmten sie.
»Was würde ich nur ohne euch machen?«, sagte Katharina, als sie einstieg.
Dann fuhr sie los.
Sie genoss die Fahrt auf der Autobahn und sang laut mit Cat Stevens mit: How can I tell you that I love you?
Sie überlegte sich genau, was sie zu ihrem Mann sagen würde, und flüsterte die Sätze vor sich hin.
Zur selben Zeit, vierhundertfünfzig Kilometer südlich von P., fuhr ebenfalls ein Auto mit überhöhter Geschwindigkeit auf der Autobahn dahin, und die beiden Menschen im Auto, eine Fahrerin und ein Beifahrer, hörten ebenfalls die CD von Cat Stevens und zufälligerweise genau den gleichen Song: How can I tell you that I love you. Die Frau, sie hieß Stephanie, summte mit, dem Mann, er hieß Julius, ging dies auf die Nerven.
Die beiden waren gerade auf dem Weg vom Ötztal, wo sie eine Skitour gemacht hatten, zurück nach Innsbruck. Die CD hatte er, Julius, von seiner Frau Katharina vor fast einem Jahr zu Weihnachten geschenkt bekommen, in Erinnerung an die Zeit ihres Kennenlernens in Wien, als sie die Musik von Cat Stevens tagtäglich hörten, während sie sich in seiner heruntergekommenen Studentenbude wieder und wieder liebten. Das Lustige daran war, dass Julius damals die gleiche Idee gehabt hatte und deshalb an jenem Heiligabend zwei CDs von Cat Stevens, beide schön verpackt, eine in schlichtes violettes Papier, die andere in goldenes Papier, auf dem sich zahlreiche Engel tummelten, unter dem Christbaum lagen. Sie überlegten, eine davon zurückzugeben, entschieden sich aber dafür, beide zu behalten, jeder sollte seine CD im Auto haben und so war es dann auch.
Während Katharina sie sehr oft gehört hatte, hatte Julius sie kaum jemals eingelegt, er hörte lieber Radio, und so war sie seit Langem verwaist im Handschuhfach gelegen, aus dem sie Stephanie vor einigen Wochen rausgefischt hatte.
»Leihst du sie mir?«, hatte sie gefragt, »ich hör so gern Cat Stevens im Auto.«
Und so war das Geschenk der Ehefrau in das Auto der Geliebten gewandert, ohne dass die Geliebte wusste, dass es ein Geschenk der Ehefrau gewesen war. Wenn er mit der einen Frau irgendwohin fuhr, war die andere immer mit dabei.
Bei der Rückfahrt vom Ötztal nach Innsbruck legte nun Stephanie die CD ein, weil sie dachte, es würde Julius beruhigen. Das schien aber nicht der Fall zu sein, er saß mit aschgrauem Gesicht neben ihr, versuchte sein Zittern zu unterdrücken und starrte angestrengt aus dem Seitenfenster. Vor drei Stunden war er knapp dem Tod entronnen.
Stephanie und er waren am frühen Morgen ins Ötztal gefahren und mit den Skiern über den steilen Nordhang auf den Granatenkogel gegangen. Beim Abfahren fuhr Julius als Erster los, Stephanie sollte wenige Minuten später nachkommen. Als er am Gipfelhang seine Schwünge zog und wegen des frischen Pulverschnees nicht nur innerlich, sondern lauthals jauchzte, passierte es: Eine Lawine löste sich und riss ihn mit, er wurde mit der donnernden Schneemasse über Felsen gespült und landete schließlich unsanft an die hundert Meter weiter unten.
Er musste kurz bewusstlos gewesen sein, als er aufwachte, lag er auf der Seite und eine schwere weiße Last war auf ihm, es war dunkel und er konnte sich nicht bewegen. Panik kroch in ihm hoch und er wusste, er würde ziemlich schnell ersticken. Es war der blanke Horror.
Ich sterbe, mein Gott, ich sterbe jetzt.
Vor seinem Gesicht erkannte er ein Atemloch, das ziemlich groß war, das spornte ihn an, Ruhe zu bewahren und mit den Händen alles zu versuchen, um seinen Kopf freizubekommen. Julius bewegte vorsichtig seine Hände nach vor und merkte, dass das Gewicht der Schneemasse nur auf den Beinen erdrückend war, nicht aber auf dem Oberkörper. Mit ganzer Kraft kämpfte er sich an die Schneeoberfläche und wie ein Tier schnaufend blinzelte er endlich in die Sonne. Seine Beine steckten fest, sie wurden von Stephanie freigelegt, während er wie ein kleines Kind weinte und weinte. Auch sie weinte.
Anschließend brauchten sie Stunden, bis sie wieder beim Auto waren, da Julius’ ganzer Körper schmerzte und er sich beim Skifahren schwertat. Eine Weile versuchte er, die Skier geschultert, mit den Skischuhen den Berg hinunterzustapfen, doch da ihm das Gehen noch mehr Mühen bereitete, schnallte er sich die Skier wieder an und fuhr mit wackligen Knien bergab. Stephanie wartete immer wieder geduldig auf ihn und redete ihm gut zu.
Endlich saßen sie im Auto und sie legte besagte CD von Cat Stevens ein. Julius starrte schweigend aus dem Fenster, er war gar nicht fähig zu sprechen, der Schock saß noch tief. Er nahm sich vor, nie wieder eine Skitour zu gehen. Stephanie und er würden sich eine andere Sportart suchen müssen.
In Innsbruck bat er sie, sie möge ihn zum Hotel bringen, damit er sich aus seinem Koffer Valium und Schlaftabletten holen konnte. Sie parkte und er stieg aus. Beim Aussteigen kläffte links von ihm ein Hund, er schaute hin und entdeckte Katharinas Auto, er hatte das Gefühl, als würde sein Herzschlag einen Moment aussetzen. (Vor Schreck hätte er beinahe in die Hose gepinkelt; dem Hund war er wahnsinnig dankbar.)
Oh mein Gott, Katharina ist hier! Ruhig bleiben und schnell reagieren.
Er beugte sich zu Stephanie hinunter und lächelte sie an.
»Ich warte hier«, sagte sie zu ihm, »oder fühlst du dich zu schwach? Soll ich die Tabletten aus dem Zimmer holen?«
»Nein, nein. Aber wenn ich es mir so recht überlege, würde ich heute gern alleine sein und einfach nur schlafen, ich muss morgen ohnehin sehr früh raus. Bist du mir sehr böse, wenn ich gleich hier im Hotel bleibe?«, fragte er.
»Bist du dir sicher, Liebling?«, fragte sie besorgt, »schaffst du es wirklich alleine?«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte er lächelnd und küsste sie.
»Sehen wir uns am Montagabend?«, fragte sie.
»Ja, natürlich«, antwortete er, drehte sich um und ging auf die Eingangstür zu. Seine Beine fühlten sich an wie Blei. Stephanie fuhr weg.
(Sie sollte vor ihrer Wohnung ebenfalls einen Überraschungsgast vorfinden: Ihr Bruder Philipp war auf einem Ärztekongress in Innsbruck gewesen, schaute spontan bei seiner Schwester vorbei – was äußerst selten war – und übernachtete bei ihr. Am nächsten Tag wollte er in ein Wellnesshotel, um sich noch ein wenig zu entspannen, und fragte sie, ob sie nicht Lust hätte, mitzukommen, doch sie lehnte ab, sie musste einen Auftrag fertig machen. Sie empfahl ihm das Interalpen-Hotel Tyrol.)
In diesem Buch geht es um eine Familie. Die Familie ist so gewöhnlich wie ihr Name: Bergmüller. Gibt es einen gewöhnlicheren Namen? Außer Maier und Müller vermutlich nicht.
Da Familie Bergmüller aus vielen Personen besteht, ist es unerlässlich, alle vorzustellen. Vorneweg: Es ist eine tatsächlich ganz gewöhnliche Familie. Das werden Sie, lieber Leser, liebe Leserin, in der Geschichte bald merken, ob an der Tatsache, dass der älteste Sohn auf Facebook tausendvierundfünfzig Freunde hat, im wirklichen Leben aber nur einen, oder an der Tatsache, dass die mittlere Tochter von einem Tag auf den anderen aufhört, Fleisch zu essen. Oder daran, dass der vierzigjährige Vater in einem Teil des Landes, und zwar am Wochenende, der liebevolle Familienvater und im anderen Teil des Landes, von Montagmorgen bis Freitagmorgen, der aufregende Liebhaber ist. Oder daran, dass der zweiundsiebzigjährige Opa der perfekte Schwiegervater ist, der seine Schwiegertochter schätzt und unterstützt, wo es nur geht, und sich ihren Körper manchmal nackt vorstellte (als er noch jünger war), hingegen mit seinem Sohn kein einziges freundliches Wort spricht. Oder daran, dass die neununddreißigjährige Mutter sich oft im Spiegel betrachtet und sich daran erinnert, wie sie als junge Frau von einem außergewöhnlichen Leben träumte.
Sehen Sie? Familien dieser Art gibt es zu Hunderttausenden in ganz Europa, vermutlich in der ganzen Welt.
Die Hauptfigur ist eindeutig Katharina Bergmüller.
Sie ist Mutter von vier Kindern, von denen nur eines geplant war. Deswegen hatte sie lange Zeit Komplexe, denn in ihrem früheren Weltbild wurden nur asoziale Menschen ungewollt schwanger. Als die Kinder noch kleiner waren und sie mit ihnen in der Stadt unterwegs war, im Buggy ein schreiendes Baby, an der Hand ein trotziges Kleinkind, hinter ihr zwei schmollende größere Kinder, trafen sie die Blicke der Passanten wie Blitze und sie glaubte vor lauter Scham im Erdboden versinken zu müssen. Sie interpretierte die Blicke als abschätzig und schrieb ihnen folgende Gedanken zu: Können die nichts anderes als Kinder in die Welt zu setzen und dann Beihilfen zu kassieren?
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