Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Reich und schön am Dürrnberg – Martin Ruprechts zweiter Fall! Martin Ruprecht, Chefinspektor des Landeskriminalamts Salzburg, wird nachts am Dürrnberg zufällig Zeuge eines Unfalls. Jonas, der junge Erbe der Röhm Chemie aus Hallein, ist mit seinem Sportwagen gegen eine Felswand geprallt und wurde schwer verletzt. Ruprecht irritieren einige Ungereimtheiten bei dem mutmaßlichen Unfall und er beschließt, gegen den Widerstand der lokalen Polizei der Sache nachzugehen. Sehr bald stößt Ruprecht auf einen pharmazeutischen Konzern aus der Schweiz, der rücksichtslos versucht, die kleine Salzburger Firma zu übernehmen. Sein kriminalistischer Spürsinn sagt ihm, dass die Sache wesentlich größer ist, als zunächst angenommen. Aber welches Interesse kann ein internationaler Multi an der Röhm-Chemie haben? Hat Stefan Rottwanger, der undurchschaubare CEO der Schweizer, seine Hände im Spiel? Und steckt gar der windige Lobbyist Havenbrook aus Holland hinter dem Unfall? Als Jonas seinen Verletzungen erliegt, weiß Ruprecht, dass er schnell handeln muss, wenn er den Drahtzieher noch stellen will, bevor dieser untertaucht. Er folgt ihm bis nach Amsterdam, wo in den Grachten eine beispiellose Jagd beginnt. - Ebenfalls erhältlich: Band 1: BLANKE GIER. Inspektor Ruprecht und die Kunst - In Planung: Band 3: BITTERE QUELLEN. Inspektor Ruprecht und das Wasser
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 348
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Ernst Kaufmann
Inspektor Ruprecht und die Schönheit
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2023 Verlag Anton Pustet
5020 Salzburg, Bergstraße 12
Sämtliche Rechte vorbehalten.
Coverillustrationen © autsawin uttisin/shutterstock.com
© javarman/shutterstock.com, © Hekla/shutterstock.com
Titelillustration: Ernst Kaufmann
Grafik, Satz und Produktion: Tanja Kühnel
Lektorat: Martina Schneider
zusätzliche Korrekturen: Rosemarie Fürst
Auch als Hardcover erhältlich:
ISBN 978-3-7025-1088-6
eISBN 978-3-7025-8104-6
www.pustet.at
Wir bemühen uns bei jedem unserer Bücher um eine ressourcenschonende Produktion.
Alle unsere Titel werden in Österreich und seinen Nachbarländern gedruckt.
Um umweltschädliche Verpackungen zu vermeiden, werden unsere Bücher nicht mehr einzeln in Folie eingeschweißt. Es ist uns ein Anliegen, einen nachhaltigen Beitrag zum Klima- und Umweltschutz zu leisten.
Bleiben wir in Verbindung – melden Sie sich hier zu unserem Newsletter an
Dienstagnacht
Hallein
Genf
Splitter
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Handlanger
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Opferlohn
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Dead End
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Zwei Wochen später
Hallein
Dahnberg
Kulinarium
Römischer Auflauf
Biervlees met Dumplings
Speckknödel in Tomatensauce
Zubereitung
Palak Paneer mit Curry
Zubereitung
Hannas Cheddarkekse
Dank
Einfacher, als eine Lösung zu finden, ist es, den zu kaufen, der sie hat.
Stephan Rottwanger
Das fahle Licht des abnehmenden Mondes, der wie eine schmale Sichel über dem Dürrnberg stand, wurde durch die aufziehenden Wolkenbänke fast völlig verdeckt. Sie brachten einen feinen Nieselregen, in dem sich die Felswand an der Gabelung der neuen mit der alten Landesstraße als dunkler Schatten auf den Asphalt der Fahrbahn legte.
Er hatte sein Auto direkt in der langgezogenen Kurve seitlich neben der Kreuzung abgestellt. Das Warten zehrte bereits seit einer halben Stunde an seinen Nerven. Fahrig tastete er nach den Zigaretten, zündete sich eine an und kurbelte das Fenster ein Stück nach unten. Die kühle Nachtluft tat gut und vertrieb die ständig wiederkehrenden Bilder aus dem Kopf, mit denen er sich den Ablauf seines Plans immer wieder ausmalte.
Würde alles funktionieren? Tat er überhaupt das Richtige? Das Grübeln quälte ihn bereits mehrere Tage, schon seit er begonnen hatte Jonas auszuspionieren – wo dieser abends hinfuhr, wie lange er dort blieb und welchen Weg er dann nach Hause nahm. Die Sache war einfacher gewesen als gedacht. Jonas verbrachte beinahe jeden Tag in einer kleinen Bar bei Berchtesgaden, die neben harten Drinks und lauter Musik auch Mädchen anbot. Dort blieb er bis zur Sperrstunde um Mitternacht und fuhr dann im Renntempo über die verschlafenen Landesstraßen zurück nach Hallein. Es lag also nahe, die Sache auf dieser Strecke zu erledigen. Nachts gab es hier keine Zeugen.
Er hatte den Auftrag aus einer Laune heraus angenommen. Es gab eine Menge Kohle dafür und er war an dem Abend schon ziemlich betrunken gewesen. Außerdem mochte er die verwöhnten Reichen nicht, die nur auf Kosten anderer lebten. Mit Jonas würde es endlich einmal den Richtigen treffen. Und wenn es so lief, wie er es sich ausgedacht hatte, würde es keine Spur geben, die ihn irgendwie damit in Verbindung brachte. Das hoffte er zumindest.
Er sah auf die Uhr – Punkt zwölf. Jonas musste gleich kommen, es war keine Zeit mehr für Gewissensbisse. Hastig zog er ein letztes Mal an seiner Zigarette, drückte sie in den Aschenbecher und stieg aus. Er ging zwei Schritte vom Fahrzeug weg zur Straßenmitte und spähte durch die Bäume in Richtung der deutschen Grenze, die nur einige hundert Meter entfernt lag. Tagsüber verdeckte ein bewaldeter Hügel den Straßenverlauf, aber nachts warfen die Scheinwerfer deutliche helle Streifen durch die Bäume. Überhaupt, wenn es so dunkel wie heute war, konnte man ein Fahrzeug mit aufgeblendetem Fernlicht kilometerweit sehen.
Es dauerte weitere endlose Minuten, dann sah er den Reflex des Lichts über den Wipfeln. Zehn nach zwölf – stimmte genau. Er hatte es selbst schon ausprobiert: drei Minuten vom Lokal zum Auto, sieben Minuten Fahrzeit bis über die Grenze. Das musste Jonas sein, sonst war um diese Zeit hier niemand unterwegs. Und er würde in genau einer Minute da sein.
Er startete sein Auto, ließ es mitten in die Kurve hineinrollen, wo er es mit laufendem Motor und angezogener Handbremse abstellte. Dann drehte er das Licht auf, sprang hinaus, lief zum Straßenrand und duckte sich hinter das massive Eisengitter der Straßenbegrenzung.
Jonas hetzte den Mustang in einem Wahnsinnstempo vorbei am Ziller Steinbruch und dann über die bewaldete Kuppe hinunter zur Grenze, die man lediglich durch die blaue Tafel mit Republik Österreich im gelben Sternenkreis wahrnahm.
Die Heimfahrt von der Bar genoss er stets in vollen Zügen als ultimativen Schlusspunkt des Abends. Er war zwar gern mit Rita in ihrem winzigen Zimmer oberhalb des Lokals zusammen, doch den noch größeren Lustgewinn verschaffte ihm das freigesetzte Adrenalin der stürmischen Fahrt auf der nächtlich leeren Strecke danach. Es gab ihm ein Gefühl der Freiheit, die sonst wahrscheinlich nur Freeclimber erfuhren, wenn sie auf zwei Fingern hängend über einem Abgrund baumelten.
Die Gegend war ausgeblendet, nur einzelne Konturen der Berglandschaft standen in der Dunkelheit als flache schwarze Pappkulisse vor ihm, aus der die vorauseilenden Scheinwerfer das Band der Straße herausschälten. Wie in einem Computerspiel raste er in das Bild vor der Windschutzscheibe hinein. Seine Bestzeit von der Bar in Berchtesgaden bis zur Halleiner Stadtbrücke waren bislang achteinhalb Minuten, die er noch zu unterbieten versuchte.
Unmittelbar nach der Anhöhe schaltete er zurück in die Zweite, um mit dem schweren Wagen die scharfe Einmündung in die Landesstraße zu schaffen. Danach kam seine Lieblingsstelle – eine breite, langgezogene Rechtskurve, die die Fahrbahn wie auf einer Rennstrecke in die Gegenrichtung drehte.
Sein Mustang nahm die Stelle, die nachts genügend Platz bot, locker mit hundertdreißig. Besonders wenn Regen, so wie heute, die Fahrbahn etwas schmierig werden ließ, konnte man das Heck zum Ausbrechen bringen und wie mit einem Gokart um die Ecke driften. Allerdings musste man höllisch aufpassen, denn am Ende der Kurve mündete die alte Dürrnbergstraße ein, und direkt an der Kreuzung der beiden Fahrbahnen stand ein schroffer haushoher Felsen mit Gedenktafeln der hier Verunglückten.
Jonas war sich sicher, dass ihm so etwas nie passieren würde und belächelte die Sonntagsfahrer oft. Er kannte hier jeden Zentimeter wie seine Westentasche und fing das Auto immer genau am richtigen Punkt ab.
In dem Augenblick, als er zum Schalthebel griff, blitzte es vor ihm auf. Da ist jemand auf meiner Fahrbahn, durchzuckte es ihn. Die fremden Scheinwerfer kamen rasend schnell näher, sein Tacho stand auf satten Hundertzwanzig und das fremde Licht sprang förmlich auf ihn zu. Im momentanen Schock des bevorstehenden Aufpralls riss er instinktiv am Lenkrad, trat gleichzeitig auf die Bremse und versuchte, den Wagen mit der harschen Aktion zur Seite in die alte Straße hineinzulenken.
Wie in Zeitlupe schlitterte der Mustang in die Kreuzung, streifte etwas mit einem hellen Klirren und drehte sich dann auf die andere Seite. Jetzt waren es nicht mehr die Lichter, die er auf sich zujagen sah, sondern der Felsen am Straßenrand. Von dem grellen Fernlicht angestrahlt schien er unwirklich weiß, und die Äste der Büsche davor reckten sich Jonas wie ausgestreckte Hände entgegen.
Er wollte schreien, seiner Angst Luft machen, doch stattdessen bemerkte er, dass Bushido mit einem Rap aus den Boxen dröhnte – Schmetterling.
Seltsam, dachte er noch, war das Radio wirklich die ganze Zeit an?
Dann nahmen ihn die dunklen Büsche in ihre Arme.
Durch die Bäume am Quai du Mont-Blanc spiegelten sich die Lichter vom gegenüberliegenden Ufer des Sees. Davor schaukelten einige mit hellen Planen abgedeckte Boote auf der nächtlich schwarzen Wasseroberfläche.
Piet Havenbrook hatte sich im Cottage Café, dem gemütlichen Treffpunkt am Südufer, einen schnellen Imbiss genehmigt. Wann immer er in Genf zu tun hatte, kehrte er in dem urigen Lokal mit den dunkel gestrichenen Holzwänden und den gemütlichen roten Lederbänken ein. Die private Atmosphäre empfand er als angenehmen Gegensatz zu den geschäftlichen Terminen.
Havenbrook arbeitete bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur EMA in Amsterdam, die eine zentrale Rolle bei der Zulassung und wissenschaftlichen Bewertung von Präparaten in der Europäischen Union spielte. Die Abgesandten der großen Pharmafirmen versuchten deshalb ständig, Druck auf seine Behörde auszuüben und sich gegenseitig mit neuen Wirkstoffen zu übertrumpfen.
Hier in dem kleinen Café gab es keine aufdringlichen Bittsteller, die versuchten, ihn für ihre Sache einzuspannen. So konnte er in Ruhe über seine nächsten Schritte nachdenken und sich auf Gespräche vorbereiten. Er war wegen eines Treffens der EU-Gesundheitsminister in Genf und nahm gleichzeitig die Gelegenheit wahr, seinem einträglichen Zusatzverdienst nachzugehen. Seit geraumer Zeit arbeitete er für die Biodon AG als Lobbyist. Der Schweizer Konzern gierte geradezu nach neuen Verkaufsfeldern und war für alle Erweiterungen offen. Über den Passus in seinem Dienstvertrag, der diese Art von Tätigkeiten verbot, machte er sich keine großen Gedanken. Jeder der Beamten hatte eine derartige Klausel in seinem Vertrag stehen, und kaum einer hielt sich daran.
Er sah auf die Uhr, stand auf, zahlte den Spinatstrudel und das Glas Wein und ging hinüber ins Kempinski, das fünf Minuten entfernt an der Promenade lag. Die Nacht fühlte sich trotz Anfang Mai recht kalt an und er war noch immer verärgert darüber, dass ihn der Konzernchef so spät zu einer Besprechung zu sich beorderte.
Der Vorstandsvorsitzende der Biodon saß in der Lounge der zweiten Etage des Luxushotels bei einem Wodka Sour und blickte bereits ungeduldig durch das große Panoramafenster auf die Lichter des Seeufers hinunter. Es war drei Minuten nach der vereinbarten Zeit und er hasste unpünktliche Menschen.
Alles im Leben des Stephan Rottwanger lief nach einem exakten Plan, nichts überließ er dem Zufall und verlangte auch von seinen Mitarbeitern eine strikte Einhaltung der von ihm vorgegebenen Strategien. So hatte er es bereits mit Mitte vierzig und ohne akademische Würden zum Chef des zweitgrößten Schweizer Pharmaunternehmens gebracht.
Rottwanger – ursprünglich im Management der Finanzabteilung – übernahm den Konzern nach dem überraschenden Unfalltod des alten Vorsitzenden quasi in einem Handstreich. In der allgemeinen Verwirrung, die das plötzliche Machtvakuum der fehlenden Leitung auslöste, gelang es ihm, die Bank für die Finanzierung der Übernahme zu gewinnen. Zur Besicherung gab er die Offshore-Konten des Konzerns an, wo die inoffiziellen Reserven lagerten. Als Finanzmanager wusste er über diese Gelder natürlich Bescheid, die man – an der Steuerbehörde vorbei – für Bestechungen und Absprachen verwendete. Dass er damit den Konzern mit dessen eigenem Geld kaufte, kümmerte die Bank, die wegen des einbrechenden Aktienkurses bereits Verluste befürchtete, nur wenig. Und so übernahm Rottwanger nicht nur die Leitung, sondern auch das Aktienpaket des Vorbesitzers.
In dem Wunsch nach einer immer bedeutenderen Marktposition hatte er in den folgenden Jahren bereits einige schwächere Konkurrenten aufgekauft und wollte jetzt unbedingt noch diese Salzburger Firma haben. Obwohl er die paar Millionen praktisch aus der Portokasse bezahlt hätte, war der Kauf schon einmal an der Sturheit des alten Besitzers gescheitert. Und auch der neuerliche Versuch lief anscheinend nicht reibungslos. Deshalb hatte er Havenbrook zum Rapport bestellt.
»Guten Abend«, sagte dieser mit einer Entschuldigung wegen der Verspätung und setzte sich auf einen der Fauteuils.
Rottwanger nickte etwas herablassend. Wie immer trug der sportliche Konzernchef auch am späten Abend eine dezent karierte Hose mit einem englischen Tweedsakko und hob sich schon dadurch von dem untersetzten Holländer mit dem rötlich verschwitzten Gesicht in seinem grauen Alltagsanzug ab.
»Und?«, fragte er direkt, ohne die Begrüßung seines Lobbyisten zu erwidern. Obwohl sie einander schon lange kannten, war der Gesprächsstoff bei ihren Treffen ausschließlich auf geschäftliche Dinge beschränkt. »Gibt es Neuigkeiten?«
»Ja, es geht in die gewünschte Richtung.«
Rottwangers Augen wurden um eine Nuance schmäler. Er verabscheute derart nichtssagende Floskeln. Dass es in die von ihm gewünschte Richtung ging, war selbstverständlich und brauchte nicht eigens erwähnt zu werden.
Havenbrook spürte die eisige Stimmung und versuchte, die Sache näher zu erläutern. »Der Plan ist …«
»Belasten Sie mich bitte nicht mit Details«, unterbrach ihn Rottwanger schroff. An längeren Erklärungen über Dinge, die nötig waren, um eine Sache erfolgreich durchzuziehen, fehlte ihm jegliches Interesse. »Wann kann ich mit den Verträgen rechnen?«
»Wir werden sie demnächst finalisieren«, erklärte Havenbrook eifrig. »Ich fliege Ende der Woche nach Salzburg, die Sache kommt gerade ins Laufen.«
Ruprecht war erst vor einer Viertelstunde aus Salzburg weggekommen und hielt unterwegs zum Tanken an der Jet in Hallein, die lag am Weg und hatte nachts offen. Die Reflexe der grellen Spots über den Zapfsäulen der Tankstelle weckten Ella. Verschlafen hob sie den Kopf und spähte hinaus.
»Du kannst weiterschlafen«, sagte er über die Schulter nach hinten und hielt an. »Wir brauchen nur Sprit und ich hol mir schnell einen Kaffee.«
Er stieg aus, streckte sich und sah auf die Uhr. Gleich eins und noch fast eine Stunde bis Hallstatt. Es wäre besser gewesen, Konstanze abzusagen, dachte er und gähnte.
Sie hatten am frühen Abend telefoniert und wollten seinen morgigen Urlaubstag gemeinsam verbringen. Das Verhör in der Alpenstraße hatte aber deutlich länger gedauert als erwartet und volle vier Stunden gebraucht, bis sie endlich eine halbwegs vernünftige Aussage bekamen.
Er zahlte im Shop, nahm sich einen Espresso im Pappbecher mit und blieb damit an den Wagen gelehnt stehen. Als sie vom LKA wegfuhren, hatte es genieselt, inzwischen war der Himmel wieder klar und die Straße trocknete langsam auf. Die frische kühle Luft tat gut und vertrieb die Müdigkeit ein wenig. Zuvor war Leonard Cohen auf Ö3 gelaufen – die ruhigen Klänge und seine rauchige Stimme passten perfekt zu der nächtlichen Stimmung auf der Tauernautobahn, lösten aber eine ziemliche Schläfrigkeit aus.
Er öffnete die Tür einen Spalt und kraulte Ella hinterm Ohr. Sie hob nur kurz den Kopf von der Decke und rollte sich auf die andere Seite. Er grinste in der Dunkelheit, offenbar wirkte Cohens Stimme auch auf Spanieldamen beruhigend.
Vom Almbach herunter kamen blaue Einsatzlichter auf die Tankstelle zu – Polizei. Wenige Meter dahinter bog ein weiteres Einsatzfahrzeug aus der Nebenstraße heraus. Es war ein Rettungswagen des Roten Kreuzes, das direkt gegenüber die Einsatzzentrale hatte. Ruprecht richtete sich auf, um besser über den Tankautomat sehen zu können.
Wahrscheinlich ein Unfall auf der Autobahn, nahm er an und überlegte bereits, ob er das Stück bis zur nächsten Auffahrt die Bundesstraße nehmen sollte, um nicht in eine Sperre zu geraten. Aber sie bogen nicht zum Zubringer ab, sondern mit quietschenden Reifen zur Innenstadt hinein.
Was konnte mitten in der Nacht in dem verschlafenen Hallein geschehen sein?
Die unerwartete Richtung der vorbeieilenden Einsatzkräfte und das forsche Tempo weckten Ruprecht aus seiner gemächlichen Stimmung. Augenblicklich war er munter und beschloss, sich die Sache anzusehen. Obwohl er gleichzeitig vor sich hinmurmelte, dass ihn das Ganze gar nichts angehe, warf er den Becher mit dem restlichen Espresso in den Abfall, sprang ins Auto und hoffte, dass er den Anschluss nicht verlieren würde. Sein alter Volvo, eine Amazone aus den Sechzigerjahren, war für schnelle Verfolgungsfahrten nicht wirklich gut geeignet.
Auf der Brücke über die Salzach stoppte er und starrte die Häuserkulisse am Fluss gegenüber an. Die Ampeln warfen ihr farbiges Licht in Streifen auf die Fahrbahn, die Fußgängerzone von gegenüber lag still unter der fahlen Straßenbeleuchtung und die Schaufenster der meisten Geschäfte waren bereits dunkel. Alles schien menschenleer, keine Spur von einem nächtlichen Einsatz.
Verdammt! Er war doch nicht weit hinter ihnen gewesen. Wo waren sie, hatte er sie verloren?
Er beugte sich vor, blickte nach beiden Seiten und sah nun einen schwachen blauen Lichtschein hinter den Häusern der Altstadt. Das mussten die beiden Fahrzeuge sein, denen er gefolgt war. Im selben Moment blitzte über den Dächern der Volksbank und des Stadtkinos das Blaulicht des voranfahrenden Polizeiwagens vom Hügel herüber. Sie waren also hinauf zum Dürrnberg unterwegs.
Er war zufrieden, dass sie ihn nicht abgehängt hatten, fuhr erleichtert hinunter auf die Pernerinsel und nahm die Promenade mit Neunzig. Draußen auf der Landesstraße würde er sie schon einholen.
Außerhalb der Festspiele gab es hier um diese Zeit keinen Verkehr. Den Kreisverkehr nach der alten Saline kürzte er einfach ab und wollte gegen die Fahrtrichtung gleich nach links auf die Salzburgerstraße hinausbiegen. Plötzlich sah er ein Blaulicht aufleuchten und gleichzeitig schossen ein Kommandowagen und ein Rüstfahrzeug der Halleiner Feuerwehr mit ziemlichem Tempo in die Kreuzung. Er konnte den Volvo gerade noch anhalten, bevor der LKW vorbeidonnerte und zur Warnung jetzt auch die Sirene aufheulen ließ.
Nach einer Schrecksekunde atmete Ruprecht scharf aus und wischte sich über die Stirn. Auf Ellas Unmutslaut, die durch sein Bremsmanöver auf der Rückbank kräftig durchgeschüttelt worden war, murmelte er eine Entschuldigung nach hinten. Normalerweise vermied er mit dem Oldtimer wegen der hart gefederten Starrachse und des Hinterradantriebs solche Aktionen.
Durch den kurzen Schock war auch der letzte Rest seiner Müdigkeit verflogen und er folgte den beiden, die wie erwartet die scharfe Abzweigung in die Rampe zum Dürrnberg hinauf nahmen.
Bereits nach einem Kilometer, unmittelbar nach der Überbauung der Straße zum Schutz vor Steinschlag von den steilen Hängen, stand ein Polizeiwagen schräg über die Fahrbahn. Die Einsatzfahrzeuge nahmen die Spur der Gegenseite und fuhren, ohne sich darum zu kümmern, vorbei. Als Ruprecht ihnen in einigem Abstand folgen wollte, versperrte ihm ein Beamter mit roter Kelle den Weg. Er deutete, dass die Straße gesperrt sei und wies mit seinem ausgestreckten Arm zum Fuchsturm und dem Parkplatz bei dem alten Halleiner Stadttor. Ruprecht ließ sich davon nicht beirren, sondern fuhr bis zu dem Polizisten. Der schüttelte energisch den Kopf und begann mit einer unfreundlichen Zurechtweisung, verstummte aber sofort, als er im hinuntergekurbelten Fenster den Dienstausweis sah.
»Entschuldigung, Herr Chefinspektor«, kam es nach einem Blick auf Ruprechts Dokument bedeutend freundlicher. »Ein Stück weiter oben gibt es einen schweren Unfall, und ich hab die Anweisung, niemanden …«
»Schon gut«, unterbrach ihn Ruprecht. »Wo genau?«
»Bei der Einmündung der alten Straße.«
»Danke«, sagte Ruprecht noch, fuhr aber bereits weiter.
Nach einigen hundert Metern sah er die Einsatzfahrzeuge auf der bezeichneten Stelle stehen und parkte den Volvo in einer Ausweiche am Straßenrand. Er nahm Ella an die Leine und spazierte das letzte Stück zu Fuß hinauf.
Die Straße in der langgezogenen Kurve war sehr schmal, gerade zwei Fahrspuren breit, ohne eine Möglichkeit, bei unerwarteten Geschehnissen irgendwohin auszuweichen. Auf der Innenseite lag die Fahrbahn etwas erhöht und war mit schweren eisernen Leitstreben abgesichert, die Außenseite hingegen bestand aus bloßen Felsen. Mit Geröllschutzmatten bespannt ragten sie unmittelbar an der Fahrbahn auf. Hier gab es nicht einmal eine Leitplanke. Kam man in der Kurve ins Schleudern und rutschte von der Straße, prallte man direkt in die Steinwände.
Und genau das schien hier geschehen zu sein. Ein roter Sportwagen steckte förmlich in dem Felsen bei der Einmündung der alten Landesstraße. Es sah von der Ferne so aus, als wäre die halbe Schnauze darin verschwunden. In Wahrheit musste sich die Front durch den Aufprall ein großes Stück zusammengeschoben haben und nach der aufgerichteten Stellung der Vorderachse zu urteilen, hatte es den Motor unter die Fahrgastzelle gedrückt.
Die Feuerwehr richtete zwei Flächenscheinwerfer aus, die den Wagen und die Kreuzung in ein grelles Licht tauchten. Ruprecht kniff die Augen zusammen, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen und zog Ella, die beim Aufflammen der starken Spots erschrak und leise knurrte, näher zu sich.
Er blieb mit ihr vorerst im Halbdunkel auf der Gegenfahrbahn und versuchte, sich mit einem gewissen Abstand einen groben Überblick zu verschaffen. Das war sein übliches Vorgehen. So bekam er schneller ein Gefühl dafür, wie Dinge abgelaufen sein könnten. Im Unterschied zu vielen seiner Kollegen, die bei jeder Sache gleich in greifbare Fakten eintauchten und einzelne Details zueinander in Bezug setzten, trat er am Beginn lieber zurück und betrachtete alles wie ein Außenstehender. Als halber Jurist – eine Bezeichnung, die er sich selbst oft gab, da er sein Jus-Studium zugunsten der Polizeiausbildung abgebrochen hatte – näherte er sich gern langsam an, versuchte, falsche Schlussfolgerungen zu vermeiden und zog seine Kreise von außen nach innen. So behielt er den Überblick und seine Lust am Lösen von heiklen Fällen, wobei er nicht annahm, dass dies hier einer sein würde.
Die Szenerie wirkte irreal in dem grellen Licht, das alles rundum in einem absoluten Dunkel verschwinden ließ, fast wie ein Stück auf einer Bühne. Die Rücklichter des Wagens brannten noch, der Dampf des Kühlwassers stieg in einer weißen Säule aus der geknickten Motorhaube und die Pfützen des ausgelaufenen Öls schillerten blaugrün. Dazu wirkten die eingespielten und sowohl abgezirkelten wie wortlos ausgeführten Bewegungen der Feuerwehrleute, die pneumatische Spreizer und Bergeschere für die Öffnung des Fahrzeugs ausluden, auf Ruprecht wie ein skurriles Ballett.
Offensichtlich versuchten die Rettungsleute, ein im Fahrzeug befindliches Unfallopfer zu versorgen. Einer der Sanitäter steckte durch das Beifahrerfenster bis zur Hüfte in dem Wagen, ein zweiter an der Fahrerseite hielt einen Infusionsbeutel. Bei dem Sportwagen handelte es sich um einen knallroten Ford Mustang. Ruprecht konnte das Baujahr nicht genau zuordnen, er sah aber ziemlich neu aus.
Ein anderes Fahrzeug gab es nicht, auch fanden sich im Straßenverlauf keine Hindernisse, die im Weg lagen. Er war also einfach von der Straße abgekommen und gerade aus der Kurve geflogen. Was Ruprecht nicht wunderte, so wie das Auto aussah, war das Tempo sicher enorm gewesen.
Einige Flecken von der Bremsspur waren im Halbdunkel zu erkennen. Sie liefen von der Mittellinie zwischen den Fahrbahnen gerade nach außen zu dem Felsen. Der Lenker hatte die Kurve demnach sportlich geschnitten, die Kontrolle über den Mustang verloren und das Schleudern durch sein Bremsen wahrscheinlich noch verstärkt.
Obwohl sich dieser Eindruck sofort aufdrängte, wunderte es Ruprecht trotzdem, dass sich keiner der Polizisten um die Spuren kümmerte. Für sie war ein Selbstverschulden durch überhöhte Geschwindigkeit und Fahrfehler anscheinend so klar, dass sie es als unnötig erachteten. Ganz automatisch nahm er sein Mobiltelefon und machte einige Aufnahmen von dem Straßenstück und der Unfallstelle.
»Heh, des is net für Schaulustige!«, schrie ein Mann, der durch das Blitzlicht des Handys aufmerksam geworden war, in breitem Dialekt von der anderen Straßenseite. »Lass des g’fälligst und mach an Abgang!«
Er kam mit schnellen Schritten über die Straße. Es war ein älterer Polizist in Uniform. Ruprecht legte Ella die Hand auf die Schnauze, damit sie den zornigen Fremden nicht verbellte und damit unnötigen Wirbel verursachte. Der Polizist stoppte jedoch einige Schritte vor den beiden und schaute ungläubig.
»Ruprecht?«, sagte er dann, und schien total überrascht zu sein. »Martin Ruprecht?«
Ruprecht bejahte automatisch, nicht sicher, wen er vor sich hatte.
»Aber was macht denn da Chef vom Blut aus Salzburg do bei unsern Unfall?«
Ruprecht musste über die Bemerkung trotz der ernsten Situation schmunzeln. Chef vom Blut war eine äußerst saloppe Bezeichnung für den Leiter der Mordabteilung im Landeskriminalamt. Jetzt erkannte er den anderen auch – Bezirksinspektor Roland Fuchs. Mit dem hatte er bei einem anderen Fall zu tun gehabt und ihn als äußerst pragmatischen Beamten in Erinnerung, der sich mehr um das Gelingen einer Sache kümmerte als um die Vorschriften. Das war jedoch vor einigen Jahren gewesen; der ältere Inspektor musste ein ausgezeichnetes Personengedächtnis haben, ihn hier in der Dunkelheit sofort zu erkennen. Er streckte ihm die Hand entgegen.
»Hallo Roland«, sagte er freundschaftlich. »Ist schon eine Weile her.«
»Ja, richtig, wir warn per Du …« Er schüttelte Ruprecht kräftig die Hand. Dann deutete er über die Schulter zu dem Unfallwagen. »Also, Martin, warum interessiert dich die Schweinerei? Du wirst uns doch hoffentlich net dreinpfuschn!«
»Hab ich nicht vor, ich war zufällig unten in Hallein und wollt nur schauen, was los ist.« Ruprecht schlug einen vertraulichen Tonfall an. »Was habts denn bis jetzt?«
Fuchs kratzte sich am Hinterkopf. »Na, eigentlich net viel, aber ich glaub, es is eh alles klar. Gemma rüber, dann kannst ja an Blick drauf werfen.«
Er ging voraus und Ruprecht folgte ihm ins helle Licht zur Unfallstelle. Zu einem seiner Kollegen, der mit fragendem Blick auf die beiden zukam, sagte Fuchs nur knapp: »Passt scho, des is der Ruprecht vom LKA.«
Der Gerätemeister von der Feuerwehr hatte die wuchtigen Spreizer platziert und die Geräte drückten die verzogene Tür wie Butter auf – nicht verwunderlich bei einem Druck von 25 Tonnen. Das restliche Glas barst aus dem Rahmen, splitterte zu Boden und das dumpfe Blechgeräusch, das sich wie ein heiseres Kreischen anhörte, spürte Ruprecht unangenehm bis in die Magengrube.
Der Sanitäter auf der Beifahrerseite hielt die Person am Sitz fest, damit sie nicht aus der sich langsam öffnenden Seitenwand kippte. Blut rann über den verbogenen Türschweller, tropfte hinunter auf den Schotter neben dem Asphalt und bildete eine dunkle Lache. Vorsichtig hoben sie das Unfallopfer aus dem Sportwagen – Ruprecht sah, dass es ein junger Mann war – und versuchten, ihn vorsichtig und, ohne den Körper zu viel zu bewegen, auf eine Trage zu bekommen. So eine Bergung war ein enormes Risiko, da der Rettungsarzt nicht wissen konnte, ob ein Wirbel gebrochen war – dann konnte die kleinste Verschiebung eine Querschnittslähmung bedeuten.
Obwohl die Airbags ausgelöst hatten, gab es auf der Stirn des Mannes eine lange Wunde und ein Teil des Haaransatzes war weggerissen und das über die Wange gelaufene Blut begann langsam zu trocknen. Fuchs sah Ruprechts Blick.
»Des is wahrscheinlich vom Rahmen über der Scheibn, den hats komplett eindruckt«, sagte er dazu und deutete dann auf die Beine des Opfers. »Aber noch ärger san leider de Haxn beinand …«
Ruprecht folgte seiner Handbewegung, wendete sich aber in der Sekunde wieder ab. Ein Bein des jungen Mannes musste unter dem Knie abgetrennt worden sein, es hing nur mehr an der verdrehten Hose fest, die wie ein nasser Lappen mit dem austretenden Blut vollgesogen war, aus dem Oberschenkel des anderen Beins stand ein Stück des Knochens aus dem Fleisch.
»Ja«, meinte Fuchs. »Des is net schön!«
Der Verwundete war am Leben, wie der Arzt bestätigte, hatte aber eine Menge Blut verloren und war nicht ansprechbar. Sie luden ihn in den Rettungswagen.
»Bringt ihr ihn nach Hallein?«, fragte Ruprecht den Fahrer des Transportfahrzeugs, während der Mann eingeladen wurde und der Arzt bereits mit der Erstversorgung begann.
»Nein, er kommt direkt in die Uniklinik nach Salzburg«, war die Antwort. »Bei uns ist die Intensiv im Moment zum Brechen voll, außerdem braucht es bei seinen Verletzungen ein großes Team, und die richten schon den OP her. Schaut aber angeblich nicht gut aus …«
Als der Rotkreuz-Bus weg war, wandte sich Ruprecht wieder Fuchs zu. »Was macht ihr weiter?«
»Na, net viel. Wir habn a paar Fotos gmacht, vermessen brauchn wir in dem Fall net, weils ja kan zweitn Beteiligten gibt.«
»Du schließt also vollkommen aus, dass jemand anderes in den Unfall verwickelt war?«
»Absolut! Da gibt’s kan Hinweis drauf.«
»Und wie habt ihr von dem Unfall erfahren?«
»War a anonymer Anruf.«
»Aha …«
»Geh bitte, Martin, ich weiß genau, was du denkst!« Fuchs deutete auf das Auto. »Aber schau dir doch an, was der für an Zahn draufghabt habn muss. Und a Mustang mit vierhundert PS und noch dazu mit Hinterradantrieb … Außerdem hats vorher g’regnet.«
»Die Kurve ist aber bestimmt zweihundert Meter lang, da hätte er doch eigentlich schon viel früher rausfliegen müssen und nicht erst ganz am Ende, oder?«
»Ka Ahnung? Des können dir unsere Experten aber sicher genauer erklären.«
»Und er hat erst ganz knapp vor dem Felsen gebremst, als hätte er absichtlich so lange gewartet, wo es dann schon zu spät war.«
»Du denkst, er wollt sich umbringen und hat dann die Courage verlorn?«
»Ich denke einmal gar nichts«, entgegnete Ruprecht. »Ich versuch mir nur ein Bild zu machen.«
»Wozu?« Fuchs sprang auf die Bemerkung sofort an und klang etwas eingeschnappt. »Is eh a Angelegenheit vom Verkehr, wir machn uns scho unsere Bilder.«
Ruprecht ließ ihn stehen und ging um das Wrack herum. An der Rückseite, als er das Nummernschild sah, stutzte er – Roehm 1. Er kannte nur eine Familie mit diesem prominenten Namen in Salzburg. Das waren die Eigentümer des bekannten Halleiner Pharmaunternehmens Röhm Chemie. Ruprecht wusste das deshalb, weil erst kürzlich der Tod des Industriellen Hermann Röhm alle Medien beherrschte, der den Konzern an seine beiden Kinder vererbt hatte. Das Echo darauf in der Presse war enorm gewesen.
»Ist dir die Nummer schon aufgefallen?«, fragte er Fuchs, während die Feuerwerker die lose hängende Fahrertür für den Abtransport vom Rahmen trennte.
»Na, wieso?«
»Das dürfte der junge Röhm sein, der unlängst die Firma von seinem Vater geerbt hat.«
Fuchs zuckte mit den Achseln. »Ich hab noch net ins Auto reinkönnen und ka Gelegenheit ghabt, die Papiere zu suchen. Wieso glaubst du des?«
»Wer sollte sonst in Hallein einen solchen Sportwagen mit dem Kennzeichen Roehm 1 fahren.«
»Aha. Und warum is des wichtig?«
»Kann ich nicht sagen, ist nur ein Gefühl. Nur wenn der Lenker tatsächlich ein Röhm-Erbe war, wird es ein gefundenes Fressen für die Presse werden. Du solltest dir die Sache also in jedem Fall genau anschauen und sie nicht gleich ablegen«, meinte Ruprecht und sein Tonfall war um eine Nuance deutlicher geworden. »Einiges an den Umständen scheint mir da nämlich nicht so klar zu sein, wie du meinst.«
Fuchs ließ sich davon nicht beeindrucken. »Geh bitte, Martin, mach doch kan Fall für die Kripo draus, nur weil der a Promi is!« Damit schob er Ruprecht ein Stück von der Unfallstelle weg. »Wir müssn jetzt auch weitermachn. Hat mi g’freut, dich zu sehn.«
Für die Verkehrsinspektoren war es immer unangenehm, wenn sich die Kriminalabteilung bei Unfällen mit nicht ganz erklärbaren Umständen einschaltete. Dann mussten sie übergenaue Berichte verfassen, man wurde mit einer Menge Fragen gequält, wieso man dieses oder jenes unterlassen hatte und kam sich oft wie ein Polizist zweiter Klasse vor. Und weil es danach nur selten einen Anlass für weitere Ermittlungen gab, empfand Fuchs das Ganze als reine Zeitverschwendung.
Ruprecht ließ Ella, die während des Gesprächs an dem Wrack herumgeschnuppert hatte, wieder ein Stück laufen und spazierte zurück zu seinem Auto. Im Gehen sah er auf die Uhr, es war mittlerweile zwei vorbei. Er verspürte überhaupt keine Lust mehr, noch eine Stunde bis nach Hallstatt zu fahren. Also nahm er sein Handy, um Konstanze eine Nachricht zu schicken und tippte, dass er doch länger gearbeitet habe und nicht mehr kommen würde. Dann überlegte er kurz und fügte den Satz an, er müsse überraschenderweise auch morgen – in Klammer heute – etwas Dringendes erledigen und seinen freien Tag leider verschieben.
Es war eine kleine Notlüge, aber er wollte sich ausschlafen und dann nochmals in Ruhe die Fotos, die er von der Unfallstelle gemacht hatte, durchsehen.
»Ist ja gut«, brummte Ruprecht verschlafen auf Ellas Winseln und zog sich die Decke über den Kopf, um weiterzuschlafen.
Nicht mit mir, dachte sie offenbar und stupste ihn mit ihrer kalten Schnauze an.
»Okay, okay!« Er richtete sich auf, gähnte herzhaft und blinzelte auf die Uhr am Nachttisch. Es war kurz vor sieben. »Du gehst vor, um acht war ausgemacht.«
Ruprecht warum halb drei heimgekommen und, ohne Licht zu machen, direkt ins Schlafzimmer gegangen. Eigentlich hatte er die Aufnahmen gleich am großen Computermonitor anschauen wollen, warf sich aber dann todmüde im T-Shirt aufs Bett. Morgen ist auch noch ein Tag, war sein letzter Gedanke.
Er sammelte seinen Pullover und die Jeans zusammen, die auf dem Boden neben dem Bett liegengeblieben waren, ließ Ella durch die Terrassentür hinaus auf die Wiese hinterm Haus und schlurfte ins Bad. Er vermied einen allzu intensiven Blick in den Spiegel. Ruprecht behauptete von sich zwar, nicht eitel zu sein, trotzdem ertrug er graue Bartstoppeln und den matten Blick nach einer anstrengenden Nacht nur schwer. Brennheiß geduscht, frisch rasiert und nach einer Tasse starken Kaffees sah man eben zehn Jahre jünger aus – mindestens.
Er holte sich eine bequeme Hose und seine schwarze Lederjacke aus dem Kasten, nahm Ella, die bereits ungeduldig am Zaun wartete, an die Leine und spazierte durch das Waldstück die zehn Minuten hinunter zum See.
Aus dem Pfad zwischen den Bäumen hinaus zum See zu treten, der den Blick auf St. Gilgen an der gegenüberliegenden Seite freigab, war für Ruprecht immer wieder ein Erlebnis. Der niedere Felsblock, auf dem er gern saß, war von der Nacht noch feucht, lag aber bereits in den ersten Sonnenstrahlen, die sich weiter draußen an der Oberfläche des Sees brachen. Die Büsche und Gräser entlang des Wassers standen Anfang Mai schon voll im Saft, und die Uferbank, die von der Promenade weg sanft in die Tiefe abtauchte, ließ das Wasser von einem gelblichen Schottergrau über ein helles Grün bis zum tiefen Dunkelblau schimmern.
Er zupfte etwas Moos von einem Stein ab und roch daran. Der erdig aromatische Geruch und das Farbenspiel des Sees hatten für ihn etwas mit Heimat zu tun, ein Begriff, den er sonst selten verwendete.
Er ließ Ella laufen und nahm den Weg hinein in den Ort. Es war noch etwas kühl, würde aber ein schöner warmer Frühlingstag werden, den man genießen sollte, da für die nächsten Tage wieder Schlechtwetter angesagt war. Trotz der frühen Stunde und des Wochentags war in den Bootshäusern entlang des Sees bereits reger Betrieb. Die meisten Eigner fuhren allerdings nicht hinaus, sondern überholten das Tauwerk der Segelboote, polierten die Beschläge am Deck und säuberten die Liegeplätze von dem im Winter angesammelten Schwemmgut.
Ruprechts Übersiedlung hierher an den Wolfgangsee war ein Zufall gewesen und – wie sich bald herausstellte – ein glücklicher. Als geborener Salzburger, der später in Wien studiert und dort die Polizeischule besucht hatte, fühlte er sich in seiner Jugend als Städter und hatte mit einem Leben am Land, wie er alle Gegenden außerhalb der urbanen Zentren bezeichnete, gar nichts am Hut. Als kurz nach seinem Vater die Mutter verstarb, wollte er das elterliche Haus in Aigen nicht übernehmen und suchte nach einer Wohnung in der Innenstadt Salzburgs. Nach einigen frustrierenden Besichtigungen und der Einsicht, dass mit dem Gehalt eines Polizeibeamten die wirklich lebenswerten Plätze deutlich zu kostspielig waren, bekam er das renovierungsbedürftige Haus in der Nähe von St. Gilgen angeboten und schlug spontan zu. Inzwischen waren zehn Jahre vergangen und er konnte sich gar nicht mehr vorstellen, in der Stadt zu wohnen.
Er ging am Seehotel vorbei – wie sollte ein Hotel am See auch sonst heißen – und bog dann beim Jachtclub zu der kleinen Pension ab, die sein Geheimtipp für ein süßes Frühstück nach einer kurzen Nacht war. Die Besitzerin, die selbst kochte und ihre Gäste verwöhnte, machte jeden Morgen etwas Süßes zum Frühstück. Ruprecht kannte sie seit Jahren gut und besaß das Privileg, anklopfen zu dürfen und etwas von den Köstlichkeiten abzubekommen. Auch heute war Frau Anna in der Küche, und er musste nicht einmal läuten. Das Fenster war offen und sie sah ihn schon kommen, als er um die Ecke bog.
»Da habn S’ aber grad noch Glück, Herr Inspektor«, meinte sie statt einer Begrüßung. »Um dreiviertel acht ist normalerweise schon alles weg.«
»Ich weiß, meistens komm ich früher, aber heute war ich schon mit Ella am See.«
Sie beugte sich hinaus. »Ja, wo ist denn mein Schatzi?«, fragte sie und begrüßte Ella, die vor dem Fenster hochsprang. »Keine Angst, ich hab eh was für euch.«
Sie ging kurz nach hinten in die Küche, kam mit einem großen Stück Kuchen auf einem Pappteller zurück und reichte ihn hinaus.
»Ein römischer Auflauf«, sagte sie dazu. »Ein uraltes Klosterrezept und von mir selbst verfeinert.«
»Was bekommen Sie?«
»Aber ich nehm doch von der Polizei kein Geld!«
»Dann ist es Bestechung«, meinte Ruprecht, grinste und setzte hinzu: »Ganz korrekt heißt es ja Anfüttern von Amtsträgern …«
»Na bitte«, entgegnete sie lachend. »Stimmt sogar!«
Etwas später saßen sie am Holzsteg beim Strandbad in der warmen Sonne. Der Römerauflauf war ein Gedicht! Nach dem alten Rezept eigentlich mehr ein schwerer Kuchen, traf er genau Ruprechts Verlangen und vertrieb den Hunger nach der kurzen Nacht. Schon als Jugendlicher hatte er seine Mutter oft mit dem Wunsch nach einem richtig speckigen Gugelhupf gequält. Nur selten und unter Protest nahm sie dann extra viel Milch und weniger Backpulver, damit der Teig nicht so stark aufging und eine feste feuchte Schicht bildete, also sitzen blieb, was für eine gute Köchin immer ein mittleres Desaster darstellte.
Nachdem der erste Appetit gestillt war, nahm Ruprecht sein Tablet und holte sich die Fotos vom Unfall online aus der Cloud. Ella, die entgegen aller Ernährungsregeln für Hunde auch etwas abbekommen hatte, lief einstweilen am See entlang, buddelte im seichten Wasser nach interessanten Dingen oder spähte nach jagdbaren Enten aus.
Er wusste selbst nicht, was ihn letzte Nacht am Dürrnberg gestört hatte. Vielleicht war es nur das offensichtliche Desinteresse der Polizisten an den Bremsspuren gewesen oder ihre Sicherheit, dass es sich lediglich um zu hohe Geschwindigkeit gehandelt haben konnte. Mit dem Tempo lagen sie auf jeden Fall richtig, sagte er sich, trotzdem scrollte er die Aufnahmen mehrmals durch. Auf dem Display des Geräts und in der Vergrößerung waren die Details nicht nur klarer zu erkennen als auf dem Handy, sondern durch den Blitz sogar deutlicher als auf der Straße.
»Sie hätten die Fahrbahn ausleuchten sollen«, murmelte er ärgerlich.
In jedem Fall hatte Jonas Röhm zu spät gebremst. Falls der Wagen bereits vorher schleuderte, war er am Ende der Kurve nicht mehr abzufangen. Hatte er etwas getrunken oder Drogen genommen und deshalb nicht rechtzeitig reagiert?
Auch liefen die abgesetzten Spuren, die das ABS statt einer durchgehenden Bremsung hinterließ, vollkommen gerade nach außen zu dem Felsen. Das war auf zwei Fotos ganz deutlich zu sehen. Genau das sollte das ABS aber verhindern, indem die Räder nicht blockierten. Warum hatte Jonas nicht versucht, die Kurve zu nehmen? Jeder normale Fahrer würde versuchen, das Auto nach innen zu bekommen und diesen Versuch müsste man irgendwie in den Spuren erkennen.
Wollte er tatsächlich Selbstmord begehen und überlegte es sich im letzten Augenblick anders, wie Fuchs gemeint hatte, oder gab es einen anderen Grund?
Ruprecht wollte sich in Gedanken das letzte Stück Römerauflauf vom Pappteller nehmen, tastete aber ins Leere.
»Ella!«, rief er tadelnd und sah sich um.
Sie lag hinter ihm und hob den Kopf mit engelsgleicher Unschuldsmiene. Ruprecht musste ansatzlos lachen, schüttelte den Kopf und kraulte sie liebevoll. Außer ihr schaffte es niemand, ihn so plötzlich aus der Konzentration zu reißen und dafür sogar noch ein Lob zu ernten.
Seit er sie vor vier Jahren bei einem Mordopfer als winziges Hundeknäuel gefunden und vor dem Tierheim oder der amtlichen Euthanasie gerettet hatte, waren die beiden unzertrennlich.
Sie sei die wichtigste Frau in seinem Leben, sagte er ihr oft. Es dauerte jedoch einige Monate, bis sich die beiden – er hatte nie ein Haustier und sie noch keine Familie gehabt – an ihr neues Leben gewöhnten, bis sie das richtige Futter herausfanden, das keine üblen Durchfälle auf dem Wohnzimmerteppich verursachte, bis sie wusste, welche Schuhe für Hundezähne tabu waren und bis er keinen Wecker zum Aufstehen mehr brauchte, weil er schon lange vor dem Klingeln mit ihr am See entlanglief.
Ganz nebenbei hatte sie sich das Herz seiner Kollegen erobert und residierte, obwohl Hunde am Arbeitsplatz verboten waren, stolz in ihrem Korb bei seinem Tisch.
Er stand spontan auf und packte das Tablet ein. »Komm, wir fahren noch einmal auf den Dürrnberg, ich muss mir das live ansehen. Mit den Fotos komm ich nicht weiter.«
Er griff nach einer schwarzen Brasil und zündete sie an. So früh am Morgen rauchte er sonst nicht, aber auf dem Rückweg zum Haus vertrieb eine Zigarre die Ungeduld, die er immer spürte, wenn ihn eine Sache nicht losließ.
Es war gleich halb elf, als sie in Hallein wieder in die Dürrnbergstraße einbogen. Ruprecht hatte kurz mit Konstanze telefoniert und sich für sein Nichtkommen und den verpatzten Tag entschuldigt. Sie war darüber aber nicht verstimmt, da ohnehin zu Mittag Freunde von ihr nach Dahnberg zum Reiten kamen und sie sich ihnen nun in Ruhe widmen konnte. Sie genoss jede Gelegenheit, bei der sie über die Felder galoppieren konnte, wie sie es früher mit ihrem Vater, dem bekannten Pferdezüchter, getan hatte. Also machte sich Ruprecht weiter keine Gedanken, und als er den Wagen in derselben Ausweiche wie vor einigen Stunden anhielt und ausstieg, war er bereits wieder voll mit seinen Überlegungen beschäftigt.
In der Vormittagssonne schien die Umgebung, die dem Unfall nachts eine so unheilvolle Stimmung gegeben hatte, nichts weiter als eine ruhige, beschauliche Bergkuppe zu sein. Sogar der Felsen wirkte durch seine dichten grünen Büsche, die an den Wänden emporwuchsen, harmlos. Doch die Reste des nächtlichen Geschehens an der Einmündung der alten Dürrnbergstraße – heute ein einspuriger, schmaler Zufahrtsweg zu den Höfen einiger Anrainer – lagen noch überall herum. Der Mustang war zwar weggebracht worden und die Feuerwehr hatte Bindemittel auf die ausgelaufenen Flüssigkeiten gestreut, aber eine Menge an Glasscherben und kleineren Blechstücken nur lose zur Seite gekehrt. Um die Entsorgung und die restliche Säuberung würde sich im Lauf des Tages die Straßenreinigung kümmern.
Ruprecht ging die Stelle bis zum Kurvenanfang ab und ließ Ella trotz ihres empörten Blicks im Auto. Zum Glück war es trocken geblieben und die Straße war nur wenig frequentiert, sodass es noch deutliche Spuren gab. Er ging zur Mitte der Straße und sah über den Verlauf der Bremsspuren zu dem Punkt des Aufpralls. Sie führten tatsächlich wie eine strichlierte Linie kerzengerade aus der Kurve.
Zurück beim Auto stieg er ein, fuhr ein Stück weiter bergauf und drehte um. Er wollte die Stelle einfach abfahren, um sie von der Position des Fahrers aus zu sehen. Das erste Mal versuchte er es mit den vorgeschriebenen Fünfzig, was die Kurve ewig lang erscheinen ließ und ihm keinen Aufschluss gab. Dann probierte er es mit Siebzig, die sich in dem alten Volvo, der keine Sitze mit Seitenhalt hatte, schon recht flott anfühlten. Vor allem aber wurde bei der Geschwindigkeit deutlich, dass die Straße nach dem Ende der weiten Rechtsbiegung ziemlich scharf nach links schwenkte.
Einmal versuch ich es noch etwas schneller, dachte er, um zu sehen, wie man das Ende der Kurve bei höherem Tempo nehmen musste. Diesmal beschleunigte er auf Neunzig, mehr wollte er seiner geliebten Amazone nicht zumuten. Die Fliehkräfte zerrten trotzdem deutlich an der Lenkung und etwa bei der Stelle, an der die Bremsspur des Mustangs begann, spürte er, wie das Heck unruhig wurde.