Blick ins Verderben - Dieter Heymann - E-Book

Blick ins Verderben E-Book

Dieter Heymann

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Beschreibung

Kriminalsekretär Voß landet im Sommer des Jahres 1934 zufällig auf einem Schützenfest und wird dadurch Zeuge, wie der neue König ermittelt wird. Einige Wochen später wird auf dem Ortskaiserschießen aller Vereine des Viertels eine Frau auf bestialische Weise ermordet. Zahlte das Opfer den Preis für seinen ausschweifenden Lebenswandel oder liegen die Gründe für seinen gewaltsamen Tod in seiner undurchsichtigen Vergangenheit? Voß und sein Kollege Beckmann müssen sich zudem gezwungenermaßen an der Niederschlagung des Röhm-Putsches beteiligen und sind über das brutale Vorgehen der SS bestürzt. Wird es den beiden Kriminalbeamten gelingen, den verzwickten Mordfall zu lösen?

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Das Buch

Kriminalsekretär Martin Voß landet im Jahr 1934 nach einer sommerlichen Fahrradfahrt durch Zufall auf einem Schützenfest im Rheiner Stadtteil Schotthock und wird dadurch Zeuge, wie der neue König der Schützengilde Schotthock 1888 ermittelt wird. Doch was auf den ersten Blick nach harmonischer Brauchtumspflege aussieht, entpuppt sich schnell als Katastrophe für das Schützenwesen des gesamten Viertels, denn einige Wochen später wird auf dem Ortskaiserschießen aller Schotthocker Vereine eine Frau auf bestialische Weise ermordet. Zahlte das Opfer den Preis für seinen ausschweifenden Lebenswandel oder liegen die Gründe für seinen gewaltsamen Tod in seiner undurchsichtigen Vergangenheit? Voß und sein junger Kollege Beckmann müssen sich zudem gezwungenermaßen an den Aktionen zur Niederschlagung des „Röhm-Putsches“ beteiligen und sind über das brutale Vorgehen der SS bestürzt, die auch vor der Exekution des örtlichen SA-Führers nicht zurückschreckt. Wird es den beiden Kriminalbeamten gelingen, den verzwickten Mordfall zu lösen und gleichzeitig die Freilassung des angesehenen Bevergerner Ratsherren Fritz Kagelmann aus den Klauen der SS zu erreichen?

Der Autor

Dieter Heymann wurde 1968 in Spelle (Kreis Emsland) geboren und wuchs in Rheine auf, wo er auch heute lebt. Nach dem Abitur kam er in die öffentliche Verwaltung, in der er noch immer tätig ist. Neben Schwimmen und Radfahren liest er gerne Spannendes und engagiert sich in der Vorstandsarbeit seines Schützenvereins.

„Blick ins Verderben“ ist der zweite Kriminalroman der Martin Voß-Reihe und schließt an das Buch „Tod eines SA-Mannes“ an. Weitere Bände der Reihe sind „Verhängnisvolle Verschwörung“ und „Der Zündler“. Außerdem schrieb der Autor die Inselkrimis „Das Sterben auf Neuwerk“ und „Die Vergeltung auf Neuwerk“.

Weitere Informationen gibt es auf der Facebook-Seite „Dieter Heymann (Autor)“.

Inhaltsverzeichnis

Auszug aus dem Tagebuch

22.08.1922

03.10.1922

08.10.1922

Kapitel 1

Auszug aus dem Tagebuch

11.10.1922

15.10.1922

29.10.1922

Kapitel 2

Auszug aus dem Tagebuch

05.02.1923

11.03.1923

12.03.1923

Kapitel 3

Auszug aus dem Tagebuch

13.03.1923

18.03.1923

25.03.1923

Kapitel 4

Auszug aus dem Tagebuch

31.03.1923

17.04.1923

23.04.1923

Kapitel 5

Auszug aus dem Tagebuch

27.04.1923

28.04.1923

08.05.1923

Kapitel 6

Auszug aus dem Tagebuch

17.09.1923

23.09.1923

06.10.1923

Kapitel 7

Auszug aus dem Tagebuch

04.11.1923

11.11.1923

18.11.1923

Kapitel 8

Auszug aus dem Tagebuch

23.11.1923

27.11.1923

04.12.1923

Kapitel 9

Kapitel 10

Auszug aus dem Tagebuch

22.08.1922

Heute ist mein Geburtstag! Schon beim Aufstehen spüre ich diese nervöse Spannung. Ich gehe schnell ins Bad, um mich herzurichten und wecke danach Helmut. Er schaut einfach süß aus, wenn er sich den Schlaf aus den Augen reibt und ihm dabei die Haare in alle Himmelsrichtungen stehen. Wie sehr freue ich mich, dass er an meinen Jubeltag gedacht hat und mein erster Gratulant ist! Gemeinsam gehen wir nach unten zu Mutter in die Küche. Dort erwartet uns ein reichlich gedeckter Frühstückstisch. Sogar eine Kerze hat Mutter für mich angezündet. Sie umarmt mich herzlich, gratuliert mir auch in Vaters Namen zum Geburtstag und überreicht mir ein in Zeitungspapier eingewickeltes Geschenk. Was mag da nur drin sein? Ich darf mein Geschenk erst nach dem Frühstück auspacken, wie mir Mutter aufträgt. Helmut und ich beeilen uns mit dem Essen, denn er ist genauso gespannt wie ich, was das Päckchen enthält. Ich liebe meine Eltern. Was wäre ich nur ohne sie? Sie haben immer zu mir gehalten, selbst nachdem ich Schande über unsere Familie gebracht hatte. Was mussten sie sich nicht alles von den Kunden anhören, als ich meine Schwangerschaft nicht mehr verbergen konnte! Freunde und Nachbarn lästerten damals über mich und wechselten die Straßenseite, wenn sie meinen Eltern begegneten. Das Spazieren durch die Gassen unserer Stadt muss geradezu ein Spießrutenlaufen für sie gewesen sein. Die Leute rümpften damals die Nasen und zerrissen sich ihre Mäuler über mich. Aber irgendwann werde ich es ihnen schon noch zeigen! Endlich ist es so weit: Mutter erlaubt mir, mein Geburtstagsgeschenk aus dem Zeitungspapier auszuwickeln. Ich finde ein wunderschönes, in schwarzes Leder eingebundenes Tagebuch vor. Auch Helmuts Augen strahlen. Ich nehme mir vor, in Zukunft jeden Tag meines Lebens schriftlich festzuhalten. Doch jetzt muss Helmut zur Schule und ich in die Backstube, wo Vater mich bestimmt schon sehnlichst erwartet.

03.10.1922

Die Polen werden immer frecher! Gestern hatte Vater eine schlimme Auseinandersetzung mit Karol. Der weigerte sich, die schweren Körbe mit den Broten von der Backstube in den Verkaufsraum zu tragen. Mit hämischer Stimme prophezeite er Vater, dass die Bäckerei sowieso bald ihm gehöre und er dann die Befehle erteile. In Situationen wie dieser merke ich, wie alt Vater inzwischen geworden ist. Die Änderung der Verhältnisse nach dem Friedensvertrag machen ihm sehr zu schaffen! Über fünfzig Jahre hat er in seiner Bäckerei geschuftet und in dieser Zeit viele Gesellen ausgebildet, nachdem er den Betrieb einst nach dem Tod Großvaters übernommen hatte. Doch nach dem verlorenen Krieg hat sich alles verändert. Auf einmal leben wir in einem fremden Land und gehören einer Bevölkerungsminderheit an. Viele Deutsche sind schon ins Reich ausgewandert, weil ihnen ihr Land oder ihr Besitz genommen wurde. Die frei gewordenen Häuser werden sofort von den Polen übernommen, die zu Tausenden in die Stadt strömen. Haben wir mit unserer Bäckerei überhaupt noch eine Zukunft in dieser Stadt?

08.10.1922

Das Undenkbare geschieht: Ein Beamter des Rathauses kam heute zu uns und hat sich unser Haus angesehen. Er meinte, die Wohnung über der Bäckerei sei für vier Personen viel zu groß! Schon in naher Zukunft werden wir eine polnische Familie bei uns aufnehmen müssen. Dabei ist es doch unser Haus, das Großvater erbaut hat! Der Mann teilt uns mit, dass schon in den nächsten Tagen ein Ehepaar mit drei kleinen Kindern bei uns einziehen werde. Das bedeutet, dass es zukünftig sehr eng in unserem Heim zugehen wird! Ich werde mit Helmut vorläufig wohl auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen müssen. An die morgendliche Schlange vor dem Bad mag ich gar nicht denken ... Vater ist mit den Nerven völlig am Ende. Er wird es schwer haben, sich mit dem zu erwartenden Rummel im Haus abzufinden. Inzwischen geht unter den Deutschen das Gerücht um, die polnische Regierung werde in nächster Zeit Fabriken, Mühlen und Bauernhöfe zwangsenteignen. Wird uns diese Maßnahme mit unserem Geschäft ebenfalls betreffen? Werden die Preise für das Mehl zukünftig ins Unermessliche für uns steigen, nur weil wir keine Polen sind? Hoffentlich verzweifelt Vater nicht an der Situation! Abends sitzt er häufig noch sehr lange in der Stube und spricht kein Wort. Auch Mutter kann ihn nicht trösten. Die Stimmung ist sehr bedrückend.

1

Es war ein herrlicher Sommertag im Juni 1934. August Wissing musterte die Anwesenden kritisch. Auf den ersten Blick schienen sich alle an die strenge Kleiderordnung gehalten zu haben: Grüne Schirmmütze, weißes Hemd und ebensolche Hose, dazu grüne Schützenjacke mit farblich passendem Binder.

Wissing legte großen Wert darauf, dass sich seine Schützenbrüder ordnungsgemäß kleideten, denn schließlich trug die einheitliche Kleidung zum guten Ansehen seines Vereins bei. Im letzten Jahr hatte er einige der jüngeren Mitglieder aus diesem Grund ermahnen und zurück nach Hause schicken müssen.

Gerade beim großen Umzug durch den Schotthock wollte er, dass sich sein Verein ordentlich gekleidet präsentierte. Undiszipliniertes Verhalten fiel letztendlich auf ihn, den Vorsitzenden, zurück. An diesem Tag gab es scheinbar jedoch nichts am äußeren Erscheinungsbild seiner Schützen auszusetzen, wie er befriedigt feststellte.

Jetzt mussten sich alle noch in der vorgesehenen Reihung aufstellten, wofür er zu sorgen hatte: Ganz vorne die Offiziere, die Hüte mit Federbüschen trugen, der Oberst dabei in rot-weißen und die beiden Adjutanten in grün-weißen Farben. Dann kam das Blasorchester Schotthock, deren Musikanten mit schwarzen Hosen, weißen Hemden und grünen Westen ebenfalls einheitlich gekleidet waren. Es folgten die Fahnenoffiziere, die Hüte mit blau-weißen Federbüschen trugen und die Vereinsfahne beim Umzug mitzuführen hatten. Dahinter gab es eine kleine Lücke, in die sich später das Königspaar des letzten Jahres mit ihrem Hofstaat einreihen würde, sobald es von zu Hause abgeholt worden war. Hinter den Majestäten waren die Mitglieder des Vorstandes zu finden. Den Abschluss des Zuges bildeten die übrigen Schützen.

Der Vorsitzende war stolz auf seinen Verein. Von 83 Mitgliedern war an diesem Tag die überwältigende Mehrheit zum Antreten vor dem Vereinslokal Schotthocker Hof erschienen. Nur ganz wenige fehlten. Von hier würden sie durch ihren Stadtteil zum Haus des noch amtierenden Vereinskönigs marschieren, um diesen zusammen mit seiner Königin samt Ehrendamen und Ehrenherren zum Festplatz zu geleiten. Natürlich würde der König seinen Kameraden noch einige Gläser Korn einschenken, bevor sie sich auf den Rückweg zum Schotthocker Hof machten. Dort würden sie später in den Gartenanlagen des Lokals mit dem Schießen auf einen Holzvogel ihren neuen Schützenkönig ermitteln.

*

Die Schützengilde Schotthock 1888 hatte, wie alle Schützenvereine in Rheine, schwere Zeiten hinter sich. In den ersten beiden Jahren des Weltkrieges hatten sie ihre Tradition noch pflegen und zumindest mit den wenigen verbliebenen Mitgliedern, die nicht zum Kriegsdienst eingezogen worden waren, im bescheidenen Rahmen ihr jährliches Fest feiern können. Doch bald schon waren erste erschreckende Meldungen von verwundeten oder gefallenen Mitgliedern ihrer Vereinigung eingetroffen, die allen die Lust auf das Feiern genommen hatten. Immer mehr Männer waren an die Front geschickt worden. Zum Schluss waren nur noch die wenigen Älteren übriggeblieben.

Die Bewohner des Schotthocks hatten in diesen Jahren mit Hunger, Kälte und kriegsbedingten persönlichen Schicksalsschlägen zu kämpfen gehabt. Niemandem hatte mehr der Sinn nach Brauchtum und Schützenwesen gestanden.

Nach den Wirren des Krieges mit all seinen schlimmen Folgen für die Menschen sollte es bis zum Jahr 1920 dauern, bis sich ein größtenteils neu gewählter Vorstand wieder mit den Planungen für ein Schützenfest befasst hatte. Auch danach waren in finanziell schweren Zeiten der Inflation von 1923, der großen Weltwirtschaftskrise und der damit einhergehenden Massenarbeitslosigkeit wenige Jahre zuvor immer wieder große Hürden zu überwinden gewesen. Doch immerhin war es gelungen, das Schützenfest seit 1920 in jedem Jahr stattfinden zu lassen.

Im vergangenen Jahr war jedoch etwas passiert, was mit sämtlichen Traditionen, den Ideen des Schützenwesens und den Statuten des Vereins brach: Auf Geheiß der neuen nationalsozialistischen Regierung hatten alle Schützenvereine im Deutschen Reich ihre jüdischen Mitglieder vom Vereinsleben ausschließen müssen. Bei der Schützengilde Schotthock 1888 waren es drei engagierte Schützenbrüder gewesen, denen August Wissing aufgrund dieser Vorgabe schweren Herzens die Nachricht von ihrem Zwangsaustritt zu überbringen gehabt hatte.

Etwas auch nur annähernd Vergleichbares hatte es in seiner zweiundzwanzigjährigen Zeit als Vorsitzender zuvor nie gegeben und er schämte sich noch heute seiner Worte beim Aussprechen der Vereinsausschlüsse. Doch was wäre die Alternative gewesen, wenn er gegen diese Vorgabe protestiert hätte? Hätten die inzwischen ausschließlich mit Nationalsozialisten besetzten Behörden ihn zu einem Rücktritt von seinem Posten als Vorsitzender gedrängt, wäre ihnen die Ausrichtung ihres Schützenfestes verboten worden oder hätten sie gar ihren ganzen Verein auflösen müssen?

Schockierend war für ihn gewesen, dass es mehr Befürworter als Gegner dieser Verfügung gab. So hatte sich der Vorstand letztlich nach nur kurzer Diskussion mehrheitlich der Anordnung gefügt und den Willen der Nazis umgesetzt. Seitdem fühlte er sich nicht mehr wohl in seiner Haut und er erwog ernsthaft, sein Amt bei der nächsten Wahl zur Verfügung zu stellen.

*

Das Schützenwesen hatte eine lange Tradition in Deutschland: Die ersten Vereine wurden bereits im Mittelalter gegründet und waren von den Städten als Bürgerwehren ins Leben gerufen worden. Um die Handhabung von Bogen und Armbrust zu üben, wurden damals Schützenhäuser und Schießbahnen erbaut. Damit die erlernten Fähigkeiten auch zur Schau gestellt werden konnten, fanden jährliche Schützenfeste statt, bei denen der beste Schütze ermittelt wurde. Dieses Brauchtum hatte in abgewandelter Form bis in die Gegenwart überlebt.

Die preußische Provinz Westfalen galt als eine der Hochburgen dieser Tradition. Alleine im Schotthock gab es drei Schützenvereine, die alljährlich ihr Brauchtumsfest ausrichteten und einige Wochen später gar zu einem gemeinsamen Ortsschützenfest zusammenkamen, um aus den drei jeweiligen Vereinskönigen den besten Schützen des gesamten Stadtteils, den Ortskaiser, auszumachen. Die Ausrichtung dieses Festes wechselte jährlich zwischen den drei Vereinigungen und oblag in diesem Jahr der Schützengilde. Schon in drei Wochen würden sie an gleicher Stelle mit den anderen beiden Vereinen des Schotthocks zusammenkommen, um mit dem Ortskaiserschießen die Schützenfestsaison 1934 abzuschließen.

Über ganz Rheine, zu dem der Stadtteil Schotthock gehörte, verteilten sich viele weitere Schützenvereine. Der Älteste von ihnen stammte aus der Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg und war im Jahr 1616 gegründet worden.

*

Viele Angehörige der Mitgliedschaft waren an diesem Tag erschienen, um den Schützenumzug zu bestaunen. Die Ehefrauen und Kinder der Schützen würden später auch als Zuschauer beim Schießwettbewerb dabei sein und eifrig mitfiebern.

Inzwischen war die Zeit für den Abmarsch gekommen. August Wissing beriet sich kurz mit Oberst Josef Ahaus, der anschließend mit lauter Stimme zum Antreten aufforderte:

„Schützengilde Schotthock – Antreten!“

Als sich nach einigen Minuten alle ordnungsgemäß, mit dem Gesicht dem Oberst zugewandt, aufgestellt hatten, begrüßte der die Schützen zum diesjährigen Schützenfest. Anschließend übergab er das Wort an den Vorsitzenden, der ebenfalls einige Grußworte sprach und allen Schützen eine sichere Hand, ein gutes Auge und viel Glück beim Schießwettbewerb wünschte.

Damit reihte August Wissing sich wieder in den Zug ein, während Oberst Josef Ahaus erneut das Wort übernahm und mit der in vielen Jahren erworbener Routine seine Kommandos gab:

„Schützengilde Schotthock – stillgestanden! Für den Abmarsch zum König – links um! Im Gleichschritt – Marsch!“

Die Musik begann zu spielen und der Zug setzte sich in Bewegung. Ahaus musste sich nun beeilen, um zu seiner Position an der Spitze des Zuges zu gelangen.

Vor allem den Kindern gefiel dieses Schauspiel sichtlich. Schnell hatten sie ihren eigenen Umzug ins Leben gerufen und marschierten am Straßenrand munter mit.

*

Die Schützenfeste gehörten alljährlich zu den gesellschaftlichen Höhepunkten der ganzen Stadt. Rheine war eine Kleinstadt im Norden des Münsterlandes mit rund 30000 Einwohnern, die vor allem für ihre Textilindustrie bekannt war. Die Stadt war aber nach dem Bau des Rangierbahnhofs mit dem dazugehörigen Bahnbetriebswerk auch Heimat vieler Eisenbahner geworden und konnte auf eine mehr als tausendjährige Geschichte zurückblicken.

Nach der Verleihung der Stadtrechte im Jahr 1327 hatte die Bevölkerung Rheines vor allem in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges sehr zu leiden gehabt. Mit dem Anschluss an das Eisenbahnnetz in der Mitte des vorigen Jahrhunderts begann die Industrialisierung in der Region. Erste Textilwerke wurden erbaut und bestimmten fortan die wirtschaftliche Entwicklung. Das Stadtbild wurde durch die Ems geprägt, die Rheine durchfloss.

Der Stadtteil Schotthock lag im Norden Rheines und war sieben Jahren zuvor zusammen mit einigen anderen umliegenden Dörfern eingemeindet worden. Um die Jahrhundertwende erlebte Rheines größter Stadtteil mit dem Bau einer Spinnerei und kurz darauf einer Weberei einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung. Für die Arbeiter und deren Familien wurde dadurch im großen Rahmen neuer Wohnraum benötigt. Abhilfe sollten von den Werksbesitzern in unmittelbarer Nähe zu den Fabriken erbaute und der Belegschaft zur Verfügung gestellte Häuser bringen.

Eine dieser Werkssiedlungen wurde auf ehemals landwirtschaftlich genutzten Flächen errichtet, die im Volksmund interessanterweise den Namen „Kuba“ erhielt, benannt nach dem gegen Ende des letzten Jahrhunderts auf der karibischen Insel tobenden Unabhängigkeitskrieg. Wollten die Bewohner den Stadtoberen gegenüber damit ihren Stolz auf die Selbstständigkeit des Häuserkomplexes zum Ausdruck bringen?

*

Mit dem „Radetzkymarsch“ war der Zug inzwischen vor dem Haus des noch amtierenden Königs angekommen. Josef Ahaus scherte aus dem Zug aus und positionierte sich vor dem Gebäude, um gut sichtbar für alle weitere Befehle zu erteilen:

„Abteilung – halt! Rechts um!“

Und kurz darauf:

„Rührt euch!“

Nach diesen Worten drehte er sich um, trat vor die Tür des Mehrfamilienhauses und klopfte an, um sich davon zu überzeugen, dass das Königspaar und ihr Hofstaat zum Ausholen bereitstanden. Nach der freundlichen Begrüßung durch die Majestäten und der Zusicherung, dass alle Beteiligten ihre persönlichen Vorbereitungen abgeschlossen hätten, ging er zurück und kommandierte:

„Schützengilde Schotthock – stillgestanden! Zum Ausholen des Königspaares - die Augen geradeaus!“

Seine Schützenbrüder nahmen wieder Haltung an. Bevor er sich erneut der Haustür zuwandte, gab er dem Dirigenten des Blasorchesters ein Zeichen. Der erhob daraufhin sofort seinen Taktstock.

Zu den Klängen eines Präsentiermarsches führte Ahaus das Königspaar samt Ehrengeleit galant an die Reihen der strammstehenden Schützen vorbei, um ihnen anschließend ihren Ehrenplatz zwischen Vereinsfahne und Vorstand zuzuweisen.

Nachdem Ahaus das Kommando „Rührt euch“ gegeben hatte, begab sich das Königspaar mit seinem Hofstaat noch einmal kurz in das Gebäude. Kurz darauf erschienen sie mit mehreren Flaschen Korn samt Gläsern in ihren Händen. Sofort verteilten sie sich unter den Schützenbrüdern, die die angebotene Spirituose dankbar entgegennahmen.

Als später alle auf das Wohl des Königspaares getrunken und sich die spontan gebildeten Gesprächsrunden wieder aufgelöst hatten, reihten sich die Mitglieder erneut auf. Josef Ahaus nahm rasch wieder seinen Platz vor den Augen seiner Schützenbrüder ein und gab die Kommandos für den Abmarsch:

„Schützengilde Schotthock - stillgestanden! Für den Abmarsch zum Festgelände - links um! Im Gleichschritt – marsch!“

Das Orchester spielte „Preußens Gloria“, als sich die Schützenbrüder auf den Rückweg zum Schotthocker Hof begaben. Während des Marsches sammelten sich immer mehr Frauen und Kinder an, die ihren Ehemännern und Vätern zum Festplatz folgten.

Unterwegs entdeckte der Vorsitzende mit Bestürzung seinen früheren Schützenbruder Elias Blumberg, der sich den vorbeiziehenden Umzug am Straßenrand stehend mit traurigem Blick anschaute.

August Wissing hatte auf einmal ein sehr schlechtes Gewissen und wollte eigentlich nicht in seine Richtung schauen, denn Blumberg war einer jener drei jüdischen Mitglieder gewesen, die sie aufgrund ihres Glaubens vom Vereinsleben hatten ausschließen müssen. Nur mit verstohlenem Blick schielte er zu Blumberg hinüber und registrierte dabei, dass es dem früheren Vereinskollegen anzusehen war, wie gerne er sich in den Umzug einreihen würde.

Plötzlich trafen sich ihre Blicke. Wissing versuchte zwar, den anklagenden Augen Blumbergs auszuweichen, indem er hastig wieder nach vorn schaute, doch es war ihm in der Folgezeit anzumerken, wie schuldig er sich in diesem Augenblick gefühlt hatte.

Als der Schützenumzug das Vereinslokal erreichte, führten die Offiziere die Mitgliedschaft um das Gebäude herum und durch ein breites Tor hindurch in einen großen, parkähnlichen Garten, der mit aufgestellten Birkenzweigen, an denen grüne und weiße Papierrosen hingen, festlich geschmückt war.

Ganz hinten auf dem Gelände war ein langes Metallrohr zu erkennen, welches auf etwa einem halben Meter Höhe zwischen zwei U-förmigen Eisenträgern befestigt war und augenblicklich mit dem anderen Ende auf dem Boden lag. Dort war ein trichterförmiger Kugelfang aufgesetzt. In etwa zehn Metern Abstand davor war an einem großen Kastanienbaum ein Holzgestell angebracht, das später als Gewehrauflage dienen würde.

Auf einem Tisch daneben lag ein, vom bereitstehenden Schießwart sorgsam gehütetes, Kleinkalibergewehr mit entsprechender Munition. In der Nähe des Gebäudes waren für die Besucher Tische und Bänke aufgestellt. Außerdem waren ein großer Holzkohlegrill und eine breite Theke vorbereitet worden, auf der ein großes Fass Bier und viele Gläser zu erkennen waren.

Als alle Marschierenden auf dem Areal angelangt waren, ließ Josef Ahaus den Zug stoppen und stellte sich wieder gut sichtbar auf.

„Wir wollen jetzt in einer Trauerminute unserer verstorbenen und im Krieg gefallenen Mitglieder gedenken.“

Er nannte die Namen der drei im vergangenen Schützenjahr Dahingeschiedenen und gab dem Dirigenten ein kurzes Zeichen. Alle nahmen ihre Schützenmützen ab und blickten, jeder mit seinen ganz persönlichen Erinnerungen an die verstorbenen Kameraden beschäftigt, stumm vor sich hin, während das Blasorchester ein Trauerlied spielte.

Nachdem die letzten Töne verklungen waren, kündigte der Oberst an:

„Wie in jedem Jahr werden auch dieses Mal unsere Jungschützen den Vogel aufhängen und die Vogelstange hochhieven. Ich bitte um einen Applaus für unsere kräftigen jungen Männer!“

Unter dem Beifall des Zuges traten daraufhin vier etwa achtzehnjährige junge Männer vor. Einer von ihnen hielt einen in schwarz-weißen Farben bemalten Holzvogel in Form eines Adlers in seinen Händen. Danach begaben sie sich gemeinsam zu der am Boden liegenden Metallstange, in deren Kugelfang sie den Holzvogel mittels einer senkrecht nach oben zeigenden langen Schraube mit zugehöriger Mutter befestigen.

Anschließend hoben sie das Rohr vorsichtig an, brachten es mit einiger Anstrengung in eine senkrechte Position und sicherten es mit einem Bolzen, der durch beide U-Eisen samt der innen liegenden Vogelstange geführt wurde.

Als das Quartett zurück zu ihren Positionen im Zug ging, ernteten sie für ihre Bemühungen nochmals einen herzlichen Applaus.

Der Oberst bedankte sich bei den vier Jungschützen und bat den noch amtierenden König, die ersten drei Schüsse auf den Vogel abzugeben. Der trat in Begleitung seiner beiden Ehrenherren zum Schießstand, nahm das Gewehr vom Schießwart entgegen, lud es und zielte. Unter dem Trommelwirbel des Blasorchesters gab er nacheinander seine drei Pflichtschüsse ab und atmete erleichtert auf, als er den Schießstand verlassen konnte, ohne dass der Vogel zu Boden gegangen war.

Josef Ahaus gab daraufhin mit lauter Stimme bekannt:

„Jetzt sind alle Schützenbrüder herzlich eingeladen, sich am Königsschießen zu beteiligen. Ich wünsche allen Schützen viel Glück!“

*

Elias Blumberg hatte sich in der Vergangenheit im Kreise seiner Schützenbrüder immer ausgesprochen wohlgefühlt. Als gebürtiger Schotthocker zählten für ihn Werte wie Gemeinschaft und Zusammenhalt. Er hatte das Zusammensein mit seinen Freunden stets genossen. Ob jung oder alt, arm oder reich, im Schützenverein spielte das keine Rolle. Für alle galten die gleichen Rechte.

Zu seinem Leidwesen hatte er bei einigen seiner Kameraden jedoch bereits vor längerer Zeit eine zunehmende antisemitische Haltung bemerkt. Auch in seinem Schützenverein formierte sich eine ständig wachsende Anzahl von Männern, die sich den aggressiven und ausgrenzenden Parolen der Nationalsozialisten anschlossen. Als diese mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler plötzlich in der Regierungsverantwortung standen, begegneten ihm einige seiner Vereinskollegen plötzlich mit offen zur Schau getragenem Hass auf alles, was mit seiner Religion zu tun hatte.

Irgendwann im letzten Jahr hatte August Wissing, der Vorsitzende, vor seiner Haustür gestanden. Er hatte diesen Besuch erwartet, denn von der Verfügung zum Ausschluss der jüdischen Mitglieder aus den Vereinen hatte er bereits gehört. Nie würde er den unruhigen Blick des Vereinsführers vergessen, der ihm beim Überbringen der niederschmetternden Nachricht nicht einmal in die Augen hatte sehen können!

Dabei wäre Blumberg in der Vergangenheit fast einmal Schützenkönig geworden. Es war damals lediglich Pech gewesen, dass der unmittelbar vor ihm in der Reihe stehende Vereinskamerad den Holzvogel abgeschossen hatte. Er als nächster Schütze hatte sich insgeheim schon genau ausgemalt, wohin er zu zielen hatte …

Dreiundzwanzig Jahre war er Mitglied der Schützengilde Schotthock 1888 gewesen. Im nächsten Jahr wäre er für seine fünfundzwanzigjährige Mitgliedschaft mit der silbernen Vereinsnadel geehrt worden.

Als er den fröhlichen Schützenumzug an sich vorbeiziehen sah, musste er wehmütig daran denken, was ihm die Nazis alles genommen hatten. Es waren nicht nur gesellige Stunden im Kreise seiner Freunde, die für immer verloren schienen. Es war vielmehr die Demütigung, wie ein Aussätziger behandelt zu werden, die ihn schmerzte. Der Schützenverein war für ihn seit seiner Jugend etwas Selbstverständliches gewesen, etwas, was Teil seines Lebens war. Die Ehrennadel seines Vereines hätte er mit großem Stolz an seinem Revers getragen …

Viele seiner früheren Kameraden hatten ihn während des Umzuges erkannt und tuschelten offensichtlich heimlich über ihn. Auch August Wissing schaute ihm, während er an ihm vorbeimarschierte, kurz in die Augen, um seinen Kopf gleich wieder abzuwenden. Blumberg konnte erkennen, dass sich der Vorsitzende aufgrund seiner Anwesenheit nicht wohl in seiner Haut fühlte.

„Hoffentlich frisst dich dein schlechtes Gewissen irgendwann auf“, verwünschte er den Mann mit verbitterter Miene.

*

Zu den Schützenbrüdern, die in diesem Jahr unbedingt den Vogel abschießen und damit Schützenkönig werden wollten, zählte Karl-Heinz Homann. Er hatte sich in den letzten Jahren immer dann vom Schießen zurückgezogen, wenn der Adler instabil wurde und von der Stange zu fallen drohte. Dies war daran zu erkennen, dass der Vogel nach einem Treffer zu wackeln begann und sich auf dem Befestigungsbolzen um einige Grad um seinen Mittelpunkt drehte. Meistens reichte dann ein gezielter Schuss auf Kopf, Schwanz oder einer der beiden Flügel, um das Objekt der Begierde durch die Hebelwirkung zu Fall zu bringen.

Für seine Ambitionen gab es durchaus einen Grund, denn er hatte die Zusage einer Frau bekommen, im Falle einer Regentschaft als seine Schützenkönigin zu fungieren. In diesem Moment hatte er sein Glück kaum fassen können, denn es war nicht irgendwer, die ihm diese Zusicherung gegeben hatte, sondern es war Anna gewesen! Die kannte er schon seit vielen Jahren. Anna war vor langer Zeit in den Schotthock gezogen und besuchte seitdem, anfangs in Begleitung ihrer Arbeitskolleginnen, in jedem Jahr das Schützenfest. Außerdem traf er sie beim Brotkauf regelmäßig in der Bäckerei Heuwes, wo sie beschäftigt war.

Als sie sich vor einigen Wochen zufällig über den Weg gelaufen waren, war ihr Gespräch zwangsläufig auf das bevorstehende Fest gekommen. Dabei hatte sie sich bei ihm nach möglichen Kandidaten für den Königsthron erkundigt. Als er ihr keine Namen hatte nennen können, hatte sie ihm mit kesser Stimme vorgeschlagen:

„Mach´ du es doch! Ich würde dir bestimmt eine gute Königin sein!“

Ihm war vor Freude fast das Herz stehen geblieben, so überrascht war er von ihrem Angebot gewesen. Natürlich hatte er schnell eingewilligt, denn für Anna hatte er sich insgeheim schon immer interessiert.

Folgerichtig hielt er beim Einmarsch auf den Festplatz unauffällig nach ihr Ausschau und entdeckte sie auch gleich. Anna trug an diesem Tag ein auffälliges marineblaues Kleid, das gut zu ihren langen schwarzen Haaren passte und winkte ihm zuversichtlich lächelnd zu.

Sie sah einfach hinreißend aus, eben ganz wie eine Königin! Er würde sich heute alle Mühe geben, sie nicht zu enttäuschen. Jetzt brauchte er nur noch das notwendige Glück, beim Schießwettbewerb zur richtigen Zeit an der Reihe zu sein. Tief in seinem Inneren hegte er natürlich die Hoffnung, mit dem Königsschuss auch das Herz seiner Königin erobern zu können ...

*

Mechthild Reiske hatte sich den Einzug des Schützenvereines auf dem Festplatz zusammen mit ihrer verwitweten Freundin Birgit Sanwald angesehen. Wie viele andere Frauen auch waren die beiden schon vorab in den Garten des Schotthocker Hofs gekommen, um die Männer dort zu empfangen. Als sie ihren Ehegatten im Zug erkannte, winkte Mechthild Reiske ihm fröhlich zu.

Später würde sie an der Seite ihres Partners marschieren, wenn der gesamte Verein seinen neuen Schützenkönig in einem weiteren Umzug nach Hause geleitete. Die Wartezeit bis zum Einzug der Schützen hatte sie dazu genutzt, um heimlich ihre ebenfalls anwesende Arbeitskollegin Anna zu beobachten, die heute ein allzu auffälliges marineblaues Kleid trug.

Nachdem der Umzug an ihnen vorübergezogen war, bemerkte sie gegenüber ihrer Freundin mit spöttischer Stimme:

„Jetzt schau dir mal die Suerbaum an! Hat sie sich heute nicht wieder schön gemacht? Alleine dieser aufdringliche Lippenstift! Ich wette, sie spekuliert darauf, neue Königin zu werden.“

„Meinst du etwa deine Kollegin? Nun, sie zeigt sehr viel Bein und das Kleid könnte mindestens eine Nummer größer sein. Sie scheint im letzten Jahr ein wenig zugelegt zu haben“, erwiderte Birgit Sanwald.

„Die und zugelegt? Dass das Kleid so eng sitzt, ist garantiert von ihr gewollt! Sie gibt sich immer die allergrößte Mühe, ihre Reize ins rechte Licht zu rücken, um dadurch bei den Männern im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Das ist in der Bäckerei nicht anders! Mit diesem Fummel schafft sie es mal wieder, die Begierden des männlichen Geschlechts beim diesjährigen Schützenfest zu wecken. Alle werden wieder einmal nur Augen für sie haben! Sie weiß ganz genau, was die Herren der Schöpfung zu sehen wünschen!“

„Ihr mögt euch wohl noch immer nicht sonderlich?“

„Sie biedert sich mit aller Macht bei unserem Meister an. Es ist einfach nur noch peinlich! Ich bin mir sogar fast sicher, dass zwischen den beiden schon mal etwas war. Nicht umsonst ist sie unsere Leiterin geworden. Für eine Beförderung ist sie sich für nichts zu schade. Dafür würde sie alles tun!

Besonders schlimm ist sie, wenn der Seniorchef mit seiner Pflegerin in den Betrieb kommt, was zum Glück nicht mehr häufig der Fall ist. Sie glaubt wohl immer noch, sie könne ihre Stellung bei ihm mit ihren Schmeicheleien weiter verbessern. Als ob dem alten Mann noch der Sinn nach jungen Frauen stünde ...“

„Der alte Heuwes schaut bei euch immer noch persönlich nach dem Rechten? Ich dachte, er vegetiert in seiner schönen Villa nur noch vor sich hin und lässt sich den lieben langen Tag über von seiner jungen Pflegerin verwöhnen. Ich habe ihn vor einem Jahr auf dem Schützenfest zum letzten Mal gesehen.“

„Unterschätze ihn nicht! Der Mann ist zäh. Er schaut uns beim Umgang mit der Kundschaft immer noch sehr gerne auf die Finger und macht sich einen Spaß daraus, uns vorzuhalten, was wir alles falsch machen. Vermutlich würde er sich heute nicht mehr so sehr für das Geschäft interessieren, wenn sein Sohn den Laden damals übernommen hätte. Aber den hat er ja schon vor einer Ewigkeit vergrault. Jetzt muss eben ein Fremder den Betrieb führen. Vielleicht wird unser Meister das Geschäft irgendwann einmal übernehmen. Vermutlich denkt die Suerbaum ebenso und raspelt deshalb schon mal Süßholz ...“

„Wenn ich sie mir so anschaue hast du wahrscheinlich recht und deine Kollegin erwartet tatsächlich, heute den Königsthron zu besteigen. Das Kleid spricht tatsächlich für diese Annahme.“

„Die Frage ist nur, wen sie sich ausgeguckt hat, um ins Rampenlicht zu rücken? Oder hat sie gar mehrere Eisen im Feuer? Zuzutrauen wäre es ihr.“

„Ich verstehe nicht, was die Männer an ihr finden. Auch sie kann ihr Alter mittlerweile nicht mehr verbergen. Da kann sie sich beim Schminken noch so viel Mühe gegen ...“

„... Und dennoch schafft sie es immer wieder, den Herren der Schöpfung den Kopf zu verdrehen. Ich weiß wirklich nicht, was die an einem solchen Modepüppchen finden. Na ja, wir werden ja sehen, wem sie sich heute an den Hals wirft.“

*

Anna Suerbaum beobachtete gespannt den Einmarsch der Schützen. Dabei hielt sie gespannt nach Karl-Heinz Ausschau und fand ihn schnell im vorderen Drittel des Umzugs. Als sie ihm freundlich zulächelte, winkte er ihr überschwänglich zu, worauf sie ihm dezent zurückwinkte.

Würde es ihm heute gelingen, den Vogel abzuschießen? Es war schon lange ihr Traum, einmal in ihrem Leben Schützenkönigin der Schützengilde Schotthock 1888 zu sein. Sollte er es tatsächlich schaffen, bestand sogar die Möglichkeit, schon in drei Wochen an seiner Seite Ortskaiserin des Schotthocks zu sein! Welch ein Traum. Wie sehr würde sie die neidischen Kommentare der anderen Frauen genießen!

Sie war die kritischen Blicke der weiblichen Gesellschaft gewohnt. Sie wusste, auch heute wurde sie wieder einmal besonders beäugt und hinter ihrem Rücken würde wieder heftig über sie getratscht werden!

So war ihr auch nicht verborgen geblieben, dass ihre Kollegin Mechthild und diese Birgit Sanwald die Köpfe zusammengesteckt und über sie gesprochen hatten. Immer wieder hatten sie mit geringschätzigen Blicken zu ihr herüber geschaut, während sie sich wahrscheinlich ihre Mäuler über sie zerrissen. Doch das war Anna egal. Für sie zählte nur eines: Sie wollte ihre Ziele zu erreichen. Für den heutigen Tag war dies gleichbedeutend mit dem Besteigen des Königsthrones an der Seite von Karl-Heinz!

Ihr war durchaus bewusst, wie gewagt ihr Kleid war, was sicherlich bei den anderen Besuchern für Diskussionen sorgen würde. Doch sie hatte es sich absichtlich so genäht, damit es ihre weiblichen Reize möglichst vorteilhaft hervorhob. Trotz ihrer beinahe vierzig Jahre hatte sie noch immer ein sehr hübsches Gesicht und eine tolle Figur, wie sie fand.

Sie hatte sich heute zu Hause vor dem Spiegel besonders viel Mühe gegeben und war mit dem Ergebnis äußerst zufrieden. Sie sah einfach hinreißend aus! Mit diesen weiblichen Waffen ließen sich die Männer manipulieren, wie sie gerade erst wieder bei Karl-Heinz festgestellt hatte. Er würde sich heute ihretwegen ein Bein ausreißen, um Schützenkönig zu werden!

Selbstverständlich erhoffte er sich mehr von ihr, als sie nur als seine Königin an der Seite zu haben. Das hatte sie natürlich schon vor längerer Zeit bemerkt. Allerdings würde sie ihm niemals mehr als dieses eine Zugeständnis einräumen, was sie ihm allerdings nicht auf die Nase binden wollte. Er sollte sich ruhig weiter Hoffnungen machen. Auf diese Weise konnte sie ihn nämlich weiter um den kleinen Finger wickeln!

Karl-Heinz war zwar ein netter Kerl, doch wusste er einfach nicht mit Frauen umzugehen. Außerdem entsprach er mit seinem Beruf als Fabrikarbeiter nicht gerade das, was sie sich von ihrer Zukunft erhoffte. Denn für die hatte sie ganz andere Vorstellungen...

Beim Einmarsch der Schützen hatten ihre Augen nicht nur nach Karl-Heinz, sondern noch nach einem zweiten Mann gesucht. Als sie ihn schließlich inmitten seiner Vereinskameraden entdeckte, hatte der ihr klammheimlich zugezwinkert.

Im Gegensatz zu Karl-Heinz wusste Friedrich Ottenhues genau, worauf es bei einer Frau wie sie ankam. Er hatte für sie seinen Einfluss beim Chef geltend gemacht und ihr dadurch eine bessere Stellung verschafft. Das, was er als Gegenleistung dafür verlangte, war Anna gerne bereit zu geben. Sie konnte sich auf Friedrich verlassen. Er würde sich heute auf dem Fest dezent zurückhalten und sich nicht in ihre ehrgeizigen Absichten einmischen. Im Gegensatz zu ihm war Karl-Heinz in ihren Augen zwar ein unbeholfener Trottel, war ihr in diesem Fall aber als Mittel zum Zweck gerade recht. Sie war gespannt, ob ihre Pläne aufgehen würden und freute sich schon auf den Schießwettbewerb.

Gerade wollte sie sich in die Nähe des Schießstandes begeben, als sie hinter dem Tor eine Frau mit schweren Taschen in beiden Händen vorbeihasten sah.

„Die Süssmann“, dachte sie sich. „Na, die traut sich ja was, direkt am Festplatz vorbei zu stolzieren ...“

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August Wissing war froh, als es endlich losging. Für einen Moment hatte sich während des Umzuges ein Schatten für ihn auf den heutigen Tag gelegt, als er den vorwurfsvollen Blick seines früheren Schützenbruders Elias Blumberg aufgefangen hatte. Doch nun begann endlich das Schießen, das ihn auf andere Gedanken bringen würde. Er musste sich auf seine Aufgaben konzentrieren und hatte dabei alles andere auszublenden! Mit Spannung wartete er darauf, zu erfahren, wer den Vogel heute abschießen würde.

An Kandidaten für die Königswürde hatte es der Schützengilde noch nie gefehlt. Für jeden seiner Vereinskollegen war es eine ganz besondere Ehre, dem Verein ein Jahr lang als König vorzustehen. Finanziell war die Belastung für den König überschaubar. Nach dem Schießwettbewerb hatte die neue Majestät ein Fass Bier für alle auszugeben, das sogenannte Königsbier. Später würde es nach dem Wegbringen des Königspaares für die Teilnehmer des Marsches noch einige Flaschen Schnaps geben, die in der Regel vor dem Aufbruch beim Festwirt erworben wurden. Zu guter Letzt gehörte es traditionell zu den Königspflichten, den finanziellen Aufwand für das neue Kleid der Königin zu tragen. Da sich die sonstigen Kosten mehr oder weniger über das ganze Jahr verteilten, konnten sich auch die weniger Betuchten den Königsschuss leisten.

Mit Wohlwollen registrierte der Vorsitzende die kleine Warteschlange vor dem Schießstand, die sich sofort gebildet hatte, nachdem der letztjährige Schützenkönig seine drei Pflichtschüsse abgegeben hatte.

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Adelheid Süssmann hatte einen Moment gezögert, den direkten Weg nach Hause zu nehmen, weil dieser am Festplatz vorbei führte. Doch weil sie frische Milch und Eier auf einem in der Nähe gelegenen Bauernhof erstanden hatte, waren ihre Taschen zu schwer, um kurz vor dem Zuhause noch einen Umweg in Kauf zu nehmen.

Dabei hatte sie gar nicht mehr an das Schützenfest gedacht, bis sie plötzlich mit Entsetzen in der Ferne die Marschmusik wahrgenommen hatte, die sich rasch näherte. Innerlich fluchend hatte sie sich zwar noch beeilt, doch es war bereits zu spät gewesen. Den Schotthocker Hof hatte sie nicht mehr rechtzeitig passieren können, bevor der Umzug dort eintraf. Immerhin war es ihr noch gelungen, sich schnell in einen gegenüber liegenden Hofeingang zurückzuziehen, damit sie beim Einzug der Schützen für niemandem zu sehen war.

Als die letzten Teilnehmer des Zuges durch das Eingangstor verschwunden waren, schritt sie mit schnellen Schritten an der Gartenanlage vorbei. Wenn man sie in dieser Situation sehen würde, gäbe es wieder nur dummes Gerede, wie sie es in den letzten Monaten schon genug erlebt hatte. Auf keinen Fall wollte sie ihren früheren Freunden einen weiteren Anlass für ihre giftigen Lästereien geben.

Sie glaubte schon, es unbemerkt am Festgelände vorbei geschafft zu haben, als sie doch noch den verächtlichen Blick einer Person auffing. Natürlich musste ausgerechnet ihre Nachbarin sie gesehen haben!

Anna Suerbaum hielt ihr bei jeder sich bietenden Gelegenheit vor, dass ihr Mann Jude war. Es war häufig sehr beleidigend und manchmal auch äußerst verletzend, was sich Adelheid Süssmann von ihrer Mitbewohnerin anhören musste. Erst kürzlich hatte die sie als „Judenflittchen“ bezeichnet, obwohl sie seit mehr als zwanzig Jahren mit ihrem Mann verheiratet war.

Die Suerbaum hatte sich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten schnell deren ausgrenzenden Parolen zu eigen gemacht, die sich vor allem gegen den jüdischen Bevölkerungsteil richteten und inzwischen zunehmend das Denken der Menschen im Deutschen Reich bestimmten.

Dabei wären sie und ihr Mann Gabriel heute eigentlich ebenfalls auf dem Schützenfest gewesen, um mit ihrem Verein zu feiern, wäre nicht August Wissing wenige Monate zuvor bei ihnen an der Haustür erschienen. Der Vorsitzende war damals zu ihnen gekommen, um ihrem Mann mit bedauernder Miene mitzuteilen, dass Menschen jüdischen Glaubens ab sofort aus den Schützenvereinen auszuschließen seien. In der Schützengilde Schotthock 1888 sorgte diese Verordnung dafür, dass mit den Sternbergs und den Blumbergs noch zwei weitere Ehepaare für immer aus dem Vereinsleben verschwanden.

Sie und ihr Mann hatten seinerzeit mit ungläubigem Staunen den Worten des Vorsitzenden gehorcht und es zunächst nicht fassen können. Ein mit dem Glauben ihres Mannes begründeter Vereinsausschluss nach zwölf Jahren Mitgliedschaft und einigen nicht unerheblichen finanziellen Zuwendungen an den Verein in den wirtschaftlich schweren letzten Jahren!

Früher hatten sie sich im Kreise ihres Vereins immer sehr wohlgefühlt. Als Bankangestellter hatte Gabriel sogar sechs Jahre lang die Kasse des Vereins geführt und war für seine Korrektheit von allen Seiten stets gelobt worden. Damals hatte ihn niemand verächtlich als „Juden“ bezeichnet, sondern seine Gesellschaft im Gegenteil gerne genossen.

„Wie schnell sich die Zeiten doch ändern! Heutzutage haben wir kaum noch Freunde. Selbst frühere Schützenbrüder grüßen uns nicht einmal mehr“, dachte sie verbittert. „Morgen wird mir die Suerbaum womöglich noch vorhalten, dass ich aus purer Neugier um den Festplatz geschlichen bin, wo ich dort als Gattin eines Juden doch schließlich nichts mehr zu suchen habe.“

Beim Gedanken an ihre Nachbarin hätte Adelheid Süssmann fast laut aufgelacht. Mit ihrem Kleid und dem übertrieben aufgetragenen Lippenstift hatte Anna Suerbaum billig ausgesehen, beinahe wie eine Prostituierte!

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Das Königsschießen war inzwischen in vollem Gange. Während das Blasorchester sich auf bereitgestellten Stühle niedergelassen hatte und geläufige Melodien spielte, hatten die meisten der Schützenbrüder ein Glas Bier in der Hand, standen in Gruppen zusammen und beobachten das Treiben an der Vogelstange.

Dort reihten sich immer wieder neue Schützen in die Schlange der Wartenden ein, um auf den Vogel zu schießen. Ein lauter Knall war zu hören, kleine Splitter lösten sich aus dem Holz und fielen zu Boden, als Karl-Heinz Homann den vorerst letzten seiner drei Schüsse in dieser Runde abgegeben hatte. Anschließend übergab er das Gewehr an den Schießwart und machte dem nächsten Schützen Platz.

Der Vogel würde noch lange nicht fallen! Deshalb machte er sich auf die Suche nach Anna, um sie zu einer Bratwurst und einem Getränk einzuladen. Er fand sie in der Nähe der Theke, wo sie sich mit einem anderen Schützenbruder recht lebhaft unterhielt.

Einen Augenblick lang war er ein wenig enttäuscht, dass sie ihn beim Abfeuern seiner Schüsse ganz offensichtlich nicht beobachtet hatte. Doch nachdem sie ihn bemerkt und daraufhin angelächelt hatte, war seine kurzzeitige Betrübtheit gleich wieder verflogen. Er näherte sich den beiden und begrüßte sie freundlich:

„Hallo Anna, hallo Friedrich. Wie geht es euch?“

„Heil Hitler“, grüßte Friedrich Ottenhues.

Ein Königsstern an seiner Brust wies ihn als König des Jahres 1927 aus.

„Karl-Heinz, du hast doch nicht etwa schon geschossen?“, erkundigte Anna sich mit besorgter Stimme.

„Doch, ich komme gerade vom Schießstand. Aber keine Bange, der Vogel sitzt noch bombenfest. Der wird noch lange dort oben auf der Stange hängen!“

„Und ich habe dich nicht einmal dabei beobachten können, weil ich mich mit dem Friedrich verquasselt habe. Das tut mir wirklich leid. Aber beim nächsten Mal schaue ich dir natürlich zu!“

„Ich lasse euch beiden besser alleine und werde selbst mal mein Glück versuchen", entschuldigte Friedrich Ottenhues sich hastig.

„Vielleicht gelingt es mir ja, dir den Vogel locker zu schießen, Karl-Heinz!“

Damit verschwand er, um sich zum Schießstand zu begeben.

Homann schaute ihm gedankenversunken hinterher.

„Keine Sorge, der Friedrich gibt nur seine obligatorischen Schüsse ab und steigt danach aus dem Wettbewerb aus. Er war ja schon einmal Schützenkönig und ist deshalb keine Konkurrenz für dich“, erklärte sie und fügte gedanklich für sich hinzu: „... Zumindest nicht, was das Königsschießen angeht ...“

„Auch wenn Friedrich rechtzeitig aus der Partie aussteigen sollte, verbleiben immer noch genügend andere Mitbewerber“, meinte Homann mit skeptischer Miene, „Ich werde mich besser gleich wieder in der Warteschlange anstellen. Doch vorher würde ich dich gerne zu einem Würstchen einladen, wenn du magst. Was hältst du von meinem Vorschlag?“

„Sehr gerne, ich freue mich schon den ganzen Tag auf eine frische Wurst vom Grill.“

„Na dann los!“

Nach diesen Worten ergriff er mit ungeschickten Bewegungen ihren Arm und zog sie sanft mit sich.

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Friedrich Ottenhues musste innerlich grinsen. Karl-Heinz würde für Anna glatt ins Wasser springen, wenn sie dies verlangen würde. Sollte er sich nur einen schönen Tag mit ihr machen! Mehr als Händchenhalten würde für ihn dabei nicht herausspringen.

Anna und er hatten bereits vor längerer Zeit ein Arrangement getroffen, von dem sie beide profitierten. Ihm wurde ganz warm ums Herz, wenn er an seine nächtlichen Besuche bei ihr dachte.

An diesem Tag trug sie ein sehr provokantes Kleid, über das bei den Männern hinter vorgehaltener Hand intensiv diskutiert wurde. Doch im Gegensatz zu seinen Schützenbrüdern wusste er nur zu genau, wie sie darunter aussah …

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Kriminalsekretär Martin Voß hatte sich sehr auf seinen freien Sonntag gefreut. Er war vierunddreißig Jahre alt, hatte kurz geschnittenes, dunkelblondes Haar und eine schlanke Figur.

An diesem Tag hatte er sich leger gekleidet, denn er wollte sich einer sportlichen Herausforderung stellen: Am Dienstag hatte er einem Nachbarn dessen Fahrrad abgekauft. Dieser traute sich nach einigen leichteren Stürzen, die in erster Linie auf sein fortgeschrittenes Alter zurückzuführen waren, nicht mehr auf den Sattel. An den folgenden Abenden hatte Voß in seiner Straße zur Belustigung seiner Nachbarn vorsichtig das Fahren mit dem neuen Gefährt geübt und war dabei nach und nach immer sicherer geworden.

Inzwischen war er mit dem Rad so vertraut, dass er sich für den heutigen Tag eine Fahrt ins etwa zehn Kilometer entfernte Salzbergen vorgenommen hatte. Insgeheim hatte er sich ausgemalt, durch das Radfahren seine Kondition steigern und sein allgemeines körperliches Wohlbefinden verbessern zu können. Außerdem hoffte er aufgrund seiner sportlichen Betätigung auf einen besseren nächtlichen Schlaf, in den er schon seit vielen Jahren nur sehr schlecht fand. Möglicherweise würde er Abend zu erschöpft für seine immer wiederkehrenden Alpträume sein, die ihn Nacht für Nacht mit den schlimmen Bildern von den Schlachtfeldern Nordfrankreichs quälten.

Die Erinnerungen an seine teilweise bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten Kameraden ließen ihn auch viele Jahre nach dem Gemetzel noch immer nicht los. Lange hatte er sich verzweifelt dagegen gewehrt, sich einzugestehen, dass ihm diese furchtbare Zeit noch immer zu schaffen machte. Doch im Laufe der Jahre waren die Gedanken an seine traumatischen Erlebnisse immer häufiger in seinen Kopf zurückgekehrt und hatten zunehmend sein Leben bestimmt. Mitte der Zwanzigerjahre war aus einem jungen, hoffnungsvollen Mann ein schreckhafter, unzufriedener und melancholischer Greis geworden! Letztlich waren die Geister seiner schrecklichen Kriegszeit für die Auflösung der Verlobung mit seiner damaligen Braut Annegret verantwortlich gewesen.

Immerhin hatte die schmerzhafte Trennung wie ein Weckruf auf ihn gewirkt. Er hatte sich damals einen Ruck gegeben und mit den Menschen aus seiner unmittelbaren Umgebung über seine Erlebnisse an der Front gesprochen. Endlich hatte er sich seine Probleme selbst eingestanden. Alleine diese Tatsache hatte ihm schon geholfen. Das Erlebte war ein unauslöschlicher Teil seines Lebens, den er zu akzeptieren hatte. Vielen anderen ging es nach dem Krieg ähnlich, wie er in zahlreichen Gesprächen erfahren hatte. Oft hatte er sich, wenn er depressiv zu werden drohte, ermahnt, sich stets das Glück vor Augen zu halten, im Gegensatz zu Millionen anderer junger Männer überlebt zu haben. Im Laufe der Zeit hatte er sein Leben wieder in den Griff bekommen und mit seinem Eintritt in die Kriminalpolizei zumindest beruflich wieder Fuß gefasst.