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Am frühen Neujahrsmorgen des Jahres 1935 beginnt im westfälischen Rheine mit dem Brand eines aufgeschichteten Stapels Kaminholz eine unheimliche Serie von vorsätzlich gelegten Feuern, die von der Kriminalpolizei zunächst nicht ernst genommen wird. Im Vordergrund des behördlichen Interesses steht vielmehr eine im Untergrund agierende kommunistische Gruppe, die die Bevölkerung mit Plakaten und Wurfzetteln zum Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime aufruft. Doch schon bald werden weitere Brände in der Stadt gelegt. Gibt es tatsächlich eine Verbindung zwischen den Brandstiftungen und der ´Verbreitung staatsgefährdenden Propagandamaterials´, wie SS-Hauptsturmführer Görges und Gestapo-Kommissar Rauher vermuten? Der nach seiner Schussverletzung wieder genesene Kriminalsekretär Martin Voß und sein Kollege Beckmann glauben im Gegensatz zu ihrem Vorgesetzten Lammerskitten nicht an diese Theorie und lenken ihre Nachforschungen insgeheim in eine andere Richtung. Als es bei einem neuerlichen Feuer ein erstes Todesopfer zu beklagen gibt, nimmt der öffentliche Druck auf die beiden ermittelnden Beamten weiter zu. Mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen sie, dem gemeingefährlichen ´Zündler´ das Handwerk zu legen.
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Seitenzahl: 430
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Am frühen Neujahrsmorgen des Jahres 1935 beginnt im westfälischen Rheine mit dem Brand eines aufgeschichteten Stapels Kaminholz eine unheimliche Serie von vorsätzlich gelegten Feuern, die von der Kriminalpolizei zunächst nicht ernst genommen wird. Im Vordergrund des behördlichen Interesses steht vielmehr eine im Untergrund agierende kommunistische Gruppe, die die Bevölkerung mit Plakaten und Wurfzetteln zum Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime aufruft.
Doch schon bald werden weitere Brände in der Stadt gelegt. Gibt es tatsächlich eine Verbindung zwischen den Brandstiftungen und der „Verbreitung staatsgefährdenden Propagandamaterials“, wie SS-Hauptsturmführer Görges und Gestapo-Kommissar Rauher vermuten? Der nach seiner Schussverletzung wieder genesene Kriminalsekretär Martin Voß und sein Kollege Beckmann glauben im Gegensatz zu ihrem Vorgesetzten Lammerskitten nicht an diese Theorie und lenken ihre Nachforschungen insgeheim in eine andere Richtung.
Als es bei einem neuerlichen Feuer ein erstes Todesopfer zu beklagen gibt, nimmt der öffentliche Druck auf die beiden ermittelnden Beamten weiter zu. Mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen sie, dem gemeingefährlichen „Zündler“ das Handwerk zu legen.
Dieter Heymann wurde 1968 in Spelle (Kreis Emsland) geboren und wuchs in Rheine auf, wo er auch heute lebt. Nach dem Abitur kam er in die öffentliche Verwaltung, in der er noch immer tätig ist. Neben Schwimmen und Radfahren liest er gerne Spannendes und engagiert sich in der Vorstandsarbeit seines Schützenvereins.
„Der Zündler“ ist der vierte Kriminalroman der Martin Voß-Reihe und schließt an die Bücher „Tod eines SA-Mannes“, „Blick ins Verderben“ und „Verhängnisvolle Verschwörung“ an. Außerdem verfasste der Autor den Inselkrimi „Das Sterben auf Neuwerk“.
Weitere Informationen gibt es auf der Facebook-Seite „Dieter Heymann (Autor)“.
„Meine Stadt brennt. Reicht mir ein Tränendöschen!“
Nero (* 15. Dezember 37 in Antium; † 9. oder 11. Juni 68 bei Rom), von 54 bis 68 Kaiser des Römischen Reiches.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Um Punkt zwölf Uhr in der Nacht ging der Trubel los. Die Menschen strömten trotz der nasskalten Witterung aus ihren warmen Wohnungen auf die Straßen und beglückwünschten einander. Eigentlich wäre es nur der ganz normale Übergang von einem Montag auf den Dienstag gewesen, wenn es sich in dieser Nacht nicht zufällig um den Jahreswechsel von 1934 auf 1935 gehandelt hätte.
Für viele der Bewohner Rheines war der Neujahrstag gleichbedeutend mit dem Einläuten einer weiteren Etappe in dem vor knapp zwei Jahren begonnenen Aufbruch in eine neue Zeit. Welche Fortschritte würde die Politik der nationalsozialistischen Regierung den Menschen im neuen Jahr wohl bringen?
Noch 1932, auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, war etwa jeder dritte Beschäftigte im Deutschen Reich arbeitslos gewesen. Dazu kamen die unzähligen Kurzarbeiter, die äußerst schlecht bezahlt wurden, sowie die vielen vom Konkurs bedrohten Kleinunternehmer.
Durch die im riesigen Umfang ins Leben gerufenen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der nationalsozialistischen Machthaber war die Massenarbeitslosigkeit seit 1933 kontinuierlich gesunken und schien inzwischen größtenteils überwunden zu sein. Zahlreiche Arbeiter und Angestellte hatten zumindest wieder eine Anstellung gefunden, wenngleich das Lohnniveau äußerst bescheiden blieb.
Doch die Bevölkerung in Deutschland ging im Allgemeinen dennoch optimistisch in das Jahr 1935. Die Nationalsozialisten hatten nicht zuletzt auch mit ihrer Beschäftigungspolitik die Masse des Volkes hinter sich gebracht.
Dass sie inzwischen eines Großteils ihrer persönlichen Freiheitsrechte beraubt waren und ihre Meinung nicht mehr frei äußern durften, dass Menschen, die die neuen Machthaber nicht der arischen Rasse zurechneten, systematisch aus der Gesellschaft ausgegrenzt wurden und dass die Regierenden selbst vor Morden gegen ihre Gegner nicht zurückschreckten, um ihre Macht zu sichern, konnten oder wollten viele Menschen nicht sehen.
Mit Spannung wartete man auf die weitere Entwicklung des Landes unter dem Führer und Reichskanzler Adolf Hitler.
In der Ferne war über der Silhouette der Emsstadt ein zwar bescheidenes, aber dennoch äußerst reizvoll anzusehendes Silvesterfeuerwerk zu bewundern. Nachbarn und Freunde tranken vor ihren Häusern ein Gläschen miteinander und wünschten einander ein frohes und glückliches neues Jahr. Man tanzte und sang gemeinsam fröhliche Lieder. Die Stimmung unter den Feiernden war ausgelassen. Erst der langsam einsetzende Nieselregen trieb die Menschen auseinander und in ihre Behausungen zurück.
Gegen zwei Uhr hatten sich die Straßen Rheines rechts der Ems, der östlichen Stadthälfte, völlig geleert. Kaum jemand war um diese Zeit noch draußen anzutreffen. Auch den Ausdauerndsten unter den Feiernden hatte das miese Wetter die gute Laune verdorben.
Die meisten Stadtbewohner waren schon bald nach ihrem mitternächtlichen Ausflug vor Kälte bibbernd in ihren Schlafkammern verschwunden. Nur die wenigsten von ihnen vergnügten sich im Kreise ihrer Familien oder Freunde noch einige Zeit weiter.
Niemand konnte ahnen, dass in dieser Nacht eine dramatische Verbrechensserie ihren Anfang nehmen sollte, die tragischerweise zunächst kaum Beachtung in der Bevölkerung fand. Auch die Polizei würde die Ereignisse in einer völligen Fehleinschätzung der Situation zu Beginn nicht mit dem nötigen Ernst behandeln und eine allerhöchstens zweitrangige Bedeutung beimessen. Denn im Vordergrund des behördlichen Interesses würden zu diesem Zeitpunkt die Aktionen einer als staatsgefährdend eingestuften Widerstandsgruppe stehen, die ebenfalls in dieser Nacht begannen.
Auch nachdem man den Ernst der Lage irgendwann endlich erkannt hatte, als sich das Ausmaß der Straftaten stetig steigerte, würden die unheimlichen Geschehnisse die Bewohner Rheines noch für lange Zeit in Angst und Schrecken versetzen.
*
Das gewaltigste und monumentalste Bauwerk der westfälischen Kleinstadt Rheine warf im schwachen Mondlicht riesige Schatten auf seine Umgebung. Die St.-Antonius-Basilika war von 1899 bis 1905 im neoromanischen Stil errichtet worden. Der Name der Kirche leitete sich vom heiligen Antonius von Padua ab. Mit 102,5 Metern besaß sie den höchsten Kirchturm im ganzen Münsterland und galt als einer der bedeutendsten Kirchenbauten des ausgehenden Historismus in Deutschland. Nicht einmal die Schornsteine der zahlreichen Textilfabriken im Stadtgebiet konnten mit der Höhe dieses Turms mithalten. Genau dies hatte Bauherr Dechant Bernhard Pietz auch beabsichtigt, als er vor dem Baubeginn der Kathedrale sein Motto verkündet hatte: „Hoch die Schornsteine – höher die Kirchtürme!“.
Der Mann hatte sich zu dieser Stunde eng an der südlichen Seite des aus Sandstein bestehenden Mauerwerks des Gebäudes geschmiegt. Mit seiner schwarzen Kleidung war er in der Dunkelheit kaum auszumachen.
Vorsichtig lauschte er in alle Richtungen. Die Nacht war still, lediglich der in Böen aufkommende Wind sorgte für gelegentliche Geräusche.
Doch plötzlich erstarrte er. Er war sich auf einmal sicher, in der Ferne menschliche Schritte vernommen zu haben. Richtig, da war tatsächlich jemand! Irgendwer kam über den Kirchplatz genau auf ihn zugelaufen.
Aber wer um Himmels willen konnte um diese Uhrzeit außer ihm noch in der Stadt unterwegs sein? War es denkbar, dass sich ein Feiernder noch auf dem Heimweg befand? Die Silvesterfeierlichkeiten dürften zu dieser späten Stunde allerdings längst beendet sein, sodass er diese Möglichkeit schnell als unwahrscheinlich verwarf.
Mit äußerster Anspannung lauschte er weiter in die Dunkelheit. Inzwischen war er sich sogar ziemlich sicher, die Fußtritte von gleich zwei Personen zu hören, die sich ihm von der Bevergerner Straße her näherten. Handelte es sich bei den beiden unbekannten Personen vielleicht um ein Paar, das seine Liebe zueinander verheimlichen und sich aus diesem Grund um diese unchristliche Uhrzeit treffen musste?
Hastig flüchtete er um die Ecke der Kirche und eilte lautlos die Treppen zur Portalhalle des Westchors hinauf. Aus seinem Versteck heraus lugte er vorsichtig hinter den steinernen Säulen hervor und sah plötzlich zwei dunkel gekleidete Gestalten mit Mützen auf ihren Köpfen, die an ihm vorbeihuschten. Beide schienen etwas in ihren Händen zu halten. Dem einen hing dabei die linke Schulter deutlich nach unten, weil er etwas Schweres mit sich zu führen schien.
Nachdem die Fremden an ihm vorübergegangen waren und fast schon die auf der gegenüberliegenden Seite des Areals vorbeiführende Ibbenbürener Straße erreicht hatten, löste er sich aus seinem Versteck und folgte ihnen unauffällig. Von weitem beobachtete er, wie sich das Duo vorsichtig in beide Richtungen umsah und anschließend mit schnellen Schritten die Fahrbahn überquerte.
Warum taten die Männer so geheimnisvoll? Was mochten sie im Schilde führen?
Neugierig geworden spähte er um die Ecke des an den Kirchenvorplatz angrenzenden Wohn- und Geschäftshauses. Im spärlichen Schein der Straßenbeleuchtung konnte er die Unbekannten wahrnehmen, die in einiger Entfernung auf der gegenüberliegenden Seite vor der Mauer einer Fabrik haltgemacht hatten. Mit einem Mal war es ihm auch möglich zu erkennen, was sie in den Händen gehalten hatten. Einer der Männer hatte einen Eimer auf dem Boden abgestellt, in den er einen langen Pinsel tünchte. Mit dessen Hilfe trug er mit hektischen Bewegungen eine zähflüssige Masse auf das Mauerwerk auf.
Sein Begleiter entrollte derweil Plakate von heller Farbe, die er auf die so behandelte Fläche anbrachte. Anschließend strich er mit der flachen Hand über das Papier, damit dieses am Mauerwerk haften blieb.
Nachdem die Männer die Wand auf diese Weise mit etwa einem Dutzend nebeneinander geklebten Anschlägen versehen hatten, nahmen sie ihre Arbeitsutensilien wieder vom Boden auf und machten sich mit hektischen Bewegungen in Richtung Innenstadt davon.
´Was in aller Welt mag das zu bedeuten haben?´, fragte er sich.
Er zögerte einen Augenblick, bevor er sich hinter der Gebäudeecke hervortraute und sich der Wand wissbegierig näherte.
Der frisch aufgetragene Kleister rann noch immer träge am Mauerwerk herunter und hatte teilweise schon den Boden erreicht, wie er mit einem raschen Blick feststellte. Doch sein eigentliches Interesse galt den Anschlägen. Das dämmrige Licht der Laternen reichte gerade aus, um das Symbol in der Mitte und die wenigen großen Buchstaben an den oberen und unteren Rändern der Plakate erkennen zu können.
Nachdem er den Text des Aushangs gelesen und sein Gehirn dessen hochexplosive Botschaft verarbeitet hatte, zuckte er erschrocken zusammen und sah sich sofort reflexartig nach allen Seiten um. Zum Glück war weit und breit keine Menschenseele zu sehen, wie er erleichtert feststellte.
Er musste schleunigst von diesem Ort verschwinden, denn sonst würde er großen Ärger bekommen, wie ihm sofort bewusst war!
Selbstverständlich würde auch er bei seinen Absichten, die er für heute Nacht ins Auge gefasst hatte, mächtige Schwierigkeiten bekommen, falls man ihn erwischen sollte. Doch war sein Vorhaben im Vergleich zu dem, was diese beiden Männer gerade riskierten, geradezu harmlos! In diesem Augenblick zählte jede Sekunde, die ihm verblieb, um sich möglichst rasch von der Mauer zu entfernen. Denn wenn ihn irgendwer mit dem Anbringen dieser Botschaften in Verbindung bringen sollte, konnte das für ihn fatale Folgen haben und unter Umständen sogar lebensgefährlich werden!
Panikartig flüchtete er darum wieder in Richtung Basilika und verbarg sich dort hastig erneut in der Dunkelheit des Eingangsbereiches. Unter dem hohen Dach des Westportals atmete er erst einmal tief durch und versuchte dabei, einen klaren Kopf zu bekommen.
´Oh Gott, vielleicht ist mir dort drüben etwas aus den Taschen gefallen?´, schoss es ihm unversehens durch den Kopf. ´Etwas, was meine Identität möglicherweise verraten könnte?´. Das wäre allerdings die reinste Katastrophe für ihn! Denn keinesfalls wollte er riskieren, noch einmal zu der Fabrikmauer mit seinen höchst brisanten Plakaten zurückzukehren.
Hektisch klopfte er seinen Mantel ab. Zu seiner großen Erleichterung fand er noch alle drei Gegenstände, auf die es gleich ankommen würde, an ihrem Platz.
Aber konnte er sein Vorhaben unter diesen Umständen wirklich noch ausführen oder sollte er es besser auf eine andere Nacht verschieben?
Er gab sich einen Ruck. Was war nur los mit ihm? Natürlich würde er seinen Plan durchziehen, denn was sollte schon schiefgehen? Die Anschläge würden bestimmt erst in einigen Stunden bemerkt werden, wenn es hell geworden und die Stadt erwacht war. Und zu diesem Zeitpunkt würde er mit dieser dilettantischen Aktion keinesfalls mehr in Verbindung zu bringen sein, weil er dann längst über alle Berge war.
Ursprünglich hatte er zwar ebenfalls auf der Ibbenbürener Straße zuschlagen wollen. Doch sich noch einmal in die Höhle des Löwen zu begeben, dazu fehlte ihm unter diesen Umständen verständlicherweise der Mut. Er würde seine Pläne also kurzfristig ändern müssen!
Nur langsam setzte er sich in Bewegung. Instinktiv hielt er dabei auf das andere Ende des Kirchplatzes zu, wo er kurze Zeit später die Bevergerner Straße erreichte. Dort angelangt, schaute er sich sofort begierig nach einem lohnenswerten Ziel um.
Als er sein Gesicht nach rechts wandte, fiel ihm gleich ein am Straßenrand geparktes Automobil ins Auge. Es handelte sich um einen grünen Opel 4/14 PS, der im Volksmund ´Laubfrosch´ genannt wurde. Dieses Fahrzeug war genau das, was er für seine Absichten benötigte!
Vorsichtig und dabei in alle Richtungen spähend wagte er sich weiter vor. Kurz darauf hätte er nur wenige dutzend Meter weiter fast vor Freude laut geschrien. An einer etwa zwei Meter hohen Begrenzungsmauer zwischen zwei Grundstücken hatte einer der Hauseigentümer ein kleines, behelfsmäßig wirkendes Dach aus Wellblechplatten angebracht, unter dem bereits klein gehacktes Brennholz säuberlich und akkurat aufgeschichtet war.
´Perfekt, wie für mich hergerichtet´, jubelte er innerlich und rieb sich vor Freude die kalten Hände. ´Leider werden die Holzvorräte für den langen Winter in diesem Jahr nur bis zum ersten Januar reichen´, dachte er anschließend voller Häme.
Eine seltsame innere Aufregung hatte unversehens von ihm Besitz ergriffen, als er mit der rechten Hand in die Tasche fasste und Flasche und Schlauch hervorzog. Hastig ging er die wenigen Meter bis zum Wagen zurück, überzeugte sich mit einem schnellen Blick in alle Richtungen, dass ihn niemand bei seinem Tun beobachtete und schraubte den Tankdeckel des Fahrzeugs auf. Dann stellte er die Flasche leise vor sich auf den Boden und führte das eine Ende des etwa zweieinhalb Meter langen, dünnen Schlauches in den Tankstutzen ein. Das andere Ende nahm er hingegen zwischen seine Lippen und begann an ihm zu saugen.
Sein Bestreben war es, einen Unterdruck im Tankbehälter zu erzeugen und auf diese Weise den Treibstoff durch das dünne Röhrchen nach oben zu befördern. Die Schwierigkeit bestand dabei darin, die Lippen im genau richtigen Augenblick vom Gummi seiner provisorischen Benzinleitung zu lösen und diese schnell in die Flasche zu stecken, bevor sein Mundraum mit der gefährlichen Flüssigkeit in Berührung kam.
Obwohl er in der Dunkelheit nicht kontrollieren konnte, wann sich der Treibstoff dem Schlauchende nähern würde, erwischte er instinktiv den passenden Moment und hatte das Endstück gerade in den Flaschenhals geschoben, als das Benzin auch schon zu fließen begann.
Es funktionierte! Er hätte seine Freude am liebsten laut hinausgeschrien!
Rasch füllte sich das gläserne Behältnis. Als es fast voll war, zog er den Schlauch kurz aus dem Tank, nahm das entgegengesetzte Ende schnell in die Höhe und ließ die Restflüssigkeit im Schlauch danach in den Treibstoffbehälter des Autos zurückfließen. Dann setzte er den Tankdeckel wieder auf und schraubte ihn zu, säuberte den Schlauch mit einem Lappen und steckte ihn zurück in seine Manteltasche. Anschließend ging er mit der gefüllten Flasche wieder zurück zu dem kleinen Anwesen, auf dem das aufgestapelte Brennholz gelagert war.
Dort beträufelte er das Holz mit dem Benzin aus der Flasche und legte mit dem Rest eine flüssige Spur, die von dem aufgeschichteten Material wegführte. Diese Fährte wollte er als Lunte verwenden.
Nachdem er die entleerte Flasche in der Innentasche seines Mantels verstaut hatte, zog er hämisch grinsend sein Feuerzeug hervor. Das Schauspiel konnte beginnen!
Bevor er den Treibstoff in Brand setzte, holte er noch einmal tief Luft. Dann bückte er sich und betätigte sein Feuerzeug.
Das Benzin entzündete sich sofort. Die Flamme wanderte in schnellem Tempo die wenigen Meter zum Brennholz, das plötzlich mit einem kurzen, dumpfen Knall in Flammen aufging. Die durch den Brand hervorgerufene plötzliche Helligkeit vor dem Haus ließ ihn zusammenzucken. Rasch machte er ein paar Schritte rückwärts und stieß dabei mit dem Fuß gegen eine Gießkanne, die irgendjemand dort abgestellt und er dummerweise zuvor übersehen hatte. Es schepperte fürchterlich, als der blecherne Behälter über den gepflasterten Boden glitt.
Fast sofort setzte von den umliegenden Grundstücken lautes Hundegebell ein. Erschrocken wandte er sich um und rannte voller Panik zum Kirchengelände zurück, wo er sich schleunigst hinter einem dicken Eichenstamm verbarg.
Es dauerte einige Momente, bis er sich beruhigt hatte. Nachdem sein Pulsschlag wieder Normalniveau erreicht hatte, traute er sich, zaghaft mit dem Kopf hinter dem Baum hervorzukommen, um einen vorsichtigen Blick auf das von ihm entfachte Feuer zu werfen.
*
Dort waren mittlerweile ein älterer und ein jüngerer Mann aus dem Haus gestürmt, die unter Ausstoßen zorniger Flüche die brennenden Holzscheite mithilfe von zwei Schaufeln aus dem Stapel zu reißen versuchten. Die beiden hatten sich offenbar in aller Eile Mäntel über ihre Nachtbekleidung geworfen und trugen noch ihre Hausschuhe, wie er aus der Ferne erkennen konnte.
Auch in den umliegenden Gebäuden waren die Bewohner inzwischen durch den Lärm erwacht. Erste Nachbarn eilten zum Unglücksort, um die Geschädigten beim Löschen des Feuers zu unterstützen. Ein junger Bursche schnappte sich die Gießkanne, tauchte sie in eine Regentonne mit Wasser und begoss damit die mittlerweile weiträumig auf dem Boden verteilten, glühenden Holzkloben. Diesen Vorgang musste er mehrfach wiederholen, weil er durch das Niederreißen des Holzstapels ständig Nachschub an brennendem Material bekam. Nach einiger Zeit gelang es der Gruppe auf diese Weise immerhin, den Brand zu löschen. Die Männer hatten das Schlimmste gerade noch verhindern können!
Nachdem sich alle von den Anstrengungen der Löscharbeiten erholt hatten, begannen sie lautstark miteinander zu diskutieren, was wohl der Auslöser des Feuers gewesen sein mochte. Dabei schaute sich der Hausherr mit fahrigem Blick mehrfach in der näheren Umgebung des Hauses um, als suche er dort nach dem möglichen Urheber des Brandes. Seine Augen blieben dabei auch einige Male am Buschwerk der Grünanlagen vor der St.-Antonius-Basilika hängen, in dem er offenbar den Übeltäter des nächtlichen Vorkommnisses wähnte.
Natürlich konnte er nicht ahnen, wie richtig er mit dieser Vermutung lag. Und erst recht konnte er nicht wissen, wie sehr der Verursacher dieser ungewollten Unterbrechung seiner Nachtruhe gerade heftigst mit sich selbst haderte.
*
Er hatte sich wirklich äußerst ungeschickt angestellt! Durch seine eigene Tolpatschigkeit hatte er die gesamte Nachbarschaft aufgeweckt und sich dadurch zudem selbst der Gefahr einer Entdeckung ausgesetzt. Dennoch hatte er die Szenerie, die sich ihm anschließend geboten hatte, für kurze Zeit fasziniert bewundert.
Doch nun musste er schleunigst an seinen Rückzug denken! Ansonsten könnte es tatsächlich gefährlich für ihn werden, denn einer der Männer schaute unablässig in seine Richtung, nachdem es ihm und seinen Helfern gelungen war, das Feuer zu löschen. Hastig zog er sich im Schatten der Bäume zurück, umrundete das Kirchengebäude und machte sich anschließend mit seinem Fahrrad auf den Heimweg.
Auch wenn das Ergebnis seiner Tat anders ausgefallen war, als er es sich ursprünglich vorgestellt hatte, überfiel ihn doch eine tiefe innere Befriedigung. Sein erstes Werk betrachtete er im Nachhinein als eine Art Test. Schon beim nächsten Mal würde er aus seinen Fehlern gelernt haben und bestimmt ein überzeugenderes Resultat erzielen.
Am Neujahrsmorgen sorgten die nächtlich angebrachten Plakate für ziemliche Aufregung in der SS-Dienststelle Rheines. Ein wachsamer Spaziergänger hatte sich bereits zu früher Stunde telefonisch gemeldet und sich über die ´staatsgefährdenden Botschaften´ erbost, die von Aushängen ausgingen, die offenbar in der Nacht von Unbekannten an einer Mauer in der Ibbenbürener Straße angebracht worden waren.
Sofort hatte Hauptsturmführer Görges, der nach dem ´Röhm-Putsch´ im letzten Jahr mit dem Aufbau der Schutzstaffel-Vertretung in Rheine beauftragt worden war, seinen Männern den Befehl erteilt, die Anschläge unverzüglich zu entfernen und die gesamte Stadt nach weiteren Plakaten derselben Art abzusuchen.
Schon bald meldeten sich weitere besorgte Menschen, die an anderer Stelle ähnliche Plakate vorgefunden hatten. Zwar waren die derart verunstalteten Wände in der Innenstadt unverzüglich wieder von den provokanten Aushängen befreit worden, doch schäumte Görges auch Stunden später noch vor Wut. Angesichts der Ungeheuerlichkeit, die diese völlig unerwartete Aktion in seinen Augen darstellte, befürchtete er für die Zukunft weiteren Ärger.
Keiner seiner Leute hatte während der Reinigungsarbeiten auf die hübsche junge Frau mit dunklem, schulterlangem Haar geachtet, die die Männer aus sicherer Entfernung aufmerksam bei ihren Aktivitäten beobachtet hatte.
Auch auf den beiden Polizeidienststellen der Stadt waren am frühen Morgen bereits einige empörte Meldungen selbigen Inhalts eingegangen, doch war man dort zu diesem Zeitpunkt bereits vom Hauptsturmführer informiert worden und konnte die aufgebrachten Menschen rasch beruhigen.
Gegen Mittag erschien ein älterer Mann auf der Nebenwache der Polizei in der Grabenstraße. Er stellte sich als Joachim Hiller vor und wollte eine Anzeige wegen Brandstiftung erstatten. Ein Unbekannter habe in den frühen Morgenstunden einen Stapel Brennholz im Vorgarten seines Grundstücks in der Bevergerner Straße angezündet. Er habe das Feuer zusammen mit seinem Sohn und einigen hilfsbereiten Nachbarn selbst löschen können, nachdem seine Familie von einem lauten, scheppernden Geräusch aus dem Schlaf gerissen worden sei, wie er erklärte.
Der diensthabende Wachtmeister nahm die Anzeige auf und begleitete den Geschädigten anschließend die wenigen hundert Meter zum Ort des Geschehens, um sich selbst ein Bild vom Ausmaß des Schadens zu machen.
Dort angekommen fiel ihm sofort die unregelmäßig über dem Boden des Hofes verteilte Ansammlung Brennholzes auf. Viele der wild verstreuten Holzscheite wiesen dabei dunkle Brandspuren auf.
Nach der Begutachtung des Schadens klingelte er an den Haustüren in der Nachbarschaft, um sich nach möglichen Zeugen des Vorfalls zu erkundigen. Doch weder der Hausherr selbst noch einer der umliegenden Anwohner hatten den Verursacher des Schadens in der Nacht bemerkt. Immerhin berichteten einige Anrainer dem Schutzpolizisten von einem schrillen Geräusch, durch das sie aus dem Schlaf gerissen worden seien und bestätigten damit die Angaben Hillers. Dieser Lärm wurde ihm abwechselnd als ´polternd´, ´klappernd´ und ´rappelnd´ beschrieben.
Da er von den Betroffenen und deren Nachbarn ansonsten wenig Hilfreiches in Erfahrung zu bringen vermocht hatte, verabschiedete er sich achselzuckend von dem Geschädigten und machte sich auf den Rückweg zur Wache. Dort vermerkte er den Besuch Hillers später im Wachbuch und verfasste einen kurzen Bericht über den Sachverhalt, den er seinem Vorgesetzten vorlegte.
Insgeheim hatte der Wachtmeister das Ganze von Anfang an für einen Dummen-Jungen-Streich gehalten, der es nicht wert war, sich weiter mit ihm zu befassen. Die Polizei würde den oder die Schuldigen mit den wenigen Anhaltspunkten, die ihr vorlagen, aller Voraussicht nach sowieso kaum dingfest machen können.
Damit war der Fall für alle Beteiligten erledigt und der Vorfall geriet schnell in Vergessenheit. Zumindest bis Ende Januar ...
*
Paula Hermanns weinte am späten Abend des 24. Januar wieder einmal still vor sich hin. Wie sollte es mit ihrem Leben an der Seite ihres Gatten in Zukunft nur weitergehen?
Ihr Mann hatte sich in den letzten Jahren stark verändert. Zu Beginn ihrer Ehe war er ihr gegenüber noch liebevoll und aufmerksam gewesen. Er hatte ihr in dieser Zeit buchstäblich jeden Wunsch von den Lippen abgelesen. Doch nach über zehn Jahren ihres bis dahin meist harmonischen Zusammenlebens hatte es vor einiger Zeit begonnen. Plötzlich hatte er mehr als früher getrunken und war dadurch ihr gegenüber zunehmend aggressiv geworden.
Zuerst waren es nur böse Worte gewesen, weil ihm das Essen nicht geschmeckt oder er am Zustand der Wohnung etwas auszusetzen hatte. Später waren wüste Beschimpfungen gefolgt und irgendwann hatte er sie zum ersten Mal geschlagen.
Das war vor ziemlich genau sechs Wochen gewesen, kurz vor Weihnachten. Sie würde diesen Tag niemals in ihrem Leben vergessen! Es war an einem Donnerstag passiert, natürlich! Denn an den Donnerstagen traf er sich nach der Arbeit mit seinen Kollegen zum wöchentlichen Stammtisch.
Jahrelang war dieses sich alle sieben Tage wiederholende Ritual nie ein Problem für ihr Eheleben gewesen. Er kam zwar leicht angeheitert, aber stets gut gelaunt nach Hause zurück und sie gönnte ihm das Zusammensein mit seinen Arbeitskollegen. Doch an diesem Tag war er sturzbetrunken in ihre Wohnung gestolpert und hatte vor dem Zubettgehen noch ein Hungergefühl verspürt. Mit rüder Stimme hatte er ihr befohlen, ihm rasch noch den Erbseneintopf aufzuwärmen, den sie während seiner Abwesenheit bereits für den nächsten Tag vorbereitet hatte.
Nachdem sie ihm schließlich einen vollen Teller vorgesetzt und er gekostet hatte, war er aufgesprungen und hatte sein Mahl mitsamt dem Teller an die Küchenwand geschmettert. Dann hatte er zu schreien begonnen und ihr vorgeworfen, sie solle endlich das Kochen erlernen und ihm nicht Tag für Tag einen solch miesen ´Zuchthausfraß´ vorsetzen. Als sie sich mit dem Hinweis auf das schmale Haushaltsbudget gewehrt hatte, war er völlig aus der Haut gefahren und hatte ihr das erste Mal ins Gesicht geschlagen. Sie war so erschrocken über ihn gewesen, dass sie in diesem Augenblick nicht einmal zu weinen imstande gewesen war.
Sehr zu ihrem Leidwesen war es seitdem nicht, wie sie anfangs noch gehofft hatte, bei diesem einen Ausrutscher geblieben, wie sie schon bald auf schmerzhafte Weise erfahren sollte. Im Gegenteil, seine Aggressivität hatte sich in den darauffolgenden Wochen stetig gesteigert. Fast täglich trug sie inzwischen von seinen Schlägen hervorgerufene Hämatome am Oberkörper und an den Armen davon, die sie nur mit den langen Ärmeln ihrer Bekleidung vor den neugierigen Blicken der Nachbarn verbergen konnte. Vor zwei Wochen hatte sie sich sogar für einige Zeit überhaupt nicht mehr aus dem Haus trauen können, weil sie nach seinen besonders heftigen Hieben gegen ihren Kopf tagelang ein heftig angeschwollenes Auge gehabt hatte.
Warum hatte er sich gegenüber ihren gemeinsamen Anfangsjahren nur so verändert? Lag es vielleicht daran, dass ihre Ehe ohne Kinder geblieben war?
Natürlich hatte er ihr auch hierfür die Schuld gegeben, wie er ihr in letzter Zeit immer häufiger verdeutlicht hatte. Es lag außerhalb seiner Vorstellungskraft, die Gründe für den fehlenden Nachwuchs bei sich selbst zu suchen.
Was konnte sie nur tun, damit dieser Albtraum endlich aufhörte?
Während sie sich wieder einmal voller Sorge Gedanken um ihre Zukunft machte und darum nicht in den Schlaf fand, hörte sie ihn friedlich neben sich schnarchen, als könne er kein Wässerchen trüben. Dabei hatte er sie auch an diesem Abend wieder einmal geschlagen. Inzwischen hatte sie nur noch ihre Ruhe vor ihm, wenn er bei der Arbeit war oder schlief.
Sie freute sich schon auf den kommenden Frühling. Dann würde er wieder mit dem Angeln beginnen und des Öfteren in seiner kleinen Hütte an der Ems übernachten. Leider war es jetzt, im Januar, noch viel zu kalt dazu. Paula wünschte sich sehnlichst, an der Uhr drehen zu können. Wäre es doch schon März oder April, damit er häufiger des Nachts außer Haus bliebe!
In dieser Nacht lag sie noch lange wach im Bett und dachte über sich und ihre Probleme nach.
*
Bereits vor einiger Zeit war ihm auf seinen täglichen Fahrradfahrten zur Arbeit ein freies Grundstück in der Aloysiusstraße aufgefallen. Dort wurde offenbar der Baum- und Strauchschnitt der gesamten Nachbarschaft gesammelt, um ihn im Frühjahr als Osterfeuer zu verbrennen. Gerade in der Zeit nach Weihnachten war diese Anhäufung gewaltig angewachsen, weil hier die Weihnachtsbäume aus den ringsum stehenden Häusern entsorgt worden waren. Schon länger juckte es ihn in den Fingern, den aufgeschichteten Haufen mit Grünabfällen in einem gewaltigen Feuer abfackeln zu lassen.
Heute Nacht würde er sein Vorhaben endlich in die Tat umsetzen!
In den letzten Tagen hatte er das Areal im Vorbeifahren immer wieder klammheimlich belauert und sich dabei jede Einzelheit eingeprägt. Inzwischen hatte er sich einen genauen Plan zurechtgelegt. Ein Malheur, wie es in der Bevergerner Straße geschehen war, würde ihm nicht noch einmal passieren! Dort war er seinerzeit lediglich für einen kurzen Moment unachtsam gewesen, was er in Zukunft selbstverständlich ausschließen musste. Dieses Mal würde es wirklich brennen, dafür würde er schon sorgen! Der für den Ostersamstag am 20. April angesetzte christliche Brauch, der zufällig sogar auf den Geburtstag des Führers fiel, würde in diesem Jahr durch sein Wirken um rund drei Monate vorverlegt werden!
Der stürmische Wind in dieser Nacht kam ihm dabei sehr gelegen, denn der würde das Feuer erst so richtig anheizen. Befriedigt strich er mit der Hand über die Flasche in seiner Tasche, die er auf dem Weg hierher bereits durch das Anzapfen eines Autotanks befüllt hatte. Die Vorstellung an die sich aufbäumenden Flammen ließ sein Herz schon im Vorfeld schneller schlagen. Sie würden das Areal beleuchten, die Gebäude erstrahlen lassen und Licht in die triste Dunkelheit bringen!
Aus sicherer Entfernung wollte er dieses Spektakel in aller Ruhe genießen. Ein passendes Versteck hierfür hatte er bereits ausgewählt. Die gegenüberliegende Straßenseite war nur dünn bebaut. In einigen hundert Metern Entfernung gab es hinter den Häusern einen kleinen Wald, in den er sich zurückziehen wollte. Von dort konnte er über die von der Aloysiusstraße wegführende Schützenstraße zügig zum Eschendorfer Friedhof gelangen, wo er auf dem Hinweg sein Fahrrad hinter einem Gebüsch abgestellt hatte. Sein Plan sah vor, sich später über die Schützenstraße stadtauswärts zurückzuziehen, nachdem er sein Werk ausgiebig bewundert hatte. Falls etwas schiefgehen sollte, hatte er immer noch die Möglichkeit, rasch auf die andere Seite des Friedhofsgeländes zu gelangen und von dort zu verschwinden.
Selbstverständlich würde der Brand irgendwann bemerkt werden. Irgendwer würde aufgeregt einen Nachbarn mit einem Telefonanschluss aus dem Bett klingeln und von dort die Feuerwehr verständigen. Und danach würden die Sirenen auf den Dächern der Stadt losheulen.
Auf diesen Moment freute er sich schon am meisten!
*
Die Familie Darthaus war an diesem Abend früh schlafen gegangen. Nachdem die sechs Kinder endlich in ihren Betten gelegen hatten, hatten sich auch die Eheleute Waltraud und Mathias für die Nacht bereit gemacht. Im Bett liegend hatten beide anschließend noch eine Viertelstunde gelesen, bevor sie um 22 Uhr das Licht im elterlichen Schlafzimmer gelöscht hatten.
Darthaus war selbstständiger Elektriker und hatte für den nächsten Tag einige Kundentermine, bei denen er kleinere Montagen oder Reparaturen vorzunehmen hatte. Es würde ein langer Tag für ihn werden, den er möglichst ausgeruht angehen wollte.
Seiner Frau erging es da nicht besser. Sie würde den Kindern nach dem Wecken ein Frühstück zubereiten, bevor sich diese auf den Weg zur Schule machten. Nur der Jüngste konnte noch liegen bleiben, weil er mit seinen vier Jahren erst im nächsten Jahr eingeschult werden würde.
Später, nachdem auch er gegessen hatte, würde sie sich um den Haushalt und die Wäsche kümmern. Im Anschluss musste sie das Mittagessen zubereiten, denn um kurz nach 13 Uhr würden die anderen fünf Nachkommen aus der Schule zurückkommen und erneut mit hungrigen Mägen am Küchentisch sitzen.
Danach musste sie sich weiter um den Haushalt kümmern und anschließend das Abendbrot zubereiten, wenn ihr Mann nach Hause gekommen war. Zum Glück waren die beiden Ältesten inzwischen reif genug, um sie, wenn auch meist murrend, bei einigen ihrer Aufgaben zu unterstützen.
Zärtlich schmiegte sie sich an ihren Mann. Nach einem Kuss wünschten sie einander eine gute Nacht und waren schon bald darauf eingeschlafen.
Gegen zwei Uhr wurde Mathias Darthaus wie aus heiterem Himmel von seltsamen Geräuschen aus dem Schlaf gerissen. Als er die Augen aufschlug, bemerkte er hinter dem dünnen Vorhang vor dem Fenster ein flackerndes Licht, das von draußen herrührte. Sofort war er hellwach und rüttelte energisch an den Schultern seiner Frau.
„Waltraud, wach auf. Draußen brennt es!“
Panisch sprang er aus dem Bett und eilte zum Fenster, wo er den Vorhang zurückschob. Nach einem hastigen Blick nach draußen rief er seiner Frau zu:
„Der Holzhaufen nebenan steht in Flammen. Die Funken fliegen bis auf unser Haus. Weck schleunigst die Kinder auf, denn es könnte gefährlich für uns werden. Ich laufe schnell zu Doktor Herten rüber, der ein Telefon hat. Er wird für uns die Feuerwehr anrufen.“
Noch während er sprach, hatte er nach seiner Hose gegriffen, in die er in Windeseile hineinschlüpfte und warf sich beinahe gleichzeitig eine Strickjacke über. Dann streifte er seine Hausschuhe über, rannte die Treppe hinunter, ergriff dort seinen Mantel und riss die Haustür auf, die kurz darauf laut krachend hinter ihm ins Schloss fiel.
*
Um diese Uhrzeit war die Aloyisiusstraße wie ausgestorben. Der Ostwind war in dieser Nacht eiskalt und sorgte dafür, dass das Thermometer trotz der ohnehin schon tiefen Temperaturen noch einige Grad Celsius weniger anzeigte.
Doch für ihn spielte die Kälte keine Rolle, denn in seiner Vorfreude spürte er die lausige Witterung kaum.
Als auch das letzte Licht in den Häusern endlich erloschen war, traute er sich aus seinem Versteck hervor und betrat das freie Grundstück.
Natürlich war das Holz durch die Niederschläge der letzten Wochen feucht, aber mit dem Inhalt seiner Flasche würde er es schon entzünden können. Hastig verteilte er das Benzin über einige ausgediente Weihnachtsbäume. Mit dem Rest legte er eine feuchte Spur, die vom aufgeschichteten Holzschnitt wegführte.
Als die Flasche leer war, steckte er sie ein, holte sein Feuerzeug hervor und entzündete mit dessen Hilfe das Ende seiner selbst gelegten Lunte. Sofort wanderte das flache Feuer auf die Grünabfälle zu. Mit einem sanften Knall schlug plötzlich eine in diesem Stadium des Brandes noch bescheidene Feuersäule hoch. Für einen Augenblick schaute er dem Treiben der Flammen fasziniert zu, bevor ihm bewusst wurde, wie leicht er im Schein des Feuers auszumachen war. Langsam, dabei jedoch immer sein Werk betrachtend, zog er sich deshalb in sein Versteck zurück.
Die Lohe fand jetzt immer neue Nahrung, wie er von dort aus freudig registrierte. Immer wieder fachte der Wind das Feuer am Boden an und trieb die Flammen in die Höhe. Schon bald brannte der ganze Berg aus Strauchschnitt und Grünabfällen lichterloh. Einige Wildkaninchen, die unter dem aufgeschichteten Material Schutz gesucht hatten, stoben in alle Richtungen davon. Funken flogen durch die Luft und verteilten sich auf den Dächern der umliegenden Häuser.
Im Obergeschoss des Gebäudes auf der linken Seite wurde das Licht angemacht. Jemand schob den Vorhang beiseite und starrte für einen Moment auf das Feuer. Kurze Zeit später eilte ein Mann aus dem Haus und spurtete einige Dutzend Meter über die Straße, um abrupt vor einer Haustür in der Nachbarschaft zu bremsen, gegen die er energisch mit den Fäusten schlug. Zwar konnte er nicht verstehen, was der Mann in diesem Augenblick rief, aber offensichtlich versuchte er verzweifelt, die Bewohner des Gebäudes mit seinem Getöse aufzuwecken. Wahrscheinlich gab es in diesem Haus ein Telefon, von dem aus die Feuerwehr verständigt werden konnte.
In den nächsten Minuten verfolgte er atemlos das Geschehen. Inzwischen wurde die ganze Straße durch die riesigen Flammen erhellt.
Plötzlich ertönte in der Ferne eine Sirene. Das Signal für die Feuerwehrleute, sich unverzüglich auf den Weg zu ihren jeweiligen Einsatzstellen zu begeben. Dieser Ton klang wie Musik in seinen Ohren! Es dauerte nur wenige Sekunden, bevor weitere Alarmanlagen in das Geheul ihrer Vorreiterin einstimmten. Bald würde es in der ganzen Straße von Menschen wimmeln.
Für ihn war damit bedauerlicherweise die Zeit des Aufbruchs gekommen. Nur schweren Herzens konnte er sich vom faszinierenden Anblick der hochschlagenden Flammen trennen.
*
Es war genau zwei Uhr neun, als Oberfeuerwehrmann Ulrich Karger den Notruf Doktor Hertens entgegennahm. Durch die Schilderungen des Anrufers aufgeschreckt weckte er sofort nach dem Telefonat seinen Kameraden Franz Thale, der auf einer Pritsche schlief und setzte anschließend die Sirene auf dem Dach des Gebäudes in Gang.
Durch den heulenden Ton wurden die anderen, für die jeweiligen Alarmanlagen zuständigen Personen in Rheine, veranlasst, seinem Beispiel zu folgen und ebenfalls den Feueralarm auszulösen. Der auf diese Weise akustisch verbreitete Einsatzbefehl würde dafür sorgen, dass schon bald die ersten Feuerwehrangehörigen eintrafen.
Karger und Thale nutzten die Zeit bis dahin, um die Tore des Geräteschuppens schon einmal zu öffnen und die Fahrzeuge für den Einsatz vorzubereiten.
Streng genommen gehörten beide seit dem 15.12.1933 der zumindest für die Berufsfeuerwehren geltenden Bezeichnung ´Feuerlöschpolizei´ an. An diesem Tag war nämlich in Preußen ein Gesetz zum Feuerlöschwesen in Kraft getreten, welches die reformierte Namensgebung erstmalig erwähnte. Doch die neue Benennung der Löschtruppe hatte sich in der Bevölkerung umgangssprachlich bislang noch nicht durchsetzen können.
Rheines Feuerwehr besaß noch immer kein eigenes Gerätehaus, obwohl dies in den letzten Jahren zunehmend energischer von Wehrleuten gefordert worden war. Die Ausrüstungsgegenstände, Gerätschaften und Fahrzeuge wurden seit langem in eher provisorischen Unterstellmöglichkeiten, wie beispielsweise auf dem Gelände der Stadtwerke, im Emstorbad oder in einem Anbau an den früheren Staelschen Hof über der ganzen Stadt verteilt gelagert.
Die beiden sich augenblicklich in Bereitschaft befindlichen Feuerwehrleute hielten sich hingegen im Wachlokal an der Ecke Hovestraße/Hindenburgstraße auf, wo auch eine Wellblechgarage für die Fahrzeuge erbaut worden war. Aus dieser fuhr der Oberfeuerwehrmann zunächst die Kraftfahrspritze heraus. Das Fahrzeug zur Brandbekämpfung und Wasserförderung von der Firma Magirus aus Ulm konnte zusätzlich bis zu elf Mann Besatzung aufnehmen.
Feuerwehrmann Thale hatte derweil schon den Motor des Wasserwagens, ebenfalls ein Magirus, angeworfen und steuerte diesen zügig aus dem Schuppen hinaus. Der Wagen war früher einmal ein städtischer Sprengwagen gewesen, bevor er im Jahr 1928 der Feuerwehr überlassen worden war.
Inzwischen war ein erster Mann mit seinem Fahrrad vorgefahren. Es handelte sich um Brandmeister Heinz Kempmann, der in unmittelbarer Nähe zum Wachlokal wohnte. Im Laufschritt stürmte er in die Garage, öffnete dort hastig seinen Spind und legte seine Schutzausrüstung an. Dabei rief er den bereits Anwesenden mit lauter Stimme zu:
„Heil Hitler! Was liegt an?“
Karger und Thale waren wieder in die Baracke geeilt, um den dort abgestellten Hydrantenwagen hinauszuschieben und an die Kraftfahrspritze anzuhängen. Über die Schulter rief Ersterer:
„Feuer auf einem freien Grundstück in der Aloysiusstraße rechts der Ems. Die Nachbarhäuser sind offenbar durch Funkenflug gefährdet!“
Weitere Wehrleute waren inzwischen eingetroffen und rannten zu ihren Spinden, um sich ebenfalls umzuziehen. Kempmann setzte sich in einen Opel Blitz, der als Mannschaftswagen diente und stellte diesen auf dem engen Platz bereit, während Feuerwehrmann Adolf Eiter sich hinter das Lenkrad der Kraftfahrleiter, ebenso ein Magirus, setzte und mit ihr auch das letzte Fahrzeug aus der Garage fuhr.
Immer mehr Mitglieder der Wehr kamen mittlerweile mit ihren Zweirädern vorgefahren.
Um zwei Uhr achtundzwanzig gab Brandmeister Heinz Kempmann den Befehl zur Abfahrt. Die bereits mit einem modernen Martinshorn ausgestattete Motorspritze setzte sich an die Spitze der kleinen Kolonne, als die ersten drei Wagen den Hof verließen. Lediglich der Mannschaftswagen sollte noch einige Zeit auf die später eintreffenden Feuerwehrleute warten, um den anderen Fahrzeugen danach zu folgen.
Schnell hatte Kempmann den Ernst der Lage erkannt, als sie etwa fünf Minuten später in der Aloysiusstraße eintrafen. Eine mächtige Anhäufung Grünschnitt war in Brand geraten und hatte ein gewaltiges Feuer entfacht. Der Haufen war zwar schon deutlich in sich zusammengesunken, doch trieb der heftige, aus Nordosten kommende Wind die in der Luft umherwirbelnden Funken auf die umliegenden Gebäude zu. Vor allem das Haus, dass sich direkt links neben dem unbebauten Areal befand, war im höchsten Grade gefährdet.
„Wasserwagen zum Schutz des Hauses auf der linken Seite in Stellung bringen und sofort löschen. Motorspritze und Hydrantenwagen vor dem Feuer aufstellen und Schläuche ausrollen.“ Mit lauter Stimme gab der Brandmeister seine knappen Kommandos.
Glücklicherweise war gegen Ende des letzten Jahrhunderts in der ganzen Innenstadt ein Geflecht von Wasserleitungen verlegt worden, das nach und nach auch auf die umliegenden Viertel ausgedehnt worden war. An dieses Rohrnetz konnten die beiden mitgeführten Hydranten angeschlossen werden, die wiederum mit den Schläuchen verbunden wurden, die hastig von den Fahrzeugen herbeigeschafft wurden.
Als der Mannschaftswagen mit den Nachzüglern eintraf, gab Kempmann mit seiner alles übertönenden Stimme gerade das Kommando „Wasser Marsch!“.
Aus den Spritzen, die wegen des hohen Drucks von jeweils zwei Männern gehalten werden mussten, schoss daraufhin sofort das Wasser zum Löschen des Feuers.
„Eiter, Krömer und Höffner, ihr begutachtet die Nachbargebäude und Grundstücke. Schaut euch sorgsam um, ob noch irgendwo die Gefahr eines weiteren Brandes besteht!“, befahl der Brandmeister einigen der neu Hinzugekommenen, die sich nach seinen Worten unverzüglich auf den Weg machten.
Inzwischen war das Dach des am meisten gefährdeten Gebäudes durch dessen Berieselung mit Wasser ausreichend vor dem Funkenflug geschützt. Allerdings waren die Vorräte des Wasserwagens mittlerweile auch erschöpft.
Kempmann versuchte, die Bedrohung einzuschätzen, die jetzt noch von dem Feuer ausging. Er war sich sicher, den Brand schon bald unter Kontrolle zu haben. Das Anschließen eines dritten Hydranten hatte sich somit vermutlich erübrigt, wenn der gewaltige Funkenflug nicht irgendwo in der Nachbarschaft doch noch für einen bislang nicht entdeckten Schwelbrand gesorgt hatte, der sich schnell zu einem offenen Feuer entwickeln konnte.
Trotz der ungemütlichen Kälte schien inzwischen die ganze Straße auf den Beinen zu sein. Viele besorgte und wahrscheinlich auch neugierige Nachbarn harrten aus und schauten dem Treiben der Wehrleute zu.
Kempmann kam beim Betrachten der Menge plötzlich ein Gedanke. Er rief einen jungen Feuerwehranwärter zu sich und wies ihn an:
„Heckmann, schick die Leute nach Hause und informiere sie, dass für ihre Häuser keine Gefahr mehr droht. Frag bei dieser Gelegenheit doch gleich mal nach, wer von denen uns angerufen hat und bring mir diese Person her.“
„Wird erledigt, Herr Brandmeister.“ Der junge Mann drehte sich um und bewegte sich danach sofort auf die Menschenansammlung zu.
Ein erster Schutzpolizist war währenddessen eingetroffen. Dieser lehnte sein Fahrrad an einen Zaun, blickte sich einen Moment lang suchend um und ging danach zielstrebig auf Kempmann zu, den er rasch als den Einsatzleiter ausgemacht hatte. Er grüßte kurz und ließ sich danach in knappen Worten den Sachverhalt schildern. Nachdem er den Bericht des Feuerwehrmannes gehört hatte, fragte er:
„Was hat den Brand denn Ihrer Meinung nach ausgelöst?“
Der Gefragte antwortete:
„Wenn Sie sich noch einen Augenblick gedulden, kann ich es Ihnen vielleicht schon genau sagen.“
Das Feuer war inzwischen fast vollständig gelöscht. Nur noch die nach oben steigende, dichte Rauchwolke zeugte von dem heftigen Brand, der hier noch bis vor kurzem gewütet hatte. Auf dem Boden des Geländes zeigten sich zwar noch vereinzelte Glutnester, die aber ebenfalls schon bald durch das Löschwasser erstickt sein würden.
Willi Heckmann hatte zwei Männer im Schlepptau, als er zum Einsatzleiter zurückkam.
„Das ist Herr Darthaus, der gleich hier vorne wohnt.“ Dabei zeigte er auf das Gebäude, das sie mithilfe des Spritzwagens gesichert hatten. „Er hat das Feuer als Erster bemerkt. Begleitet wird er von Doktor Herten, dessen Haus einige Meter weiter südlich steht und der uns telefonisch verständigte, nachdem ihn sein Nachbar aus dem Bett geklingelt hatte.“
Damit zog sich der Feuerwehranwärter zurück. Kempmann und der Schutzpolizist begrüßten hingegen die beiden Anwohner. Ersterer kam gleich zur Sache:
„Ein Feuer entsteht nicht einfach so. Es braucht dazu einen brennbaren Stoff, die Zufuhr von Sauerstoff und das Erreichen der Entzündungstemperatur des brennbaren Materials. Theoretisch wäre natürlich ein Blitzeinschlag als Zündquelle denkbar. Doch ein Gewitter gab es heute Nacht über Rheine nicht! Also stehen wir, so fürchte ich, vor einem ernsthaften Problem, denn der Brand wurde mit ziemlicher Sicherheit vorsätzlich gelegt. Um das feuchte Material zum Brennen zu bringen, muss ein Brandbeschleuniger verwendet worden sein, wie beispielsweise Spiritus, Benzin oder reiner Alkohol.“
Die beiden Anwohner sahen sich betreten an.
„Aber wer macht denn so etwas? Ich meine, die Gefahr, die unseren Häusern drohte, muss dem Brandstifter doch bewusst gewesen sein“, brachte der Doktor seinen Unmut zum Ausdruck. „Haben Sie denn jemanden bemerkt, als sie aus dem Fenster schauten oder zu Doktor Herten hinüberliefen?“, fragte Wachtmeister Schüttemeier und hatte sich dabei Darthaus zugewandt, der den Schutzpolizisten daraufhin verwundert ansah.
„Nein, da war niemand“, antwortete dieser. „Ich hatte es natürlich in diesem Moment sehr eilig und habe mich nicht weiter auf der Straße umgesehen. Aber zumindest in der Nähe des Feuers hat sich dieser Halunke zu diesem Zeitpunkt nicht mehr aufgehalten.“
„Das hier hätte böse ausgehen können“, meinte Kempmann nachdenklich. „Wir können nur hoffen, dass der Übeltäter im Nachhinein die Gefährlichkeit seines Handelns erkennt und einen solchen Unfug in Zukunft unterlässt.“
Es war schwer für ihn, sich an die neue Umgebung zu gewöhnen. Seine Geschwister hatten es nach ihrem Umzug in das neue Heim da schon einfacher. Sie konnten nach draußen gehen und im großen Innenhof ´Räuber und Gendarm´ spielen. Selbst Heidelinde, seine nächstjüngere Schwester, ließen sie schon mitmachen. Lediglich er als Nachzügler durfte seinen Geschwistern immer nur zuschauen. „Dafür bist du noch zu klein“, wurde ihm stets gesagt. Meist langweilte er sich furchtbar, wenn er wieder einmal alleine auf dem kleinen Podest aus Beton vor der Haustür saß. Wie gerne hätte er Freunde in der Gegend gehabt! Doch im ganzen Haus gab es niemanden in seinem Alter.
Die Eintönigkeit seines Daseins änderte sich erst, als eines Tages eine Familie mit mehreren Kindern in die Wohnung unter ihnen einzog. Mit neugierigen Blicken verfolgte er die vielen fleißigen Helfer, die sich, mit Möbelstücken oder Kisten beladen, die Treppe hochkämpften und in den Räumlichkeiten ihrer neuen Nachbarn verschwanden.
Als gerade zwei Männer mit einem Sofa in den Händen die Stufen erklommen hatten und heftig schnaufend durch die offenstehende Wohnungstür verschwunden waren, sah er plötzlich ein blondes Mädchen in seinem Alter, das den Möbelpackern leise gefolgt sein musste. Nachdem sie ihn entdeckt hatte, sah sie sofort verlegen zur Seite und rannte den Männern schnell hinterher.
Er sah sie erst am nächsten Tag wieder. Sie saß vor dem Gebäude inmitten eines Haufens weißen Sands, der wohl von einer der vielen kleineren Baumaßnahmen der letzten Jahre übrig geblieben war. Mittels eines ausrangierten Löffels und dem Regenwasser einer nahestehenden Tonne formte sie aus dem Material kleine Klumpen.
Hinter ihr stehend, sah er ihr eine Weile schweigend zu. Sie tat zunächst so, als bemerke sie ihn nicht. Doch nach einiger Zeit blickte sie immer wieder verstohlen zu ihm auf. Als er es seinerseits schließlich vor Neugier nicht mehr aushielt, nahm er seinen ganzen Mut zusammen und wollte von ihr wissen:
„Was machst du da?"
Sie schaute ihn verständnislos an und antwortete schnippisch:
„Das siehst du doch, ich backe Kuchen." Dabei formte sie mit dem Löffel erneut einen feuchten Klumpen Sand zurecht. Noch einmal überwand er seine Scheu und fragte:
„Darf ich dir helfen?"
Der folgende Moment schien für ihn eine halbe Ewigkeit zu dauern. Während sie ihn kritisch musterte, bedauerte er es schon, seine fast flehentlich vorgetragene Bitte überhaupt ausgesprochen zu haben.
„Na klar", antwortete sie auf einmal zu seiner Überraschung. „Aber du hast keinen Löffel! Du wirst also mit den Händen
backen müssen." Erfreut hockte er sich zu ihr und begann im Sand zu wühlen.
„Wie heißt du?", wollte sie irgendwann von ihm wissen.
Er nannte ihr seinen Namen.
„Und du?", fragte er nun seinerseits.
„Ich bin die Margret."
***
Der Revierleiter der Polizeidienststelle Rheine war in diesen Tagen guter Dinge. Lammerskitten, der sich inzwischen mit großem Enthusiasmus in der lokalen Parteileitung der NSDAP engagierte, hatte geradezu euphorisch das Ergebnis der Saar-Abstimmung zur Kenntnis genommen. Dort hatte die Bevölkerung in einer Abstimmung am 13. Januar mit mehr als 90 Prozent über die Vereinigung mit dem Deutschen Reich entschieden.
In einem Artikel des Rheiner Beobachter wurde Reichskanzler und Führer Adolf Hitler mit den Worten zitiert: „Damit ist einer der Versailler Unrechtsakte endgültig beseitigt.“ Dieser Meinung konnte sich Lammerskitten nur vorbehaltlos anschließen. Die Ausweitung der Reichsgrenzen sorgten bei ihm für ein lang anhaltendes Hochgefühl.
Entsprechend beschwingt war er an diesem Morgen zur Arbeit erschienen, wo er bei einer Tasse heißen Kaffees gerade an seinem Schreibtisch saß. Kurz zuvor hatte seine Sekretärin ihm die Berichte über die Vorkommnisse des vergangenen Tages vorgelegt, die er interessiert durchblätterte.
Als er sich die Schilderung eines nächtlichen Brandes in der Aloysiusstraße Wachtmeister Schüttemeiers vornahm, stutzte er bereits nach den ersten Zeilen. Hastig las er den Bericht zu Ende und dachte anschließend einen Moment lang nach.
Es hatte einige Wochen zuvor bereits einen ähnlichen Vorfall gegeben, an den er sich sofort erinnerte. Mit einem unguten Gefühl im Bauch erhob er sich von seinem Schreibtisch, ging zur Tür und riss diese auf.
„Fräulein Hubbert, bitte lassen Sie mir den Bericht des Kollegen Scheipering vom 1. Januar dieses Jahres zukommen“, rief er in das Vorzimmer hinein. „Es ging seinerzeit um ein Feuer in der Nähe der Basilika.“
Die Sekretärin bemerkte den ungeduldigen Ton in der Stimme ihres Chefs und erhob sich deshalb schleunigst von ihrem Stuhl.
„Einen kleinen Augenblick bitte, Herr Lammerskitten. Ich suche das gewünschte Dokument schnell heraus und bringe es Ihnen danach gleich ins Büro.“
Zielsicher ging sie zu einem Regal, schaute schnell die Reihen der dort aufgestellten Ordner durch und nahm einen von ihnen heraus. Bereits nach kurzem Blättern in der Akte fand sie den verlangten Vorgang. Um ihrem Vorgesetzten unnötiges Suchen zu ersparen, machte sie die entsprechende Seite in der Akte kenntlich und legte sie ihm danach vor. Lammerskitten bedankte sich und schlug sogleich den Hefter auf.
„Hm ...“, hörte ihn Fräulein Hubbert beim Verlassen des Zimmers nachdenklich brummen.
„Stimmt etwas nicht?“, fragte sie ihn noch in der Tür stehend.
„Tja, das weiß ich ehrlich gesagt selbst noch nicht. Es gab in der Silvesternacht einen Fall von Brandstiftung in der Bevergerner Straße. Seinerzeit wurde ein Stapel Kaminholz angezündet. Der Täter war nach seiner Tat so tollpatschig, die Bewohner bei seiner Flucht aus dem Schlaf zu reißen, weil er einen Radau veranstaltete, wie es ihn nur eine ganze Kompanie Soldaten zu vollbringen vermag. Die Geschädigten konnten das Feuer vermutlich nur aus diesem Grund mit der Hilfe ihrer Nachbarn relativ schnell löschen.
Heute gab es in den frühen Morgenstunden erneut ein Feuer, wie ich den Berichten entnehme. In der Aloysiusstraße wurde ein Haufen gesammelten Schnittholzes angezündet. Das Material sollte ursprünglich wohl für ein Osterfeuer verwendet werden.“
„Aber der Brand in der Bevergerner Straße ist über drei Wochen her. Vermuten Sie etwa einen Zusammenhang zwischen den beiden Taten?“
„Das ist die große Frage. Vielleicht handelt es sich ja nur um die Streiche übermütiger Jünglinge. Normalerweise hören die irgendwann von selbst auf, wenn die Burschen den Spaß an ihren Albernheiten verlieren. Doch in beiden Fällen hätte es brenzlig werden können, wenn die Anwohner nicht so aufmerksam reagiert hätten.
Ich möchte dieser Geschichte deshalb genauer auf den Grund gehen. Bitte schicken Sie mir doch mal Zager herein, Fräulein Hubbert. Ich werde über den Vorfall inzwischen schon mal eine Mitteilung für die Presse verfassen, die Sie bitte nachher an den Rheiner Beobachter weiterleiten.“
Eine Viertelstunde später saß Kriminalassistentenanwärter Franz Zager vor dem Schreibtisch des Revierleiters. Der junge Mann war gerade einmal neunzehn Jahre alt und erst im letzten Jahr zur Kriminalpolizei gekommen.
Lammerskitten setzte ihn über die Brände in Kenntnis und trug ihm auf, sich an beiden Tatorten jeweils in der Nachbarschaft umzuhören und sich bei den involvierten Kollegen näher über die Vorfälle zu informieren. Anschließend solle er ihm persönlich Bericht erstatten.
Zager machte sich sofort ans Werk. Er unterhielt sich an diesem und dem folgenden Tag mit den betroffenen Personen und forschte im Umfeld der Brandstellen nach Zeugen, die eventuell verdächtige Beobachtungen gemacht hatten. Danach befragte er die beiden Schutzpolizisten, die an den jeweiligen Tatorten erschienen waren und später ihre Berichte verfasst hatten. Auch die Feuerlöschpolizei suchte er auf, wo er ein Gespräch mit Oberbrandmeister Gustav Steeger führte. Dieser konnte ihm allerdings lediglich schildern, was er von seinen Leuten erfahren hatte, weil er persönlich nicht am Einsatz in der Aloysiusstraße am frühen Freitagmorgen beteiligt gewesen war.
Das Ergebnis seiner Nachforschungen fiel äußerst dürftig aus. Niemand hatte den Brandstifter bei den Vorbereitungen für seine Taten oder bei deren Ausführungen gesehen. Auch die schriftlichen Abhandlungen der beiden Kollegen von der Schutzpolizei gaben kaum verwertbare Informationen her.
Mit dieser mageren Ausbeute wurde Zager am späten Samstagnachmittag bei Kriminalkommissaranwärter Lammerskitten vorstellig.
„Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Wir können sicher sein, es handelt sich in beiden Fällen um Brandstiftung, haben ansonsten aber nichts! Stimmen Sie mir zu?“, fragte der Revierleiter seinen jungen Untergebenen und sah ihn dabei mit strengem Blick an.
„Ja, da haben Sie leider recht“, musste Zager kleinlaut zugeben.
„Ließ sich wenigstens feststellen, ob es sich in beiden Fällen um den gleichen Täter handelt?“
„Oberbrandmeister Steeger war zum Zeitpunkt unseres Gespräches von seinen Leuten bereits genauestens über das zweite Feuer informiert worden. Nachdem ich ihm die Umstände des ersten Brandes geschildert hatte, spricht in seinen Augen auch beim Feuer in der Silvesternacht einiges für den Einsatz eines Brandbeschleunigers. Weitere Übereinstimmungen ließen sich allerdings nicht feststellen.“
„Nun, das ist nicht viel. Mit diesen Erkenntnissen werden wir den Schuldigen kaum ermitteln können. Hoffen wir also, dass wir nie wieder von ihm hören werden.“
*
Irgendwann im Februar trafen sich vier Personen zu später Stunde im dunklen Keller eines Hauses in der Cheruskerstraße. Alle trugen dicke Mäntel, denn im Untergeschoss des Gebäudes war es zu dieser Jahreszeit äußerst kalt und ungemütlich.
Ihre Zusammenkunft fand nicht zufällig an der äußersten östlichen Stadtgrenze Rheines statt, wo sie sich den Blicken der Ordnungshüter weitestgehend entziehen konnten. Das Quartett beriet an diesem Abend nämlich über seine weiteren Pläne, die von den Behörden strengstens untersagte und verfolgte Aktionen erforderten, was in diesen Zeiten sehr gefährlich sein konnte.
Bei den Teilnehmern des Treffens handelte es sich um Mitglieder und Sympathisanten der seit 1933 für illegal erklärten Kommunistischen Partei Deutschlands.