Verhängnisvolle Verschwörung - Dieter Heymann - E-Book

Verhängnisvolle Verschwörung E-Book

Dieter Heymann

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Beschreibung

Im November des Jahres 1934 wird das westfälische Rheine durch eine Serie von Mordanschlägen erschüttert. Erstes Opfer ist der städtische Beamte Gerhard Pieper, der auf offener Straße erschossen wird. Zwar gibt es Anhaltspunkte für ein korruptes Verhalten des Ermordeten, doch gleichzeitig weisen für Kriminalsekretär Martin Voß alle Spuren darauf hin, den Täter innerhalb der Jägerschaft Rheines suchen zu müssen. Während sich einige Tage später beinahe die gesamte Polizei der Stadt an den Gedenkfeierlichkeiten zum Jahrestag des Hitler-Putsches beteiligt, werden Voß und seine Kollegen zu einem zweiten Tatort gerufen. Ein Mann wurde in seiner Villa mit derselben Waffe grausam niedergestreckt. Fieberhaft suchen die Kriminalbeamten nach einer Verbindung zwischen den beiden Taten. Gerade als sie glauben, den Schuldigen endlich gefasst zu haben, geschieht eine weitere Bluttat. Schlimmer noch: Die Ermittler finden heraus, dass sich gar eine vierte Person in allerhöchster Gefahr befindet. Unter Einsatz seines Lebens versucht Voß, den Mann vor dem sicheren Tod zu bewahren und das furchtbare Gemetzel endlich zu beenden.

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Über das Buch

Im November des Jahres 1934 wird das westfälische Rheine durch eine Serie von Mordanschlägen erschüttert. Erstes Opfer ist der städtische Beamte Gerhard Pieper, der auf offener Straße erschossen wird. Zwar gibt es Anhaltspunkte für ein korruptes Verhalten des Ermordeten, doch gleichzeitig weisen für Kriminalsekretär Martin Voß alle Spuren darauf hin, den Täter innerhalb der Jägerschaft Rheines suchen zu müssen. Während sich einige Tage später beinahe die gesamte Polizei der Stadt an den Gedenkfeierlichkeiten zum Jahrestag des Hitler-Putsches beteiligt, werden Voß und seine Kollegen zu einem zweiten Tatort gerufen. Ein Mann wurde in seiner Villa mit derselben Waffe grausam niedergestreckt. Fieberhaft suchen die Kriminalbeamten nach einer Verbindung zwischen den beiden Taten. Gerade als sie glauben, den Schuldigen endlich gefasst zu haben, geschieht eine weitere Bluttat. Schlimmer noch: Die Ermittler finden heraus, dass sich gar eine vierte Person in allerhöchster Gefahr befindet. Unter Einsatz seines Lebens versucht Voß, den Mann vor dem sicheren Tod zu bewahren und das furchtbare Gemetzel endlich zu beenden.

Über den Autor

Dieter Heymann wurde 1968 in Spelle (Kreis Emsland) geboren und wuchs in Rheine auf, wo er auch heute mit seiner Partnerin lebt. Nach dem Abitur kam er in die öffentliche Verwaltung, in der er noch immer tätig ist. Neben Schwimmen und Radfahren liest er gerne Spannendes und engagiert sich als Vereinsvorsitzender in der Vorstandsarbeit seines Schützenvereins.

„Verhängnisvolle Verschwörung“ ist der dritte Kriminalroman der Martin Voß-Reihe und schließt an die Bücher „Tod eines SA-Mannes“ und „Blick ins Verderben“ an.

Weitere Informationen gibt es auf der Facebook-Seite „Dieter Heymann (Autor)“.

„Sie wissen nicht, dass sie nur die Jagd und nicht die Beute suchen.“

Blaise Pascal (1623 – 1662), französischer Philosoph und Mathematiker

„Nie wird so viel gelogen wie nach der Jagd, im Krieg und vor Wahlen.“

Otto von Bismarck

§ 1

Als oberste Reichsbehörde wird ein Reichsforstamt gebildet, an dessen Spitze ein Reichsforstmeister steht. Der Reichsforstmeister führt in Jagdsachen die Amtsbezeichnung Reichsjägermeister.

§ 2 Der Reichsforstmeister wird vom Reichskanzler ernannt.

Aus dem Gesetz zur Überleitung des Forst- und Jagdwesens auf das Reich vom 03.Juli 1934

"Um das deutsche Wild aufzuarten ... um den triebhaften Neigungen des wehrhaften deutschen Mannes Folge zu leisten."

Reichsjägermeister Hermann Göring in der Gründungsurkunde zu den Aufgaben des Instituts für Wildbiologie und Jagdkunde der Universität Göttingen

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Danksagung und Epilog

Prolog

Vorsichtig fuhr das Fahrzeug über den unebenen Weg auf den Gutshof zu. Links und rechts der Zufahrt waren vor vielen Jahrzehnten Kastanienbäume gepflanzt worden, deren belaubte Äste den vielen Nutzern des Pfades im Sommer ein schattiges Dach boten. Zu dieser Jahreszeit hatten die Bäume ihre Blätter allerdings schon längst verloren, denn die Temperaturen waren in den letzten Wochen immer weiter gesunken. Bis zu den ersten Frostnächten würde es nicht mehr lange dauern.

Auf beiden Seiten der Allee waren hinter den mächtigen Stämmen Zäune zu erkennen, welche die hinter ihnen liegenden weiträumigen Pferdeweiden begrenzten. Auf ihnen tummelten sich einige der Tiere.

Fluchend verlangsamte der Fahrer noch einmal seine Geschwindigkeit, als er direkt vor sich ein besonders tiefes Schlagloch bemerkte. In seinem Blitzkarren, einem kleinen, dreirädrigen Pritschenwagen mit Zweitaktmotor, spürte sein wohlbeleibter Körper jede Unebenheit des Untergrunds. Er nahm sich vor, später für die Rückfahrt die alternative Route auf der entgegengesetzten Seite des Hofs zu nutzen. Dies wäre zwar mit einem Umweg verbunden, doch die Beschaffenheit des Weges war dort erheblich besser.

Irgendwann hatte sich der Borgward endlich zu den ersten Gebäuden vorgekämpft. Im Wald geschlagene und annähernd auf gleiche Länge zersägte Baumstämme waren an der Rückseite der Stallungen aufgestapelt. Der Untergrund war nun mit feinem Kies bestreut, der fast den gesamten Innenhof des Anwesens zierte. Vor dem mit rotem Backstein gemauerten Wohnhaus, das einem kleinen Schloss glich und Mittelpunkt der quadratisch angeordneten Bebauung war, gab es ein Rondell. Dessen innerer Bereich bestand aus einer Rasenfläche mit einem Springbrunnen als Zentrum und darum angeordneten Blumenrabatten. Eine gleichmäßig geschnittene Buchsbaumhecke umfasste diese Anlage.

Der Wagen musste im Innenhof fast eine komplette Runde fahren, um vor der breiten Steintreppe zu halten, die den Aufgang zur großen Eingangstür bildete.

Der Fahrer hatte angesichts seiner massigen Statur einige Mühen beim Aussteigen und gab keuchende Laute von sich, als er die Stufen hochstieg. Auf sein Läuten wurde ihm nach kurzer Zeit von einer Hausangestellten geöffnet. Er nannte seinen Namen und fragte nach dem Hausherren. Dieser hatte offenbar in der Nähe des Eingangs auf ihn gewartet, denn er erschien unmittelbar danach in seiner grünen Jagdkleidung und mit einem abgekippten Gewehr in der Hand, um ihn mit einem kräftigen Handschlag zu begrüßen.

„Guten Tag. Schön dich zu sehen. Bitte komm kurz rein. Ich hole noch schnell meinen Hut, danach können wir dann losfahren.“

Es fühlte sich immer noch ungewohnt an, doch seit der Verlobung ihrer Kinder duzten sie sich. Am liebsten hätte der Besucher in der Sprache geantwortet, die in seiner Kindheit zu Hause gesprochen wurde und mit der er groß geworden war: Plattdeutsch. Dabei handelte es sich um eine niederdeutsche Sprache, die vor allem in Norddeutschland, aber durchaus auch im Münsterland gesprochen wurde. Doch mit dem Gutsherren, dem zukünftigen Schwiegervater seiner Tochter, konnte er natürlich nicht in diesem Dialekt kommunizieren, denn der bevorzugte das vornehmer wirkende Hochdeutsch. Deshalb antwortete er:

„Hallo, ich freue mich sehr, heute erstmalig mit dir auf die Jagd zu gehen.“

Dabei trat er in einen Raum von gewaltigen Ausmaßen, der mehr Eingangshalle als Hausflur war. An den Wänden hingen neben einigen Landschaftsgemälden auch die Geweihe geschossener Wildtiere und andere Jagdtrophäen. Das in einem Kamin brennende Feuer verbreitete eine gemütliche Atmosphäre.

„Ist das heute wirklich deine erste Berührung mit dem Waidwerk?“, wurde er vom Gastgeber aus seinen Gedanken gerissen. Dieser hatte sich inzwischen seinen dunkelgrünen Jägerhut auf den Kopf gesetzt.

„Ja, so ist es tatsächlich. Mir bot sich bislang nie die Gelegenheit zur Jagd.“

„Nun, dann bin ich mal gespannt, wie du dich im Revier anstellst. Ich meine damit zwar in erster Linie die Jagd, aber nicht bloß die, wie du dir sicher vorstellen kannst. Der heutige Tag bietet dir die einmalige Möglichkeit, in unseren Kreis aufgenommen zu werden, wie dir hoffentlich bewusst ist.

Wir jagen zusammen und halten auch sonst fest zueinander. Davon kannst auch du in Zukunft gewaltig profitieren, das garantiere ich dir. Du tätest gut daran, diese einzigartige Gelegenheit zu nutzen!“ Sein Gegenüber nickte nur unsicher. „Na, das wird schon werden! Auf geht’s also, und – Waidmannsheil!“

Sie gingen zusammen aus dem Haus. Der Gutshofbesitzer bat seinen Gast, den Borgward vor einem der Stallgebäude zu parken und schritt auf einen nagelneuen, zweisitzigen Mercedes-Benz Typ S zu, in den er auf der linken Seite einstieg. Aus Respekt vor dem schönen Wagen zögerte der Besucher kurz, bevor er auf dem Beifahrersitz Platz nahm.

Mit einem lauten Dröhnen sprang der Motor an. Sie verließen das Hofgelände und nahmen Kurs auf das weite Waldgebiet unweit des Anwesens. Spätestens als sie die Straße verließen und in einen schmalen, matschigen Waldweg einbogen, war dem Beifahrer klar, dass er mit seinem Borgward wahrscheinlich sofort steckengeblieben wäre. Der Mercedes mit seinen sechs Zylindern, die 120 Pferdestärken leisteten, hatte hingegen keine Probleme auf dem rutschigen Untergrund.

Der Waldweg mündete auf einer kleinen Lichtung, auf der zwei Männer in Jagdbekleidung rauchend vor einem Adler 18/80 PS standen.

Nachdem die Neuankömmlinge ausgestiegen waren, begrüßte der Gutsbesitzer die beiden Männer und stellte seinen Fahrgast vor. Danach gingen alle vier auf einem schmalen Pfad durch den dichten Wald, bis dieser sich lichtete und sie auf eine große Wiese kamen. In der Nähe einer riesigen Eiche war ein breiter Hochsitz erbaut, auf dem sie alle Platz finden würden.

Nachdem sie nacheinander auf der schmalen Leiter nach oben geklettert waren, stellten drei der Männer ihre Waffen an die hölzernen Wände. Jetzt brauchten sie Geduld, hatten andererseits aber auch Zeit für den eigentlichen Grund ihres Treffens.

„Sind Sie wirklich technisch dazu in der Lage, den Auftrag zu erledigen?“, erkundigte sich der ältere Mann mit Brille leise bei dem Vollschlanken.

„Ja natürlich, da sehe ich überhaupt kein Problem. Allerdings benötige ich noch ein paar Maschinen und Gerätschaften, die vorfinanziert werden müssten“, antwortete dieser in gleicher Stimmlage.

„Da kann ich Ihnen helfen“, mischte sich der Lange ein.

„Wenn Sie wollen, können wir bereits in den nächsten Tagen einen diesbezüglichen Vertrag aufsetzen. Schauen Sie einfach bei uns vorbei und bringen Sie alle erforderlichen Unterlagen mit. Wir regeln die Sache dann ganz schnell und unbürokratisch.“

„Und wie sieht es mit dem Personal aus? Haben Sie überhaupt genügend Leute?“, wollte der Brillenträger wissen.

„Daran wird es nicht scheitern. Ich werde einige zusätzliche Arbeiter einstellen. Es gibt ausreichend Fachkräfte, die händeringend nach Arbeit suchen.“

„Eine weitere Frage ist natürlich, wie viel Ihnen unsere Abmachung wert ist“, hakte sein Gegenüber nach.

„Ich denke, ich kann Sie zufriedenstellen.“ Der dicke Mann nannte ihm eine Summe.

Der andere dachte kurz nach.

„Das kommt meinen Vorstellungen zumindest recht nahe.

Nun, ich denke, wir werden uns schon einig werden. Legen Sie noch einen kleinen, sagen wir, Extrabonus obendrauf und wir sind im Geschäft.“

„Woran hatten Sie dabei gedacht?“

Sein Gesprächspartner bezifferte seinen Wunsch.

„Abgemacht, Sie sollen Ihren Bonus bekommen“, versprach der Wohlbeleibte.

„Fein, dann sind wir uns also einig.“

Plötzlich wurde das Gespräch der Männer unterbrochen, denn der Gutsbesitzer hatte leise gezischt.

„Schaut, dort hinten ist ein Rudel Rehe gekommen. Das ist die Gelegenheit für deinen ersten Abschuss!“, sagte dieser zu dem Dicken. „Nimm meine Büchse, ich lade sie schnell für dich.“

Mit diesen Worten bereitete er fast geräuschlos sein Gewehr vor, übergab es an den zukünftigen Schwiegervater seines Sohnes und richtete sein Fernglas erwartungsvoll auf die Tiere. Auch die anderen beiden Männer blickten ihm gebannt über die Schulter.

Sein Gast hatte die Waffe entgegengenommen, legte diese vorsichtig auf die Brüstung des Hochstandes und versuchte mithilfe des aufgesetzten Visiers ein Ziel zu finden. Er brauchte einen Moment, bis er in der diesigen Luft die Rehe visuell eingefangen hatte. Doch dann konzentrierte er sich ganz auf das in der Mitte stehende Tier. Langsam krümmte er den Zeigefinger der rechten Hand um den Abzug, als er seine Beute im Fadenkreuz wähnte. Mit einem lauten Knall löste sich der Schuss. Sofort hasteten die scheuen Waldbewohner aufgeschreckt davon.

„Ich fürchte, du wirst noch ein wenig üben müssen, mein Lieber“, kommentierte der Gutsbesitzer den Fehlschuss.

„Aber in Zukunft wirst du dazu ja jede Menge Gelegenheit haben.“

Der Gescholtene nahm sein Versagen sportlich: „Ich muss gestehen, ich bin ein lausiger Schütze. Ich hoffe, du wirst mir Nachhilfeunterricht geben.“

Der Brillenträger klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. „Keine Sorge, das wird schon noch. Viel wichtiger ist unsere schnelle Einigung beim Geschäftlichen.“

„Apropos: sind da eigentlich noch irgendwelche Komplikationen zu erwarten? Ich meine, bislang war ja ...“, wollte der dicke Mann wissen.

„Machen Sie sich keine Gedanken, darum kümmern wir uns schon“, versicherte ihm der Mann mit der Brille. „Und da wir uns in Zukunft ja wohl häufiger bei der Jagd treffen werden, machen wir aus Ihnen noch einen Meisterschützen, Sie werden schon sehen.“

„Ich finde, darauf sollten wir anstoßen“, mischte sich der Gutsbesitzer ein und zog einen Flachmann aus seiner Jackentasche. Rasch drehte er den Verschluss auf und goss einen nach Wacholder riechenden klaren Schnaps ein, den er dem Dicken anbot. „Also, willkommen in unserer Runde und auf eine goldene Zukunft!“

Dieser ließ sich nicht lange bitten und trank in einem Zug aus. Anschließend schüttelte er sich kurz.

„Der gute Wacholderbrand, auch daran wirst du dich in Waidmannskreisen gewöhnen müssen“, grinste ihn sein Gegenüber an.

Die drei übrigen Männer nahmen ebenfalls einen kräftigen Schluck, bevor sie sich auf den Heimweg machten.

1

Es hatte zu regnen begonnen, doch das war ihm egal. Auch das miese Wetter würde seine Pläne nicht durchkreuzen können. Im Gegenteil, es kam ihm in seinem Vorhaben sogar entgegen, weil sich heute Abend niemand mehr aus dem Haus trauen würde. Nun ja, ´fast niemand´ musste es eigentlich heißen. Denn zumindest eine Person würde sich weder durch die tiefen Temperaturen noch aufgrund der Nässe von seinem allabendlichen Spaziergang vor dem Zubettgehen abhalten lassen. Denn dafür gab es sozusagen einen Garanten. Der hatte vier Beine und hieß Tim. Dies hatte er zumindest bei seinen heimlichen Beobachtungen dieser Person in den letzten Tagen herausgefunden. Er konnte sich deshalb ziemlich sicher sein, sein selbst gestecktes Ziel an diesem Abend zu erreichen.

Zu Hause hatte er sich einen Regenschutz übergezogen, der ihn zumindest eine Weile vor dem Niederschlag schützen würde. Später würde es sowieso keine Rolle mehr spielen, wie nass er geworden war. Sein weiter Umhang hatte zudem einen großen Vorteil für ihn. Er verbarg nämlich etwas, was niemand sehen durfte.

Bereits seit einiger Zeit hatte er sich akribisch auf den heutigen Abend vorbereitet, nachdem er für sich den Entschluss gefasst hatte, jetzt endlich zu beginnen.

Er hatte peinlich genau aufgepasst, bei seinen Erkundungsbesuchen von niemandem gesehen zu werden.

Lediglich ein älterer Mann hatte ihn einmal auf der Straße angesprochen, als er in der Nachbarschaft herumlungerte.

Doch er hatte einfach so getan, als halte er nach einer Adresse Ausschau, unter der er jemanden besuchen wolle.

Der Alte hatte sich mit seiner hingemurmelten Antwort zufriedengegeben und würde sich zum jetzigen Zeitpunkt kaum noch an ihn erinnern.

Für sein Vorhaben hatte er sich einen strategisch günstigen Platz ausgewählt. Im Schatten einer großen Tanne, die neben einer Remise stand, war er für zufällig vorbeigehende Passanten oder Bewohnern, die von ihren Fenstern noch einen Blick auf die Straße warfen, praktisch unsichtbar. Außerdem hatte er von dieser Stelle eine ausgezeichnete Sicht auf die Haustür der von ihm erwarteten Person. Trotz der schummrigen Straßenbeleuchtung konnte er ihn praktisch nicht verfehlen!

Voller Verachtung schaute er auf den dunkelrot lackierten Opel 1,8-Liter, der direkt vor dem Haus abgestellt war. „Du wirst schon sehen, was dir all dein Geld gebracht hat. Dein ganzes ergaunertes Vermögen kann dir auch nicht helfen.

Heute Abend wirst du dich von dieser Welt verabschieden!“, dachte er grimmig.

Natürlich hatte er auch an seinen Rückzug gedacht.

Zunächst hatte er sich überlegt, sich unter irgendeinem Vorwand von einem seiner Nachbarn ein Fahrrad zu borgen. Doch das wäre zu auffällig gewesen, denn schließlich konnte dies dem Besitzer möglicherweise im Nachhinein seltsam vorkommen, weil er doch sonst nie mit einem Rad unterwegs war. Also war er den beschwerlichen Weg hierher lieber zu Fuß gegangen. Sein Entkommen dürfte angesichts der verwinkelten Straßenzüge in diesem Teil der Stadt kein Problem darstellen. Bereits nach kurzer Zeit würde er sich weit genug vom Ort des Geschehens entfernt haben. Und selbst wenn er bei seiner Flucht gesehen werden würde, wäre er aufgrund seiner dunklen Kleidung kaum zu erkennen.

In einigen hundert Metern Entfernung hörte er die Turmuhr der St. Petrikirche einmal schlagen. Das bedeutete, es war halb elf. Er atmete tief durch. Gleich würde es so weit sein ...

*

Im Nordwesten der westfälischen Kleinstadt Rheine lag der Stadtteil Schleupe. Im Osten und Norden durch die Straße nach Salzbergen sowie im Süden durch die Trasse nach Neuenkirchen begrenzt, wurde Schleupe von gleich drei Bahnlinien durchzogen. Eine Nebenbahn führte westlich aus der Stadt nach Ochtrup, während die Strecke nach Quakenbrück im Nordosten Rheines die Ems überquerte.

Diese Trasse konnte gleich durch mehrere Unterführungen durchfahren werden. Größtes Ärgernis für die Bewohner war jedoch die Hauptstrecke nach Salzbergen mit dem beschrankten Bahnübergang am Friedensplatz. Da die Schranken durch den regen Bahnverkehr oftmals minutenlang geschlossen waren und Fußgänger, Rad- und Autofahrer lange Wartezeiten in Kauf nehmen mussten, hatte die Anlage bei den Menschen bald den Beinamen ´Glück-Auf-Schranke´ erhalten.

In diesem Viertel, genauer in der Straße ´In der Bannewiese´, hatte sich die Familie Pieper in den zwanziger Jahren ein ansehnliches Haus gekauft.

Angesichts ihrer sechs Kinder war die Größe des Gebäudes damals durchaus angemessen gewesen. Doch spätestens mit dem Auszug der jüngsten Tochter im vergangenen Jahr wirkte das Heim überdimensioniert, denn nur noch die Eltern waren geblieben. Gerhard Pieper war Beamter in der Stadtverwaltung Rheines, während seine Frau Veronika den Haushalt führte und den kleinen Gemüsegarten bewirtschaftete.

An diesem ungemütlichen Novemberabend hatten sie es sich im Wohnzimmer vor dem warmen Ofen bequem gemacht. Während er in ein Buch vertieft war, häkelte sie mit großer Akribie eine Wintermütze für das jüngste ihrer fünf Enkelkinder. Zu ihren Füßen lag Rauhaardackel Tim, der seit mittlerweile acht Jahren zur Familie gehörte.

Als den beiden am späten Abend die Augen vor Müdigkeit zuzufallen drohten, ergriff der Hausherr die Initiative und schlug seiner Ehefrau vor:

„Geh du doch schon mal ins Bad, während Tim und ich noch schnell unsere Runde drehen.“

„Das ist ein guter Vorschlag“, antwortete sie und unterdrückte dabei ein Gähnen. „Ich bin wirklich hundemüde.“

Er erhob sich aus dem Sessel und ging in den Hausflur, wo er von der Garderobe den langen Wintermantel, Schal und Hut nahm, die er schnell nacheinander anzog. Außerdem griff er nach dem Regenschirm und betätigte den Schalter für die Außenbeleuchtung.

Tim hatte währenddessen die Augen aufgeschlagen und war seinem Herrchen in Erwartung des spätabendlichen Spaziergangs schwanzwedelnd gefolgt. Nachdem dieser den Hausschlüssel eingesteckt hatte, legte er dem Dackel die Leine an und rief seiner Frau einen kurzen Abschiedsgruß zu.

Veronika Pieper hörte die Haustür zuschlagen, sorgte im Wohnzimmer schnell für Ordnung und stieg anschließend die Treppe hoch, um sich im Bad des Obergeschosses für die Nacht vorzubereiten. Das herbstliche Wetter machte ihr in den letzten Tagen sehr zu schaffen. Sie fühlte sich erschöpft und freute sich auf ihr Bett.

*

Endlich tat sich etwas! Kurz nachdem das Licht an der Hauswand angegangen war, wurde die Tür geöffnet und Hund und Herrchen traten aus dem Haus heraus. Letzterer zog die Tür hinter sich zu und stieg die vier Stufen zum Bürgersteig hinab. Wie er schon in den letzten Wochen beobachtet hatte, wandten sich beide stets nach rechts, um von der Bannewiese auf den Friedensplatz und von dort in die Friedenstraße einzubiegen. Über die Franz-Tacke-Straße und Hermannstraße würden sie wieder in die Bannewiese gelangen. Dieses Quasi-Rechteck war zumindest der übliche Weg, den die beiden abends vor dem Schlafengehen zu nehmen pflegten. Doch heute würde alles anders sein ...

Sie kamen auf der gegenüberliegenden Straßenseite direkt auf ihn zu. Genau, wie er erwartet hatte. Der Mann hatte inzwischen seinen Regenschirm aufgespannt, den er in der linken Hand hielt. Mit der anderen Hand hielt er die kurze Hundeleine. Immer wieder musste er in seiner Bewegung stoppen, weil der Dackel mit seiner geruchsempfindlichen Nase auf dem Trottoir oder an den Hauswänden nach den Spuren anderer Hunde schnüffelte. Von Zeit zu Zeit hob das Tier sein Hinterbein, um seinen eigenen Duft zu hinterlassen.

Er machte sich bereit und nahm das Gewehr hoch. Zwei Patronen hatte er zur Verfügung. Sein Plan sah vor, beide auch zu benutzen. Als der Mann in etwa dreißig Metern Entfernung vor ihm erneut anhalten musste, weil sein Hund ihn dazu zwang, beugte er seinen Oberkörper leicht vor und legte auf sein Ziel an. Doch plötzlich blickte der Hund in seine Richtung und begann laut zu bellen. Verflucht, der Köter hatte ihn bemerkt ...

*

Veronika Pieper putzte gerade ihre Zähne, als sie von draußen einen lauten Knall hörte. Erschrocken hielt sie mitten in ihrer Bewegung inne. Fast sofort danach wiederholte sich der kurze, durchdringende Hall ein zweites Mal. Jetzt war sie alarmiert. Was hatte das zu bedeuten? Fuhr ein Automobil mit Fehlzündungen durch ihre Straße oder rührten die ungewöhnlichen Geräusche von einem vorbeifahrenden Zug auf dem nahen Bahndamm her? Aber dann müsste sie ja auch den Motor eines Wagens oder das Rattern der eisernen Räder auf den Schienen hören. Doch nach dem kurzen Krach herrschte nun eine seltsame Stille!

Beunruhigt eilte sie in das zur Straße liegende Schlafzimmer, zog die Vorhänge beiseite und öffnete das Fenster. In der Ferne nahm sie Schritte auf dem Kopfsteinpflaster wahr, die sich hastig entfernten.

Ansonsten war alles ruhig. Wo waren Gerhard und Tim?

Mit wachsender Sorge hielt sie Ausschau nach ihrem Mann.

Auch die Anwohner in den umliegenden Häusern waren durch die ungewöhnlichen Laute aufgeschreckt worden.

Ihrem Beispiel folgend hatten einige die Fenster zur Straße geöffnet, um den Ursprung der beiden Knalle zu ergründen. Auf der gegenüberliegenden Seite hatte ihr Nachbar Hannes die Haustür geöffnet und war trotz des Regens auf die Straße getreten. Er schaute sich forschend in beide Richtungen um, bevor er zu ihr nach oben blickte.

„Veronika, was war das für ein seltsamer Lärm? Es hörte sich ja fast an, als hätte jemand geschossen“, rief er ihr zu.

„Ich weiß nicht, ich kann von hier oben nichts erkennen“, antwortete sie mit ängstlicher Stimme. „Es wird doch hoffentlich nichts passiert sein. Der Gerd ist noch mit Tim unterwegs!“

In diesem Moment nahmen sie ein unheimliches Geräusch wahr. Ein furchteinflößendes Rasseln kam aus der Ferne und wurde immer eindringlicher. Irgendjemand schien direkt auf sie zuzukommen. Erschrocken blickten beide in die Dunkelheit, aus der die bedrohlichen Laute kamen. Der Nachbar suchte rasch Schutz in seinem Hauseingang.

Im Schein einer Straßenleuchte erkannten sie plötzlich einen kleinen Hund, der seine Leine hinter sich herzog.

„Oh Gott, das ist ja Tim!“, schrie Veronika Pieper, als sie ihren traurig winselnden Dackel erkannte. Sie schlug das Fenster zu, eilte die Treppe hinunter und warf sich hastig ihren Mantel über. Sie wäre fast auf der kleinen Treppe vor der Haustür gestolpert, als sie aus dem Gebäude preschte.

Inzwischen war Tim an seinem Zuhause angekommen und gab mit leiser Stimme jaulende Laute von sich.

„Oh Tim, wo hast du nur dein Herrchen gelassen?“, fragte sie ihren tierischen Freund mit Tränen in den Augen und streichelte ihn dabei. Sie nahm ihm hastig die Leine ab und ließ ihn ins Haus. Dann bat sie ihren Nachbarn, der das Ganze beobachtet hatte:

„Hannes, ich glaube, es ist etwas Schreckliches geschehen.

Bitte schau nach, ob du Gerd finden kannst.“

Der Angesprochene blickte ängstlich nach links und murmelte, wenig überzeugt:

„Ja, natürlich. Ich besorge mir nur schnell eine Taschenlampe und werfe mir meinen Mantel über.“

Kurze Zeit später hatte er beides aus seinem Haus geholt und leuchtete vorsichtig die Straße vor sich ab, während er sich zögernd vorwagte. Ein weiterer Nachbar war mittlerweile hinzugekommen und schloss sich ihm an.

Gemeinsam suchten sie die Straße nach dem Vermissten ab, wobei sie mehrfach dessen Namen riefen, ohne jedoch eine Antwort zu bekommen.

In einigen Hundert Metern Entfernung war das Stampfen einer Dampflokomotive zu hören, die offenbar einen schweren Güterzug in den Bahnhof zog.

Das Schlimmste befürchtend blickte Veronika Pieper den beiden Männern nach, die langsam in der Dunkelheit verschwanden. Besorgt hielt sie beide Hände vor dem Mund. Inzwischen war ihr Haar völlig durchnässt. Doch ihre Frisur war ihr in diesem Moment herzlich egal. Mit bangen Blicken versuchte sie in der Dunkelheit etwas zu erspähen, während ihr dicke Tränen die Wangen hinunterliefen.

Auf einmal hörte sie einen der beiden Männer rufen:

„Hier liegt jemand, komm schnell her!“

Sie hielt vor Spannung den Atem an und betete, dass es nicht ihr Mann war, den ihre Nachbarn gefunden hatten.

Nach einigen Augenblicken kam Hannes aus der Finsternis auf sie zugerannt und schrie schon von weitem:

„Schnell, Veronika. Es ist Gerd, ruf einen Krankenwagen!“

2

Es war ein schöner Novemberabend gewesen – wieder einmal.

Sie hatten das Brettspiel ´Mensch ärgere Dich nicht´ gespielt und dabei Musik vom Grammofon gehört. Dabei hatten Sie viel gelacht, wenn ihre Figuren vom jeweils anderen geschmissen worden waren. Tag für Tag wartete Martin Voß darauf, dass er von jemanden gezwickt würde und aus seinem Traum aufwachte. Er konnte sein Glück auch fünf Monate nach seiner ersten Begegnung mit Katharina noch immer nicht fassen.

Im Sommer hatte er sie auf einem Schützenfest kennengelernt und sich dabei in sie verliebt, wie er sich später eingestanden hatte. Allerdings hatte er sich keine Hoffnungen gemacht, sie jemals wiederzusehen. Doch dann begegnete er ihr schon bald danach erneut im Zuge einer Mordermittlung. Auf sein vorsichtiges Werben um sie hatte sie mit ermunternden Signalen reagiert. Später hatte sie ihm gestanden, sich nach ihrem ersten Zusammentreffen ebenfalls sehr gewünscht zu haben, ihn bald wiederzutreffen.

Dabei hatten sie beide unglückliche Zeiten hinter sich.

Katharina war schon in jungen Jahren Kriegswitwe geworden und war lange Zeit nicht über den Verlust ihrer Jugendliebe hinweggekommen, während Martin bis vor kurzem unter seinen schlimmen Kriegserlebnissen litt und von nächtlichen Alpträumen geplagt wurde. Vor langer Zeit hatte dies indirekt zur Auflösung seiner damaligen Verlobung geführt.

Es war seltsam, denn seitdem sie ein Paar waren, schienen sie sich gegenseitig zu helfen, ihre früheren Probleme endgültig hinter sich zu lassen. Beiden ging es deutlich besser, seit sie zusammenlebten. Es war, als hätten sie all die Jahre nur aufeinander gewartet.

Katharina hatte ihren verstorbenen Arbeitgeber, den sie viele Jahre gepflegt hatte, beerbt und war dadurch völlig überraschend zur Besitzerin einer Bäckerei, einer schönen Villa im Stadtteil Schotthock und eines nicht unbedeutenden Vermögens geworden.

Als Laiin im Bäckerhandwerk führte sie die Geschäfte inzwischen zusammen mit ihrem Meister, von dem sie in den letzten Monaten sehr viel über ihren neuen Beruf beigebracht bekommen hatte. Sie war sehr ehrgeizig und wollte ihren Angestellten eine gute Chefin sein, deshalb versuchte sie in alle Sparten ihres neuen Berufes hineinzuschnuppern.

Zunächst hatte sie über den Geschäftsbüchern gebrütet und sich das kaufmännische Handeln erklären lassen. Danach hatte sie sich für einige Tage persönlich hinter den Verkaufstresen gestellt und den erfreuten Kunden die Erzeugnisse ihrer Backstube verkauft. In dieser Woche befasste sie sich nun mit der handwerklichen Seite Ihrer Arbeit. Heute, am Montag, hatte sie unter Anleitung ihrer Angestellten zum ersten Mal in ihrem Leben einen Brotteig zubereitet und sich das Backen zeigen lassen. Weil sie hierfür schon sehr früh am Morgen aufgestanden war, hatte sie sich nachmittags für einige Stunden schlafen gelegt.

Die ihr anfangs sehr skeptisch begegnenden Mitarbeiter hatte sie mit ihrem Handeln schnell auf ihre Seite gezogen.

Inzwischen wurde sie mit Respekt als die neue Chefin akzeptiert. Selbst Meister Friedrich Ottenhues, der sich angesichts der neuen Verhältnisse in der Bäckerei anfangs nicht sehr wohl in seiner Haut gefühlt hatte, weil Voß im Sommer im Mordfall an seiner Geliebten gegen ihn ermittelt hatte, war mittlerweile von seiner neuen Chefin begeistert und schulte sie mit großem Eifer in ihren neuen, bislang nicht gekannten Aufgaben.

Auch für Kriminalsekretär Martin Voß war das bisherige Jahr 1934 sehr ereignisreich gewesen. Beruflich war es einerseits sehr gut für ihn gelaufen, weil er sich mit den schnellen Erfolgen bei den ersten beiden Mordfällen seiner Polizeikarriere den Ruf eines äußerst kompetenten Kriminalbeamten erworben hatte. Andererseits wurde fanatische Begeisterung und bedingungsloser Gehorsam gegenüber der nationalsozialistischen Idee von ihm erwartet, wozu er nicht bereit war.

Obwohl er Parteimitglied war, hatte er in den vergangenen eineinhalb Jahren seit Hitlers Ernennung zum Reichskanzler mit zunehmender Sorge das Ausschalten anderer politischer Parteien, der Gewerkschaften und sogar Gruppierungen mit abweichenden Meinungen in den eigenen Reihen, kurz sämtlicher Opposition, verfolgt. Es gab nur noch eine Partei im Deutschen Reich, die wiederum von einem einzigen Mann geführt wurde, dessen Wort allgemeingültiges Gesetz war: Adolf Hitler. Personen mit anderen Meinungen waren schon bald nach dem Reichstagsbrand im letzten Jahr verhaftet und in die neu errichteten Konzentrationslager verschleppt worden.

Als mit dem greisen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg am 2. August 1934 die Person verstarb, die ihn zum Reichskanzler ernannt hatte, wurde kurzerhand ein Gesetz erlassen, wonach Hitler formal auch zum Staatsoberhaupt wurde und sich fortan ´Führer und Reichskanzler´ nannte. Noch im August wurde diese Entscheidung in einer Volksabstimmung mit großer Mehrheit nachträglich legitimiert. Dieser Mann hatte sich damit in nur eineinhalb Jahren zu seinen Lebzeiten alle politische Macht gesichert. Doch wohin würde er Deutschland führen? Martin Voß hatte kein gutes Gefühl, wenn er an die Zukunft dachte.

Zudem irritierte ihn ein erschreckender Auswuchs des neuen Systems, das Rassendenken der Nazis. Menschen, die nicht der arischen Rasse zugerechnet wurden, wie beispielsweise Juden oder Roma, wurden systematisch aus der Gesellschaft ausgegrenzt. Auch einige der in Rheine wohnenden Juden hatten das Land bereits verlassen und waren meist in die Niederlande ausgewandert, wobei sie ihren Grundbesitz weit unter Wert verkaufen mussten.

So bereicherte sich der Staat sogar noch am Vermögen der Vertriebenen.

All das schreckte Voß ab. Er durfte zwar mit Rücksicht auf Katharina seine Abneigung gegen die Machthaber nicht offen zeigen, weil er sie auf keinen Fall gefährden wollte, hielt sich andererseits aber mit seiner Zustimmung zur nationalsozialistischen Politik sehr zurück. Das wiederum führte zu Konflikten mit seinem Vorgesetzten, Kriminalkommissaranwärter Lammerskitten, dem Leiter des Polizeireviers Rheine. Dieser hatte im Spätsommer eine Beförderung bekommen, die dem Kriminalsekretär wohl aufgrund seiner kritischen Haltung gegenüber den neuen Gegebenheiten auf ewig verwehrt bleiben würde. Es war ihm mittlerweile egal. Er hoffte, zumindest seinen Beruf, den er sehr liebte, weiterhin ausüben zu dürfen.

In seinem privaten Leben überstrahlte die Hochzeit mit Katharina natürlich alles andere.

Nachdem sie ein Paar geworden waren, hatten sie schnell nach einem Termin für ihre standesamtliche Trauung gesucht. An einem Freitag im August waren sie als frisch vermähltes Ehepaar aus dem Rathaus in der Klosterstraße getreten, in dem das Standesamt untergebracht war. Auf dem Vorplatz waren sie von den Angestellten ihrer Bäckerei und seinen Kollegen bei der Polizei begeistert empfangen worden. Voß war noch heute gerührt, wenn er sich an Fräulein Hubbert, der Sekretärin des Revierleiters, erinnerte, die sich ihrer Freudentränen nicht geschämt und ihnen mit belegter Stimme zur Vermählung gratuliert hatte.

Der Kriminalsekretär hatte nach der Heirat seine bescheidene Wohnung aufgegeben und war zu Katharina in den Schotthock gezogen. Im nächsten Mai würden sie sich auch den kirchlichen Segen geben lassen und danach im großen Rahmen feiern. Da sie beide erst Mitte dreißig waren, hatten sie noch ein langes, gemeinsames Leben vor sich, so hoffte er innig.

*

Katharina schloss gerade die Tür zum Bad und kam zu ihm ins Schlafzimmer. Er freute sich schon darauf, sie zärtlich zu umarmen, damit ihr schnell warm im Bett wurde. Als sie gerade ihren Morgenmantel ablegen wollte, hörten sie aus dem Hausflur das Klingeln des Telefons. Überrascht schauten sie sich in die Augen, bevor Voß sich aus dem Bett schwang.

„Das bedeutet nichts Gutes“, sagte er und eilte die Treppe hinunter.

In der Tat konnte ein Anruf um diese Uhrzeit eigentlich nur für ihn sein, weil wahrscheinlich irgendwo in Rheine ein Verbrechen geschehen war. Als er den Fernsprechapparat erreicht hatte, nahm er plötzlich hinter sich seine Frau wahr, die ihm leise gefolgt sein musste. Während er den Hörer abnahm und seinen Namen nannte, hauchte sie ihm leise ins Ohr:

„Ich setze dir schnell einen Kaffee auf.“

Was ihm danach am Telefon erzählt wurde, verschlug ihm für einen Moment die Sprache. Ein Mann war im Stadtteil Schleupe offenbar auf offener Straße angeschossen worden und auf dem Weg ins Mathias-Spital, dem Krankenhaus in Rheine, verstorben. Der Täter war wahrscheinlich zu Fuß geflohen.

Der diensthabende Wachtmeister fragte ihn, ob er einen Wagen schicken solle oder Voß selbst zum Tatort in der Bannewiese fahren würde. Da es schon den ganzen Abend geregnet hatte und der prasselnde Niederschlag noch immer zu hören war, bat Voß seinen Kollegen, den Wagen zunächst in die Gemeinde Dreierwalde zu entsenden, um dort Kriminalassistent Beckmann und anschließend ihn abzuholen. Er wollte nicht mit Katharinas beige-braunen Wanderer W 15 fahren, den sie ebenfalls von ihrem früheren Arbeitgeber geerbt hatte. Sie würde den Wagen in wenigen Stunden für ihren Weg zur Backstube selbst brauchen. Außerdem hatte er so genügend Zeit, noch schnell den versprochenen Kaffee zu trinken, nachdem er sich wieder angezogen hatte.

Seine Gattin war seines Wissens die erste Frau im gesamten Schotthock, die im Besitz eines amtlichen Führerscheines war. Weil ihr früherer Arbeitgeber in seinen letzten Lebensjahren nicht mehr dazu in der Lage gewesen war, sein Fahrzeug selbst zu steuern, hatte er Katharina zu deren Verblüffung irgendwann bei einer Fahrschule angemeldet. Obwohl der Fahrlehrer es ihr weiß Gott nicht leicht gemacht hatte, bestand sie ihre Fahrprüfung mit Bravour und konnte Konrad Heuwes fortan chauffieren.

Sie wusste sich eben auch in Männerdomänen durchzusetzen! Genau deshalb war Martin Voß so stolz auf seine Frau.

Als er schließlich die Tasse mit dem heißen Getränk in der Hand hatte, legte Katharina ihm Regenmantel, Hut und Schirm bereit. Als Dank nahm er sie in die Arme und gab ihr einen langen Kuss.

„Du bist ein wahrer Schatz. Was würde ich nur ohne dich anfangen?“

„Dann würde ein müder und übellauniger Kriminalsekretär am Tatort erscheinen, der seine sieben Sinne für die Lösung seines neuen Falles nicht beisammen hätte“, gab sie kess zurück.

Er musste über ihre Worte schmunzeln. Denn neben ihrem hellroten Lockenkopf und den Grübchen in ihren Wangen hatte er sich genau in dieses vorlaute, freche Mundwerk verliebt.

Es hupte draußen zweimal kurz hintereinander, was für ihn das Zeichen zum Aufbruch darstellte. Sie nahm ihm die Kaffeetasse ab und öffnete die Haustür, während er rasch den Mantel anzog und Schirm und Hut ergriff. Zum Abschied küsste er sie noch einmal und eilte dann durch den strömenden Regen auf den grauen DKW zu, der mit laufendem Motor vor ihrem Haus stand.

Auf dem Fahrersitz begrüßte ihn ein junger Unterwachtmeister, der sofort Gas gab, als Voß die Wagentür hinter sich geschlossen hatte. Hinten saß sein Kollege Otto Beckmann, der eine vor sich hin qualmende Juno in der Hand hielt.

„Hallo Martin, der Kollege hat mich schon grob ins Bild gesetzt. Ich erzähle dir kurz alles, was wir bis jetzt wissen.“

Zwischen den beiden Kriminalbeamten hatte sich im Laufe ihrer noch kurzen Zusammenarbeit schnell ein Vertrauensverhältnis entwickelt. Deshalb hatte Voß als der ältere und ranghöhere Polizist seinem Kollegen das ´du´ angeboten, bevor er ihn gebeten hatte, sein Trauzeuge zu sein. Erfreut hatte Beckmann damals eingewilligt.

„Was ist denn genau passiert, Otto? Mir wurde am Telefon gesagt, ein Mann sei in der Bannewiese angeschossen worden und auf dem Weg ins Spital im Krankenwagen verstorben?“

Da sie die Innenstadt auf der Hindenburgstraße fast einmal komplett umrunden mussten, um die Ems überqueren zu können, hatten sie ausreichend Zeit für ein Gespräch.

„Um etwa zweiundzwanzig Uhr vierzig ging der Notruf im Mathias-Spital ein. Dort schickte man sofort einen Krankenwagen los. Da im Telefonat von Schüssen die Rede war, benachrichtigte das Hospital auch uns. Der Krankenwagen traf nach wenigen Minuten in der Bannewiese ein. Der Fahrer brauchte ja praktisch nur einmal die Neuenkirchener Straße zu queren, um nach Schleupe zu gelangen.

Die Besatzung fand an der angegebenen Stelle einen Mann namens Gerhard Pieper auf der Straße liegend vor, der offenbar von zwei Schüssen schwer verletzt worden war.

Sie hoben ihn mit der Trage ins Auto und machten sich schleunigst auf den Weg zurück ins Spital, wo sie ihn allerdings nur noch tot aus dem Wagen holen konnten.“

„Weißt du, wer den Angeschossenen gefunden hat?“

„Ich glaube, zwei seiner Nachbarn hatten sich auf die Suche nach ihm gemacht. Die ganze Straße war wohl nach den lauten Schüssen auf den Beinen.“

„Was machte Pieper denn bei diesem miesen Wetter und noch dazu um diese Uhrzeit auf der Straße?“

„Er ging mit seinem Hund Gassi.“

„Ah ja, natürlich. Nur ein Hund kann der Grund dafür sein, im strömenden Regen vor die Haustür zu gehen“, seufzte Voß nachdenklich. „Ein Hund, oder die Absicht, einen Mord zu begehen ...“

Inzwischen überfuhren sie auf der Neuenkirchener Straße die Bahntrasse nach Salzbergen, um kurz danach rechts in die Heinrichstraße und damit in den Stadtteil Schleupe einzubiegen. Nach einigen hundert Metern auf der leicht abschüssigen Straße erreichten sie die Bannewiese, die auf der linken Seite lag. Trotz der widrigen Sichtverhältnisse waren einige Personen zu erkennen, die mit ihren Taschenlampen umherliefen.

Die beiden Kriminalbeamten wurden von Wachtmeister Gustav Kleinschmidt erwartet, der sie zum Tatort führte.

„Sehen Sie hier“, machte dieser seine Begleiter auf eine Stelle auf dem Kopfsteinpflaster aufmerksam und leuchtete dorthin. „An dieser Stelle wurde Gerhard Pieper gefunden.“ Sie befanden sich vor dem Haus mit der Nummer 16. Das Regenwasser auf der Straße hatte an einigen Stellen in der näheren Umgebung noch immer eine leicht rötliche Farbe. Ein aufgespannter Regenschirm und eine Brille aus dem Besitz des Verstorbenen lagen noch in der Nähe des Bürgersteiges, wie Kleinschmidt erläuterte.

„Der Tote wohnte in etwa hundertfünfzig Meter Entfernung und ist von zwei Nachbarn gefunden worden.

Die hatten sich auf die Suche nach ihm gemacht, nachdem sein Hund alleine nach Hause zurückgekommen war.

Zuvor hatten die Bewohner der Bannewiese zwei Schüsse gehört, die sie aufgeschreckt und zugleich neugierig gemacht hatten“, erklärte der Wachtmeister.

„Hatte der Ermordete Angehörige?“, erkundigte sich Voß.

„Ja, er lebte mit seiner Frau zusammen. Sie ist natürlich völlig aufgelöst, besteht aber darauf, noch heute Abend mit Ihnen zu sprechen. Die Kinder sind alle verheiratet und längst fortgezogen.“

„Ist Schuhmacher schon vor Ort?“

August Schuhmacher war der Kriminaltechniker. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen hatten schon unzählige Male entscheidend zur Auflösung von Diebstählen, Raubüberfällen und sogar Morden beigetragen.

„Er sucht mit einigen Schutzpolizisten bereits die umliegenden Grundstücke ab“, antwortete Kleinschmidt.

„In Ordnung, ich möchte später auf jeden Fall noch mit ihm sprechen. Doch als Erstes führen Sie mich bitte zu Frau Pieper. Wir wollen sie nicht unnötig lange warten lassen. Bitte schnappen Sie sich währenddessen ein paar Kollegen und befragen Sie die Nachbarn. Vielleicht hat ja einer der Anwohner heute Abend oder in den letzten Tagen etwas beobachtet.“

Sie kamen zu einem breiten, zweigeschossigen Gebäude, vor dessen Haustür ein schicker Opel abgestellt war. An der Hauswand war ein Schild mit der Nummer 42 angebracht. Ein Schutzpolizist stand vor der Hauswand, wo er durch den Dachüberstand einigermaßen vor dem Regen geschützt war. Er nickte den Ankommenden kurz zu, bevor Beckmann die Türklingel betätigte.

Eine junge Frau mit verweinten Augen öffnete ihnen und bat sie hinein, nachdem sie sich als Kriminalpolizisten ausgewiesen hatten. Anschließend nahm sie ihnen die völlig durchnässten Mäntel und Hüte ab, um sie über der Wanne im Bad aufzuhängen. Dann stellte sie sich ihnen vor:

„Mein Name ist Ida Wessels, ich bin das jüngste von sechs Kindern. Da mein Mann und ich nicht weit von hier wohnen, rief meine Mutter mich als Erste an. Sie können sich bestimmt vorstellen, wie geschockt ich war, als sie mir berichtete, was passiert war. Meine Geschwister werden auch gleich kommen. Ich bitte Sie, Mama äußerst schonend zu befragen. Sie ist mit ihren Nerven am Ende.“

„Das versteht sich von selbst. Mein aufrichtiges Beileid zum Tod Ihres Vaters“, begann Voß. „Man sagte mir, Ihre Mutter wolle unbedingt noch heute mit uns sprechen. Ist sie denn wirklich dazu in der Lage? Wir würden sie ansonsten gerne auch morgen aufsuchen.“

„Sie steht natürlich unter Schock. Aber es tut ihr andererseits vielleicht ganz gut, sich den Schmerz von der Seele zu reden. Vielleicht hilft es ihr, wenn sie Ihnen erzählen kann, was vorgefallen ist. Mama wird Ihnen schon sagen, wenn es ihr zu viel wird. Bitte folgen Sie mir ins Wohnzimmer.“

Mit diesen Worten schritt sie voran, öffnete eine Tür und wartete dort, bis ihre Begleiter eingetreten waren.

Der Kriminalsekretär nutzte die Gelegenheit, um sich schnell im Hausflur umzuschauen. An den Wänden hingen einige kostbar aussehende Gemälde. Auch die Möbel machten einen teuren Eindruck.

Im Wohnzimmer saß eine ältere Frau auf dem stilvollen Sofa und hatte eine Tasse Tee in ihren zitternden Händen.

Trotz der Wärme, die aus dem offenen Feuer des Kamins kam, hatte sie sich eine Decke um ihre Schultern gelegt.

Aufgrund der großen Ähnlichkeit mit Ida Wessels konnte Voß sie eindeutig als deren Mutter erkennen.

Wie ihre Tochter hatte auch sie angesichts der schrecklichen Ereignisse rotgeränderte Augen, doch schien sie sich inzwischen einigermaßen beruhigt zu haben. Sie nickte ihren Besuchern wortlos zu, als sie eintraten. Auf dem Teppich lag ein schwarz-brauner Dackel, der bei ihrem Anblick seinen Kopf leicht anhob und einmal kurz bellte, sich aber sofort wieder an die Füße seines Frauchens kuschelte.

Auch die beste Stube im Hause Pieper zeugte vom Wohlstand der Familie. In den Vitrinen waren wertvolle Porzellanservices und Glassammlungen ausgestellt, die Sitzmöbel waren mit edlen Stoffen bezogen und auf einem kleinen Beistelltisch stand neben einem Grammofon zu Voß´ Überraschung gar ein nagelneuer Volksempfänger VE 301 W, der momentan allerdings nicht eingeschaltet war.

Eine offen stehende Tür gab den Blick in den Nachbarraum frei, in dem sich bis an die Decke gefüllte Bücherregale befanden.

Die Kriminalbeamten stellten sich beide vor und kondolierten.

„Bitte nehmen Sie doch Platz, meine Herren“, bat Frau Pieper. „Ida wird Ihnen einen Tee zubereiten, der Ihnen angesichts des scheußlichen Wetters bestimmt guttun wird.

Mir hat er auch geholfen, über den ersten Schrecken hinwegzukommen. Ich bin die Gattin des Ermordeten, Veronika Pieper.“

Bei den letzten Worten hatte sie fast ihre Stimme verloren und wurde von einem Weinkrampf geschüttelt.

Ihre Tochter setzte sich schnell zu ihr und nahm sie in den Arm.

„Bitte beruhigen Sie sich, Frau Pieper. Wir müssen uns nicht heute Abend unterhalten, wenn Sie sich dazu nicht in der Lage fühlen. Wir können gerne morgen wiederkommen, falls Sie dies wünschen“, sagte Voß mitfühlend.

„Bitte entschuldigen Sie, es ist nur alles so furchtbar“, sagte die Angesprochene zu den Ermittlern und tätschelte danach den Arm ihrer Tochter. „Kümmere du dich nur um den Tee für die Herren Polizisten. Es geht schon wieder.“

Sie wandte sich wieder ihrem Besuch zu: „Lassen Sie uns zügig beginnen. Bitte stellen Sie mir Ihre Fragen, damit ich es schnell hinter mir habe.“

Voß warf einen kurzen Blick zu seinem Kollegen und begann zögernd:

„Wie Sie meinen. Aber geben Sie mir bitte Bescheid, wenn es zu viel für Sie wird.

Also, was hat sich heute Abend zugetragen? Bitte schildern Sie uns den Ablauf der Ereignisse aus Ihrer Sicht so genau wie möglich.“

„Tja, wo soll ich nur anfangen? Mein Mann und ich verbrachten den Abend zusammen hier in unserem Wohnzimmer. Irgendwann fielen uns fast die Augen zu und Gerd schlug vor, zu Bett zu gehen. Ich ging daraufhin schon nach oben, während er noch mit unserem Dackel Tim Gassi gehen wollte.“