Das Sterben auf Neuwerk - Dieter Heymann - E-Book

Das Sterben auf Neuwerk E-Book

Dieter Heymann

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Beschreibung

Die untereinander völlig zerstrittenen Nachkommen des angesehenen Hamburger Bankiers Ludwig Godeffroy kommen nach dessen Tod auf der Insel Neuwerk zusammen, um das Familienoberhaupt dort zu bestatten und im Anschluss daran über das Testament des Verstorbenen in Kenntnis gesetzt zu werden. Doch nach einem gemeinsamen Abendessen der Familie mit ihrem Notar stürzt eines der Geschwister urplötzlich zu Boden und verstirbt kurz darauf. Der aufgrund dieses Vorfalls eiligst herbeigerufene Doktor Nolden vermutet eine Vergiftung als Todesursache. Am nächsten Tag gelingt es dem mit den Ermittlungen beauftragten Hamburger Hauptkommissar Richard Bruns gerade noch rechtzeitig vor einem angekündigten Unwetter auf die Insel zu gelangen, um gemeinsam mit dem Mediziner und dem Wasserschutzpolizisten Kluge die Morduntersuchung einzuleiten. Schon bald muss sich das Trio mit schier unglaublichen Vorgängen aus der Vergangenheit der Godeffroys auseinandersetzen. In den Tagen darauf kommt es zu weiteren Morden an Angehörigen der Familie. Sind die Gründe für die Taten in den Streitereien der Nachkommen um das Erbe des Vaters zu suchen oder führt ein Außenstehender einen Rachefeldzug gegen die Bankiersdynastie?

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Das Bild auf dem Einband sowie das Grußwort zum Buch wurden mir von der Hamburger Malerin Hilde Karin Nielsen liebenswerterweise für dieses Buch zur Verfügung gestellt.

Dafür liebe Hilde ein herzliches Dankeschön!

Das Buch

Die untereinander völlig zerstrittenen Nachkommen des angesehenen Hamburger Bankiers Ludwig Godeffroy kommen nach dessen Tod auf der Insel Neuwerk zusammen, um das Familienoberhaupt dort zu bestatten und im Anschluss daran über das Testament des Verstorbenen in Kenntnis gesetzt zu werden. Doch nach einem gemeinsamen Abendessen der Familie mit ihrem Notar stürzt eines der Geschwister urplötzlich zu Boden und verstirbt kurz darauf. Der aufgrund dieses Vorfalls eiligst herbeigerufene Doktor Nolden vermutet eine Vergiftung als Todesursache. Am nächsten Tag gelingt es dem mit den Ermittlungen beauftragten Hamburger Hauptkommissar Richard Bruns gerade noch rechtzeitig vor einem angekündigten Unwetter auf die Insel zu gelangen, um gemeinsam mit dem Mediziner und dem Wasserschutzpolizisten Kluge die Morduntersuchung einzuleiten. Schon bald muss sich das Trio mit schier unglaublichen Vorgängen aus der Vergangenheit der Godeffroys auseinandersetzen. In den Tagen darauf kommt es zu weiteren Morden an Angehörigen der Familie. Sind die Gründe für die Taten in den Streitereien der Nachkommen um das Erbe des Vaters zu suchen oder führt ein Außenstehender einen Rachefeldzug gegen die Bankiersdynastie?

Der Autor

Dieter Heymann wurde 1968 in Spelle (Kreis Emsland) geboren und wuchs in Rheine auf, wo er auch heute lebt. Nach dem Abitur kam er in die öffentliche Verwaltung, in der er noch immer tätig ist. Neben Schwimmen und Radfahren liest er gerne Spannendes und engagiert sich als Vereinsvorsitzender in der Vorstandsarbeit seines Schützenvereins.

Auf Neuwerk ist er mittlerweile Stammgast. Schon bei seinem ersten Besuch auf der Insel kam ihm der Gedanke, den Ort in der Nordsee für einen Kriminalroman zu nutzen. „Das Sterben auf Neuwerk“ ist nach der historischen Krimireihe „Tod eines SA-Mannes“, „Blick ins Verderben“ und „Verhängnisvolle Verschwörung“ der vierte Kriminalroman des Autors.

Weitere Informationen gibt es auf der Facebook-Seite „Dieter Heymann (Autor)“.

Für alle, die Neuwerk lieben

An düssen Oort ward jedderen

an Liev un Seel gesund

denn Roh un Freden ganz alleen

de helpt di wedder op de Been

Un wärst du noch so wund

Grußwort im Gästebuch des Hauses der Familie Dannmeyer/Nielsen auf Neuwerk, geschrieben im Jahr 1948

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Epilog

Prolog

Ein schwarzer Audi setzte sich gerade vollgetankt in Bewegung und verließ mit quietschenden Reifen das Gelände.

In den folgenden zwanzig Minuten passierte nichts, bis die Außenkameras schließlich zwei junge Männer erfasste, die den Shop betraten. Etwa fünf Minuten später kamen sie mit einem Sechserpack Bier und einigen Chipstüten bepackt wieder heraus, um nach kurzer Zeit aus dem Sichtbereich der Kamera zu verschwinden.

Danach tat sich wieder für längere Zeit nichts. Lediglich die Scheinwerfer oder Rücklichter vorbeifahrender Autos, die die Straße vor der Tankstelle befuhren, sorgten für bewegte Bilder auf den beiden Überwachungsmonitoren, die im Inneren des Shops hinter dem Verkaufstresen an der Decke aufgehängt waren. Doch die Verkäuferin beachtete die Bildschirme sowieso kaum, sondern hantierte stattdessen lieber mit ihrem Handy herum.

Ohne den spärlichen Straßenverkehr hätte es sich bei der Aufzeichnung des Geschehens im Tankstellenbereich für längere Zeit auch um reine Standbilder handeln können.

Erst als die oben eingeblendete Uhr 02:34:19 anzeigte, tat sich auf dem äußersten rechten Rand des Bildschirms der nach Norden ausgerichteten Kamera etwas. Zwei Personen kamen auf der gegenüberliegenden Straßenseite in deren Erfassungsbereich.

In der Dunkelheit waren die Gestalten auch für ein geübtes Auge nur schemenhaft auf dem Monitor zu erkennen. Die gelangweilte Verkäuferin war zu dieser Zeit immer noch durch ein Spiel auf ihrem Handy abgelenkt und achtete nicht auf die Geschehnisse, die sich direkt vor ihrer Nase abspielten.

Zwei Tage wurden die aufgezeichneten Bilder üblicherweise gespeichert, bevor sie unwiderruflich gelöscht wurden. Gleich am nächsten Morgen würde sich die Kriminalpolizei die Aufnahmen aushändigen lassen. Experten würden den Film danach sichten, wieder und wieder abspielen, einzelne Bildsequenzen vergrößern und schließlich ausdrucken.

Die Ermittler hofften nämlich, anhand der Aufzeichnungen wertvolle Hinweise für eine Straftat zu finden, die zu dieser Stunde genau gegenüber der Tankstelle verübt wurde.

Nach der elektronischen Aufarbeitung und anschließenden Auswertung der Bilder konnten die Beamten später folgenden Tatablauf rekapitulieren:

Zwei unbekannte und mit Kapuzenshirts bekleidete Personen, von denen eine deutlich kleiner als die zweite war, kamen gegen zwei Uhr vierunddreißig aus nördlicher Richtung auf dem Bürgersteig der anderen Straßenseite und stoppten in Höhe eines Gebäudes schräg gegenüber der Tankstelle.

Dort griff die größere Person in einen mitgeführten Rucksack und zog daraus ein Werkzeug hervor, mit dem sie sich an der Glastür des Objektes zu schaffen machte.

Die kleinere Person zog sich derweil in die direkt danebenliegende Durchfahrt zu den Innenhöfen zurück. Von dort beobachtete sie die Straße, während ihr Begleiter inzwischen die Eingangstür aufgehebelt hatte und das Innere des Gebäudes betrat.

In der nächsten halben Stunde tat sich nichts. Die kleinere Person griff lediglich zweimal in ihre Hosentaschen, um sich eine Zigarette anzuzünden, die sie nach dem Rauchen jeweils auf den Boden warf und mit dem Fuß austrat.

Dann kam die größere Person mit einer Tüte in der Hand und dem Rucksack auf der Schulter aus der Tür des Gebäudes und blickte sich auf dem Bürgersteig stehend suchend nach der kleineren Person um.

Nachdem sich diese aus ihrem Versteck hervorgewagt hatte, verschwanden beide gemeinsam um 03:05:18 rasch aus dem Blickfeld der Kamera.

Trotz aller technischen Finessen des Polizeilabors waren die Gesichter der beiden Personen zu keinem Zeitpunkt auf den Aufzeichnungen zu erkennen. Zudem hatte die größere Person bei ihrem Einbruch Handschuhe getragen und somit keine Fingerabdrücke hinterlassen.

Die aus dem Zigarettenfilter gewonnene DNA der kleineren Person sorgte kurzzeitig für Optimismus unter den Fahndern. Doch die Hoffnung, zumindest einen der Einbrecher anhand seines genetischen Fingerabdrucks identifizieren zu können, erstarb schnell wieder, als die Nachricht kam, dass es in den Datenbanken der Ermittlungsbehörden keinerlei Vergleichsspur gab.

Da sich den Beamten kaum Ansätze für weitere Nachforschungen boten, landete die Ermittlungsakte nach einigen Wochen auf dem großen Stapel unerledigter Fälle.

1

Die Luft war an diesem Vormittag diesig. Zudem trieb der Wind am Himmel dunkle Wolken vor sich her. Wahrscheinlich würde es gleich einen heftigen Regenguss geben. Das würde ihr gerade noch fehlen!

Auf der rund eineinhalbstündigen Fahrt in der offenen Kutsche würde sie dem Wetter schutzlos ausgeliefert sein. Ausgerechnet bei ihrer Rückkehr auf die Insel nach so vielen Jahren würde sie wahrscheinlich klatschnass ankommen, daran würden auch die von den Kutschern ausgegebenen Schutzplanen und Decken nichts ändern.

Seufzend wandte sie ihren Blick in die Ferne. Die Nordsee hatte sich weit zurückgezogen und würde erst am Nachmittag wieder ihren höchsten Stand erreichen. Vor ihr lag das Watt, auf dem trotz der widrigen Wetterverhältnisse reger Betrieb herrschte.

Gleich eine ganze Kolonne der von prächtigen Pferden gezogenen gelben Wattwagen bewegte sich vom Festland weg gen Nordwesten, um ihre meist aus Tagestouristen bestehenden Fahrgäste für einige Stunden nach Neuwerk zu transportieren. Nur die wenigsten von ihnen würden dort übernachten.

Aber auch eine große Anzahl von Reitern und Fußgängern war auf der weiten Wattfläche auszumachen. Ihnen schien die höchst ungemütliche Aussicht auf Kälte und durchnässter Kleidung nichts auszumachen.

Die Insel selbst war nur als undeutliche Silhouette wahrzunehmen. Mit viel Fantasie konnte sie den gewaltigen, alles überragenden Leuchtturm erahnen, in den sie für die nächsten Tage einziehen würde.

Ihr war frostig. Jetzt, zu Beginn des Septembers, wurde es an der Küste mitunter schon empfindlich frisch. Vielleicht hätte sie doch besser das Schiff genommen? Zumindest bequemer wäre es gewesen. Andererseits ging es auf der MS Delfin sehr beengt zu und die Vorstellung, die zweistündige Überfahrt im Kreise ihrer Brüder verbringen zu müssen, erzeugte bei ihr ein unangenehmes Gefühl.

Sie wollte den Kontakt zu ihren Geschwistern in den nächsten Tagen auf das Allernotwendigste beschränken und nach Abschluss der offiziellen Zusammenkünfte, die ihre Anwesenheit zwingend erforderten, so schnell wie möglich wieder heimfahren. Zu viel war damals zwischen ihnen vorgefallen, um heute noch einen normalen Umgang miteinander pflegen zu können.

Die Eskapaden ihres Vaters hatten seinerzeit für das Entzweien ihrer bis dahin intakten Familie gesorgt. Ironischerweise hatte ausgerechnet er indirekt dafür gesorgt, dass sie nach vielen Jahren der Entfremdung nun doch noch einmal hier im Norden zusammenkamen. Und natürlich hatte er Neuwerk für das Wiedersehen auserwählt!

Diese Insel weckte Kindheitserinnerungen in ihr. Hier hatte sie damals mit ihren Eltern und Brüdern die Sommer verbracht. Es waren stets unbeschwerte Wochen gewesen, wenn der Vater mit ihnen durch das Watt geschritten war oder die Mutter mit ihr an den Stränden nach ausgefallenen Muschelschalen gesucht hatte. Manchmal hatten sie sogar Bernstein oder zumindest das, was sie dafür hielten, gefunden.

In dieser Zeit war ihre heile Welt noch in Ordnung gewesen. Die Katastrophe brach erst viel später über ihre Familie herein.

Sie hoffte, auf dem nur drei Quadratkilometer großen Eiland in den nächsten Tagen ihre Ruhe zu haben und nicht ständig ihrer Verwandtschaft über den Weg zu laufen. Allein aus diesem Grund hatte sie es vorgezogen, ein Zimmer im Leuchtturm zu reservieren.

Johannes und Frederick würden bestimmt im Ferienhaus der Familie wohnen. Ursprünglich war das Gebäude einmal als Wohnbaracke für die vielen Flakhelfer erbaut worden, die sich während des Krieges auf der Insel befunden hatten.

Ihr Großvater war einer von ihnen gewesen. Als Fünfzehnjähriger war er auf Neuwerk abkommandiert und dort bei der Abwehr feindlicher Luftangriffe eingesetzt worden. Er gehörte zu den wenigen Glücklichen, die die Kampfhandlungen unbeschadet überstanden hatten.

Später erwarb er eine kleine Wiese und eine der Hütten im Binnengroden am nördlichen Deich, die er zu einem Wohnhaus umbauen ließ. Nach seinem Tod Ende der siebziger Jahre übernahm ihr Vater das kleine Anwesen und nutzte es fortan für die Sommerurlaube der Familie.

Mit Wehmut dachte sie an diese Zeit zurück. Während die Eltern ein kleines Schlafzimmer im Erdgeschoss gehabt hatten, durfte sie mit ihren drei Brüdern in der kleinen Kammer auf dem Dachboden schlafen, zu der nur eine wackelige Außenleiter führte. Wie mochte das Häuschen nach all den Jahren heute wohl aussehen?

Albert und Luisa waren hingegen in eines der wenigen Hotels der Insel untergekommen, wie sie mit Bestimmtheit wusste. Seit seinem Verkehrsunfall vor vielen Jahren war ihr zweitältester Bruder gehbehindert und dauerhaft auf fremde Hilfe angewiesen.

Dabei hatte er damals nur auf dem Beifahrersitz gesessen. Ausgerechnet Albert, der als aussichtsreichster Kandidat für die Nachfolge des Vaters in der Bank galt, war durch ein tragisches Unglück ausgebremst worden. Es war Ironie des Schicksals, dass genau die Person, die den Unfall verursacht hatte, am meisten von seinem Leid profitiert hatte: Johannes, der als ältester Nachkomme seine Chance bereits vertan hatte und eigentlich schon vom Vater als unfähig ausgemustert worden war. In dieser heiklen Situation war er nur allzu gerne in die Bresche gesprungen und hatte die Geschäfte erneut übernommen.

Albert hingegen hatte Jahre gebraucht, um sich von den Folgen seiner schweren Verletzungen zu erholen.

Mit Erleichterung registrierte Karin Wöhrle die Schlange gelber Wattwagen, die sich hintereinander von Neuwerk kommend langsam dem Strand von Sahlenburg näherten. Die Kutscher konnten sich dabei an Markierungspfählen orientieren, die in den schlammigen Boden geschlagen worden waren. Auch ein Traktor mit einem geschlossenen Anhänger kam etwas abseits der Pferdefuhrwerke fahrend auf das Festland zu.

Langsam wandte sie sich von der Wattlandschaft ab und steuerte mit bedächtigen Schritten auf das etwas originell wirkende Mehrzweckgebäude jenseits des Dünenweges zu, in dem neben der Rettungsstation auch ein Kiosk und die öffentlichen Toiletten untergebracht waren. Erstere erklärte wohl den Aufbau mit breiter Fensterfront auf dem Flachdach, von dem man eine weite Sicht auf das Watt und das für Karin Ähnlichkeit mit der Sprecherkabine eines Sportstadions hatte.

Der Untergrund wechselte nun von weichem Sand zu hartem Asphalt. Bevor Frauke Temming mit ihrem Wattwagen eintreffen würde, wollte sich Karin schnell noch einen Becher Kaffee kaufen und dazu eine Zigarette rauchen. Auf dem Platz hinter dem Gebäude würden sich in wenigen Minuten die Pferdegespanne aus Neuwerk sammeln.

Gestern war sie den weiten Weg von Stuttgart nach Cuxhaven gefahren, um in einem ganz in der Nähe gelegenen Hotel zu übernachten. Nach dem Abendessen war sie gleich ins Bett gefallen und hatte bis heute früh durchgeschlafen. Heute Morgen war sie nach dem Frühstück zu einem ausgiebigen Strandspaziergang über den Dünenweg aufgebrochen, um die frische Meeresluft zu genießen. Anschließend hatte sie ihren Mercedes in die Hans-Retzloff-Straße gefahren, wo es einen Parkplatz für Besucher der Insel gab, um danach mit ihrem Gepäck an den Strand zurückzukehren.

Der Anlass für ihre Rückkehr in den Norden war zwar alles andere als angenehm, aber die Entspannung durch die frische Meeresluft tat ihr nach dem ganzen Scheidungsstress dennoch gut.

Vor einem halben Jahr war die Ehe von ihrem Mann, einem Staatsanwalt, mit dem rechtskräftigen Scheidungsbeschluss auch offiziell für beendet erklärt worden, nachdem sie sich bereits zwei Jahre zuvor getrennt hatten. Damals hatte sie durch Zufall von Stephans Affäre mit einer fünfundzwanzigjährigen Büroangestellten seiner Behörde erfahren. ´Der Kater lässt das Mausen nicht´ war ihr erster Gedanke gewesen, als ihr schlagartig klar wurde, dass sie schon seit Jahren betrogen worden war. Aus ihrer Partnerschaft waren glücklicherweise keine Kinder hervorgegangen, weil keiner von ihnen beiden bei ihren jeweiligen Karrieren hatte zurückstecken wollen.

Sie war mittlerweile 42 Jahre alt und eine angesehene Rechtsanwältin. Ihr langes, blondes Haar trug sie meist offen. Seit einiger Zeit musste sie eine Brille tragen, die ihrem Gesicht gut stand, wie sie selbst meinte. Mit einer Körpergröße von eins fünfundachtzig überragte sie viele ihrer männlichen Kollegen. Trotz ihrer knapp bemessenen Freizeit fand sie stets Gelegenheit, etwas für ihre Fitness zu tun, was ihre schlanke Figur erklärte.

Die Männer fanden sie noch immer attraktiv, wie sie bei vielen Gelegenheiten mit insgeheimer Genugtuung feststellen konnte. Doch zu einer neuen Bindung war sie noch nicht bereit. Zu frisch waren noch die Wunden, die die Trennung von Stephan hinterlassen hatten.

Das Getrampel von Pferdehufen kam immer näher. Rasch bestellte sich Karin im Inneren des kleinen Kiosks einen Kaffee, ging mit dem Pappbecher in der einen und ihrem Koffer in der anderen Hand vor die Tür und zündete sich dort eine Zigarette an. Die ersten Wattwagen kamen bereits auf den freien Platz hinter dem Gebäude vorgefahren, drehten dort eine Runde und hielten an. Die Kutscher zogen die Handbremsen der Wagen an und sprangen von ihren Sitzen, um Leitern aus den Halterungen unter den Fahrzeugen hervorzuziehen, die sie an die hohen Aufbauten anlehnten.

Während die Fahrgäste über die Stiegen vorsichtig die Wagen verließen, schaute sich Karin suchend unter dem Fahrpersonal um. Sie registrierte lediglich zwei Frauen unter den rund zwanzig Gespannfahrern, von denen eine der Beschreibung, die sie bei ihrem Telefonat erhalten hatte, entsprach.

Rasch entsorgte sie Pappbecher und Zigarettenkippe in einem Mülleimer und ging auf eine schlanke, zierliche Person mit langen schwarzen Haaren zu, die gerade beruhigend auf ihre beiden Pferde einsprach.

Die Frau trug eine Jeanshose und eine wetterfeste Jacke. Über ihren Kopf hatte sie eine Mütze gezogen. Karin schätzte sie geringfügig älter als sie selbst ein.

„Entschuldigen Sie, sind Sie Frauke Temming?“, fragte Karin die Frau. Überrascht drehte diese sich zu ihr um. Die Kutscherin besaß ein hübsches, freundliches Gesicht, in dem sich sofort ein charmantes Lächeln zeigte.

„Moin. Ja, das bin ich. Dann müssen Sie Karin Wöhrle sein?“, fragte sie und hielt ihr zur Begrüßung die Hand hin, in die Karin erfreut einschlug.

„Wir haben noch ungefähr eine Viertelstunde bis zur Abfahrt. Wenn sie vorher noch einmal zur Toilette wollen, wäre jetzt noch die Gelegenheit.“ Frauke wies dabei mit der Hand auf das Gebäude, auf dem eine der Türen mit dem entsprechenden Schild gekennzeichnet war. „Unterwegs besteht diese Möglichkeit nicht mehr.“ Sie lachte bei ihren Worten.

„Der Hinweis ist gut“, entgegnete Karin. „Ich werde tatsächlich schnell noch einmal mein Näschen pudern gehen, bevor es losgeht. Vielen Dank für den Tipp.“

„Ich kümmere mich in der Zwischenzeit schon mal um Ihr Gepäck“, rief Frauke ihr noch nach, als sie schon auf dem Weg zu den Toiletten war.

2

Unter dem Personal war eine plötzliche Unruhe zu spüren. Alle, die gerade nichts zu tun hatten, begaben sich rasch zur Gangway, wo offenbar ihre Hilfe gefragt war.

Johannes Godeffroy meinte, den Grund für die jäh einsetzende Betriebsamkeit zu kennen.

„Ich glaube, die Aufregung gilt Albert“, meinte er zu seinem jüngsten Bruder Frederick. Beide standen an Deck der ´MS Delfin´, die noch fest vertäut in der Alten Liebe, einem Pier im Cuxhavener Hafen, lag. „Und wo unser lieber Bruder ist, ist seine Luisa sicherlich auch nicht weit.“

Die Geschwister drehten sich beinahe gleichzeitig um und blickten zur Rampe, auf der sich ein Mann auf seinen Rollator stützend mühsam an Bord quälte. Er wurde dabei von einem Matrosen und der herbeigeeilten Servicekraft unterstützt. Der Kartenkontrolleur folgte dem Trio mit einem großen Rollkoffer, den er hinter sich herzog. Den Abschluss dieser kleinen Prozession bildete eine etwa vierzigjährige Frau mit kastanienfarbenem Haar, die neben ihrer Handtasche noch eine Umhängetasche über der Schulter trug. „Hoffentlich bleibt sie in den nächsten Tagen friedlich“, sagte Frederick und bedachte Letztere mit einem skeptischen Blick. „Wenigstens diesen Respekt sollte sie Vater auf seinem letzten Weg erweisen.“

Johannes erwiderte:

„Dein Wort in Gottes Ohr, aber so recht glauben kann ich es nicht. Sie wird wahrscheinlich wieder auf Krawall aus sein und mich in gewohnter Form mit ihren Vorwürfen überschütten. Als ob Albert nicht genauso viel Schuld an seinem Schicksal trüge. Schließlich war er es, der damals darauf drängte, unbedingt noch den Heimweg anzutreten. Das war doch der blanke Wahnsinn! Außerdem sollte sie nicht vergessen, dass auch ich sehr gelitten habe.“

„Vermutlich wird ihre Laune auf der Insel davon abhängen, was Herr von Rohbeck ihr morgen Abend mitzuteilen hat“, gab Frederick zu bedenken. „Fällt Alberts Anteil am Erbe unseres Vaters zu ihrer Zufriedenheit aus, wird sie uns kaum Ärger machen.“

„Die beiden werden schon ihren Schnitt machen. Vater wird Albert gerade wegen seines schweren Schicksals bestimmt mit einer beträchtlichen Summe bedacht haben“, entgegnete Johannes.

Er war mit 54 Jahren der Älteste unter den vier Godeffroy-Geschwistern. Sein früher einmal blondes Haar war mit den Jahren fast vollständig verschwunden. Das dunkle Gestell seiner Brille und ein gepflegter Oberlippenbart ließen ihn in seinem Auftreten entschlossen und resolut wirken.

Im Gegensatz zu ihm wirkte sein jüngster Bruder Frederick fast noch jugendlich. Er war 38 Jahre alt und trug sein noch volles, blondes Haar streng gescheitelt. Mit seiner sportlichen Figur und seiner meist fröhlichen, lockeren Art wäre er bei den meisten Menschen, die ihn nicht näher kannten, auch als Student durchgegangen.

Ihr Bruder Albert und dessen Frau Luisa waren inzwischen mit ihrem Gepäck auf dem Oberdeck angelangt. Luisa bedankte sich gerade bei ihren Helfern und verteilte ein großzügiges Trinkgeld unter ihnen.

„Na komm, Johannes! Gib dir einen Ruck und spring über deinen Schatten! Wir wollen Albert und seine Frau begrüßen.“

Frederick hatte seinem Bruder einen leichten Stoß gegen die Schulter gegeben. Zusammen lösten sie sich von der Reling und gingen auf das ungleiche Paar zu.

„Guten Tag Luisa, hallo Albert“, grüßte Frederick und gab beiden die Hand.

Johannes, der hinter ihm stand, folgte seinem Beispiel.

„Wie geht es euch?“, fragte der jüngste der Brüder anschließend.

„Alles in Ordnung“, antwortete Albert, der sich an seinem Rollator festhielt. „Wir kommen schon zurecht, nicht wahr Luisa?“

Seine Frau verdrehte genervt die Augen und schwieg.

„Auch wenn der Anlass unserer Zusammenkunft traurig ist, bin ich doch froh, dass Vater vor Neuwerk bestattet wird, wie er es sich immer gewünscht hat“, meinte Albert weiter. „Er findet genau dort seine letzte Ruhe, wo er sich zu Lebzeiten immer am wohlsten gefühlt hat. Das wirkt irgendwie tröstlich.“

„Immerhin hatte Vater ein stolzes Alter erreicht“, entgegnete Johannes. „Er hat sein Leben gelebt und ist zum Schluss friedlich eingeschlafen.“

„Und hat dabei gleich in mehrfacher Sicht ein ziemliches Chaos hinterlassen“, relativierte seine Schwägerin. „Ob bei seinen Geschäften immer alles mit rechten Dingen zugegangen ist, wage ich zu bezweifeln. Dazu kommt noch die Sache mit seiner Nachfolge, die ebenfalls nicht ganz koscher war. Und dann denkt bitte auch an eure Mutter. Wie er damals mit ihr umgesprungen ist, ist einfach unverzeihlich.“

Ihre beiden Schwäger schauten sie verärgert an, während ihr Mann sie zu besänftigen versuchte.

„Ach Luisa, lass es gut sein. Die alten Geschichten interessieren doch heute niemanden mehr.“

„Nein, diese Dinge möchte ich aber niemals vergessen. Schau dich doch nur an, Albert. Deine Brüder haben sich ins gemachte Nest gesetzt und besetzen seit vielen Jahren die Position, die eigentlich einmal dir zugedacht war. Und was machst du? Du bist mit dem wenigen Geld zufrieden, das Vater dir damals geboten hat und genießt deinen Ruhestand. Dabei hättest du mit ein wenig mehr Ehrgeiz im Blut …“

Sie wurde von Johannes unterbrochen:

„Luisa, diese Dinge wurden in der Vergangenheit einverständlich durch Vater geregelt und sollten in dieser schweren Situation nicht schon wieder von dir aufgegriffen werden. Auch ihr habt der seinerzeit von Vater vorgeschlagenen Lösung zugestimmt, wenn ich dich daran erinnern darf.“

Sie warf Johannes einen zornigen Blick zu und schnaubte wutentbrannt:

„Dann helft mir wenigstens, euren Bruder und das Gepäck unter Deck zu bringen. Wie es aussieht, regnet es nämlich gleich in Strömen.“

3

Inzwischen hatte sich Karin die blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

„Haben Sie eine Plane auf dem Wagen, unter der ich mich verkriechen kann?“, fragte sie Frauke und warf dabei einen besorgten Blick nach oben. Sie hatte als einziger Fahrgast vorne neben der Kutscherin Platz genommen. Auf diese Weise war eine Unterhaltung zwischen ihnen unter bequemen Umständen möglich, ohne dass Frauke sich ständig zu ihrem Fahrgast nach hinten umdrehen musste. Karins Koffer war auf der freien Sitzbank hinter ihnen untergekommen.

„Wir haben zwar Schutzplanen an Bord, aber die werden wir heute nicht brauchen“, beruhigte Frauke sie. „Die Wolken werden sich schnell verziehen. Keine Sorge also, Sie werden trocken auf Neuwerk ankommen. Für morgen ist allerdings ein Sturmtief angekündigt.“

Nach diesen Worten gab sie den beiden braunen Pferden als erste der Kutscher das Kommando für die Abfahrt. Hinter ihnen reihten sich die anderen Wattwagen nach und nach in den Konvoi ein, der über Dünenweg und Strand hinaus auf das Watt fuhr und damit Kurs auf die Insel nahm.

Karin warf erneut einen skeptischen Blick auf die dunklen Wolken, die sich über ihnen auftürmten. Fraukes Worte schienen sie nicht überzeugt zu haben. Trotzdem fragte sie höflich:

„Um was für eine Rasse handelt es sich bei den Pferden?“

„Das sind Schleswiger, Kaltblutpferde aus dem nördlichen Schleswig-Holstein. Sie sind für schwere Arbeiten hervorragend geeignet, wie zum Beispiel für Wald- oder Feldarbeiten.“

„Oder zum Ziehen einer Kutsche durch das Watt“, meinte Karin gedankenverloren.

„Genau“, bestätigte Frauke. „Das Schleswiger Kaltblut ist äußerst leistungsfähig und dabei sehr ausdauernd. Es kommt besonders gut als Zugpferd infrage, weil es hervorragend mit Wasser, Wind und Watt klarkommt. Aber natürlich gibt es auf Neuwerk auch andere Rassen, wie beispielsweise Bayerische-, Thüringer- oder Belgische Kaltblüter.“

„Wasser sagten Sie?“, fragte Karin erstaunt. „Aber es ist doch Ebbe. Wir fahren doch nicht durch das Wasser, oder?“ Die Wagenführerin musste schmunzeln. „Sie werden sich wundern …“

„An diese … Wegmarkierungen erinnere ich mich noch aus meiner Kindheit.“

„Sie meinen die Pricken? Die werden aus Birkenästen gebunden und kennzeichnen den Weg nach Neuwerk.“

Frauke zügelte die Pferde, die sofort langsamer wurden. Der Wagen näherte sich einer Stelle mit steinigem Untergrund und begann leicht zu schaukeln.

„Wir durchfahren gleich das Sahlenburger Loch, einen kleinen Priel“, erklärte die Kutscherin. Als sie die misstrauischen Blicke ihres Fahrgastes bemerkte, ergänzte sie: „Dort drüben an der 6 wird es noch tiefer.“

„An der 6?“, fragte Karin verständnislos.

„Wir nennen die Stelle ´an der 6´, weil dort die Rettungsbake 6 steht. In Wirklichkeit handelt es sich um den tiefsten Priel auf unserer Strecke, nämlich um einen Ausläufer des Oxsteter Tiefs. Sie brauchen aber keine Sorge haben, nass zu werden. Die Wagen sind hoch genug gebaut. Lediglich die Bäuche der Pferde bekommen eine kleine Abkühlung.“

Beide Frauen lachten kurz. Nachdem sie den steinigen Abschnitt hinter sich gelassen hatten, wurden die Pferde wieder schneller, um schon bald in langsames Schritttempo zu verfallen. Immer tiefer versanken ihre langen Beine im Wasser. Frauke hatte nicht übertrieben, die Zugtiere waren zeitweise nur noch zur Hälfte zu sehen. Wieder wippte der Wattwagen bedenklich, doch weder die Pferde noch ihre Führerin waren dadurch aus der Ruhe zu bringen. Schon bald lag auch dieser Priel hinter ihnen.

„Oft wird dieser Priel fälschlicherweise als ´Duhner Loch´ bezeichnet“, erklärte Frauke weiter. „Er bereitet uns zunehmend größere Probleme, weil er durch die Strömung und andere Einflüsse immer tiefer wird. Dabei durchfahren wir inzwischen schon bei Niedrigwasser 90 Zentimeter. Bei schlechtem Wetter und einem selbst bei Niedrigwasser nur um 30 Zentimeter erhöhtem Pegel ist eine Durchfahrt schon nicht mehr möglich, was immer häufiger vorkommt und unter den Feriengästen verständlicherweise für Verärgerung sorgt. Sie können nicht auf die Insel kommen und müssen sich um eine Zwischenübernachtung in Cuxhaven bemühen.

Aber über das Watt werden nicht nur Menschen, sondern auch Material transportiert. Von den Lebensmitteln bis zum Müll, alles wird mit einem Anhänger, der von einem Traktor gezogen wird, über das Watt transportiert. Vielleicht haben Sie ihn eben zufällig beobachten können. Das betrifft auch Rettungseinsätze. Dieser Transportweg ist also die Lebensader Neuwerks. Würde er wegfallen, wären die Versorgung der Insel und die Lebensgrundlage seiner Bewohner gefährdet. Seit Jahren weisen wir schon auf diesen Missstand hin, doch nichts geschieht.“

„Aber das ist doch eine Sache der Politik, nicht wahr?“, fragte Karin.

„Natürlich. Die beste Lösung wäre ein Aufschütten des Priels mit Gestein und einer darüber angelegten Sandschicht. Aber Neuwerk gehört zu Hamburg, während Cuxhaven Teil Niedersachsens ist. Wahrscheinlich gibt es deswegen ein Gerangel um Kompetenzen und die Finanzierung dieser Maßnahme.“

„Gibt es denn keine Alternativen zu dieser unhaltbaren Situation?“

„Die einzige Möglichkeit, die uns bliebe, wäre die Verlegung des Fahrweges, was natürlich mit erhöhten Fahrzeiten und Kosten verbunden wäre.“

„Das sind ja keine schönen Aussichten für die Inselbewohner ...“, kommentierte Karin.

„Leider nein, aber ich wollte Sie nicht mit unseren Problemen belasten. Ab jetzt wird die Fahrt jedenfalls ruhiger“, versprach Frauke, während sie sich mit einem Blick über die Schulter davon überzeugte, dass auch die anderen Fahrzeuge den Priel heil durchfahren hatten.

Die Insel war ihnen inzwischen deutlich nähergekommen, wie Karin erstaunt feststellte. Auf der linken Seite war hoher Baumbewuchs zu erkennen, aus dem der Leuchtturm herausragte. Weiter rechts erkannte sie den Radarturm und die Ostbake.

Wie lange hatte sie dieses Bild schon nicht mehr vor Augen gehabt?

„Waren Sie schon einmal auf Neuwerk?“, wurde sie von der Fahrerin wie aufs Stichwort aus ihren Gedanken gerissen.

„Oh ja, aber das ist lange her“, antwortete sie. „Jahrzehnte, um genau zu sein. Mein Großvater hat nach dem Krieg eine kleine Baracke erworben, die er sich zu einem Ferienhaus umbauen ließ. Als ich noch ein Kind war, haben wir hier unsere Sommer verbracht.“

Ihre Gesprächspartnerin stutzte kurz, bevor sie fragte:

„War ihr Vater vielleicht Ludwig Godeffroy?“

„Ja, ich bin seine einzige Tochter.“

„Ach herrje, das konnte ich ja nicht ahnen. Dann möchte ich Ihnen zum Tod Ihres Vaters mein aufrichtiges Beileid wünschen.“

„Danke vielmals. Aber mein Vater war alt. Außerdem standen wir uns schon lange nicht mehr sehr nahe.“

„Verzeihen Sie, aber ich habe von einem alten Streit in Ihrer Familie gehört. Das finde ich sehr schade. Leben Sie denn noch hier im Norden?“

„Nein, schon lange nicht mehr. Ich bin nach meinem Studium zusammen mit meinem Mann nach Stuttgart gezogen.“

„Haben Sie Kinder?“

„Nein, das war nie ein Thema für uns. Das Berufliche hatte aus irgendeinem Grund immer Vorrang, was aus heutiger Sicht vielleicht ein Fehler war.“

Als sie den fragenden Blick Fraukes bemerkte, erklärte sie:

„Wir wurden vor sieben Monaten geschieden.“

„Oh, das tut mir leid.“

„Das muss es nicht. Ein Zusammenleben mit einem zugegebenermaßen attraktiven Partner ergibt nur einen Sinn, wenn er treu ist. Mein Mann hat mich hingegen über Jahre hinweg schamlos betrogen. Ich bin froh, dass es vorbei ist. Aber wie stehen die Verhältnisse bei Ihnen? Sind Sie verheiratet?“

Frauke schaute auf einmal angestrengt nach vorne zu den Pferden, als sie antwortete.

„Es hat sich irgendwie nie ergeben. Wahrscheinlich habe ich den Richtigen nie getroffen.“

„Aber das kann ja noch passieren. Sie sind ja noch jung und um sich zu verlieben ist es nie zu spät. Sind Sie denn geborene Insulanerin? Ich kann mich nicht erinnern, Sie als Kind auf Neuwerk gesehen zu haben.“

„Das ist kein Wunder. Obwohl ich an der Küste groß geworden bin, wusste ich lange Zeit so gut wie nichts von der Insel. Ursprünglich komme ich aus der Nähe von Wilhelmshaven. Schon als Kind wollte ich irgendetwas mit Tieren machen. Also absolvierte ich eine Ausbildung zur Pferdepflegerin auf einem Gestüt im Oldenburgischen. Dort blieb ich anschließend für einige Jahre, bis ich zufällig von einer freien Stelle auf Neuwerk erfuhr. Die Kutschfahrten durch das Watt und das Leben auf der Insel reizten mich sofort. Also bewarb ich mich und wurde auch gleich eingestellt. Das ist inzwischen über zwanzig Jahre her. Ich habe meine Entscheidung nie bereut.“

„Das glaube ich Ihnen sofort. Auch ich habe mich hier immer sehr wohlgefühlt.“

„Aber warum sind Sie denn nie wieder hergekommen? Ihre Familie ist doch noch immer im Besitz des Häuschens. Dort treffe ich immer wieder mal Ihre Brüder Johannes oder Frederick. Manchmal sind auch Albert und Luisa auf der Insel. Aber die beiden logieren stets im ´Hotel Meeresblick´, was natürlich angesichts des Gesundheitszustandes Ihres Bruders für sie bequemer ist.“

„Auch das Verhältnis zu meinen Geschwistern ist nicht das Beste. Das ist der Grund, warum ich lange nicht hier gewesen bin.“

Frauke bedachte sie mit einem erstaunten Blick und wechselte vorsichtshalber rasch das Gesprächsthema:

„Hatten Sie jemals in Ihrem Leben mit Pferden zu tun?“

Karin schüttelte mit dem Kopf. „Nein, leider nie.“

In den folgenden Minuten berichtete die Wagenführerin von einer Gruppe Reitern, die am Vortag mit ihren Pferden durch das Watt nach Neuwerk geritten waren, um dort zu übernachten. Sie hatten ihre Tiere am Hotel abgegeben und die Arbeit dem Stallpersonal überlassen, ohne sich weiter um ihre Pferde zu kümmern. Frauke beklagte sich über die Selbstverständlichkeit dieser Gäste, mit der sie das Abreiben und Füttern ihrer vierbeinigen Freunde durch die Belegschaft voraussetzten, obwohl dies vorher so nicht abgesprochen gewesen war.

Karin war indes mit ihren Gedanken abgeschweift und hörte gar nicht richtig zu. Wie lange war sie nicht mehr auf Neuwerk gewesen? War ihr letzter Besuch schon fünfundzwanzig Jahre her? Viel dürfte zumindest nicht an dieser Zahl fehlen.

Was hatte die Kutscherin unterwegs über den Radarturm gesagt? Wenn sie sich richtig erinnerte, war dieser 1986 errichtet worden.

An die Konstruktion konnte sie sich noch gut erinnern, denn sie hatte das Bauwerk damals für einen Fernsehturm gehalten, ähnlich dem in ihrer Heimatstadt Hamburg.

Noch viele Jahre hatte sie das ganz in weiß gehaltene Bauwerk ehrfurchtsvoll bewundert, bis sie als Jugendliche lieber mit ihren Freundinnen in ein Ferienlager gefahren war, anstatt die Sommer mit ihrer Familie zu verbringen.

Vermutlich war sie also vierzehn oder fünfzehn Jahre bei ihrem letzten Besuch auf der Insel gewesen, schätzte sie. Sie war 1978 geboren, demnach müsste dies also 1992 oder 1993 gewesen sein.

Mein Gott, das war 27 oder sogar 28 Jahre her!

Später hatte sie erst recht nicht mehr herkommen wollen, als die furchtbare Sache mit Vater und dieser Tänzerin angefangen hatte. In welchem Jahr war das doch gleich gewesen? Nein, sie wollte besser nicht mehr daran denken! Jäh wurde sie von Frauke aus ihren Gedanken gerissen.

„Da wären wir auch schon. Zwar können wir im Gegensatz zur ´MS Delfin´ nur zwei und nicht neunhundert Pferdestärken aufbieten, doch mit dem Wattwagen sind Sie sogar noch etwas schneller an Ihr Ziel gelangt. Und wie versprochen spielt das Wetter mit.“

Während sie das Watt verließen und den Deich der Insel emporfuhren, nahm Karin zu ihrer Überraschung den strahlenden Sonnenschein am Himmel wahr, mit dem sie auf dem Eiland empfangen wurden.

Wann war das Wetter umgeschlagen? Sie hatte nichts davon mitbekommen.

Die Hufe der Pferde gaben jetzt laute Geräusche von sich, weil der Untergrund auf der schmalen Deichdurchfahrt gepflastert war. „Sie sind im Leuchtturm untergebracht, sagten Sie?“, fragte Frauke.

„Ja“, murmelte Karin, während sie ihre Umgebung fasziniert betrachtete.

Nachdem sie den Schutzwall auf einer Abfahrt hinter sich gelassen hatten, waren sie jetzt auf einer kleinen Straße parallel zum Deich unterwegs. Auf der rechten Seite saßen sich mehrere Personen auf Steinblöcken gegenüber. In ihrer Mitte floss aus einigen Hähnen Wasser, mit dem sich die Gruppe ihre Füße säuberte.

„Unsere Fußwaschanlage für die Wattwanderer“, erklärte Frauke. „Hier können sie sich den Schlick von den Füßen waschen.“

„Ist hier in der Nähe nicht auch der Friedhof?“

„Richtig, Sie meinen den Friedhof der Namenlosen. Dort wurden in früheren Jahrhunderten die Schiffbrüchigen bestattet. Wir sind gerade an dessen Zugang vorbeigefahren.“

Vor einer winzigen Verkehrsinsel bog der Wattwagen rechts ab, während die hinter ihnen folgenden Kutschen weiter geradeaus fuhren.

Das in der Mitte der Straßengabelung unter einer kunstvoll gestalteten dreiarmigen Straßenlaterne aufgestellte rote Schild mit dem Schriftzug und Wappen der Freien und Hansestadt Hamburg erinnerte Karin daran, wo sie sich augenblicklich gerade befand: Im Bezirk Hamburg Mitte, obwohl die Elbmetropole eigentlich rund 120 Kilometer weiter elbaufwärts lag.

Direkt hinter der Kurve gab es auf dem Turmdeich einen Fahnenmast und zwei antiquarische Kanonen aus früheren Jahrhunderten zu bewundern. Ein Schild wies auf das Nationalpark-Haus hin, an dem sie gerade vorbeifuhren. Frauke bemerkte Karins fragenden Blick.

„Das Nationalpark-Haus werden Sie noch nicht kennen, denn es wurde erst 2004 eröffnet. Falls Sie in den nächsten Tagen Zeit haben, empfehle ich Ihnen dort einen Besuch. Sie können auch an einer der vielen Führungen teilnehmen, die zu verschiedenen Themen angeboten werden. Die sind wirklich sehr interessant!“

Wenige Meter später brachte Frauke die Kutsche an einer Rampe auf der rechten Seite zum Halten. Hier war ein bequemer Ausstieg aus dem Wagen möglich.

„Endstation“, sagte Frauke und war Karin beim Gepäck behilflich.

„Wie lange werden Sie bleiben?“

„Oh, nicht lange. Ich habe nur zwei Übernachtungen gebucht. Für heute Nachmittag ist die Bestattung meines Vaters angesetzt. Und heute Abend trifft sich die Familie mit Herrn von Rohbeck, dem Notar meines Vaters, im ´Kapitäns Hus´. Dort wird er uns über die Testamentseröffnung informieren.“

„Ich weiß“, lächelte die Wagenführerin und ergänzte rasch: „Neuwerk ist klein. Hier kennt jeder jeden und ihr Vater war den Bewohnern natürlich bestens bekannt. Daher hat sich die Nachricht vom Ableben ihres Vaters und dem Besuch ihrer Familie anlässlich seiner Bestattung schnell herumgesprochen. Das gilt auch für den Ort der Familienzusammenkunft.“

Karin nickte. „Ich verstehe.“

„Bitte nehmen Sie mir mein Wissen nicht übel, aber Ihr Vater war hier sehr beliebt. Er muss Neuwerk und die Menschen auf der Insel sehr geliebt haben, denn es war allgemein bekannt, dass er vor der Insel bestattet werden wollte. Ebenso wusste hier jeder, dass er bestimmt hatte, seine Nachkommen durch seinen Notar im ´Kapitäns Hus´, seinem Lieblingsrestaurant, über seinen letzten Willen zu informieren.“

Karin hatte inzwischen ihr Portemonnaie gezückt und diesem einen Geldschein entnommen, den sie der Fahrerin übergab.

„Natürlich ist mir durchaus bewusst, wie viel dieses winzige Stück Land im Meer meinem Vater bedeutet hat. Ich danke Ihnen jedenfalls für Ihre Mühen.“

Erst nachdem der Wattwagen abgefahren war, wagte sie einen Blick auf die vor ihr liegende Turmwurt.

Hinter der Vogtscheune, die heute scheinbar noch immer als Schullandheim genutzt wurde, erhob sich der gewaltige Leuchtturm, Hamburgs ältestes Bauwerk. Ehrfurchtsvoll ließ sie ihren Blick bis zur in rund 40 Metern Höhe thronenden Spitze wandern. In diesem Gebäude würde sie also die nächsten beiden Nächte verbringen.

Sie gab sich einen Ruck, nahm ihren Rollkoffer auf und stieg die wenigen Stufen von der Rampe hinunter. Auf dem Weg zum Leuchtturm kamen die Erinnerungen an die Deichscharte, durch die der Turmwall durchschritten werden konnte und das holprige Kopfsteinpflaster wieder zurück, über das ihr Weg sie führte. Eine schwarz-weiße Katze beobachtete sie aus der Gartenanlage des HHBGebäudes, der Hamburger Hafenbehörde, um schnell zu flüchten, als Karin ihr zu nahe kam.

Auf der linken Seite konnte sie den Herrengarten mit dem kleinen Turmteich entdecken, der in früheren Zeiten als Viehtränke gedient hatte. Einige Bäume, die dort vor langer Zeit angepflanzt worden waren, waren von den häufigen Stürmen im Laufe der Zeit in teilweise grotesk wirkende Schrägstellungen gedrückt worden. Es grenzte fast an ein Wunder, dass sie überhaupt noch aufrecht standen.

Ein schmaler Fußweg führte um das Wasser herum und wurde dabei an einer Stelle von einem weiß gestrichenen Rosenbogen überspannt, in dessen Umgebung sich liebevoll angelegte Blumenbeete befanden. Die Rasenflächen wirkten sehr gepflegt, eine Sitzbank lud zum Verweilen ein.

Erst jetzt bemerkte Karin die ganze Schönheit, die diese Insel zu bieten hatte. Ringsherum erstrahlten Bäume, Sträucher und Gräser in sattem Grün.

So bezaubernd hatte sie Neuwerk gar nicht in ihrer Erinnerung gehabt. Lag es daran, dass ihr in jungen Jahren noch die Sicht für die Ästhetik der Natur gefehlt hatte?

Sie riss sich von diesem malerischen Anblick los und wandte sich dem überdachten Treppenaufgang des Leuchtturms zu. Doch bevor sie ihren Fuß auf die erste Stufe setzen konnte, klingelte ihr Handy.

Seufzend stellte sie den Koffer ab und suchte in ihrer Handtasche nach dem Mobiltelefon.

4

Ein gutgekleideter, weißhaariger Mann mit Vollbart saß auf dem Unterdeck der ´MS Delfin´ vor einem Cappuccino und beobachtete gespannt eine Gruppe von drei Männern und einer Frau, die mit ihrem Gepäck die Treppe hinunterkam. Einer der Männer hangelte sich mühsam am Geländer entlang, während ein zweiter dessen Rollator trug.

Unten angekommen schaute sich das Quartett suchend um. Als der älteste unter ihnen den Mann entdeckt hatte, kam er lächelnd auf diesen zu und hielt ihm seine Hand hin. „Guten Tag Herr von Rohbeck, schön Sie zu sehen.“

Sie gaben sich zur Begrüßung die Hand. Die anderen aus der Gruppe waren Johannes Godeffroy gefolgt und begrüßten den Mann ebenfalls.

„Guten Tag, ich freue mich ebenfalls, Sie auf dem Schiff nach Neuwerk begrüßen zu dürfen“, antwortete dieser galant, um gleich danach die Stirn zu runzeln.

„Ihre Schwester Karin hat doch hoffentlich ebenfalls meine Nachricht erhalten?“

Frederick antwortete schnell für alle:

„Ich bin mir sicher, Karin hat den Wattwagen genommen und ist bereits unterwegs. Sie ist schon immer ihre eigenen Wege gegangen.“

„Nun gut, wir wollen hoffen, dass Sie Recht behalten. Nehmen wir doch zunächst einmal Platz.“

Nachdem sich alle zu von Rohbeck gesetzt hatten, ergriff dieser das Wort:

„Ihnen ist ja zweifellos bekannt, dass ich Herrn Ludwig Godeffroy zeit seines Lebens notariell vertreten habe. Wie ich Ihnen im Vorfeld bereits schriftlich mitteilte, hat mich Ihr Vater noch zu Lebzeiten gebeten, Sie von seinem letzten Willen in Kenntnis zu setzen.

Meine Aufgabe besteht dabei aus zwei Teilen, denn zunächst einmal habe ich für eine würdevolle Beisetzung Ihres Vaters im Kreise seiner engsten Angehörigen Sorge zu tragen.

Wie Sie alle wissen, war es zeitlebens der Wunsch meines Mandanten, auf der See vor Neuwerk bestattet zu werden. Demzufolge habe ich ein entsprechendes Unternehmen in Cuxhaven kontaktiert, welches sich auf diese Art der Beisetzung spezialisiert hat. Man wird das Trauerschiff, auf dem sich die Urne mit den sterblichen Überresten Ihres Vaters befindet, heute Nachmittag zur Insel entsenden.

Aufgrund seines Wirkens und der besonderen Verdienste des Verstorbenen für die Freie und Hansestadt Hamburg war es kein Problem, bei der Hafenbehörde die Erlaubnis für die Nutzung des Staatsanlegers zu erwirken. Der eigentliche Pier wird bei der Ankunft der ´MS Concordia´ noch mit der ´MS Delfin´ belegt sein, wie ich als Erklärung hinzufügen sollte. Normalerweise wird der Staatsanleger vom Tanker für das Heizöl, dem Versorgungs- und Müllschiff oder Polizei- und Rettungsbooten genutzt.

Ich darf Sie also bitten, sich um spätestens 14 Uhr 45 mit der gesamten Familie am Hafen einzufinden.

Bezüglich der Bekanntgabe des letzten Willens Ihres Vaters habe ich ein Arrangement getroffen. Für neunzehn Uhr ist ein Tisch für sechs Personen im ´Kapitäns Hus´ reserviert. Nach dem gemeinsamen Abendessen werden wir uns in den Wintergarten des Gebäudes zurückziehen, wo ich Sie mit den Einzelheiten des Testaments vertraut machen werde.“

„Wozu denn die Zeremonie mit dem Familienmahl? Können Sie uns diesen Teil des Programms nicht ersparen?“

Frederick hatte gesprochen. Johannes nickte sofort zustimmend, während Luisa entnervt die Augen verdrehte. Albert schien die Worte seines Bruders ignoriert zu haben und zeigte keinerlei Regung.

„Ich befürchte, bei einem gemeinsamen Essen der Familie wird es Streit mit Karin geben“, erklärte Johannes. „Von daher würde ich es ebenfalls begrüßen, wenn wir das Zusammensein mit ihr auf ein Minimum reduzieren könnten.“

„Im Gegensatz zu meinen Brüdern würde ich mich dafür aussprechen, den Kontakt mit unserer Schwester zu suchen“, äußerte sich jetzt auch Albert und erntete dafür einen bösen Blick von seiner Frau, der ihn sofort wieder verstummen ließ.

„Sie hat die Geschichte von damals nie vergessen können. Wir anderen könnten doch zum Dinner eines der anderen Restaurants der Insel aufsuchen“, schlug Johannes vor.

„Ich fürchte, das ist nicht möglich“, erklärte der Jurist. „Es war der ausdrückliche Wunsch Ihres Vaters, den Tag seiner Bestattung genauso, wie ich ihn Ihnen geschildert habe, ablaufen zu lassen. Vielleicht erhoffte er sich von der Zusammenkunft seiner Kinder nach seinem Tod eine Aussöhnung zwischen Ihnen. Auf alle Fälle sollten Sie dieses letzte Ansinnen Ihres Familienoberhauptes respektieren.“