Blinde Gier - Lisa Jackson - E-Book
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Blinde Gier E-Book

Lisa Jackson

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Beschreibung

Spannend, fesselnd, sinnlich:Romantic Thrill von Bestseller-Autorin Lisa Jackson um eine Familienfehde in Kalifornien! Lake Arrowhead, Kalifornien: Die Familien-Patriarchen der Baulöwen Taggert und Holland sind verfeindet bis in den Tod und bieten sich einen erbitterten Konkurrenzkampf im Erbauen von luxuriösen Ferienresorts. Neal und Mikki Taggert haben drei Kinder - den skrupellosen, macht- und geldhungrigen Weston, den sensiblen Harley und die psychisch geschädigte Paige sowie mehrere Kinder aus Neals Affären. Dutch und Dominique Holland haben drei äußerst attraktive Töchter – die kühle, karrierebedachte Miranda, die romantische Claire und die rebellische Tessa. Trotz strikter Verbote und Drohungen väterlicherseits verlieben sich Harley und Claire ineinander und verloben sich. Bevor Claire die Verlobung lösen kann, denn sie und der Außenseiter Kane Morgan lieben sich, stirbt Harley. Ermordet auf dem Boot der Taggerts. Wer der Mörder ist bleibt ungeklärt. 16 Jahre später ermitteln ein Privatdetektiv und Kane Morgan, inzwischen Journalist, den Fall neu und enthüllt ein Netz aus Lügen, Vergewaltigung und Mord…und der Täter giert nach seinem nächsten Opfer. feelings-Skala (1=wenig, 3=viel): Erotik: 3, Spannend: 3, Gefühl: 1 »Blinde Gier« ist ein eBook von feelings*emotional eBooks. Mehr von uns ausgewählte romantische, prickelnde, herzbeglückende eBooks findest Du auf unserer Facebook-Seite: www.facebook.de/feelings.ebooks Genieße jede Woche eine neue Liebesgeschichte - wir freuen uns auf Dich!

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Lisa Jackson

Blinde Gier

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Kristina Lake-Zapp

Knaur e-books

Über dieses Buch

Spannend, fesselnd, sinnlich: Romantic Thrill von Bestsellerautorin Lisa Jackson!

Lake Arrowhead, Kalifornien: Die Familienpatriarchen der Baulöwen Taggert und Holland sind verfeindet bis in den Tod und bieten sich einen erbitterten Konkurrenzkampf im Erbauen von luxuriösen Ferienresorts. Neal und Mikki Taggert haben drei Kinder - den skrupellosen, macht- und geldhungrigen Weston, den sensiblen Harley und die psychisch geschädigte Paige sowie mehrere Kinder aus Neals Affären. Dutch und Dominique Holland haben drei äußerst attraktive Töchter – die kühle, karrierebedachte Miranda, die romantische Claire und die rebellische Tessa. Trotz strikter Verbote und Drohungen väterlicherseits verlieben sich Harley und Claire ineinander und verloben sich. Bevor Claire die Verlobung lösen kann, denn sie und der Außenseiter Kane Morgan lieben sich, stirbt Harley. Ermordet auf dem Boot der Taggerts. Wer der Mörder ist bleibt ungeklärt. 16 Jahre später ermitteln ein Privatdetektiv und Kane Morgan, inzwischen Journalist, den Fall neu und enthüllt ein Netz aus Lügen, Vergewaltigung und Mord…und der Täter giert nach seinem nächsten Opfer.

feelings-Skala (1=wenig, 3=viel): Erotik: 3, Spannend: 3, Gefühl: 1

»Blinde Gier« ist ein eBook von feelings*emotional eBooks. Mehr von uns ausgewählte romantische, prickelnde, herzbeglückende eBooks findest Du auf unserer Facebook-Seite: www.facebook.de/feelings.ebooks Genieße jede Woche eine neue Liebesgeschichte - wir freuen uns auf Dich!

Inhaltsübersicht

WidmungTeil einsPrologKapitel einsKapitel zweiKapitel dreiKapitel vierKapitel fünfTeil zweiKapitel sechsKapitel siebenKapitel achtKapitel neunKapitel zehnKapitel elfKapitel zwölfKapitel dreizehnKapitel vierzehnKapitel fünfzehnKapitel sechzehnKapitel siebzehnKapitel achtzehnKapitel neunzehnKapitel zwanzigKapitel einundzwanzigKapitel zweiundzwanzigTeil dreiKapitel dreiundzwanzigKapitel vierundzwanzigKapitel fünfundzwanzigKapitel sechsundzwanzigKapitel siebenundzwanzigKapitel achtundzwanzigKapitel neunundzwanzigKapitel dreißigKapitel einunddreißigKapitel zweiunddreißigKapitel dreiunddreißigKapitel vierunddreißigEpilog
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Für Anita. Literaturagentin. Mentorin. Freundin.

Du wirst vermisst, aber niemals vergessen.

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Teil eins

1996

Prolog

Miststück.« Harley Taggert war betrunken, aber noch nicht betrunken genug. Er brauchte eine weitere Flasche Champagner, um den Schmerz zu betäuben, der tief in seine Seele schnitt. Stolpernd tastete er sich über das Deck des Segelboots, das seinem Vater gehörte. Die Nacht war klar, der salzige Geruch des Ozeans stieg ihm in die Nase, das Boot schaukelte sanft gegen den Anleger. Wie konnte sie ihm das antun? Wie konnte sie ihm bloß seinen Ring zurückgeben?

Weil sie ein herzloses Miststück ist.

Er öffnete die geballte Faust und sah den Diamantring auf seiner schwitzigen Handfläche liegen. Prompt schossen ihm Bruchstücke ihres sorgfältig einstudierten Monologs über ihre nicht funktionierende Beziehung durch den Kopf. Sie wollte, dass sie »befreundet« blieben. Schwachsinn. So wie sie mit Kane Moran, diesem heruntergekommenen Gauner, »befreundet« war? Vermutlich war sie gerade dabei, sich mit ihm um den Verstand zu vögeln.

Er kniff die Augen zusammen und stellte sich ihr Gesicht vor. Sie war umwerfend schön, aber das waren alle Frauen der Familie Holland.

Claire. Mein Gott. Warum?

Verdammt noch mal, er liebte sie.

Mehr als ihm klar gewesen war. Mehr als er es für möglich gehalten hätte.

Trotzdem hatte sie ihn betrogen.

Mit diesem erbärmlichen Abschaum.

Harley fluchte, als er am Bug ankam, und blickte hinauf auf die kahlen Masten, die sich in den sternenklaren Nachthimmel erhoben. Tränen brannten in seinen Augen. Was für eine Schande! Das musste am Champagner liegen. Woran sonst? Er war schließlich ein Mann, und Männer kannten keine Tränen – schon gar nicht die Söhne von Neal Taggert. Die ganz sicher nicht.

»Mist«, murmelte er und schaute nach Westen, vorbei an der Bucht auf die offene See. Er sollte abhauen. Für immer. Oder das tun, womit er gedroht hatte: dem Ganzen ein Ende machen. Einfach ins eisige Wasser springen und tief Luft holen. Das hätten sie dann davon. Er könnte sich allerdings auch einen weiteren Schluck genehmigen. Aber zuerst … zuerst musste er diesen Ring loswerden. Mit aller Kraft holte er aus und schleuderte den ihm unerträglich gewordenen Diamanten so weit er konnte ins Meer hinaus. Dann ließ er sich erschöpft gegen die Reling sinken. »Und tschüs«, knurrte er und wollte sich gerade wieder hochrappeln, als er eher spürte statt sah, dass jemand in seiner Nähe war.

Rasch drehte er sich um, doch er war allein. Niemand war an Bord geklettert. Niemand trieb sich auf dem Anleger herum. Offenbar spielte ihm seine Fantasie einen Streich. Die heiße Sommernacht stieg ihm zu Kopf. Selbst die Brise, die vom Pazifik hereinwehte, war wärmer als sonst.

Ein weiteres Geräusch. Vom Anleger. Er spürte, wie ihm mulmig wurde, und sah sich blinzelnd um, doch keiner war auf den abgetretenen Holzplanken, die von an den Masten befestigten Lichterketten beleuchtet wurden, zu sehen. Niemand außer ihm war hier. Abgesehen von dem alten Knacker, der im Hafenbüro vor sich hin döste, und den Typen, die mehrere Boote weiter ein Eagles-Album abdudelten … Er war einfach schreckhaft – zu viele Emotionen, zu viel Alkohol. Oder nicht genug, wie man’s nahm.

Aus dem Augenwinkel bemerkte er eine Bewegung und riss den Kopf herum, doch er sah nur eine knochige Katze, die auf dem Anleger um einen Laternenpfahl strich.

Reiß dich zusammen. Du flippst ja völlig aus, Mann. Entweder du springst jetzt ins Wasser und machst deinem Leben ein Ende, oder du gehst zurück in die Kajüte und plünderst den Spirituosenschrank deines alten Herrn. Da ist noch eine Flasche Black Velvet für dich reserviert …

Er drehte sich um und wollte gerade auf die Kajüte zuwanken, als er sie sah … eine Frau, die flink wie ein Wiesel durch die Dunkelheit huschte. Seine Nackenhaare stellten sich auf. War Claire etwa zurückgekehrt? Konnte es sein, dass sie sich ihre herzlose Entscheidung, ihn aus ihrem Leben zu stoßen, noch einmal überlegt hatte? Nun, jetzt war es zu spät …

Er stutzte. Irgendetwas stimmte da nicht. Sie sah anders aus als sonst. Bewegte sich anders. Oder trübte der Champagner sein Wahrnehmungsvermögen? Er blinzelte, und die Frau verschwand. Nein, das konnte nicht sein. Er hatte sich nicht getäuscht. Hatte gespürte, wie sie ihn beobachtete – ein verstohlener Blick im Schutze der Finsternis. Wer immer sie sein mochte, sie schien daran gewöhnt, sich im Verborgenen zu halten. Eine Frau, die es liebte, herumzuschleichen und zu spionieren. Eine Frau, die nicht ganz koscher war. Eine Frau wie seine Schwester.

Er verdrängte das beklemmende Gefühl, das in ihm aufstieg, machte einen zögernden Schritt auf den Bug zu und blickte sich suchend um.

»Paige?«, rief er und hoffte, dass seine Stimme halbwegs fest klang. »Paige? Bist du das? Komm raus da –«

Etwas blitzte seitlich neben seinem Kopf auf. Harley fuhr herum und erblickte eine Hand, hoch in die Luft erhoben.

»Was zum Teufel soll das?«

»Stirb, du Scheißkerl«, knurrte eine wütende Stimme.

Er sah einen Stein, der mit voller Wucht auf ihn herabsauste.

Wumm!

Noch bevor er zur Seite springen konnte, verspürte er einen grauenhaften Schmerz im Schädel.

Weißes Licht flammte hinter seinen Augäpfeln auf.

Harley taumelte nach hinten. Blut lief ihm die Augen. Angst! Er hatte grässliche Angst. Seine Hüften prallten gegen die Reling. Er versuchte, sich zu fangen, doch der Schwung riss ihn von den Füßen. Zu spät. Harley spürte, wie er fiel … fiel …

Krach!

Sein Hinterkopf schlug auf dem Anleger auf.

Neuerlicher Schmerz. Grauenvoller Schmerz. Er krümmte sich. Streckte die Finger aus, tastete blind nach Halt, bekam die Seitenwand der Jacht zu fassen, doch seine Hand rutschte ab, und er tauchte ein ins eiskalte Wasser.

Du wirst sterben. Und zwar jetzt … Kämpf, Harley, kämpf!

Er versuchte zu schreien. Salzwasser füllte seinen Mund und seine Nase. Seine Bewegungen waren langsam, unkoordiniert. Hilfe! So hilf mir doch jemand!, wollte er brüllen, doch natürlich ging das nicht. Das kalte dunkle Wasser konnte seinen Schmerz nicht lindern. Seine Lungen brannten. Er schlug wie wild mit den Armen, trat Wasser, doch seine vollgesogene Kleidung zog ihn unerbittlich in die Tiefe. Panisch strampelte er mit den Beinen, doch einer seiner Füße hatte sich offenbar irgendwo verhakt, ließ sich nicht mehr bewegen … oder wurde von jemandem festgehalten, der sich unter dem Anleger versteckte. Unter Wasser. Seine Lungen schmerzten nun so sehr, dass er meinte, sie würden jeden Augenblick bersten. Endlich durchbrach er die gekräuselte Wasseroberfläche und schnappte keuchend nach Luft. Da! Dort stand die Frau unter der Laterne auf dem Anleger. Hatte sie ihn angegriffen?

Wieder tauchte er unter … Wurde in die Tiefe gezogen … Die Oberfläche war so weit weg … Er würde sterben …

Warum? Warum springt sie nicht zu mir ins Wasser oder alarmiert die Polizei? Warum hilft sie mir nicht? Warum will sie mich umbringen? Lieber Gott, dann hilf du mir wenigstens! Er versuchte, wieder nach oben zu gelangen, aber das, was seinen Fuß festhielt, gab nicht nach. Was ist das? Wieso komme ich nicht los? Sein ganzer Körper kreischte förmlich vor Schmerz, während der Druck auf seinen Knöchel noch zunahm – als würde der Tod höchstpersönlich seine knochige Hand darum schließen.

Es blieb keine Zeit mehr. Mit letzter Kraft versuchte Harley, sich zu befreien.

Seine gepeinigten Lungen barsten. Gequält riss er den Mund auf und schnappte nach Luft. Salzwasser rann seine Kehle hinab – eiskalt und gleichzeitig brennend wie die Hölle. Ihm wurde schwarz vor Augen. Eine unheimliche, verführerische Ruhe stellte sich ein, und er hörte auf zu kämpfen. Luftblasen stiegen blubbernd an die Wasseroberfläche. Er verdrehte die Augen, sah ein letztes Mal durch den wässrigen Vorhang nach oben. Dort stand sie noch immer, die unheimliche Frau, und blickte hinunter zu ihm ins Wasser. Dann drehte sie sich um und ging langsam zurück in die Dunkelheit.

Kapitel eins

In der Liebe und im Krieg ist alles erlaubt.

So lautete das alte Sprichwort doch, oder? Kane war sich nicht ganz sicher, ob er es für bare Münze nehmen sollte, nicht, wenn Claire Hollands Zukunft auf dem Spiel stand, doch was zum Teufel tat das schon zur Sache? Sie hatte sich ohnehin nie wirklich etwas aus ihm gemacht. Hatte ihn stets links liegen gelassen, nur einmal nicht, da hatte sie ihre so sorgfältig errichte Schutzwand eingerissen. Er trat auf die Bremse, stellte den Motor ab und erinnerte sich daran, dass sie verheiratet war, getrennt zwar, aber immer noch verheiratet. Claire St. John, wie sie seit der Hochzeit hieß.

Regen prasselte auf die Windschutzscheibe und rann in gezackten Bächen am Glas hinab. Kane starrte auf die Bruchbude, die er geerbt hatte – ein Blockhaus mit drei Zimmern am Ufer des Lake Arrowhead. Das Schindeldach musste dringend ausgebessert werden, zwei Fenster waren mit graffitibeschmierten Sperrholzplatten vernagelt, Rost bildete orangefarbene Flecken auf den Dachrinnen, die von Blättern, Nadeln und Schmutz verstopft waren. Die Eingangsveranda hing durch wie der Rücken eines abgehalfterten Arbeitspferds. Holzklötze, verstümmelt von einer Kettensäge und geschwärzt von Jahren im Regen, lagen umgekippt im ungemähten Gras – Holz, das sein Vater zu seinen landestypischen Kunstwerken verarbeitet hatte. Das Dachbodenfenster – die einzige natürliche Lichtquelle in dem beengten Raum, der ihm als Schlafzimmer gedient hatte – war zerschmettert, Scherben lagen auf dem Verandadach.

Willkommen zu Hause, dachte er säuerlich, als er aus seinem Jeep stieg, den Matchbeutel und seinen Schlafsack über die Schulter warf und sich vor einer eisigen Windböe duckte. Ein brennender Schmerz durchfuhr seine Hüfte – Überbleibsel eines verirrten Schrapnells, das er sich bei seinem letzten Einsatz in Übersee eingefangen hatte. Er zuckte zusammen und verfluchte innerlich die Tatsache, dass er immer noch ein wenig hinkte – gerade so viel, dass er aus dem Schritt kam, wenn er es eilig hatte.

Auf der Schwelle steckte er den Schlüssel in das alte Schloss, das sich mühelos aufsperren ließ. Die Tür öffnete sich ächzend, und er trat ein. Staub und abgestandene, muffige Luft schlugen ihm entgegen, begleitet von dem dumpfen Gefühl verlorener Träume. Zum ersten Mal, seit er beschlossen hatte, diese Aufgabe anzugehen, überfielen ihn Zweifel. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, hierher zurückzukehren. Vielleicht sagte das alte Sprichwort Schlafende Hunde sollte man nicht wecken mehr aus, als Kane bisher gedacht hatte.

Zu spät. Er machte einen großen Schritt über einen umgedrehten Couchtisch. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, an Umkehr zu denken. Er ließ Matchbeutel und Schlafsack auf ein Sofa fallen, das in einer der Zimmerecken stand – einstmals rosé, nun von einem schmutzigen Rosa-Grau. An mehreren Stellen schaute die Polsterung heraus. Von dem spröden Holz der mit Insektenkadavern übersäten Fensterbänke blätterte die Farbe ab, in einer der Ecken, wo sich die Deckenplatten gelöst hatten, entdeckte er ein halb verfallenes Wespennest. Die astlöchrigen Kiefernwände waren voller Schimmelpilz, der modrige Geruch zog durchs ganze Haus.

Er hatte schon an schlimmeren Orten übernachtet, in dreckigen Kaschemmen im Mittleren Osten und Bosnien, gegen die dieses alte Blockhaus ein wahrer Palast war, doch keine dieser Absteigen hatte er je sein Zuhause genannt. Nur hier wurde er sentimental, seine Seele verwundbar, in diesem heruntergekommenen Blockhaus. Hier war er von einer Mutter großgezogen worden, deren Schuhsohlen hauchdünn waren von den vielen Meilen, die sie hinter dem Tresen des Westwind Bar & Grill zurücklegte.

»Du musst für dich selbst sorgen, Liebling«, hatte sie gesagt, ihm sanft über die Schulter gestreichelt und ihm ein trauriges Lächeln zugeworfen. »Ich bin im Westwind und komme erst spät nach Hause, also sperr die Tür ab. Dein Daddy wird bald da sein.« Eine Lüge. Immer wieder dieselbe, doch er hatte sie nie in Frage gestellt. Seine Mutter gab ihm einen Kuss auf die Wange. Alice Moran hatte stets nach Rosen und Rauch gerochen, eine Mischung aus billigem Parfüm und Zigaretten. Jahrelang war die oberste Schublade ihrer Kommode voller Coupons gewesen, die sie aus den Zigarettenpackungen ausgeschnitten, gesammelt und dazu verwendet hatte, ab und an etwas anderes als nur das Allernötigste kaufen zu können. Die meisten Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke hatte Kane der Nikotinsucht seiner Mutter zu verdanken.

Doch das war lange her. Damals war das Leben zwar bescheiden, aber einfach für einen Jungen von acht, neun Jahren gewesen. Ungefähr um die Zeit hatte Pop seinen Unfall gehabt, wodurch sich ihre ohnehin armselige Existenz dramatisch verschlechterte.

Es gab kaum einen Grund, sich näher mit der Vergangenheit zu befassen, also ignorierte Kane die rohe Wut, die in seinem Magen loderte, genau wie den Schmerz in seiner Hüfte. Er stieß auf eine vergilbte Zeitung von vor fünfzehn Jahren und fühlte sich so, wie er sich als linkischer, rebellischer Teenager gefühlt hatte – geil wie die Hölle, mit einem brennenden Durst nach Leben, dem dringenden Verlangen, etwas Besseres kennenzulernen, so gut zu sein wie die Hollands und die Taggerts, die reichsten Familien am See, die gesellschaftliche Elite sowohl von dieser kleinen Küstenstadt als auch von Portland, der größten Stadt Oregons etwa neunzig Meilen östlich.

Er hatte Claire gewollt. Sie begehrt. Mit einer Begierde, die ihm den Verstand vernebelt hatte, und einem lodernden Feuer zwischen den Beinen, wann immer er an sie dachte – an die reiche, unerreichbare Tochter von Dutch Holland.

Kane zerknüllte die alte Zeitung und dachte daran, wie viele Nächte er wach gelegen und Pläne zu dem Problem geschmiedet hatte, wie es ihm gelingen könnte, mit ihr zusammenzukommen. Keiner dieser Pläne war aufgegangen, geblieben war nur der Frust, die Enttäuschung, die ihm Schweißperlen auf die Oberlippe trieb und seinen Schwanz in die Höhe ragen ließ wie einen Fahnenmast.

Er wollte jetzt nicht an Claire denken. Sie würde die Lage doch nur komplizierter machen, und ohnehin war er ihr nie gut genug gewesen. Sie hatte damals Harley Taggert ins Visier genommen, den Sohn des größten Konkurrenten ihres Vaters. Nur einmal hatte sie eine Ausnahme gemacht. Eines wundervollen Morgens.

»Verflucht«, knurrte Kane und versuchte, das Bild zu vertreiben, das vor seinem inneren Auge aufstieg. Trotz des Regens stieß er die Fenster auf und ließ die rauhe, feuchte Brise herein, die den Geruch des Pazifischen Ozeans mit sich brachte. Vielleicht würde die kalte Luft das Gefühl von Verzweiflung und verlorenen Hoffnungen vertreiben, das wie hartnäckige Spinnweben an den verblichenen Gardinen und den wenigen verbliebenen billigen Möbeln in dieser Bruchbude haftete.

Noch einmal kehrte er zu seinem Jeep zurück, wobei er Haus- und Fliegengittertür offen stehen ließ, um Aktentasche, Handy, Laptop und eine kleine Flasche irischen Whiskey von der Lieblingsbilligmarke seines Vaters zu holen. Was für eine Ironie, dass er denselben Fusel trank wie Pop, ein Mann, den er verabscheut hatte, doch irgendwie erschien ihm das nur passend. Hampton Moran war ein elender Scheißkerl gewesen, ein absolut gemeiner Hund, der nach seinem Unfall an den Rollstuhl gefesselt gewesen war und sich zum gewalttätigen Alkoholiker entwickelt hatte, voller Selbstmitleid und brodelndem Zorn. Schon bevor ihn der Sturz zum Krüppel gemacht hatte, hatte er zu viel getrunken und Frau und Sohn geschlagen. Nachher, als ihm nur noch Kane geblieben war, der sich um ihn kümmerte, war Pop zu der verbitterten Hülle eines Mannes mutiert, der Trost und Erleichterung nur noch bei seinem Freund Alkohol suchte. Black Velvet, wenn er ihn sich denn leisten konnte, war sein Lieblingströster geworden, Jack Daniel’s ein zeitweiliger, aber treuer Begleiter. Dazwischen musste er sich mit billigem Fusel begnügen, um seine zerbrochenen Träume zu befeuern.

Kein Wunder, dass Kanes Mutter nach einer Weile das Weite gesucht hatte – ihr war kaum eine andere Wahl geblieben. Ein reicher Mann hatte sie umworben, hatte ihr ein besseres Leben versprochen, vorausgesetzt, sie kehrte Hampton und ihrem Sohn den Rücken. Der Mann hatte keine Lust gehabt, sich einen ungezügelten Jungen aufzuhalsen; er hatte selbst halbwüchsige Kinder. Und eine Frau. Kane hatte nie den Namen des Mistkerls in Erfahrung gebracht, doch jeden Monat lag pünktlich eine Geldanweisung über dreihundert Dollar auf Kanes Namen im Briefkasten. Hampton, der an jenem Tag das einzige Mal im Monat nüchtern war, wartete auf den Postboten, ließ Kane den absenderlosen Umschlag in Empfang nehmen und zwang ihn anschließend, den Scheck einzulösen. Pop war großzügig. Er gab Kane fünf Dollar, der Rest brachte ihn durch den Monat.

»Hast du schon mal was von einem Judaslohn gehört, Junge? Nun, das Geld hier stinkt – verdient von deiner Mutter, die für diesen reichen Hurensohn die Beine breit macht. Denk dran, Kane: Keine Frau ist es wert, dass du dein Herz oder dein Portemonnaie an sie verlierst. Frauen sind die Geißel der Menschheit. Huren. Isebels.« Und dann hatte er stets damit begonnen, die Bibel zu zitieren, zusammengemixte Verse, die keinerlei Sinn ergaben.

Kane dachte an den Tag, an dem seine Mutter ihn verlassen hatte. »Ich komme zurück«, hatte sie versprochen. Die Tränen strömten ihr über die Wangen, als sie ihren Sohn umarmte, sich an ihn klammerte, als wüsste sie, dass sie ihn niemals wiedersehen würde. »Ich komme zurück und nehme dich mit. Bringe dich weg von ihm.«

Pop hatte geschlafen, den Rausch der Nacht zuvor weggeschnarcht.

Kane hatte nicht einmal die Hände gehoben, um seine Mutter zu umarmen oder ihr zum Abschied zu winken. Er hatte sie nur angestarrt, als sie in die schwarze Stretchlimousine mit dem grimmig dreinblickenden Chauffeur gestiegen war, sein anklagender Blick schrie Verrat.

»Ich verspreche es, Liebling. Ich werde zurückkommen.«

Doch sie war nicht gekommen. Ihre offensichtliche Lüge war allerdings nur ein weiteres Glied der langen Kette aus Lügen und gebrochenen Versprechungen, die Kanes Leben prägten. Er hatte sie nie wiedergesehen, und er hatte sich auch nie die Mühe gemacht herauszufinden, was aus ihr geworden war. Bis jetzt.

Die Wahrheit tat weh – höllisch weh.

Er verzichtete auf ein Glas, öffnete einfach die Flasche und nahm einen großen Schluck, dann strich er mit dem Mantelärmel über die zerschrammte Tischplatte, stellte den Laptop darauf ab und setzte sich an den Tisch mit den dünnen Metallbeinen, an dem er während der ersten zwei Jahrzehnte seines Lebens gegessen hatte. Ob das Elektrizitätswerk den Strom schon wieder eingeschaltet hatte? Offenbar ja, denn als er den Computer anschloss, erwachte der Monitor flackernd zum Leben.

Kane öffnete seine Aktentasche und zog einen dicken Ordner heraus, gefüllt mit Notizen, Zeitungsausschnitten und Fotos von der Familie Holland. Die Fotos breitete er wie ein Kartenspiel vor sich auf der Formica-Oberfläche aus. Das erste zeigte den Karokönig – den alten Dutch Holland, Patriarch und vielleicht bald Gouverneur von Oregon, der behauptete, ein Mann des Volkes zu sein, auch wenn er, das wusste Kane, alles andere war als das. Der Alte war verdrehter als ein Seemannsknoten.

Auf dem zweiten Bild war Dutchs Ex-Frau Dominique abgebildet, immer noch schön wie ein Model. Inzwischen lebte sie außer Landes und würde ihn, Kane, vermutlich – gegen eine entsprechende Summe – bei seinem Anliegen unterstützen. Und dann waren da noch die beiden Hochglanzfotos von Miranda und Tessa, Dutchs anderen beiden Töchtern. Die letzte Aufnahme, ein Schnappschuss, war von Claire.

Schlimm genug, dass sie in die Sache verwickelt war, dachte er, und zwar bis über beide Ohren.

Mit zusammengebissenen Zähnen nahm er die beiden Porträts von Tessa und Miranda zur Hand und betrachtete sie. Blicklos starrten die beiden Frauen zu ihm empor, zu ihren jeweiligen Posen ermutigt von irgendeinem namenlosen, aber mit Sicherheit teuren Fotografen. Kane legte die Bilder zurück auf die Tischplatte, neben die von ihren Eltern, dann nahm er sich noch einmal das Bild von Claire vor, den Schnappschuss, den er sich vor langer Zeit eingeprägt hatte. Sie saß rittlings auf einem Schecken, von dem nur der Rücken und der Hals zu sehen waren. Claire blickte genau in die Kameralinse. Seine Kameralinse.

Klare Augen, gerade Nase, ausgeprägte Wangenknochen und weiche, zimtbraune Locken umrahmten ein ovales Gesicht. Gott, war sie schön! Ihr Lächeln war schüchtern und rätselhaft, naiv und heiß zugleich. Verdammt, sein Puls beschleunigte sich noch immer, wenn er an sie dachte, an das Mädchen, das alles hatte, das Mädchen, das ihm mit mitleidiger Verachtung begegnet war.

Damals. Heute würde das anders sein.

Inzwischen hatte sich das Blatt gewendet. Er war derjenige, der die Oberhand hatte. Ein Anflug von schlechtem Gewissen machte sich bemerkbar, da er wusste, dass das, was er vorhatte, Claire einer peinlich genauen Überprüfung aussetzen würde. Ihr Leben würde von innen nach außen gestülpt werden, bis sämtliche unsauberen Machenschaften herausgeschüttelt, alle tief verborgenen Geheimnisse ans Tageslicht befördert und offengelegt wären wie die ausgebleichten Knochen eines Kadavers in der Wüste.

Pech, wenn sie das verletzen würde – so war das Leben nun mal. Voller Brüche. Manchmal war Schmerz unvermeidbar. Ein Mann war gestorben, vor Jahren in sein wässriges Grab befördert – und zwar von jemandem, der damals im Haus der Familie Holland gelebt hatte. Kane war fest entschlossen, herauszufinden, wer Harley Taggert den Schädel eingeschlagen und das Verbrechen über sechzehn Jahre verheimlicht hatte. Er hatte persönliche Gründe für seinen Rachefeldzug, Gründe, die weit über das zwingend notwendige Verdienen seines Lebensunterhalts hinausgingen, Gründe, die seine feste Überzeugung mit einschlossen, dass Harley nicht das einzige Opfer in diesem Geflecht aus Lug und Betrug war, das unter der glatten Oberfläche des Lake Arrowhead verborgen lag.

Er blätterte ein paar Seiten mit Notizen durch, dann rückte er seinen Laptop vor sich zurecht. Mit geschickten Fingern tippte er ein:

Machtkampf:

Der Mord an Harley Taggert

von

Kane Moran

Er nahm einen weiteren Schluck aus seiner Flasche und fing an zu schreiben. Auch wenn er gerade erst mit seinen Recherchen, die so diskret verstauten Leichen im Keller der Familie Holland betreffend, begann, war ihm doch klar, dass sich Harleys Mörder am Ende vor Gericht würde verantworten müssen. Dutch Holland, der miese Kerl, hätte keine Chance mehr, Gouverneur von Oregon zu werden, und jedes einzelne Mitglied der Familie Holland, Claire eingeschlossen, würde Kane Moran hassen.

Sei’s drum. Das Leben war kein Zuckerschlecken, und es war erst recht nicht fair. Er hatte diese schmerzhafte Lektion vor Jahren gelernt, und Claire war eine seiner Lehrerinnen gewesen. Seine Bloßstellung der Hollands sollte ihm Rache und Läuterung zugleich sein.

Ein neuer Anfang.

Er setzte die Flasche ab. Der Whiskey rann brennend seine Kehle hinab in den Magen, und Kane fragte sich, warum er anstelle von Euphorie eine Art tödliche Vorahnung verspürte, als habe er unwissentlich seinen ersten Schritt Richtung Hölle getan.

 

»Es ist mir scheißegal, ob Sie Moran in den Hintern kriechen oder für den Rest seines Lebens mit Prozesslawinen überrollen. Finden Sie etwas, das wir gegen ihn verwenden können! Bestechen Sie ihn oder bringen Sie den dämlichen Bastard mit bloßen Händen um, aber tun Sie etwas, Murdock! Sie werden doch wohl einen Weg finden, zum Ziel zu gelangen!« Dutch knallte den Hörer des Autotelefons auf die Gabel. »Rückgratloser Idiot«, knurrte er, dabei war Ralph Murdock, sein Anwalt und Wahlkampfleiter, einer der wenigen Menschen auf dieser Welt, dem Benedict Holland traute.

Die Zigarre zwischen die Zähne geklemmt, drückte er aufs Gas, und sein Cadillac schoss mit quietschenden Reifen vorwärts auf der schmalen Straße, die sich durch die alten Nutzholzanpflanzungen schlängelte. Der Tachometer zeigte knapp hundert Stundenkilometer. Die bemoosten Tannenstämme flogen nur so vorbei.

Wer hätte gedacht, dass der Geist von Harley Taggert gerade jetzt, an diesem kritischen Punkt seines Lebens, wiederauferstehen würde? Und für wen zum Teufel hielt sich Kane Moran, dass er glaubte, die Umstände von Harleys Tod aufklären zu können? Als Dutch ihn vor Jahren das letzte Mal gesehen hatte, war Moran ein mieser Bursche voller Komplexe gewesen, ein Raufbold, der ständig mit dem Gesetz in Konflikt geriet. Irgendwie hatte er sich durchs College gemogelt und war Journalist geworden, einer von der risikofreudigen Sorte, der beschlossen hatte, aufgrund einer Verletzung, die er sich in einem der Krisengebiete zugezogen hatte, nach Oregon zurückzukehren und ein Enthüllungsbuch über den mysteriösen Tod Harley Taggerts zu schreiben.

Als sein Wagen über die Hügelkuppe schoss, bemerkte Dutch einmal mehr, dass seine Brust plötzlich eng wurde, dasselbe altvertraute Gefühl von Panik, das ihn jedes Mal überkam, wenn er an die Nacht zurückdachte, in der Taggert gestorben war. Tief in den entlegensten Winkeln seines Herzens vermutete er, dass eine seiner Töchter dem Jungen den Schädel eingeschlagen hatte.

Aber welche? Welche von seinen Mädchen hatte so etwas getan? Miranda, seine Erstgeborene, eine Anwältin, die für das Büro des Bezirksstaatsanwalts arbeitete, war ungeheuer ambitioniert, ihr Stolz etwas zu unbeugsam für seinen Geschmack. Die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter war nahezu unheimlich. Miranda hatte Dominiques dickes, dunkles Haar und ihre sinnlichen blauen Augen geerbt. Er hatte Bemerkungen aufgeschnappt, Miranda sei hochmütig und in ihren Adern fließe nichts als Eiswasser, dennoch glaubte Dutch nicht, dass sie kaltblütig oder dumm genug gewesen war, den Taggert-Jungen zu ermorden. Nein, dazu war sie immer schon zu selbstbeherrscht gewesen, eine Frau, die wusste, was sie vom Leben wollte.

Claire, seine Zweitgeborene, war ein stilles Mädchen gewesen, die geborene Romantikerin. Als Kind hatte sie unbeholfen gewirkt, unauffällig im Vergleich zu ihren Schwestern, doch sie hatte sich gemacht, und wie vermutet, hatte sie sich zu einer der Frauen entwickelt, die mit den Jahren immer besser aussahen. Zum Zeitpunkt von Harleys Tod war sie ein ruhiges, sportliches Mädchen gewesen, die Sandwich-Schwester, der er nie viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Sie hatte ihm nie irgendwelche Schwierigkeiten bereitet, abgesehen davon, dass sie sich in Harley Taggert verliebt hatte. Und dann war da noch Tessa. Das Nesthäkchen. Die Rebellin. Es gab keinen Grund, warum sie Harley Taggert hätte tot sehen wollen. Zumindest konnte Dutch sich keinen Grund vorstellen. Und trotzdem hatte sich der Gedanke, eine der drei könnte dahinterstecken, wie ein Stein in seiner Magengrube festgesetzt.

Bis vor kurzem noch hatte Dutch sich keine grauen Haare wachsen lassen wegen Harleys Tod, doch jetzt spürte er, wie seine Finger, die fest das Lenkrad umschlossen, deswegen zu schwitzen begannen.

Nein, Claire mit ihren stets wachsam blickenden Augen und den vereinzelten Sommersprossen auf der Nase war bestimmt keine Mörderin. Ausgeschlossen. Sie war durch und durch gutmütig, konnte keiner Fliege was zuleide tun. Oder doch? Und was war mit Miranda? Vielleicht kannte er seine Älteste doch nicht so gut, wie er glaubte.

Die Sonne stand tief über den Hügeln im Westen und blendete ihn mit ihren grellen Strahlen. Dutch klappte die Sonnenblende herunter. Die Straße gabelte sich, und er hielt sich in Richtung der Kleinstadt Chinook und des alten Jagdhauses, das er einst zu einem Spottpreis gekauft hatte.

Der Cadillac geriet ins Schleudern, als er eine Kurve zu schnell nahm, doch Dutch bemerkte kaum, dass er über die Mittellinie fuhr. Ein Pick-up auf der Gegenseite drückte auf die Hupe und wich aufs Schotterbett aus, um einen Zusammenstoß zu vermeiden.

»Blödmann«, knurrte Dutch gedankenverloren. Seine jüngste Tochter Tessa war von jeher die Außenseiterin in der Familie gewesen. Blond und blauäugig und schon mit zwölf Jahren mit einer nahezu unverschämt kurvigen Figur gesegnet, hatte Tessa einen Freifahrtschein für so gut wie alles. Während Miranda versuchte, ihm zu gefallen, und Claire sich lieber in Luft auflöste, als Aufmerksamkeit zu erregen, hatte Tessa Dutch unverfroren herausgefordert, wann immer sie konnte. Wohl wissend, dass sie sein Liebling war, hatte sie gegen alles und jeden rebelliert. Schwierigkeiten, nichts als Schwierigkeiten hatte Tessa ihm bereitet, dennoch konnte Dutch sich nicht vorstellen, dass sie einen Mord begangen hatte.

»Verdammt«, murmelte er und kaute auf dem Ende seiner Zigarre. Wenn er doch nur Söhne gezeugt hätte! Dann wäre alles anders gekommen. Ganz anders. Gott hatte ihm übel mitgespielt mit drei Töchtern!

Töchter machten einem Vater nichts als Kummer.

Unter der Krüppelkiefer, angepflanzt vor einer Ewigkeit, als er dieses Anwesen für Dominique gekauft hatte, ging er vom Gas und lenkte den Wagen auf die private Zufahrt. Damals, als er den kleinen Schössling in den Boden gesetzt hatte, war er ein liebeskranker Narr gewesen, doch die Zeit hatte ihn verändert und die Liebe so dünn werden lassen, dass sie irgendwann zerschmettert war wie Kristall, das auf einen Stein prallte.

Er schloss das Tor auf und fuhr über den rissigen Asphalt der einst so gepflegten Zufahrt. Das silbrige Wasser des Sees glitzerte verführerisch durch die Bäume. Wie sehr er diesen Ort geliebt hatte!

Nostalgie nahm schmerzlich von seinem Herzen Besitz, als er um eine letzte Kurve bog und das Haus erblickte, ein geräumiges altes Jagdhaus, das sich, umgeben von einem Eichen- und Tannenwäldchen, drei Stockwerke hoch über den See erhob.

Ein Zuhause.

Ein Ort des Triumphs und des Kummers.

In der festen Überzeugung, seine Frau würde es genauso lieben wie er, hatte er das weitläufige, baumbestandene Anwesen für Dominique erstanden, doch sie hatte das Haus, das ihr neues Heim sein sollte, vom ersten Augenblick an gehasst. Sie hatte die groben, unverkleideten Holzbalken betrachtet, einen abschätzigen Blick über das spitze Dach, die Zedernholzwände, die Bodendielen und die schrägen Decken gleiten lassen, dann hatte sie die hölzerne Treppe ins Auge gefasst, mit den Fingern über das handgeschnitzte Geländer mit den für den Nordwesten typischen Verzierungen gestrichen und die Nase gerümpft, als habe sie plötzlich einen üblen Geruch bemerkt. »Das hast du für mich gekauft?«, hatte sie gefragt, ungläubig und zutiefst enttäuscht. Ihre Stimme war durch das große Foyer gehallt. »Dieses … dieses Monstrum?«

Auch Miranda, damals noch keine vier und das Ebenbild ihrer Mutter, hatte das alte Haus misstrauisch beäugt, als vermutete sie, dass jeden Augenblick irgendwelche Spukgestalten erschienen – Geister, Kobolde oder Monster.

»Ich nehme an, das hier –«, Dominique deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Lachs, der in den untersten Treppenpfosten geschnitzt war, »– ist Kunst?«

»Genau.«

»Um Himmels willen, Benedict, was soll das? Was ist bloß in dich gefahren, diesen Klotz hier zu kaufen?«

Dutch hatte einen ersten Anflug von Furcht verspürt und voller Enttäuschung die Hände gespreizt. »Das Haus ist für dich und die Mädchen.«

»Für uns? Hier draußen? Am Ende der Welt?« Ihre hohen Absätze klackerten empört über die Bodendielen, als sie vom Foyer ins Wohnzimmer mit den drei Kronleuchtern stöckelte, die aus Dutzenden von Hirschgeweihen gefertigt waren. »So weit weg von meinen Freundinnen?«

»Für Kinder ist es gut, an einem Ort aufzuwachsen, wo sie –«

»– andere Kinder in ihrem Alter kennenlernen können, in einem Haus, das ihnen gerecht wird, wo sie kulturell gefördert werden und mit den richtigen Leuten verkehren – und das ist in der Stadt!« Dominique seufzte. Ihr Blick fiel auf Claire, die mit ihren kurzen Beinchen durch die offene Terrassentür tappte, dort, wo das Haus an den See grenzte. Ihre hohen Absätze klackerten noch lauter, als sie zu rennen anfing. »Das wird ein einziger Alptraum werden!« Auf der überdachten Veranda holte sie Claire ein und schnappte sie, noch bevor sie sich dem Ufer nähern konnte, dann drehte sie sich um und funkelte ihren Mann mit zornigen Augen an. »Hier zu leben wird niemals funktionieren.«

»Natürlich wird es das. Ich werde Tennisplätze anlegen lassen und einen Pool mit Poolhaus. Du kannst dir einen Garten bauen lassen und dir ein eigenes Studio über der Garage einrichten.«

Tessa, das Nesthäkchen und immer schon ein ganz eigener Charakter, stieß einen kräftigen Schrei aus und wand sich in den Armen ihres Kindermädchens.

»Pscht«, flüsterte Bonita, kaum sechzehn und illegal in den Staaten, dem rotgesichtigen Engel zu.

»Ich kann hier nicht leben.« Dominique blieb hart.

»Sicher kannst du das.«

»Wo sollen die Mädchen Französisch lernen –«

»Hier. Von dir.«

»Ich bin keine Lehrerin.«

»Dann engagieren wir eben eine. Das Haus ist groß.«

»Was ist mit Klavier spielen, Geige, fechten, reiten …? Ach Gott, ach Gott!« Dominique sah aus, als stünde sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Tränen standen in ihren großen blauen Augen, und sie presste ihre manikürten Fingernägel auf die Lippen.

»Es wird funktionieren, das verspreche ich dir«, beharrte Dutch.

»Aber ich kann das nicht … unmöglich … Ich bin nicht dazu geschaffen, ein Dienstmädchen zu sein … Ich werde mehr Unterstützung brauchen als bloß von Bonita.«

»Ich weiß, ich weiß. Ich habe bereits mit einer Frau gesprochen – einer Indianerin namens Ruby Songbird. Du wirst mehr als genug Unterstützung bekommen, Dominique. Du wirst residieren wie eine Königin.«

Dominique schnalzte verächtlich mit der Zunge. »Die Königin von Nirgendwo. Klingt ja richtig toll, findest du nicht?«

Vom ersten Tag an hatte sie es gehasst, hier zu wohnen, hatte den See gehasst, war überzeugt davon, dass ihr nichts Gutes widerfahren würde an den sandigen Ufern des Lake Arrowhead.

Wie sich herausstellte, sollte sie recht behalten.

Dutch öffnete das Wagenfenster jetzt ein Stück weiter, um die feuchte Sommerluft hereinzulassen. Das Wasser des Sees, funkelnd in der heißen Sonne, wirkte friedlich. Kaum zu glauben, dass es so viel Schmerz und Trauer verursacht hatte.

»Verflucht«, murmelte er, die Zigarre fest zwischen den Zähnen. Er nahm die Flasche Scotch, die er aus der Stadt mitgebracht hatte, stieg aus dem Wagen und watete steif durch die dicke Schicht aus Tannenzapfen und Nadeln zur Eingangstür. Sie schwang auf wie frisch geölt, als hätte man ihn erwartet. Seine Schuhsohlen machten ein klatschendes Geräusch auf den staubigen Bodendielen, und er meinte, eine Maus in eine dunkle Ecke huschen zu hören.

In der Küche durchwühlte er die Schränke, bis er ein Glas fand, staubig, weil es jahrelang nicht benutzt worden war. Bevor er aufgebrochen war, hatte er einige Anrufe getätigt, damit Strom, Telefon, Gas und Wasser angestellt wurden. In den kommenden Tagen würde er das Haus von oben bis unten reinigen lassen, und dann würden auch schon seine erwachsenen Töchter eintreffen, ob sie nun gern in das Haus am Lake Arrowhead zurückkehren wollten oder nicht.

Mit den Fingern wischte er den Staub vom Glas, dann schenkte er sich großzügig ein und machte sich den Weg die Treppe hinauf zu seinem Schlafzimmer – dem Raum, den er sich jahrelang mit Dominique geteilt hatte. Das Bett, ein massives Himmelbett, war unbezogen, die Matratze mit einer Plastikhülle geschützt. Er ging zu den Fenstern, zog die Vorhänge zurück, nahm einen Schluck von seinem Scotch und schaute hinunter auf den Swimmingpool. Schmutz und trockene Blätter hatten sich in dem leeren Becken gesammelt. Das Poolhaus neben dem Sprungbrett war seit Jahren verschlossen. Sein Blick schweifte weiter zum See, den er so sehr liebte. Er betrachtete die stille Wasseroberfläche, und wieder verspürte er einen Anflug von Furcht, wie das Ticken einer Uhr, das unablässig in seinem Schädel widerhallte.

Was war hier vor so langer Zeit passiert? Was würde er herausfinden? Schaudernd kippte er seinen Drink, spürte, wie sich der Alkohol einen Weg durch die Kehle hinunter in seinen Magen brannte, dann kehrte er ins Erdgeschoss zurück, fort von dieser Leichenkammer mit ihren düsteren Erinnerungen an enttäuschenden Sex und so wenig Liebe. Mein Gott, in was für ein Miststück sich Dominique verwandelt hatte!

Im Arbeitszimmer zückte er seine Brieftasche und entnahm ihr ein einzelnes Blatt, das er von dem Notizblock auf seinem Schreibtisch abgerissen hatte, und starrte auf die drei Telefonnummern seiner Töchter. Keine wäre sonderlich erfreut, von ihm zu hören, aber sie würden tun, was er von ihnen verlangte.

Das taten sie immer.

Er nahm den Hörer ab, hörte ein Klicken, gefolgt vom Freizeichen, und presste die Kiefer zusammen.

Verdammter Harley Taggert. Verdammter Kane Moran. Gottverdammte Wahrheit, wie immer sie aussehen mochte.

Kapitel zwei

Das ist nicht fair! Wir sollten nicht diejenigen sein, die umziehen müssen. Wir haben nichts Unrechtes getan. Wir sind nicht die Perversen!« Sean funkelte seine Mutter an, die Augen halb verdeckt von seinem wirren Haar, das ausgeprägte Kinn trotzig vorgereckt. Trotz seiner Sommerbräune waren ein paar verstreute Sommersprossen auf seinem Nasenrücken zu erkennen. Alles an ihm drückte Empörung aus, und er ballte frustriert die Hände zu Fäusten. In seinem Zorn sah er seinem Vater so ähnlich, dass Claire ihn am liebsten in die Arme geschlossen und nie mehr losgelassen hätte.

»Es ist einfach besser so.« Sie kippte den Inhalt der obersten Kommodenschublade aufs Bett und packte ihre Socken und Unterwäsche in einen leeren Umzugskarton, während sie sich inständig wünschte, sie könnte ihren eigenen Worten Glauben schenken. Der Schmerz würde irgendwann vergehen – das tat er immer –, aber das würde dauern. Lange.

»Dad ist derjenige, der abhauen sollte!« Sean ließ sich auf eine Kiste sacken und schaute stirnrunzelnd durch das offene Schlafzimmer auf den knorrigen Apfelbaum, an dem eine Reifenschaukel in der sanften Brise hin und her schwang. Der alte Weißwandreifen hing an einem ausgefransten, schmutzigen Seil, eine traurige Erinnerung an die unschuldige Zeit der Kindheit – eine Unschuld, die vor kurzem erst zerstört worden war. Die Kinder hatten die Schaukel seit Jahren nicht mehr benutzt; dünnes gelbes Gras war an den Stellen nachgewachsen, die ihre Turnschuhe einst kahl getreten hatten. Das alles schien Äonen zurückzuliegen und zu einer Zeit stattgefunden zu haben, in der Claire sich eingeredet hatte, dass sie eine zufriedene Familie waren, dass die Sünden der Vergangenheit ihr Leben nicht einholen konnten und dass sie in dieser verschlafenen Kleinstadt in Colorado ihr Glück finden würde.

Wie sehr sie sich getäuscht hatte. Sie knallte die leere Schublade zu und machte sich voller Bitterkeit an der nächsten zu schaffen. Je eher sie mit diesem Zimmer, diesem Haus, dieser ganzen verdammten Stadt abschloss, desto besser.

Sean stand auf und schob seine Hände in die ausgerissenen Taschen seiner abgeschnittenen Jeans, die aussah, als würde sie jeden Augenblick von seinen Hüften rutschen. »Ich hasse Oregon.«

»Das ist ein großes Bundesland – da hast du ganz schön viel zu hassen.«

»Ich werde dort nicht bleiben.«

»Sicher wirst du das.« Doch sie verabscheute die Entschlossenheit in ihrer Stimme. »Großvater lebt dort.«

Er gab ein abfälliges Schnalzen von sich.

»Ich könnte mir einen Job in Chinook suchen.«

»Als Aushilfslehrerin. Toll.«

»Das ist es in der Tat. Wir können hier nicht bleiben, Sean. Das weißt du. Du wirst dich anpassen müssen.« Sie sah in den verstaubten Spiegel, aus dem ihr sein Konterfei entgegenblickte, ein großer, muskulöser Junge, auf dessen Oberlippe und Kinn die ersten Härchen zu sprießen begannen. Trotz spiegelte sich auf seinem Gesicht, ließ ihn die Lippen, die einst so weich und voll gewesen waren, zu einer schmalen Linie zusammenpressen und sein Kinn kantig wirken. Langsam, aber sicher wich das Kindliche aus seinen Zügen, und er wuchs zu einem Mann heran.

»All meine Freunde sind hier. Und was ist mit Samantha? Sie versteht nicht mal, was los ist.«

Ich auch nicht, mein Junge, ich auch nicht. »Ich werde es ihr eines Tages erklären.«

Er schnaubte ungläubig. »Und was willst du ihr sagen, Mom? Dass ihr Spinner von Vater ein Mädchen gevögelt hat, das kaum ein paar Jahre älter ist als sie?« Seans Stimme war ein rauhes, ungläubiges Flüstern. »Dass er meine Freundin flachgelegt hat?« Er hakte den Daumen in die Gürtelschlaufe. »Meine Freundin, verflucht noch mal!«

»Hör auf damit!« Claire stopfte ihre Nachthemden in die Kiste mit den Socken. »Es gibt keinen Grund zu fluchen.«

»Ach nein? Ich finde, es gibt sogar jede Menge Gründe! Gib’s zu: Deshalb lässt du dich endlich von Dad scheiden, obwohl ihr doch eh schon jahrelang getrennt seid. Du hast es gewusst!« Sein Gesicht lief dunkelrot an, und seine Augen füllten sich mit Tränen, die er nicht vergießen würde. »Du hast es gewusst, und du hast es mir nicht gesagt!«

Zorn und Scham wallten in Claire auf, und sie machte einen Schritt auf die Tür zu, um sie leise zu schließen. »Samantha ist erst zwölf, sie muss nicht wissen, dass ihr Vater –«

»Warum nicht?«, fragte Sam mit vorgerecktem Kinn. »Glaubst du nicht, dass sie ohnehin längst davon erfahren hat – von all unseren schmutzigen kleinen Geheimnissen, breitgetreten von ihren Freundinnen?« Er lächelte ohne eine Spur von Heiterkeit und schüttelte den Kopf. »Ach ja, richtig, sie hat ja gar keine Freundinnen. Glück für sie. Dann muss sie sich von ihnen nicht anhören, dass ihr Alter ein perverser Vergewaltiger ist –«

»Schluss jetzt!«, schimpfte Claire, doch ihre Stimme klang erstickt. Sie versetzte der zweitobersten Kommodenschublade einen kräftigen Schubs, die sich mit einem Knall schloss. »Glaubst du etwa nicht, dass mich das belastet? Er war mein Ehemann, Sean. Ich weiß, dass du leidest, du bist betroffen und gekränkt, aber das bin ich auch.«

»Deshalb läufst du ja auch weg. Mit eingeklemmtem Schwanz, wie ein feiger Köter.«

So jung und schon so zynisch. Sie fasste ihn an beiden Schultern, grub ihre Finger in seine Muskeln und legte den Kopf nach hinten, damit sie ihm direkt in sein zorniges Gesicht blicken konnte. »Sprich nie wieder so mit mir! Dein Vater hat viele Fehler gemacht, ja –« Sie sah den verwundeten Ausdruck in seinen Augen, und der wackelige Damm, den sie so mühsam in ihrem Innern errichtet hatte, brach. »Ach, Sean.« Sie schloss seinen widerstrebenden Körper in ihre Arme. Am liebsten wäre sie zusammengebrochen und hätte geweint. Doch das würde nichts bringen.

Also flüsterte sie: »Oh, Liebling, es tut mir so leid. So unendlich leid.« Sean verharrte reglos in ihrer Umarmung, eine Statue, die ihre Liebkosung nicht erwiderte. Langsam löste sie sich von ihm.

»Das ist nicht deine Schuld, klar? Du … du hast ihn nicht dazu getrieben –« Er wandte den Blick ab. Tiefe Röte kroch seinen Nacken empor.

Die versteckte Anspielung hallte in ihrem Kopf nach. Sie hatte sich diese Frage tatsächlich mehr als tausendmal gestellt. War sie als Frau nicht gut genug, um ihren Mann zu halten? Ihren Mann. Was für ein Witz! Tief im Innern wusste sie, dass das, was passiert war, nicht ihre Schuld war. Sie wünschte nur, sie hätte es kommen sehen, so dass die hässlichen Vorwürfe, die hinter ihrem Rücken geflüsterten Gerüchte, der grauenvolle, herzzerreißende Schmerz ihren Kindern erspart geblieben wären. Seit sie auf der Welt waren, hatte sie nur eines im Sinn gehabt: die beiden zu beschützen. »Natürlich nicht«, antwortete sie mit zitternder Stimme. »Ich weiß, wie schwer das für dich ist. Glaub mir, für mich ist es auch schwer, aber ich bin überzeugt, dass es das Beste für uns alle ist – für dich, für mich und für Samantha –, wenn wir an einem anderen Ort neu anfangen.«

»Wir können uns nicht verstecken.« Sein Blick war fest und zeigte ihr, dass er für sein Alter schon viel zu viel gesehen hatte. »Es wird uns ohnehin einholen. Selbst in irgendeinem Provinznest in diesem verfluchten Oregon!«

Claire rieb sich den Nacken und schüttelte den Kopf. »Ich weiß. Doch dann werden wir stärker sein und –«

»Mom?« Die Tür öffnete sich mit einem leisen Quietschen, und Samantha, die Stirn sorgenvoll gefurcht, schlüpfte ins Zimmer. Sie war eine schlaksige Zwölfjährige, die Arme und Beine ein bisschen zu lang, der Körper eher hoch aufgeschossen und sportlich als kurvig. Seit fast einem Jahr wünschte sie sich nun, dass ihr endlich Brüste wachsen würden, aber die kleinen Knubbel füllten kaum ihren Sport-BH, den sie verabscheute. Die meisten Mädchen in ihrer Klasse waren weiter entwickelt, und alle, die sie kannte, trugen ein B-Körbchen, manche sogar ein C, nur sie war mit einem A geschlagen, wenn überhaupt. Samantha war eine typische Spätentwicklerin. In ihren Augen ein Fluch, in den erfahrenen Augen ihrer Mutter ein Segen. »Was ist los?«

»Wir packen bloß«, erwiderte Claire munter – zu munter. Ihre fröhliche Stimme klang so aufgesetzt, wie sie war. Sean verdrehte die Augen und ließ sich auf das abgezogene Bett fallen, das jetzt voller Gürtel, T-Shirts, kurzer Hosen, Slips und Schlafanzüge war. Claire warf ein einzelnes Schulterpolster in die Abfalltüte neben der Tür.

»Du hast geschrien.« Samanthas besorgter Blick huschte zwischen ihrem Bruder und ihrer Mutter hin und her.

»Ach was.«

»Ich hab dich doch gehört.«

Bitte nicht jetzt! Ich schaffe das im Augenblick nicht. »Sean will nicht umziehen«, erklärte Claire, betrachtete mit gefurchten Brauen eine Handtasche und warf sie in eine andere Tüte mit Sachen für die Kleiderspende. »Er will sich nicht von seinen Freunden trennen.«

»Seine Freunde sind doch allesamt nichtsnutzige Kiffer.«

Sean setzte sich ruckartig auf. »Du hast doch null Ahnung!«

»Benjie Norths Mom hat seinen Geheimvorrat entdeckt – in seinem Schlafzimmer. Marihuana, Hasch und –«

Claire, die ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt sah, blickte Sean streng an. Sie wagte kaum zu atmen. Die Finger um den Riemen einer anderen Handtasche gekrampft, fragte sie mühsam beherrscht: »Stimmt das?«

»Da hat ihn jemand gelinkt.«

»Gelinkt. Und wer?«

Ein Herzschlag. Ein Augenblick des Zögerns. Dann: »Sein älterer Bruder«, log Sean. »Max hat seinen Stoff in Benjies Zimmer versteckt, um seine Eltern hinters Licht zu führen. Benjie ist clean, das schwöre ich.« Er warf seiner Schwester einen Blick zu, der Stahl hätte durchdringen können.

»Max ist erst siebzehn.«

»Dope kannst du in jedem Alter rauchen, Mom.«

»Ich weiß.« Sie ließ die Handtasche los. »Genau deshalb mache ich mir ja Sorgen.«

»Um wen?«

»Na, um dich, Sean.«

»Ich hab so was noch nie gemacht!« Seine Augen blitzten herausfordernd.

Samantha wollte den Mund aufmachen, dann überlegte sie es sich anders und presste die Lippen zusammen.

Sean schluckte. »Na ja, abgesehen von Zigaretten und ein bisschen Kautabak, aber das weißt du ja sowieso, Mom.«

»Sean –«

»Er sagt die Wahrheit«, pflichtete Samantha ihm bei. Ihr Blick begegnete dem ihres Bruders, und Claire spürte, dass die beiden ein Geheimnis vor ihr hatten. Fröstelnd dachte Claire plötzlich an die Geheimnisse, die sie mit ihren Schwestern geteilt hatte.

»Woher willst du das wissen?«, fragte Claire ihre Tochter.

»Ich habe sein Zimmer durchsucht.«

»Du hast was?«, flüsterte Sean, außer sich vor Wut.

Samantha zuckte die Achseln. »Er hat bloß ein paar Kondome, mehrere Ausgaben vom Playboy und ein Feuerzeug.«

»Du miese kleine Schnüfflerin!« Sean stapfte durchs Zimmer und baute sich mit geballten Fäusten vor seiner kleinen Schwester auf. »Du hast kein Recht, meine Sachen zu durchwühlen! Bleib raus aus meinem Zimmer, sonst lese ich dein Tagebuch, das du scheinbar für wahnsinnig geheim hältst!«

»Wag es ja nicht –«

»Stopp!«, fuhr Claire dazwischen, der klar war, dass dieses Gespräch zu nichts führte. »Das reicht jetzt. Steckt eure Nasen gefälligst in eure eigenen Angelegenheiten.« Und um die Stimmung etwas aufzuheitern, fügte sie hinzu: »Das Schnüffeln ist mein Job. Wenn einer Schubladen oder Geheimverstecke durchwühlt, bin ich das.«

»Aber sicher doch«, frotzelte Sean.

»Stell mich lieber nicht auf die Probe.«

Samantha zog das Gummiband aus ihrem Pferdeschwanz, schüttelte das Haar aus, betrachtete sich prüfend im Spiegel und entdeckte einen Pickel. »Nun, ich bin froh, dass wir umziehen. Ich hab’s so satt, dass alle mich anstarren und solche Lügen über Dad verbreiten.«

Herr, gib mir Kraft, betete Claire, verschränkte die Arme unter der Brust und lehnte sich Halt suchend mit der Hüfte gegen die Kommode. »Was für Lügen?«

»Candi Whittaker behauptet, Dad sei ein Spinner, der irgendwas Unanständiges mit Jessica Stewart getrieben habe, aber ich hab ihr erklärt, dass sie sich irrt. Jessica ist schließlich Seans Freundin.«

Sean seufzte und drehte seiner Schwester den Rücken zu.

»Und was hat Candi darauf erwidert?«, stieß Claire mit angehaltenem Atem hervor.

»Sie hat gelacht – ziemlich unheimlich, ich hab ganz schön Schiss gekriegt –, und dann hat sie zu Tammy Dawson gesagt, ich befände mich in der klassischen Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens, und sie müsste es schließlich wissen, denn ihr Vater sei Psychiater.« Samantha blickte ihre Mutter verunsichert an, dann hob sie trotzig das Kinn. »Ich finde, das sind wirklich schlimme Lügen. Es ist doch nicht wahr, oder?« Ihre Stimme klang plötzlich zaghaft, und sie rang besorgt die Hände. »Daddy hat doch nichts Schlimmes mit Jessica gemacht? Deshalb hast du ihn nicht verlassen, oder?«

Claire wurde es schwer ums Herz. Sie biss sich auf die Lippe, kämpfte gegen eine neuerliche Flut heißer Tränen an und zog Samantha in ihre Arme. Obwohl sie sich schrecklich elend fühlte, wusste sie doch, dass es an der Zeit war, die Wahrheit einzugestehen. »Wie du weißt, hatten Daddy und ich viele Probleme.«

»Klar weiß ich das. Alle wissen das. Das hast du doch schon gesagt.« Der Zweifel ließ Samanthas Stimme brüchig klingen. Sie senkte den Kopf, so dass ihr die blonden Haare ins Gesicht fielen.

»Da hast du recht, Liebes. Alle wissen das. Trotzdem –«

»Nein.« Samantha versuchte, sich aus ihren Armen zu winden, sich vor der Wahrheit zu verstecken, aber Claire hatte beschlossen, dass kein besserer Zeitpunkt kommen würde, um ihr die Wahrheit beizubringen, vor allem da ihre Freundinnen ihr offenbar bereits zusetzten.

»Trotzdem stimmt es, was Candi behauptet. Jessica und dein Vater waren tatsächlich miteinander … intim.«

Samantha fing an zu zittern. »Intim?«

»Sie meint, dass er sie gevögelt hat«, stellte Sean klar.

»Nein!«

»Halt den Mund, Sean!« Claire drückte ihre Tochter an sich. »In diesem Haus dulde ich eine solche Ausdrucksweise nicht.«

Samanthas Blick wurde panisch. »Das hat er nicht getan, Mom, oder? Daddy würde doch niemals …«

»Was immer passiert ist, du musst deinem Vater vertrauen«, hörte Claire sich sagen und merkte selbst, wie entsetzlich hohl ihre Worte klangen. Sie hatte das Vertrauen in Paul schon vor langer Zeit verloren, hatte die Fassade nur der Kinder wegen aufrechterhalten. Jetzt kam ihr das vor wie ein grausamer, geschmackloser Scherz. Ihre Kinder würden für den Rest ihres Lebens Narben davontragen. »Daddy und ich waren bereits getrennt, als … nun, als Jessica zugegeben hat, was passiert ist.«

»Glaubst du, sie hat gelogen?«, fragte Samantha, ein Fünkchen Hoffnung in der Stimme.

»Nein!«, widersprach Sean höhnisch. »Ich hab sie erwischt. Sie haben gerammelt wie geile Köter.«

»Du sollst den Mund halten, Sean!«

»Nein!« Samantha schüttelte heftig den Kopf. »Nein! Nein! Nein!«

»Liebes, ich gebe nur wieder, was Jessica behauptet.« Claires Kehle schnürte sich zusammen, als sie sah, welche Pein ihre Tochter litt.

»Aber warum?« Samanthas Stimme war eine Oktave höher als gewöhnlich.

»Weil sie eine Schlampe und er pervers ist.«

»Ich weiß es nicht«, presste Claire mühsam beherrscht hervor. »Sean, ich will kein Wort mehr von dir hören –«

»Nein, nein, das stimmt nicht!« Samantha stieß Claire von sich. »Ich glaube dir nicht!« Sie rannte zur Tür. »Du bist ein Lügner, Sean, ein ganz mieser Lügner!«

Die Tür knallte hinter ihr zu, und Claire wirbelte zu ihrem Sohn herum. »Das musste nicht sein.«

»Es war die Wahrheit.«

»Die du deiner kleinen Schwester auch behutsamer hättest beibringen können.«

»Ja, so wie die dämliche Candi Whittaker, die nichts Besseres zu tun hatte, als es Sam unter die Nase zu reiben! Kapier’s doch endlich, Mom, Dad ist ein Sexsüchtiger, der auf junge Mädchen steht. Es ist besser, wenn Samantha die Wahrheit kennt. Auf diese Weise kann sie wenigstens keiner mehr verletzen.«

»Ach nein?«, flüsterte Claire, ehe sie hinter Samantha her durchs Haus rannte, zur Tür hinaus und die Straße entlang. Die Blätter der Espen schimmerten silbern im Sonnenschein und rollten sich in der heißen Sommerbrise nach innen. Hinter einem der Nachbarhäuser bellte aufgeregt ein Hund. Claire stürmte den Gehsteig entlang, wich einem Dreirad und einem Huckel aus, der von einer hochstehenden Baumwurzel verursacht wurde, ihrer Tochter dicht auf den Fersen. Samantha schluchzte, ihr goldblondes Haar flatterte hinter ihr her, während ihre langen Beine weit ausholten und förmlich über den Asphalt flogen, als könnte sie so all die schrecklichen Worte und Anschuldigungen hinter sich lassen.

Sie läuft weg. Genau wie du, Claire. Aber du kannst nicht mehr weglaufen. Früher oder später wird dich die Vergangenheit einholen.

An der Center Street rannte Samantha einfach weiter. Ein Pick-up bremste mit quietschenden Reifen und verfehlte sie nur um Haaresbreite. Claire setzte das Herz aus.

»Pass auf!«, schrie sie.

»He, Mädchen, pass auf, wohin du läufst!«, schnauzte der Fahrer, eine Zigarette im Mundwinkel.

Mit hämmerndem Herzen streckte Claire die Hand aus und rannte vor seinen Pick-up.

»Was zum Teufel –«

»Samantha, bitte warte!«, rief Claire, aber ihre Tochter warf nicht mal einen Blick über die Schulter.

»Verfluchte Irre!«, schimpfte der Fahrer und fuhr mit dröhnendem Motor davon.

Einen Block vom Park entfernt schloss Claire keuchend zu ihrer Tochter auf. Die grelle Sonne blendete sie, spiegelte sich auf dem grauen Asphalt und in den Karosserien der Autos, die entlang der Straße parkten. Tränen strömten über Samanthas gerötete Wangen.

»Ach Kleine, es tut mir so leid.«

»Du hättest es mir sagen müssen!«, rief Samantha anklagend.

»Ich wusste nicht, wie.«

»Ich hasse ihn!«

»Nein, du darfst deinen Vater nicht hassen.«

»Das tue ich aber! Ich hasse ihn!« Sie schluckte, und als Claire die Hand nach ihr ausstreckte, entzog sie sich ihr. »Und dich hasse ich auch!«

»Ach, Sami, nicht –«

»Nenn mich nicht so!« Ihre Stimme überschlug sich, und Claire fiel ein, dass Paul Samantha immer so genannt hatte.

»Okay.«

Laut schniefend rieb sich Samantha mit der Handfläche die Augen. »Ich bin froh, dass wir umziehen«, sagte sie noch einmal und blinzelte heftig. »Absolut froh.«

»Das bin ich auch –«

»O nein!« Schlagartig wich sämtliche Farbe aus Samanthas Gesicht. Sie drehte sich abrupt um, blickte in die andere Richtung und zwang sich, nicht länger zu zittern. Claire schaute sich um und erblickte Candi Whittaker, ein schlankes Mädchen mit schmaler Taille und Brüsten, die keine anständige Zwölfjährige besitzen sollte. Zusammen mit einem anderen Mädchen, das Claire nicht kannte, schlenderte sie die Straße entlang. Beim Anblick von Samantha und ihrer Mutter blieben die beiden stehen, unterdrückten ein Grinsen und fingen an zu tuscheln. Claire schirmte ihre Tochter mit ihrem Körper ab und wartete, bis Candi und die andere den Weg zu den Tennisplätzen eingeschlagen und einen letzten Blick über die knochigen, selbstgerecht gestrafften Schultern geworfen hatten.

»Alles okay. Sie werden dich nicht belästigen. Komm.« Claire führte Samantha zurück zu ihrem Haus. Sean hatte vermutlich recht, ein Umzug würde ihre Probleme nicht lösen. Sie konnten nicht davonlaufen. Vor langer Zeit hatte sie das schon einmal versucht, doch die Vergangenheit schien sie immer zu verfolgen, schien ihr stets dicht auf den Fersen zu sein.

Und jetzt hatte sie sie endgültig eingeholt. Sie würde weder Samantha noch Sean verraten, dass es einen weiteren Grund für ihre Rückkehr nach Oregon gab, einen Grund, den sie sich am liebsten nicht eingestehen würde. Doch sie hatte keine Wahl. Ihr Vater, ein reicher Mann, der es gewohnt war, sich durchzusetzen, hatte vergangene Woche angerufen und verlangt, dass sie an den Lake Arrowhead zurückkehrte, einen Ort, der ihr so viele Alpträume beschert hatte, dass sie sie kaum zählen konnte.

Sie hatte protestiert, aber Dutch hatte kein Nein gelten lassen, und ihr war nichts anderes übriggeblieben, als einzuwilligen. Er wusste von ihrem Ärger mit Paul und hatte ihr versprochen, sie bei ihrem Umzug zu unterstützen, ein gutes Wort beim Schulamt für sie einzulegen und sie mietfrei in dem riesigen Haus wohnen zu lassen, in dem sie aufgewachsen war. Er wollte ihr unter die Arme greifen, während sie sich bemühte, als alleinerziehende Mutter Fuß zu fassen.

Sie wäre dumm gewesen, wenn sie sein Angebot ausgeschlagen hätte, doch es war etwas anderes, das ihr Sorge bereitete. Sie meinte, einen düsteren Unterton in seiner Stimme wahrgenommen zu haben, und genau das sorgte dafür, dass sich ihr die Nackenhärchen aufstellten.

Dutch hatte verkündet, er wüsste etwas über die Vergangenheit, und zwar genug, dass sich Claire seinen Fragen stellen musste, genau wie dem, was vor sechzehn Jahren passiert war. Also hatte sie sich bereit erklärt, sich mit ihrem Vater zu treffen, obwohl ihr Magen bei dem Gedanken rebellierte.

»Komm«, sagte sie zu Samantha. »Alles wird gut.«

»Das glaube ich kaum«, knurrte ihre Tochter.

Und du hast völlig recht, Liebes. »Wir bringen das wieder in Ordnung, du wirst schon sehen.« Doch als sie die Worte aussprach, wusste sie bereits, dass sie gelogen waren. Lügen, nichts als Lügen.

 

Tessa stellte das Radio an und spürte, wie die warme Sommerluft durch ihr kurzes Haar strich, während sie in ihrem Mustang-Cabrio durch die Siskiyou Mountains in der Nähe der Grenze zu Oregon fuhr. Die Landschaft Nord-Kaliforniens war sonnengebleicht und trostlos, die Hügel trocken. Tessa war seit Stunden unterwegs und würde bald anhalten müssen, sonst platzte ihr noch die Blase von dem Bier, das sie auf der Fahrt getrunken hatte. Sie hatte sich eine eisgekühlte Flasche Coors zwischen die nackten Beine geklemmt, was auf der Haut angenehm war, auch wenn der Saum ihrer Shorts von dem Beschlag auf dem Glas nass wurde. Alkohol am Steuer war verboten. Nun, fast alles, was im Leben Spaß machte, war verboten. Doch Tessa war das egal. Vor allem jetzt, da sie auf Geheiß ihres Vaters an den Lake Arrowhead zurückkehrte.

Tessa wurde unbehaglich zumute. Der alte Herr hatte stets versucht, sie zu einem gottesfürchtigen Menschen zu erziehen, womit er eine Zeitlang erfolgreich gewesen war. Nichtsdestotrotz hatte sie gegen ihn aufbegehrt. Mal abwarten, was der gute alte Dutch zu ihrem neuesten Tattoo zu sagen hätte.

»Blöder alter Sack«, murmelte sie. Das Radio knisterte und knackte. Sie schaltete einen Sender nach dem anderen ein, doch es kam nichts anderes als statisches Rauschen. Die Täler hier waren tief, die Sender weit entfernt, nur ein einziger war zu empfangen, doch der spielte Oldies, alte Rock-’n’-Roll-Songs. Jetzt tönte Janis Joplin aus den Lautsprechern. Mein Gott, Janis war seit Jahren tot, war bereits im Jenseits – wo immer das sein mochte –, als Tessa noch ein kleines Mädchen gewesen war. Dennoch berührte sie die Stimme dieser Frau. Janis sang, als wüsste sie, was Schmerz bedeutete – echter, herzzerreißender Kummer. Die Seelenqualen, mit denen Tessa tagtäglich lebte.

Tessa nahm einen großen Schluck Bier aus ihrer Flasche und tastete in ihrer mit Fransen besetzten Handtasche nach ihren Zigaretten.

Take a,

Take another little piece of my heart now, darlin’

Break a,

Break another …

Genau, dachte sie. Nimm noch ein kleines Stück von meinem Herzen. Hatten das nicht alle Männer getan, denen sie je vertraut hatte? Tessa steckte sich die Virginia Slim zwischen die Lippen und drückte auf den Zigarettenanzünder. Bilder aus ihrer Vergangenheit zogen an ihrem inneren Auge vorbei, Bilder aus ihrer Kindheit, ihrer Jugend. Unbewusst trat sie das Gaspedal noch weiter durch, und die Tachonadel schnellte auf über hundertvierzig Stundenkilometer, weit über die erlaubte Höchstgeschwindigkeit, doch sie bemerkte es kaum. Außerdem war es ihr egal. Sie war gepackt vom qualvollen Sog ihrer Vergangenheit, der sie so gefangen nahm, dass sie kaum noch wusste, was real war und was Fantasie.

Der Zigarettenanzünder sprang mit einem lauten Plopp heraus, und Tessa steckte sich die Virginia Slim an und inhalierte tief. Rauch strömte aus ihren Nasenlöchern und wurde vom Fahrtwind davongewirbelt.

Didn’t I make you feel …

Janis klagte weiter, während Tessa ihr Bier leerte und die Flasche aus dem Wagen warf. Das Splittern des Glases war noch lauter als das Dröhnen des Motors. Mein Gott, wenn sie doch nur einen anderen Sender finden könnte! Einen, der Musik aus diesem Jahrzehnt spielte. Hip-Hop oder Rap oder Techno. Zu blöd, dass ihr CD-Player den Geist aufgegeben hatte.

Tessa schob sich ihre Sonnenbrille auf die Nase und wappnete sich. In weniger als sechs Stunden würde sie zum ersten Mal nach Jahren ihrer Familie gegenübertreten müssen. Bei diesem Gedanken verknotete sich ihr Magen. Als Dutch sie in ihrem Apartment angerufen hatte, hatte er ihr mehrfach versichert, dass ihre beiden Schwestern in dem Haus am Lake Arrowhead auf sie warten würden.

Missmutig schnippte sie ihre Kippe auf den Freeway. Claire und Miranda. Die Romantikerin und die Eisprinzessin. Sie hatte die zwei seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen – seit sie einander dicht zusammengedrängt, tropfnass und zitternd geschworen hatten, niemals, wirklich niemals, zu verraten, was in jener Nacht in den dunklen Wassern des Sees geschehen war.

Schaudernd griff sie nach hinten, öffnete den Deckel der Kühltasche und schloss die Finger um den schlanken Hals einer weiteren Coors-Flasche, doch dann überlegte sie es sich anders. Es wäre besser, nicht noch mehr Alkohol zu trinken. Bald würde sie die Grenze erreichen – Zeit, nüchtern zu werden. Außerdem, so beschloss sie, als ein weiterer herzzerreißender Song aus den Sechzigern aus den Lautsprechern tönte, war es Zeit, sich mit dem verdammten Lied auseinanderzusetzen, das ihr nicht mehr aus dem Kopf ging. Take another piece of my heart now, darlin’ …