Blood Orange - Was sie nicht wissen - Harriet Tyce - E-Book
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Blood Orange - Was sie nicht wissen E-Book

Harriet Tyce

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Beschreibung

Der erste Mordfall ihrer Karriere verlangt Anwältin Alison alles ab. Umso erstaunlicher ist es, dass sie sich phasenweise nicht im Griff hat, zu viel trinkt und der Affäre mit einem Kollegen kein Ende setzen kann. Doch die gute Ehefrau und Mutter in ihr gewinnt immer wieder die Oberhand. Außerdem will Alison das Schuldeingeständnis ihrer Mandantin nicht anerkennen. Ein untrügliches Gespür sagt ihr, dass die seit Jahren körperlich und seelisch misshandelte Frau ihren Mann nicht erstochen hat. Und so treffen zwei Frauen aufeinander, die etwas gemeinsam haben. Doch sie wissen es nicht. Noch nicht …

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Zum Buch

Der erste Mordfall ihrer Karriere verlangt Anwältin Alison alles ab. Umso erstaunlicher ist es, dass sie sich phasenweise nicht im Griff hat, zu viel trinkt und der Affäre mit einem Kollegen kein Ende setzen kann. Doch die gute Ehefrau und Mutter in ihr gewinnt immer wieder die Oberhand. Außerdem will Alison das Schuldeingeständnis ihrer Mandantin nicht anerkennen. Ein untrügliches Gespür sagt ihr, dass die seit Jahren körperlich und seelisch misshandelte Frau ihren Mann nicht erstochen hat. Und so treffen zwei Frauen aufeinander, die etwas gemeinsam haben. Doch sie wissen es nicht. Noch nicht …

Zur Autorin

Harriet Tyce wuchs in Edinburgh auf und studierte in Oxford Anglistik, ehe sie an der City University ein Aufbaustudium zur Juristin absolvierte. Fast zehn Jahre lang praktizierte sie als Prozessanwältin in London. Im Augenblick promoviert sie an der University of East Anglia in Creative Writing. Sie lebt im Norden Londons. »Blood Orange« ist ihr erster Roman.

HARRIET TYCE

BLOOD

ORANGE

WAS SIE NICHT WISSEN

THRILLER

Aus dem Englischen von Kerstin Winter

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2019 by Harriet Tyce

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel

Blood Orange bei Headline, London

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019

by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Janine Malz

Umschlaggestaltung: Geviert, München

Umschlagmotiv: © shutterstock/ALEXSTAND

und shutterstock/David Greitzer

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-25227-4V003

www.diana-verlag.de

Für meine Familie

PROLOG

Zunächst zündest du dir eine Zigarette an. Der Rauch kräuselt sich und steigt zur Decke auf. Er fängt sich mit dem ersten Zug in deiner Kehle, ehe er in deine Lungen dringt und sich mit einem Kribbeln in dein Blut mengt. Du legst die Kippe im Aschenbecher ab und wendest dich um, um die Szenerie vorzubereiten. Du kniest dich aufs Sofa und beugst dich über die Lehne, um den Strick am Regal zu befestigen, während dir der Rauch ins Gesicht steigt und in den Augen brennt.

Als Nächstes schlingst du ein Seidentuch um den Strick, damit er sich nicht so rau anfühlt, und ziehst einmal, zweimal, um zu sehen, ob er hält. Du machst das hier nicht zum ersten Mal, du hast geübt, ausprobiert, das richtige Maß gefunden. Bis hierhin und nicht weiter. Kein Sturz. Erwünscht ist nur ein kleiner Tod.

Der Bildschirm ist eingeschaltet, der Film, den du ausgesucht hast, abspielbereit.

Zum Schluss die Orange auf dem Teller. Du nimmst das Messer, das scharfe mit dem hölzernen Griff und der Damaszenerklinge, und drückst es in die Frucht. Eine Hälfte, ein Viertel. Ein Achtel. Die Schale orange, die Fasern weiß, das Fleisch, das an den Rändern rot ausblutet, das ganze Spektrum des Sonnenuntergangs.

Das ist alles, was du brauchst. Der beißende Qualm in der Luft, die über den Bildschirm tanzenden Gestalten. Das weiche Seidenpolster um den rauen Strick. Das Pochen des Bluts in deinen Ohren, während du näher und näher kommst, die süße Zitrusexplosion auf deiner Zunge, um dich wieder ins Hier zu holen, ehe es kein Zurück mehr gibt.

Es funktioniert immer. Du bist allein, dir kann nichts geschehen, die Tür ist verschlossen.

Nur du und der berauschende Gipfel, den du erklimmen wirst.

Du bist fast da.

EINS

Grau spannt sich der Oktoberhimmel über der Stadt, und mein Rollkoffer ist schwer, doch ich warte auf den Bus und konzentriere mich auf die positiven Aspekte. Das Verfahren ist aufgrund unzureichender Beweise eingestellt worden. Es ist immer erhebend, die Anklage auszustechen, und mein Mandant ist überglücklich. Aber das größte Plus: Es ist Freitag. Wochenende. Familienzeit. Und diesmal habe ich mir fest vorgenommen, heute mache ich es anders. Ein Drink, höchstens zwei, dann bin ich weg. Der Bus kommt, und ich fahre über die Themse zurück.

Als ich in der Kanzlei ankomme, begebe ich mich direkt ins Sekretariat und warte darauf, dass man mich zwischen dem Dauerklingeln der Telefone und dem Surren der Kopierer wahrnimmt. Endlich blickt Mark auf.

»’n Abend, Miss. Der Rechtsbeistand hat schon angerufen – man ist erfreut, dass die Raubüberfallklage vom Tisch ist.«

»Danke, Mark«, antworte ich. »Der Beweis für die Täterschaft taugte nichts. Ich bin allerdings auch froh, dass wir damit durch sind.«

»Gutes Ergebnis. Für Montag steht nichts an, aber für Sie ist das hier gekommen.« Er deutet auf den flachen Papierstapel auf seinem Schreibtisch, der mit dem traditionellen rosafarbenen Band zusammengefasst ist. Sieht nach keinem sonderlich beeindruckenden Fall aus.

»Wunderbar, danke. Was ist das?«

»Ein Mord. Und Sie sollen ihn übernehmen.« Er reicht mir den Stapel mit einem Augenzwinkern. »Nicht schlecht, Miss.«

Er verlässt den Raum, ehe ich etwas erwidern kann. Mit den Unterlagen in den Händen stehe ich da, während Assistenten und Referendare im üblichen Freitagstrubel um mich herumhasten. Ein Mordfall. Ich soll meinen ersten Mordfall verhandeln. Seit ich meinen Beruf ergriffen habe, arbeite ich darauf hin!

»Alison. Alison!«

Nur mit Mühe richte ich meine Aufmerksamkeit auf die Stimmen. »Kommst du mit auf einen Drink? Wir wollen gerade los.« Sie gehören Sankar und Robert, zwei Prozessanwälten in den Dreißigern, die diverse Referendare im Schlepptau haben. »Wir treffen uns mit Patrick im Dock.«

Endlich dringen ihre Worte zu mir durch. »Patrick? Welcher Patrick? Bryars?«

»Nein, Saunders. Eddie hat gerade einen Fall mit ihm abgeschlossen, das wollen sie feiern. Diesen Betrug, weißt du? Sie sind damit endlich fertig.«

»Ah, okay. Ich bringe das nur schnell weg. Wir sehen uns dort.« Den Schriftsatz an die Brust gepresst, verlasse ich den Raum mit gesenktem Kopf. Das Blut steigt mir ins Gesicht, und ich will nicht, dass es jemand sieht.

In meinem Büro schließe ich schnell die Tür und überprüfe mein Aussehen. Lippenstift nachziehen, Puder gegen die Röte. Meine Hände sind zu zittrig für den Eyeliner, aber ich bürste mein Haar und sprühe neuen Duft auf. Ich muss ja nicht den Mief der Arrestzellen mit mir herumschleppen.

Ich schiebe den Blätterstapel ans Tischende und rücke das gerahmte Foto zurecht, das ich dabei angestupst hatte. Die üblichen Freitagabenddrinks. Ich gehe nur auf einen mit.

Heute wird es nach Plan laufen.

Unsere Truppe besetzt praktisch die Hälfte der schäbigen Kellerbar, in der sich wie üblich hauptsächlich Strafrechtler und ihre Assistenten tummeln. Robert winkt mit dem Glas, als ich die Treppe hinuntersteige, und ich setze mich neben ihn.

»Wein?«

»Unbedingt. Aber nur ein Glas. Ich will heute früh zu Hause sein.«

Keiner sagt etwas dazu. Patrick hat mich noch nicht begrüßt. Er sitzt am Tisch gegenüber und ist mit einer der Referendarinnen, dieser Alexia, ins Gespräch vertieft. Der Blick konzentriert, in seiner Hand ein Glas Rotwein. Distinguiert, attraktiv. Ich wende den Blick bewusst ab.

»Gut siehst du aus, Alison. Neue Frisur?«, fragt Sankar beschwingt. »Findet ihr nicht, dass sie gut aussieht? Robert, Patrick? Patrick?« Nachdrücklicher. Patrick schaut nicht auf. Robert, der sich mit einer der Nachwuchskräfte unterhält, nickt und hebt sein Bierglas in meine Richtung.

»Gute Sache mit dem Mordfall. Und dann leitest du ihn auch noch. Ehe du dich versiehst, bist du Kronanwältin. Hab ich’s dir nicht gleich gesagt, als du vergangenes Jahr am Berufungsgericht geglänzt hast?«

»Wir wollen mal nicht gleich übertreiben«, sage ich. »Aber trotzdem danke. Und du? Und warum bist du so gut drauf?« Meine Stimme klingt fröhlich. Es ist mir egal, ob Patrick mich hat reinkommen sehen oder nicht.

»Es ist Freitag, und ich habe eine ganze Woche Suffolk vor mir. Du solltest es auch mal mit Urlaub versuchen.«

Ich nicke lächelnd. Ja, das sollte ich unbedingt. Vielleicht eine Woche an der Küste. Einen Moment lang sehe ich mich vor meinem inneren Auge wie auf einem Werbefoto durch die Gischt hüpfen und anschließend gegen die Oktoberkälte in eine warme Decke gehüllt am Strand Fish and Chips essen, ehe ich in mein hübsch eingerichtetes Cottage zurückkehre und ein Feuer im Holzofen mache.

Dann fallen mir die Aktenstapel auf meinem Schreibtisch ein.

Im Augenblick wohl nicht.

Robert schenkt mir Wein nach. Ich trinke ihn. Um mich herum wird sich angeregt unterhalten, Robert ruft Sankar und Patrick etwas zu, dann wieder mir, Höhen und Tiefen schlechter Scherze und Gelächter. Mehr Wein. Noch ein Glas. Weitere Anwälte gesellen sich zu uns, eine Zigarettenpackung geht um. Wir rauchen draußen, noch eine, nein, nein, diesmal kaufe ich welche, ich schnorre mich immer bei euch durch, die Suche nach Kleingeld und stolpernde Schritte auf dem Weg nach oben bis zur Theke, keine Marlboro Lights, nur Camel, aber wen kümmert’s, trinken wir noch ein Glas, und noch eins und noch eins und dann irgendwas Klebriges, Dunkles in Schnapsgläsern und der Keller, die Stimmen und das Lachen wirbeln schneller und schneller um mich herum.

»Ich dachte, du wolltest früher nach Hause.« Konzentration. Patrick steht direkt vor mir. Im richtigen Winkel sieht er aus wie ein ergrauter Clive Owen. Auf der Suche danach neige ich den Kopf hierhin und dorthin.

»Herrgott, du bist blau.«

Ich greife nach seiner Hand, aber er fährt zurück und sieht sich um. Ich lasse mich wieder auf meinen Stuhl nieder und schiebe mir das Haar aus dem Gesicht. Die anderen sind weg. Wieso ist mir das nicht eher aufgefallen?

»Wo sind denn alle?«

»In einem Klub. Diesem Swish. Willst du hin?«

»Ich dachte, du unterhältst dich mit Alexia.«

»Du hast mich also doch bemerkt, als du reinkamst. Ich war mir nicht sicher.«

»Du warst doch derjenige, der mich ignoriert hat. Du hast nicht einmal Hallo gesagt.« Ich will meine Empörung verbergen, scheitere aber.

»Hey, kein Grund, dich aufzuregen. Ich habe ihr bloß ein paar Karrieretipps gegeben.«

»Ja, darauf würde ich wetten.« Nun gibt es kein Halten mehr, die Eifersucht quillt hervor. Wieso tut er mir das jedes Mal an?

Gemeinsam gehen wir zum Klub. Ich versuche ein-, zweimal seinen Arm zu nehmen, aber er entzieht sich mir, und ehe wir den Eingang erreichen, schubst er mich in eine dunkle Ecke zwischen zwei Bürohäusern und packt mein Kinn. »Lass die Hände von mir, wenn wir da reingehen.«

»Das tue ich immer.«

»Blödsinn, Alison. Als wir das letzte Mal im Klub waren, hast du versucht, mich zu begrapschen. Es war viel zu offensichtlich. Ich versuche nur, dich zu schützen.«

»Dich selbst zu schützen trifft es wohl eher. Du willst bloß nicht mit mir gesehen werden. Schon klar, ich bin zu alt …« Meine Stimme verklingt.

»Wenn du auf der Schiene weiterfahren willst, gehst du besser nach Hause. Hier geht es um deinen Ruf. Das da drin sind alles Kollegen von dir.«

»Du willst doch nur Alexia abschleppen. Und mich aus dem Weg haben.« Tränen rinnen mir über die Wange, meine Würde ist mir längst egal.

»Lass es.« Sein Mund ist nah an meinem Ohr, seine Stimme ruhig. »Hör auf, mir eine Szene zu machen, oder ich rede nie wieder mit dir. Und jetzt lass mich in Ruhe.«

Er stößt mich von sich und biegt um die Ecke. Ich stolpere auf meinen hohen Absätzen und stütze mich an der Mauer ab, um nicht zu Boden zu gehen. Aber wo ich rauen Beton oder Backstein erwartet habe, fasse ich in etwas Feuchtes, Matschiges. Wieder im Gleichgewicht, rieche ich an meiner Hand und würge. Irgendein Spaßvogel hat die Mauer mit Scheiße beschmiert. Der Gestank ernüchtert mich effektiver als Pa-tricks gezischte Worte.

Sollte ich das als Zeichen deuten, nach Hause zu gehen? O nein, ganz sicher nicht! Nie im Leben überlasse ich Patrick in diesem Klub sich selbst – nicht bei all den gierigen jungen Frauen, die bei einem der wichtigsten Auftragsvermittler der Kanzlei verzweifelt Eindruck schinden wollen. Ich reibe das Gröbste der ekeligen Schmiere auf ein Stück relativ saubere Wand, marschiere selbstbewusst aufs Swish zu und schenke dem Türsteher ein Lächeln. Wenn ich mir die Hände nur lang genug wasche, geht der Gestank schon weg. Niemand wird es je erfahren.

Tequila? Ja, Tequila. Noch einen. Ja, noch einen dritten. Die Musik wummert. Ich tanze mit Robert und Sankar, dann mit den Assistenten, zeige den Referendaren, wie man es macht, lache, greife ihre Hände, wirbele um meine Achse, tanze wieder allein, nehme die Arme hoch über den Kopf, bin wieder zwanzig und sorglos und lustig. Noch ein Drink, Gin Tonic diesmal, alles dreht sich, der Beat trägt mich, mein Haar fällt mir ins Gesicht.

Patrick muss hier irgendwo sein, aber es ist mir egal, ich suche ihn nicht und habe auch keine Ahnung, dass er ganz in der Nähe mit Alexia tanzt und ihr das Lächeln schenkt, das nur mir gehören sollte. Na und? Was er kann, kann ich auch. Hüftschwingend gehe ich zur Bar. Ich sehe gut aus, habe mir die dunklen Haare kunstvoll aus dem Gesicht gestrichen, bin fit für fast vierzig – ich kann’s mit jedem der jungen Hühner hier aufnehmen. Auch mit Alexia. Vor allem mit Alexia. Patrick wird schon sehen, oh es wird ihm so leidtun, es wird ihm leidtun dass er das verpatzt dass er seine Chance vermasselt …

Ein neuer Song setzt ein, und zwei Männer rempeln mich auf dem Weg zur Tanzfläche an. Ich schwanke, bin nicht in der Lage, mich zu halten, und stürze; hart prallt mein Handy auf dem Boden auf. Im Fallen stoße ich gegen eine Frau mit einem Glas Rotwein in der Hand, dessen Inhalt sich komplett auf ihr gelbes Kleid und meine Schuhe ergießt. Empört und angewidert wendet die Frau sich ab. Ich knie in einer Pfütze aus Fusel und versuche, mich zu sammeln, um mich wieder aufzurappeln.

»Steh auf.«

Ich blicke auf, dann wieder herab. »Lass mich in Ruhe.«

»Nicht, wenn du in einem solchen Zustand bist. Komm schon.«

Patrick. Ich möchte weinen. »Du lachst mich aus.«

»Das tue ich nicht. Ich will nur, dass du aufstehst und verschwindest. Du hast genug für heute.«

»Warum hilfst du mir eigentlich?«

»Weil es irgendjemand tun muss. Die anderen aus deiner Kanzlei haben sich hinten einen Tisch gesucht und lassen sich mit Prosecco volllaufen. Niemand wird merken, wenn wir gehen.«

»Du kommst mit mir?«

»Wenn du tust, was ich sage.« Er hält mir die Hand hin und zieht mich hoch. »Geh jetzt raus. Ich komme nach.«

»Mein Handy …« Ich blicke mich um.

»Was ist damit?«

»Ist mir runtergefallen.« Ich entdecke es unter einem Tisch an der Tanzfläche. Das Display ist gesprungen, und es stinkt nach Bier. Ich wische es an meinem Rock ab und wanke aus dem Klub.

Er berührt mich nicht, während wir zur Kanzlei zurückkehren. Wir reden nicht, sprechen nicht drüber. Ich gebe beim dritten Versuch den Alarmcode richtig ein und schließe auf. Er folgt mir in mein Büro, zerrt an meinen Kleidern, ohne mich zu küssen, und drückt mich bäuchlings über den Schreibtisch. Ich richte mich wieder auf und sehe ihn an.

»Wir sollten das nicht tun.«

»Das sagst du jedes Mal.«

»Diesmal meine ich es ernst.«

»Das sagst du auch jedes Mal.« Er lacht, zieht mich an sich und küsst mich. Ich drehe meinen Kopf weg, aber er packt mein Gesicht und dreht es wieder zurück. Ich presse einen Moment lang die Lippen zusammen, doch sein Geruch, sein Geschmack bezwingen mich.

Härter. Schneller. Mein Kopf knallt gegen die Akten, als er von hinten in mich eindringt, einen Moment lang innehält, sich einrichtet.

»Ich hab gesagt, wir …«, beginne ich, aber er lacht und bringt mich mit einem »Schsch« zum Schweigen. Eine Hand packt mein Haar, die andere drückt mich auf den Tisch, und was ich sagen will, mündet in einen kehligen Laut, ein Keuchen. Wieder und wieder rammt er mich gegen den Tisch, und dann fallen die Akten und reißen den Bilderrahmen mit, und das Glas zerbricht, und es reicht jetzt, aber ich kann ihn nicht stoppen und ich will ihn nicht stoppen, doch ich tue es und wieder und wieder und nein, hör nicht auf, hör auf, du tust mir weh, nein, hör nicht auf, bis er stöhnt und fertig ist, sich aufrichtet, herauszieht und abwischt.

»Wir müssen damit aufhören, Patrick.« Ich rappele mich auf, ziehe Slip und Strumpfhose hoch und meinen Rock wieder ordentlich bis über die Knie herab. Er macht seine Hose zu und steckt das Hemd hinein. Ich versuche, mit zitternden Fingern meine Bluse zuzuknöpfen.

»Du hast mir einen Knopf abgerissen«, sage ich.

»Du kannst ihn bestimmt wieder annähen.«

»Aber nicht jetzt.«

»Das merkt doch keiner. Es ist niemand mehr hier. Oder wach. Es ist fast drei Uhr.«

Ich blicke mich um, entdecke den Knopf auf dem Boden. Schiebe meine Füße in die Pumps und taumele gegen den Schreibtisch. Der Raum dreht sich, das Denken wird schwer.

»Nein, wirklich, wir müssen damit aufhören.« Ich will jetzt nicht weinen.

»Wie ich bereits erwähnte – das sagst du immer.« Er sieht mich nicht an, während er sein Jackett überzieht.

Nun laufen die Tränen ungehindert. »Ich mache Schluss. Ich kann das nicht mehr.«

Er kommt zu mir und nimmt mein Gesicht in beide Hände. »Alison, du bist betrunken. Du bist müde. Du weißt genau, dass du nicht Schluss machen willst. Und ich auch nicht.«

»Diesmal meine ich es ernst.« Ich weiche vor ihm zurück und versuche, meinem Blick Nachdruck zu verleihen.

»Wir werden sehen.« Er beugt sich vor und küsst mich auf die Stirn. »Ich gehe jetzt. Wir sprechen uns nächste Woche.«

Und ehe ich noch etwas sagen kann, ist Patrick weg. Ich lasse mich auf den Sessel in der Ecke fallen. Wenn ich nur nicht so viel getrunken hätte! Ich wische mir den Rotz und die Tränen mit dem Jackenärmel weg, bis mein Kopf auf meine Schulter sinkt und ich wegdämmere.

ZWEI

»Mummy, Mummy, Mummy!«

Meine Augen sind zu, ich liege im Bett, und mir ist angenehm warm. Wie schön, dass Matilda hier ist, um mir guten Morgen zu wünschen.

»Mummy! Du hast im Sessel geschlafen. Warum hast du das denn gemacht?«

Sessel. Nicht Bett. Sessel.

»Mach doch die Augen auf, Mummy. Daddy und ich sind hier.«

Und es ist auch kein Traum. Ich öffne ein Auge und schließe es wieder. »Es ist zu hell, viel zu hell. Bitte mach das Licht aus.«

»Wir haben gar kein Licht an, du Dummerchen. Es ist Tag.«

Ich schlage die Lider auf. Ich bin in meiner Kanzlei, an meinem Arbeitsplatz, in meinem Büro mit all den Akten, Unterlagen und den Spuren der Verwüstung der gestrigen Nacht. Es dürfte nicht sein, dass meine Tochter vor mir steht und mir ihre Hand aufs Knie legt. Sie sollte zu Hause im Bett liegen oder am Küchentisch sitzen und frühstücken. Sie ist jedoch hier. Ich lege meine Hand über ihre, ehe ich versuche, mich wenigstens ansatzweise in Ordnung zu bringen.

Ich liege seitlich zusammengerollt, und als ich mich aufrichte, spüre ich, dass mein linker Fuß eingeschlafen ist. Ich bewege die Beine und verziehe das Gesicht, als das Blut in meine Extremitäten zurückkehrt. Doch das ist nicht das Quälendste. Bilder aus der vergangenen Nacht blitzen vor meinem inneren Auge auf. Über Matildas Kopf sehe ich den Schreibtisch, und Schattenbilder von Patrick rammen sich in mich, als sie sich vorbeugt und ihre Ärmchen um mich schlingt. Ich ziehe sie an mich und atme tief ein. Ihr Duft beruhigt mein hämmerndes Herz ein wenig. Ich muss mir keine Sorgen machen. Ich habe einfach ein bisschen zu viel getrunken und bin danach in der Kanzlei eingeschlafen, das ist alles. Mehr ist nicht passiert. Und ich habe mit Patrick Schluss gemacht. Alles wird gut. Denke ich.

Endlich habe ich genug Kraft gesammelt, um Carl anzusehen. Er lehnt am Türrahmen, seine Miene Enttäuschung pur, deutlich treten die Falten um Nase und Mund hervor. Er trägt Jeans und Kapuzenpulli wie immer, aber die silbergrauen Strähnen in seinem Haar und sein strenger Ausdruck lassen ihn viel älter wirken, als er ist.

Ich räuspere mich. Mein Mund ist trocken. Ich suche nach Worten, die die Situation irgendwie bereinigen könnten.

»Ich bin vom Klub noch einmal hergekommen, um Unterlagen abzuholen, und wollte mich nur einen Moment setzen …«

Carl verzieht keine Miene. »Dachte ich mir.«

»Tut mir leid. Ich wollte wirklich früher zu Hause sein.«

»Ach, komm, ich kenne dich. Aber ich hätte mir gewünscht, dass du dich diesmal etwas erwachsener benehmen würdest.«

»Verzeih mir, ich wollte nicht …«

»Tja. Jedenfalls dachte ich mir, dass wir dich hier finden würden, also sind wir gekommen, um dich abzuholen.«

Matilda beginnt durch mein Büro zu schlendern. Ehe ich begreife, was geschieht, kriecht sie unter den Tisch. Dann ein Aufschrei, ein hastiger Rückzug, und erschrocken kommt sie direkt zu mir.

»Mummy, guck mal, Mummy, meine Hand, das tut weh, das tut weh …« Ihr Schluchzen erstickt ihre Worte. Carl drängt sich zwischen uns, nimmt ihre Hand und tupft sie mit einem Taschentuch ab, das er mir vorwurfsvoll hinhält. Es ist Blut daran.

»Warum liegen Glasscherben auf dem Boden?« Seine Stimme ist gepresst, obwohl er gleichzeitig Matilda tröstet.

Ich stehe langsam auf, bücke mich und hebe das gerahmte Foto auf, das vergangene Nacht vom Tisch gefallen ist. Matilda lächelte mir hinter gesplittertem Glas entgegen.

»Mein Bild lag auf dem Boden! Warum?« Ihr Schluchzen wird noch lauter.

»Ich muss es versehentlich vom Tisch gestoßen haben. Es tut mir so leid, Spätzchen.«

Carl ist wütend. »Du musst unbedingt besser aufpassen.«

»Ich wusste doch nicht, dass ihr kommt.«

Er schüttelt den Kopf. »Es muss doch möglich sein, Matilda zu jeder beliebigen Zeit herbringen zu können.« Er hält einen Moment inne. »Ohnehin ist das nicht der Punkt. Wieso muss ich sie überhaupt herbringen? Du hättest gestern Abend nach Hause kommen sollen. Du bist ihre Mutter!«

Es gibt nichts, was ich darauf sagen könnte. Ich sammele die Scherben auf und wickele sie in alte Zeitung, bevor ich sie in den Papierkorb werfe. Das Foto selbst ist nicht beschädigt, also nehme ich es aus dem kaputten Rahmen und lehne es an meinen Computer. Dann stecke ich meine Bluse ordentlich in den Rock. Carl beobachtet mich grimmig, doch dann macht der Zorn tiefer Traurigkeit Platz. Mir wird die Kehle eng; Reue und Schuld sind stark genug, um den beißenden Geschmack des Katers zu übertünchen.

»Es tut mir leid. Ich hab’s nicht mit Absicht getan.«

Er schweigt. Müdigkeit zeichnet sich in seinen Zügen ab.

»Du siehst erschöpft aus. Es tut mir so leid, Carl«, sage ich.

»Ich bin erschöpft. Ich war viel zu lange auf, um auf dich zu warten. Ich hätte wissen müssen, dass es keinen Sinn hat.«

»Du hättest anrufen können.«

»Hab ich. Du hast nicht abgenommen.«

Betroffen hole ich mein Handy aus meiner Tasche. Zwölf verpasste Anrufe. Fünfzehn Nachrichten. Ich tippe auf Alle löschen. Zu viele, zu spät. »Verzeih mir. Ich tu’s nicht wieder.«

Er holt tief Luft. »Lass uns nicht vor Tilly streiten. Du bist ja hier, wir sind zusammen.« Er tritt zu mir und legt mir eine Hand auf die Schulter, und für einen Augenblick bedecke ich sie mit meiner. Dann packt er fester zu und schüttelt mich. »Lass uns nach Hause gehen.«

Sein Blick fällt auf mein Handy. Er nimmt es und begutachtet das gesplitterte Display. »Muss das sein, Alison? Wir haben das Glas doch erst vor ein paar Monaten reparieren lassen.« Er seufzt. »Tja, dann werde ich mich wohl erneut darum kümmern müssen.«

Ich wende nichts ein, sondern trotte nur hinter ihm her aus dem Gebäude.

Die Fahrt nach Archway verläuft zügig, Autos und Busse rauschen die leeren Straßen nur so entlang. Ich lege meinen Kopf ans Fenster und blicke hinaus auf die Verwüstung der Nacht zuvor. Burgerschachteln, leere Flaschen und hier und da kleine Straßenkehrwagen, deren Bürsten die Spuren des Freitagabends zu beseitigen versuchen.

Gray’s Inn Road. Gusseiserne Zäune, die den Blick auf die Rasenflächen verdecken. Rosebery Avenue, das Sadler’s Wells-Theater – mir kommen Bücher in den Sinn, die ich vor Ewigkeiten gelesen habe. No Castanets at the Wells. Veronica at the Wells. Wie hieß das andere? Ah ja: Masquerade at the Wells. Mit Maskeraden und Rollenwechsel kenne ich mich aus. Ich balle die Fäuste, die Knöchel treten weiß hervor. Ich will gar nicht wissen, wie Patrick den Rest der Nacht verbracht hat. Hat er ernst genommen, dass ich Schluss machen wollte? Ist er nach Hause gegangen oder zurück in den Klub, um sich Ersatz für mich zu suchen? Carl blickt vom Steuer zu mir herüber und legt seine Hand über meine.

»Du wirkst angespannt. Wir sind gleich zu Hause.«

»Es tut mir einfach nur so furchtbar leid. Und ich bin müde. Wir sind alle müde, ich weiß.«

Ich drehe mich noch ein Stück von ihm weg, um die Schuldgefühle im Zaum zu halten, und blicke stur aus dem Fenster. Es geht an Angel vorbei, an den Restaurants auf der Upper Street, die vielversprechend beginnen und furchtbar in einem Wetherspoons an der Highbury Corner enden. Die Blumenampeln an der Holloway Road, Studentenabsteigen über Currybuden und ausgefallenen Geschäften für Latexbekleidung, an der vermutlich auch Patrick Gefallen fände.

»Ist die Verhandlung gut verlaufen?«, unterbricht Carl das Schweigen, als wir den Hügel in Richtung zu Hause hinauffahren. Verblüfft stelle ich fest, dass er nahezu freundlich klingt. Vielleicht ist er ja gar nicht mehr sauer.

»Die Verhandlung?«

»An der du diese Woche gearbeitet hast. Der Raubüberfall.«

»Das Verfahren ist eingestellt worden …« Meine Worte kommen wie aus weiter Ferne, wie durch meterdicke Wasserschichten, mein Kopf ist schwer und sinkt in die Tiefe hinab.

»Das heißt, du hast nächste Woche frei? Wäre schön, wenn du mal für Tilly Zeit hättest.«

Schluss mit der segensreichen Unterwasserstille. Ich werde ins Freie gerissen, wo ich prustend und spuckend um Atem ringe. Er ist noch immer sauer.

»Willst du mir etwas sagen?«

»Du bist in letzter Zeit viel beschäftigt.«

»Du weißt, wie wichtig das für mich ist. Für uns. Bitte mach mir das nicht zum Vorwurf.«

»Ich mache dir gar nichts zum Vorwurf, Alison. Ich sagte nur, dass es schön wäre, das ist alles.«

Der Verkehr verlangsamt sich am Ende der Holloway, dann biegen wir vor Archway ab. Zu Hause. Home is where the heart is. Ich schiebe meine Hand in die Tasche, um mich zu vergewissern, dass mein Handy noch da ist, kann mich aber davon abhalten, nachzusehen, ob Patrick mir geschrieben hat. Ich steige aus und drehe mich mit einem Lächeln zu Matilda um. Sie nimmt meine Hand, und wir gehen hinein.

Ich dusche, schrubbe mir Patricks Spuren ab und versuche zu verdrängen, wie er meinen Kopf auf den Tisch gedrückt und sich beharrlich in mich getrieben, wie sich die harte Tischkante in meine weiche Vorderseite gepresst hat. Ich esse das erkaltete, inzwischen knochenharte Bacon-Sandwich, das Carl auf der Küchenarbeitsplatte für mich hat stehen lassen, und konzentriere mich auf den Lärm aus dem Garten, wo Matilda herumrennt und durch die Blätter tobt, hin und her, ist sie da, ist sie weg. Sie ist wie ein Pendel zwischen dieser Realität und der anderen, die mir immer noch keine Nachricht geschrieben hat, so streng ich mir auch befehle, nicht aufs Display zu blicken. Ich schlage die Mordakte auf und klappe sie wieder zu. Die Versuchung, mich in diesem Schriftsatz zu vergraben, um mich nicht mit dem auseinandersetzen zu müssen, was ich Carl und Matilda antue, ist schier unwiderstehlich. Aber wenn ich jetzt zu arbeiten beginne, mache ich alles nur noch schlimmer. Das muss warten.

Freunde kommen zum Mittagessen vorbei, Carl kocht. Nur das Beste für diese Leute, die er seit seinem Studium kennt. Eine Lammkeule brutzelt im Ofen, Rosmaringeruch hängt dick in der Luft. Die Küche ist sauber geschrubbt, ein Rahmen, der auf das Bild wartet. Der Tisch ist schon gedeckt, die exakt gefalteten Servietten auf den Beilagentellern machen der großen Auswahl an Besteck den Platz streitig. Die Tafel in der Ecke ist sauber abgewischt: Wo sonst Einkaufslisten und die Termine für Matildas Schwimmkurs und Carls Männergruppen vermerkt sind, steht nun in Matildas gemalter Handschrift Schönes Wochenende!, darunter zwei Strichmännchen, die sich an den Händen halten, eins groß, eins klein. Die Arbeitsplatten sind freigeräumt, die Schranktüren geschlossen, ein Aufgebot weißer Oberflächen, das sich mir entgegenstellt. Ich versuche, die weißen Lilien, die Carl in die Vase gestellt hat, neu zu arrangieren, doch Klümpchen gelben Blütenstaubs plumpsen auf den Tisch. Ich wische sie mit meinem Ärmel weg und verlasse hastig die Küche.

Ich geselle mich zu Matilda im Garten, bewundere das Spinnennetz, das den Johannisbeerstrauch schmückt, und die Ansammlung kleiner Zweige, bei denen es sich bestimmt um ein Nest handelt. Das sieht man doch, Mummy. Vielleicht wohnt da ja ein Rotkehlchen. Vielleicht.

»Wir müssen dem Vogel was zu essen besorgen. Damit er seine Kinder füttern kann.«

»Gerne, Spätzchen. Holen wir ein paar Erdnüsse.«

»Nein, keine Erdnüsse. Das hab ich in der Schule gelernt. Vögel brauchen Fettkugeln mit was drin.«

»Das klingt aber ekelig. Was denn drin?«

»Weiß ich nicht. Samen oder Würmer vielleicht?«

»Wir fragen Daddy, Spätzchen, vielleicht weiß er ja etwas. Oder wir schauen nach.«

Carl ruft uns herein. Die Gäste sind da, und er holt das Lamm aus dem Ofen. Ich bewundere es und gehe zum Kühlschrank, um mich um die Getränke zu kümmern; automatisch fallen wir in unsere üblichen Gastgeberrollen. Schon bevor die Kinder auf der Welt waren, haben wir am Wochenende mit Dave und Louisa geluncht – Tage, die in Abende mündeten, während wir, vollgestopft mit Carls Köstlichkeiten, eine Flasche nach der anderen köpften. Ich schenke Flora, ihrer Tochter, ein Glas Saft ein, und entkorke den Wein.

»Dave muss noch fahren. Aber ich würde ein Gläschen nehmen.« Louisa streckt die Hand nach dem Glas aus, das ich gerade gefüllt habe.

»Du trinkst, Alison?« Carl stellt Chips auf den Tisch, nachdem er die Lammkeule mit Alufolie abgedeckt hat.

»Klar, warum nicht? Es ist Samstag.«

»Ich dachte nur, nach gestern …« Er lässt den Satz unvollendet.

»Nach gestern was?«

»Hättest du vielleicht genug gehabt. Na, war nur ein Gedanke. Hör nicht auf mich.«

»Tu ich auch nicht.« Ich schenke mir mit mehr Schwung ein als geplant, sodass der Sauvignon Blanc aus dem Glas schwappt. Louisa legt neugierig den Kopf schief.

»Was ist denn gestern gewesen?«

Ich schaue ihr ins Gesicht und hoffe, dass ich mir den seltsamen Unterton nur einbilde. »Ach, nichts. Freitag halt …«

»Mummy war so müde, dass sie in ihrem Büro im Sessel eingeschlafen ist«, kräht Matilda. »Wir haben sie geweckt und abgeholt. Daddy hat gesagt, dass wir auf sie aufpassen müssen.« Ich lege mir die Hände auf das Gesicht und reibe mir die Augen.

»Mummy ist im Büro eingeschlafen? Dann muss sie aber wirklich sehr, sehr müde gewesen sein«, sagt Louisa. »Hör mal, willst du Flora nicht ein paar Chips bringen? Sie hat nämlich ganz großen Hunger.« Sie drückt Matilda ein Schälchen in die Hand und schiebt sie zur Tür.

Ja, ich bin müde. Hundemüde sogar.

»Du hast also endlich einen Mordfall bekommen? Das ist ja großartig. Was für Wahnsinnsgefallen hast du deinem Assistenten getan, dass er dir das Ding an Land gezogen hat?« Dave grinst.

»Sie hat ihn sich durch harte Arbeit verdient, Dave«, kontert Louisa. »Mit Sicherheit hat man ihr den Fall zu Recht übertragen.«

»Worum geht’s denn? Um viel Blut und Hirnmasse? Komm schon, erzähl uns alle schmutzigen Details!«

»Dave. Nicht vor den Kindern«, mahnt Louisa.

»Um ehrlich zu sein, hatte ich noch keine Chance, mir die Akte genauer anzusehen. Ich fange morgen damit an, mir einen Überblick zu verschaffen, dann weiß ich mehr.« Ich hebe mein Glas in Louisas Richtung und trinke es aus.

»Ich dachte, wir könnten morgen alle einen Ausflug machen«, sagt Carl und senkt den Blick. »Nicht, Tilly? Hatten wir nicht gesagt, dass wir morgen etwas Tolles unternehmen?«

»Ja! Ich will in das Schloss mit dem Irrgarten. Du hast versprochen, dass wir alle zusammen hinfahren, Daddy.« Matilda sieht ihre Felle davonschwimmen und schiebt die Unterlippe vor.

»Es wäre schön gewesen, wenn du vorher gefragt hättest, was ich vorhabe …« Ich lasse den Satz verhallen. Ich kann auch immer noch arbeiten, wenn wir zurück sind und Matilda im Bett liegt. Es wird bestimmt lustig. Sie und ich werden im Labyrinth umherlaufen, links, rechts, links, rechts, bis wir uns hoffnungslos verirrt haben und lachend um Hilfe rufen müssen. »Natürlich fahren wir zu dem Schloss, Spätzchen.« Je öfter wir glückliche Familie spielen, umso eher kann es wahr werden.

Daves Arbeit. Lous Arbeit. Carls Patienten. Keine Namen und nur vage Details über seine neue wöchentliche Therapiegruppe für sexsüchtige Männer. Louisa und Dave lachen verlegen. Ich höre nur halb zu. Ich komme bei der Arbeit mit zu vielen Sexualdelikten in Berührung, um noch besonderes Interesse an solchen Dingen zu entwickeln. Mein Mord ist kein Thema mehr. Ich halte mein Glas am Stiel, trinke es aus und schenke mir nach, um die wachsende Beklemmung zu betäuben. Solange ich nicht weiß, worum sich der Mordfall dreht, kann ich nicht einschätzen, wie viel Zeit ich zur Vorbereitung brauche.

»Wie wär’s mit Karaoke?«, schlage ich vor.

»Wollt ihr Käse? Ich habe Port eingekauft.« Carl, der perfekte Gastgeber. Und besser im Haushalt, als ich es je sein könnte.

»Jemand Brie?«, frage ich, als ich ein Stück abschneide.

»Alison, schau nur, was du gemacht hast. Du hast die Spitze abgeschnitten«, sagt Carl.

Ich blicke auf den Brie, dann auf das Stück auf meinem Messer. Meine Kehle verengt sich. Ich lege den Käse zurück auf das Brett und schiebe die Stücke wieder zusammen. Ich höre Carl seufzen, bin jedoch zu müde, um mich damit auseinanderzusetzen.

»Aber im Ernst – hat denn keiner Lust auf Karaoke?« Singen hebt meine Laune immer. Ich will Adele imitieren.

»Wir müssen bald fahren«, sagt Dave. »Ist es nicht auch ein bisschen zu früh für Karaoke?«

»Gott, ihr seid immer so vernünftig. Geht ruhig. Ich singe auch allein.«

»Jetzt sei doch nicht gleich beleidigt – es ist fast sieben. Wir sind seit Stunden hier.«

Fast sieben? Das ist spät. Wieder hat sich die Zeit einfach in Nichts aufgelöst. Ich kann mich an die Hälfte dessen, worüber wir gesprochen haben, nicht erinnern. Ich stemme mich von meinem Stuhl hoch und trinke mein Glas in einem Zug aus. Dabei bin ich etwas zu schwungvoll, und zwei rote Rinnsale laufen aus meinen Mundwinkeln und tropfen auf mein weißes Top. Ich setze das Glas mit Nachdruck auf den Tisch ab und stolziere zur Tür.

»Also, ich gehe jetzt singen. Wenn ihr Langweiler sein wollt – von mir aus. Aber es ist Wochenende!«

Heute bin ich in Topform. Die Kinder staunen mit weit aufgerissenen Augen, als ich all die hohen Töne von »Wuthering Heights« punktgenau treffe, sie sind begeistert. Heathcliff würde mich mit Handkuss einlassen. Ich lasse mit Adele meine Tränen im Verborgenen laufen und steige mit Prince in die rote Corvette, ehe ich zu »There’s a light that never goes out« ansetze. Jemand hat mal gesagt, ich würde bei dem Lied regelrecht sphärisch klingen, und es ist stets mein großes Finale. Kein »My Way« für mich, meine Art, mich zu verabschieden, ist dieser Song, und womöglich übertreffe ich sogar Morrissey selbst. Ich halte die letzte Note so lange ich kann und lasse mich dann ermattet aufs Sofa sinken. Ich bin fast erstaunt, als kein Applaus erklingt, so sicher bin ich mir gewesen, dass Dave, Louisa und Carl gebannt zuhören.

»… wie du das aushältst«, erklingt Louisas Stimme laut in der plötzlichen Stille nach dem Song. Dann ein »Schsch«. Reden die über mich? So schlecht bin ich nicht gewesen. Ich lehne mich auf dem crèmefarbenen Ledersofa zurück und schließe die Augen. Die Tür fällt zu, und ich fahre zusammen, aber dann lasse ich mich einfach wieder zurücksinken.

Wenig später komme ich erschrocken zu mir. Kein Geräusch im Haus. Ich gehe in die Küche und fange an, die restlichen Teller und Gläser abzuräumen. Carl hat die guten Gläser genommen, die schweren, die stabil wirken, aber sofort springen, wenn sie aneinanderstoßen. Ich trage eine Fuhre zur Spüle, dann hole ich die nächste.

Der Ausgang des Abends irritiert mich ein wenig; ich war so sicher, dass alle Lust haben würden, zu singen. In einem Winkel meines Bewusstseins lauert die Angst, dass ich es falsch angegangen bin, dass mein Verstand durch Alkohol vernebelt, mein Urteilsvermögen außer Kraft gesetzt war. Früher ist das nicht so gewesen. Als ich die Gläser an der Küchentür vorbeitrage, erhasche ich einen Blick auf den Druck der Temple Church, der im Korridor hängt. Carl schenkte ihn mir, als ich nach der Ausbildung zum ersten Mal selbstständig praktizieren durfte, und ich hatte mich riesig über diese aufmerksame Geste gefreut. Ich muss ihm gegenüber wirklich rücksichtsvoller sein. Sein Selbstbewusstsein hat durch die Arbeitslosigkeit gelitten, auch wenn seine Umschulung hervorragend funktioniert hat und seine Teilzeitpraxis als Psychotherapeut enorm gut läuft. Hausmann hat er jedoch nie sein wollen.

»Du sollst die Gläser doch nicht so tragen«, sagt Carl. »Wie oft habe ich dir das schon gesagt?« Ich zucke erschrocken zusammen und lasse die Gläser beinahe fallen. Sie klirren vernehmlich.

»Ich wollte doch nur helfen.«

»Lass es. Geh und setz dich. Hinterher machst du noch etwas kaputt.«

Es hat keinen Sinn, etwas einzuwenden. Verstohlen mustere ich ihn. Eine Ader tritt an seiner Schläfe hervor, sein Gesicht ist gerötet. Die Farbe verleiht ihm eine gewisse Frische und Jugendlichkeit, und vor mir steht plötzlich wieder der Junge mit dem dunklen, strubbeligen Haar und den Lachfalten in den Augen. Die Vision weicht mit dem Haaransatz zurück, und übrig bleibt die Realität: Ein mürrischer Mann in den Vierzigern mit ausgedünntem, ergrauendem Haar und dem Ausdruck von Ungeduld im Gesicht. Dennoch bleibt genug von der Erinnerung hängen, um ein Gefühl der Liebe in mir aufwallen zu lassen.

»Ich gehe hoch und lese Matilda etwas vor.«

»Lass es. Du regst sie nur auf.«

»Ich reg sie doch nicht auf«, sage ich indigniert. »Ich will ihr nur eine Geschichte vorlesen.« Die Liebe ebbt wieder ab.

»Sie weiß, dass du betrunken bist, und das mag sie nicht.«

»Ich bin nicht so betrunken. Mit mir ist alles okay.«

»Okay? Obwohl meine Freunde peinlich berührt vorzeitig die Flucht ergriffen haben? Obwohl ich dich heute Morgen in deinem Büro vom Boden abkratzen musste?«

»Ich saß auf dem Sessel. Und sie sind auch nicht viel früher gegangen als sonst.«

»Du weißt, was ich meine.«

Ja, ich weiß es. Aber ich bin nicht seiner Ansicht. »Ich finde das nicht fair. Sie sind nicht wegen mir gegangen. Sie hätten doch mitsingen können.«

»Herrgott, Alison … ich weiß nicht einmal, wo ich anfangen soll.«

»Das ist nicht fair.«

»Schrei mich nicht an. Ich hab keine Lust, mit dir zu reden, wenn du so bist.«

»Ich weiß, dass du sauer auf mich bist, und es tut mir leid. Aber wir hatten früher auch immer Spaß miteinander. Mir war nicht bewusst, dass alle plötzlich bierernst geworden sind. Ich gehe zu Tilly.« Ich verlasse die Küche, noch ehe Carl etwas sagen kann.

Matilda sitzt im Bett und liest ein Clarice-Bean-Buch. Sieben Jahre alt, aber noch immer mein Baby. Sie drückt mich und murmelt: »Gute Nacht, Mummy. Ich hab dich lieb.«

»Ich hab dich auch lieb«, antworte ich und stecke die geblümte Bettdecke um sie herum fest. Carl kommt dazu, als ich gerade das Licht ausmachen will, und einen Moment lang stehen wir vereint da und betrachten das Kind, das wir gezeugt haben. Ich wende mich ihm zu und halte ihm meine Hand hin. Zögernd streckt er mir seine halb entgegen, presst dann jedoch die Finger an die Innenfläche und weicht zurück.

»Ich hab dir einen Tee gemacht. Steht im Wohnzimmer.«

»Danke.« Er ist weg, ehe ich das Wort noch zu Ende gesprochen habe, aber es ist ein Anfang, ein winziger Schritt. Vielleicht kommt er ja doch wieder auf mich zu. Dabei habe ich es gar nicht verdient. Vor nur vierundzwanzig Stunden habe ich mir geschworen, nur ein Glas zu trinken und dann nach Hause zu fahren.

Einen Moment lang verspüre ich reine Verzweiflung. Ich kann mich nicht einmal auf einen Drink beschränken, um am Freitagabend zu meiner Familie zurückzukehren, wie es sich gehört. Eine lange Weile blicke ich voller Reue ins Leere, ehe ich mich aus der Erstarrung löse. Ich trinke den Tee und gehe aufgewühlt und zu Tode erschöpft ins Bett. Die Woche war lang. Aus der Küche dringt tröstliches Geschirrgeklapper und das Plätschern von Wasser. Carl wäscht ab. Wenigstens habe ich ihm Hilfe angeboten.

DREI

Als ich aufwache, sind sie schon fort, unterwegs zum Schloss, wie die knappe Nachricht von Carl besagt. Ich hab’s nicht geschafft, dich zu wecken, und wir mussten los. Aber du wolltest ja sowieso arbeiten. Der Spülkram ist erledigt. Keine Küsschen darunter, keine Kreuzchen. Er ist sauer.

Aber das bin ich jetzt auch. Ich habe Matilda versprochen mitzufahren; sie hätten auf mich warten können. Noch im Bett versuche ich Carl anzurufen, aber sein Telefon ist ausgeschaltet. Ich starre an die Decke und lausche seiner Mailboxansage. Leider kann ich den Anruf im Augenblick nicht entgegennehmen …

Ich will nicht trifft es wohl eher.

Endlich komme ich durch. »Warum habt ihr mich denn nicht geweckt?«

»Das habe ich versucht. Du hast mich angefaucht, ich solle mich gefälligst verpissen. Da habe ich’s gelassen.«

Daran kann ich mich überhaupt nicht erinnern. »Ich habe bis elf geschlafen! Das passiert mir sonst nie.«

»Du warst vom Abend vorher noch fix und fertig.«

»Trotzdem hättest du versuchen müssen, mich zu wecken. Oder auf mich warten können.«

»Ich habe es versucht, Alison. Es hat nichts genützt. Wir sind um neun gefahren. Noch später, und es hätte keinen Sinn mehr gehabt.«

»Na gut. Jedenfalls tut es mir wirklich leid. Ich hab’s nicht mit Absicht gemacht. Kann ich mit Matilda reden?«

»Sie spielt gerade, und ich will sie nicht unterbrechen. Sie war ziemlich traurig, dass du nicht mitgekommen bist, aber jetzt geht’s. Belassen wir’s dabei.«

»Ich verstehe das gar nicht. Ich hab noch nie so lange geschlafen. Bitte sag ihr wenigstens, dass es mir leidtut.«

»Nun ist es eben so«, sagt er. Und wechselt das Thema dann so rigoros, dass ich nichts mehr einwenden kann. »Kriegst du etwas geschafft?«

»Ich will jetzt anfangen. Und ich koche uns zum Abendessen Eintopf.«

»Dann lass ich dich mal arbeiten.« Er legt auf, ohne dass ich eine Chance habe, mich zu verabschieden. Mein Finger schwebt einen Moment über dem Hörer-Icon, ehe ich die Hometaste drücke und den Vorgang abbreche. Wir sprechen später bei einem schönen Essen. Dann kann ich Tilly erklären, wie leid es mir tut und dass ich wirklich mitkommen wollte. Ich schüttele den Kopf, um ihn frei zu kriegen, steige aus dem Bett, ziehe mir einen Schlafanzug über und gehe zum Arbeiten hinunter.

Zwei Kaffee später öffne ich den Schriftsatz und blinzele durch den Nebel der Kopfschmerzen, die sich hinter meinem rechten Auge festgesetzt haben. Die Krone gegen Madeleine Smith. Der Central Criminal Court. Überwiesen vom Magistrates’ Court in Camberwell Green, das dem Tatort nächstgelegene Gericht, einem reichen Wohngebiet im Süden Londons.

Mein Telefon piept. Ich greife hastig danach und hoffe, dass Carl bereit ist, einen Schritt auf mich zuzugehen.

Schon Ideen zu dem Fall?

Patrick. Freude durchströmt mich, dann Wut. Wie kann er es wagen, mir am Wochenende zu schreiben, zumal ich mit ihm Schluss gemacht habe? Dann erst dringt die Botschaft zu mir durch.

Welcher Fall?, schreibe ich zurück.

Madeleine Smith. Dein erster Mord, oder nicht?

Ich glaube nicht, dass ich ihn ihm gegenüber erwähnt habe. Dann dämmert es mir, und ich blicke auf den Schriftsatz auf dem Tisch. Und da, auf der Rückseite, steht es: Saunders & Co., Rechtsberater. Patricks Unternehmen ist der Auftraggeber. Einen Augenblick frage ich mich, was genau ich für diesen Fall getan habe, wie weit ich gegangen bin und wie oft. Wie hart, wie schnell. Doch natürlich weiß ich, dass das nicht der Grund für den Auftrag war. Patrick treibt mit seiner Arbeit kein Schindluder. Nur mit mir.

Noch ein Piepen.

Gern geschehen übrigens. Oh, jetzt wird er patzig.

Ich habe am Freitag mit dir Schluss gemacht. Ich komme mir vor wie eine Fünfzehnjährige.

Ja, ja, aber das hier ist die Arbeit. Nächste Woche Besprechung. Mandantin will dich ASAP treffen. Ich mach den Termin mit dem Sekr. aus.

Ende des Gesprächs. Nicht der Affäre. Nichts zu Freitag, nichts, worüber ich mir Sorgen machen müsste. Wenn er eine andere gevögelt hätte, hätte er es mir gesagt. Nicht dass es mich kümmern sollte. Ich blicke wieder auf die Nachricht. Ich habe am Freitag mit dir Schluss gemacht. Und lösche sie. Lösche die ganze Unterhaltung. Vielleicht sollte ich mich zum Wohl meiner Ehe weigern, mit Patrick zusammenzuarbeiten, aber einen solchen Fall strebe ich an, seit ich als Anwältin angefangen habe. Ich dränge Patrick aus meinen Gedanken, schlage die Akte auf und beginne zu lesen. Ich mache meine Arbeit, das ist alles.

Später lege ich den Ordner beiseite und fange an zu kochen. Bedächtig hacke ich eine Zwiebel. Die letzten Sonnenstrahlen fangen sich in der Klinge, und ich bewege das Messer hin und her, um das Licht über Wand und Decke tanzen zu lassen. Es ist eins der großen Küchenmesser, die wir zur Hochzeit bekommen haben, und ich weiß noch, wie ich meiner Schulfreundin Sandra, die es uns geschenkt hatte, rasch eine Münze in die Hand drückte, wie es der Aberglaube verlangt. »Um die Liebe nicht zu zerschneiden – dafür kennen wir uns zu lange«, sagte ich, während sie das Geld lächelnd einsteckte.

Madeleine Smith hat die Liebe nicht nur zerschnitten, sie hat sie regelrecht zerhackt, indem sie im Schlafzimmer ihres Hauses in Clapham wiederholt auf ihren Mann eingestochen hat. Mehrere der fünfzehn tiefen Stichwunden könnten seinen Tod verursacht haben, obwohl der Rechtsmediziner laut Bericht der Staatsanwaltschaft davon ausgeht, dass die Halswunde, bei der beinahe die Drosselvene durchtrennt wurde, die wahrscheinlichste ist. Die Flecken auf dem Bettlaken, auf dem die Leiche lag, sind lebhaft rot, wie sich auf den Bildern des Tatortfotografen sehr gut sehen lässt.

Ich nehme mir eine zweite Zwiebel und hacke sie klein.

Der Eintopf ist genau richtig gegart, als Carl und Matilda von ihrem Ausflug zurückkehren, aber Matilda wirft einen Blick in den Topf und sagt, dass sie zwar Hunger habe, aber kein Fleisch essen wolle.

»Du hast doch gestern das Lamm gegessen«, wende ich ein.

»Ich habe vorhin Daddy gefragt, wie Hühner totgemacht werden, und ich fand nicht schön, was er erzählt hat.«

»Aber viel Gemüse magst du auch nicht.«

»Ja, aber ich will nicht, dass Tiere sterben.«

Ich sehe Carl Hilfe suchend an, aber er zuckt nur die Achseln.

»Okay, Spätzchen, dann mache ich dir ein Omelett«, sage ich. »Aber vielleicht kannst du ja noch mal darüber nachdenken.« Sie nickt. Ich rühre den Eintopf um und halte Carl den Löffel hin. »Willst du was?«

Er nimmt den Löffel, betrachtet ihn, schnuppert. Dann verzieht er die Lippen und gibt mir den Löffel zurück. »Nein, lieber nicht. So großen Hunger habe ich doch nicht.«

»Hättest du mir das nicht sagen können … Bist du jetzt auch Vegetarier?« Ich versuche, nicht vorwurfsvoll zu klingen.

»Nein, das nicht«, antwortet er. »Es riecht bloß ein bisschen …«

»Ein bisschen wie?« Nun unterdrücke ich meine Verärgerung weniger.

»Ein bisschen … Ach, vergiss es. Du hast dir Mühe gegeben, nur darauf kommt es an. Und was Tilly betrifft, möchte ich sie in solch wichtigen Entscheidungen gerne unterstützen.« Carl lächelt Matilda an. »Das wird bestimmt lustig. Wir überlegen uns ganz tolle neue Gerichte.« Er tritt an den Herd und rührt im Eintopf. »Der Versuch war es wert, Alison, aber vielleicht überlässt du das Kochen besser mir, hm? Ich weiß, was Matilda gerne isst. Und das Omelett mache ich ihr am besten auch.«

Ich erwidere nichts, schiebe mich nur an ihm vorbei und ziehe den Topf vom Herd. Ich friere den Inhalt einfach in Portionen ein und nehme mir etwas zum Lunch ins Büro mit. Als ich den Deckel abnehme, damit der Eintopf auskühlt, schlägt mir der erstickend-süßliche Fleischgeruch entgegen. Die Karottenstücke, die ich so sorgfältig in dicke Stifte geschnitten habe, durchstoßen die Oberfläche der dickflüssigen Tunke. Es sieht wie Erbrochenes aus. Mir wird schlecht. Mein Friedensangebot, nicht einmal angebrannt, ist zurückgewiesen worden.

Matilda kommt zu mir, und ich gehe in die Hocke und lege die Arme um sie.

»Es tut mir schrecklich leid, dass ich heute nicht mitgekommen bin, Spätzchen«, sage ich leise, weil die Worte nur für sie gedacht sind. Ich streichele ihre Wange und drücke sie fest an mich, und sie drückt fest zurück. Dann schiebe ich sie behutsam von mir und halte sie an den Schultern fest, um ihr in die Augen zu sehen. »Ich verspreche dir, dass wir beide ganz bald zusammen etwas unternehmen. Nur du und ich. Und wir gehen, wohin du willst. Okay?«

Sie nickt.

»Versprochen.« Dann ziehe ich sie wieder an mich. Sie entspannt sich in meinen Armen, und ihre Wärme strahlt auf mich ab. Ein dicker Knoten löst sich in mir.

Carl sieht zu, wie ich Matilda bade. Ich bürste ihr Haar und trockne es, lese ihr eine Geschichte vor und singe sie in den Schlaf. Nachdem wir die Tür zu ihrem Zimmer zugezogen haben, sagt er: »Man muss ein Versprechen, das man Kindern gibt, unbedingt einhalten. Das ist wichtig.«

»Ich hatte nicht vor, es zu brechen.«

»Dann sorg dafür, dass es nicht geschieht.«

»Kein Grund, mir zu drohen, Carl. Ich tue mein Bestes. Deine Kommentare bringen mich nicht weiter.«

»Treib es nicht zu weit, Alison. Ausgerechnet du kannst es dir im Augenblick nicht leisten, anderen Vorwürfe zu machen.«

Ärger steigt in mir auf und flaut wieder ab. »Ich weiß, tut mir leid. Es tut mir leid …«

Er streckt die Hand aus und fährt mir mit einem Finger über die Wange. Ich ergreife seine Hand und küsse sie, dann lege ich ihm meine andere in den Nacken und ziehe ihn zu mir. Doch ehe es noch zu einem Kuss kommen kann, macht er sich los.

»Tut mir leid, ich kann nicht.« Er geht ins Wohnzimmer und schließt die Tür. Ich bleibe einen Moment stehen, um zu warten, ob er seine Meinung ändert, dann gehe ich ins Arbeitszimmer und schließe meinerseits die Tür. Ich versuche zu arbeiten und mich mit Recht und Gesetz von der Zurückweisung abzulenken, doch der Eintopfgestank hängt schwer in der Luft.

Als ich später am Abend die abgekühlte Pampe in kleine Plastikbehälter umfülle, kommt Carl in die Küche und zieht die Tür hinter sich zu.

»Ich hab den ganzen Tag darüber nachgedacht, ob ich es dir zeige oder nicht«, sagt er.

»Ob du mir was zeigst oder nicht?« Etwas in seinem Tonfall lässt meine Hände zittern, und Soße schwappt über den Rand der Tupperdose.

»Nur so kannst du verstehen, warum wir uns manchmal so aufregen.«

»Was kann ich verstehen?« Ich lege den Schöpflöffel in den Topf zurück und mache die Dose zu.

Carl gibt keine Antwort. Stattdessen ist er mit seinem Handy beschäftigt. Ich öffne den Tiefkühlschrank, schiebe die halb vollen Tüten mit TK-Erbsen zur Seite und schichte die Plastikdosen säuberlich ein. Als die ersten Töne von »Rolling in the Deep« erklingen, muss ich unwillkürlich lächeln. Automatisch bereite ich mich darauf vor, im Geist mitzusingen. Doch während ich noch mental Luft hole, setzt mein Gesang bereits ein. Wenn man es denn Gesang nennen kann. Ich knalle die Tiefkühlschranktür zu und drehe mich zu Carl um. Er hält mir wortlos das Handy hin, und in seinen Augen glaube ich etwas wie Mitgefühl zu erkennen.

Gestern Abend habe ich gefunkelt und gesungen, als gäbe es kein Morgen. Dass die anderen nicht mitmachen wollten, hat mich nicht weiter gekümmert; selbst schuld – sie hatten keine Ahnung, was ihnen entging! Vergessen waren die Sticheleien des Nachmittags, denn ich war ein Star und ließ mich mit der Musik treiben. Heute jedoch sehe ich, was sie gesehen haben. Eine betrunkene Frau mit verlaufenem Make-up, deren BH aus dem derangierten Kleid lugt. Entsetzt sehe ich ihr zu. Ihre Stimme ist schrill, und während ich gestern jede einzelne Note getroffen habe, liegt sie meilenweit daneben. Sie ist nicht im Takt, sie wankt eher, als dass sie tanzt. Das Schlimmste aber sind die Blicke der Kinder, als sie versucht, sie zum Mitmachen zu bewegen. Nein, stimmt nicht, das Schlimmste sind die gedämpften Stimmen auf der Aufnahme. Sogar Gelächter ist zu hören. Dave, Louisa – Himmel, lacht Carl etwa auch?

»Warum hast du mich denn nicht davon abgehalten?«

»Ich hab’s versucht, aber du wolltest nicht hören.«

»Stattdessen hast du dir gedacht, du filmst einfach, wie ich mich zum Deppen mache?«

»Ich hab es nicht gemacht, um dir eins auszuwischen. Ich wollte dir nur zeigen, was das Zusammenleben mit dir manchmal bedeutet. Nicht immer, aber wenn du in diesem Zustand bist, ist es manchmal kaum auszuhalten.«

Wieder blicke ich auf das Handy. Die Frau auf dem Display – ich auf dem Display – hat eindeutig vor, noch lange zu feiern. Sie stößt gegen das Sofa und lässt sich darauf fallen, um Prince zu singen. Dann das Finale, der Smiths-Song, auf dessen Darbietung ich so stolz war. Nicht schön anzuhören. Meine Hände, die das Telefon halten, sind kalt und zittern. Das Blut steigt mir in die Wangen, und die Scham beginnt sich in meiner Magengrube zu winden. Ich schließe die Augen, aber ich höre mich noch immer kreischen und lallen und über die Worte stolpern, die ich so makellos gesungen zu haben glaubte. In dem Versuch, das Beben meiner Hände zu kontrollieren, drücke ich auf Pause und will das Video gerade löschen, als Carl mir das Handy abnimmt.

»Ich wollte nur ein bisschen Spaß haben«, sage ich.

»Es ist kein Spaß, wenn man alle anderen vor den Kopf stößt«, entgegnet Carl mit gesenktem Blick.

»Mir war nicht klar, dass ich Leute vor den Kopf stoße.«

»Das ist es ja, Alison. Du merkst es einfach nicht.«

Er verlässt die Küche, und ich schaufele weiter Eintopf in Plastikbehälter. Als ich fertig bin, wische ich die Arbeitsfläche ab und stelle den Geschirrspüler an. Ich schalte das Licht aus und bleibe eine lange Weile im Dunkeln stehen, lausche dem Summen der Geräte und hoffe, dass es meinen Verstand beruhigt und meine eigene Stimme übertönt. Ich kann sie noch immer hören. Schrill und klirrend wie berstendes Glas.

VIER

Am Morgen bereitet Carl für Matilda das Frühstück zu und macht sie für die Schule fertig. Da ich heute nicht zum Gericht muss, hatte ich sie eigentlich hinbringen wollen, aber er ist so effizient, dass ich ihn nicht behindern will. Ich gehe in die Küche, um mir einen Kaffee zu holen.

»Wenn du mir dein Handy mitgibst, lasse ich es reparieren. Neben dem Therapiezentrum gibt es einen Laden«, sagt er.

Ich versuche, mir einen nonchalanten Anstrich zu geben, während ich im Kopf alle Risiken durchgehe. Aber ich bin immer vorsichtig. Sehr vorsichtig. Nachrichten, E-Mails – alle werden nach dem Lesen sofort gelöscht. Solange ich Patrick rechtzeitig warne … Ich zucke die Achseln. »Wenn es nicht zu viel Aufwand für dich ist. So wild ist es nicht.«

»Es ist immer besser, so was reparieren zu lassen, ehe es noch schlimmer wird. Hinterher musst du dir ein neues Handy kaufen.«

Ich weiß, dass er recht hat, aber das Kleinkarierte seiner Antwort schrammt mir über die Nerven. Natürlich lasse ich mir nichts anmerken. Immerhin will er mir einen Gefallen tun.

»Mach vorher ein Backup«, sagt er. »Es kann immer etwas schiefgehen.« Er setzt sich und wartet, während ich meine Daten drahtlos sichere, das Handy abwische und ihm reiche.

»Danke. Sehr nett von dir.« Er nimmt es mir aus der Hand und geht. Matilda umarmt mich kurz, ehe sie hinter ihm herläuft.

Sobald Carl aus der Tür ist, rufe ich Patricks Büro an, um ihn zu warnen, ehe er mein Handy anfunkt. Seine Geschäftspartnerin Chloe Sami geht an den Apparat und verbindet mich. Bevor ich zu Wort komme, sagt Patrick: »Ich habe die Besprechung für morgen angesetzt.«

»Den Schriftsatz habe ich mir bereits durchgelesen. Noch keine weiteren Unterlagen von der Anklage?« Meine Stimme ist kühl. Über Arbeit kann ich mit Patrick immer reden.

»Nein. Aber die Mandantin muss dich kennenlernen und Vertrauen aufbauen.«

»Okay.«

»Ich denke, du bist genau die Richtige hierfür«, fährt er fort. »Du wirst den Geschworenen die Sache aus ihrer Sicht darlegen; sie werden sich gänzlich mit dir identifizieren. Und rechtlich gesehen ist der Fall kompliziert, also ganz deine Stärke.« Patricks Stimme klingt nüchtern. Er gibt eine Einschätzung ab, will kein Kompliment machen. Dennoch durchfährt mich ein kleiner Wonneschauder. »Also. Die Besprechung findet morgen um zwei statt«, wiederholt er. »Wir treffen uns um halb eins an der Marylebone Station. Madeleine wohnt momentan bei ihrer Schwester in Beaconsfield.«

»Du hättest mir am Freitag sagen können, dass du derjenige bist, der mich für diesen Fall angefordert hat.«

»Ich wollte dich überraschen. Wie auch immer – ich muss jetzt Schluss machen.«

»Patrick, warte. Ruf mich heute bitte nicht auf dem Handy an und schick mir auch keine Nachricht. Ich habe es nicht bei mir.«

»Wir haben ja gerade miteinander gesprochen. Warum sollte ich mit dir in Kontakt treten wollen?« Er legt auf. Der Stachel hat gesessen, aber ich rufe kein zweites Mal an. Ich lege die Sache gedanklich ad acta und mache mich an die Arbeit.

Der Montag verstreicht, der Kater lässt nach und mit ihm die Angst. Größtenteils jedenfalls. Hinter meinem rechten Auge bleibt eine kleine empfindliche Stelle, wie um mich an den Schmerz zu erinnern, den ich mir und Carl und Tilly zugefügt habe. Nie wieder, denke ich und hoffe, dass die Worte nicht so hohl sind, wie sie klingen. Ich lese die Unterlagen, unterstreiche und mache mir Notizen. Carl bringt unsere Tochter in die Schule und holt sie ab, während ich, ganz in den Fall versunken, im Schlafanzug herumlungere. Am Abend gibt er mir mein repariertes Handy zurück. Es ist so gut wie neu.

Dienstagmorgen habe ich mich wieder aufgerappelt und verlasse gestiefelt und gespornt mit Matilda an meiner Seite das Haus. Sie tanzt auf dem Weg zur Schule neben mir her. Als wir ankommen, steckt eine Gruppe von Müttern, rank und schlank in ihrer Fitnesskluft, auffällig die Köpfe zusammen. Ich versuche, meine Paranoia abzuschütteln, lächele hier, winke dort und rufe zwei Vätern im Vorbeigehen ein Hallo zu. Schließlich lächeln auch die Frauen zurück, ehe sie wieder miteinander zu tuscheln beginnen. Ach, die kommt auch mal? Erstaunlich, dass sie sich herablässt. Sonst macht das ja immer ihr armer Mann. Verärgert über mich selbst, schüttele ich den Kopf. Natürlich reden sie nicht so – warum sollten sie? Matilda zieht an meiner Hand, und wir gehen die Treppe hinunter zu ihrer Klasse.

»Bis nachher, Spatz. Viel Spaß heute.« Ich bücke mich und umarme sie.

»Kommst du mich abholen?«

»Das macht Daddy heute. Ich muss zu einem Meeting.«

»Okay. Bis dann.«

Sie hängt ihren Mantel auf den Haken und läuft zu ihren Freunden. Ich bleibe stehen und sehe zu, wie die Kinder den Kreis erweitern, um ihr Platz zu machen. Ich winke ihr zum Abschied, und sie winkt zurück, dann gehe ich rasch hinaus und überquere mit gesenktem Kopf den Schulhof.

»Matilda ist sehr glücklich, Alison, und allein darauf kommt es an.« Das sagt Carl jedes Mal, wenn ich mich wegen der anderen Eltern aufrege, stets gefolgt von: »Zu mir sind sie immer sehr nett.« Klar, kann ich mir vorstellen, aber das sage ich natürlich nicht. »Gib dir einfach ein bisschen Mühe«, folgt unweigerlich zum Schluss, und das waren auch seine Worte am Morgen, während er Matildas Ranzen überprüfte und ihr Aufgabenbuch unterschrieb. Ich wandte nichts ein; vermutlich hatte er recht. »Ich hole sie heute Nachmittag ab. Mein letzter Patient kommt um zwei«, sagte er schließlich. Eine Sache weniger, um die ich mich kümmern muss.

Ich schaffe es gerade noch rechtzeitig zum Bus und quetsche mich, von Buggys umzingelt, auf einen Platz. In meinem schwarzen Rollkoffer befinden sich die Unterlagen zu meinem ersten Mordfall: Fotos und Fakten über eine brutale Tat, die ich in den nächsten Monaten genauer und umfassender begreifen muss als mich selbst, meine Ehe und mein Versagen als Mutter.

Ich kann’s kaum erwarten.

In der Kanzlei angekommen, grüße ich die Assistenten, gehe in mein Büro und lege die Akte auf den Tisch. Dann setze ich mich und schaue blicklos aus dem Fenster. Fünfzehn Jahre Praxis, fünfzehn Jahre, die ich auf diesen Moment hingearbeitet habe: Mein erster Mordfall. Begonnen habe ich mit dem Üblichen: alkoholisierte Autofahrer, Junkie-Langfinger, rückfällige Vorbestrafte, erbärmliche Pädophile, die ihre schwitzigen Hände über unanständigen Fotos von Minderjährigen rangen – ein Aufstieg in der Verbrechenshierarchie von den Glücklosen über die Hilflosen bis zu jenen, denen nicht zu helfen war und bei denen sogar ich manchmal zugeben musste, dass man sie besser einsperrte und nie wieder hinausließ. Und immer, immer wieder derselbe Werdegang: Der Missbrauch in der Kindheit, der in Alkohol- und Drogenmissbrauch mündet, in Entbehrung und Verzweiflung, die sich manchmal in gewaltsamen Forderungen entladen: Ich will das Handy, nein, du gibst mir das Scheiß-Handy jetzt, oder ich erstech dich/schlag dich zusammen/schubs dich von der Brücke/hier auf die Gleise vor den Zug.