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Sarah weiß nun um Dustins Geheimnis: Er ist unsterblich, sein Herz schlägt schon seit vielen Jahren nicht mehr. Und die Gier nach Blut wird ihn schleichend zu einer Bestie machen, falls er nicht durch die einzig wahre Liebe erlöst wird. Doch vielleicht ist es dafür bereits zu spät: Dustin ist verschwunden und alles deutet darauf hin, dass er einen brutalen Mord begangen hat. Sarah beschließt, ihn zu suchen - nicht ahnend, in welcher Gefahr sie schwebt. Nur die wahre Liebe bringt Erlösung für einen Vampir, sodass er sich zurück in einen Menschen verwandeln kann! Aber Vorsicht: Sind die Gefühle nicht absolut echt, bedeutet das ewige Verdammnis für beide! Alice Moon zeigt in der vierteiligen Reihe "Blood Romance" ein völlig neues Vampirsetting mit viel Gefühl für Mädchen ab 14 Jahren. "Dunkles Versprechen" ist der zweite von vier Bänden der Blood Romance-Reihe. Der Titel des ersten Bandes lautet "Kuss der Unsterblichkeit".
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Seitenzahl: 300
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In dem Augenblick aber, wo uns alles verloren scheint, erreicht uns zuweilen die Stimme,
Eins
Dustin rannte. In der Dunkelheit schien sich der Wald vor ihm in einen Tunnel aus düsteren Schemen zu verwandeln – unwirklich und schwindelerregend. Alles um ihn herum verschmolz zu einem zähen gräulich schwarzen Brei, den er mit aller Kraft zu durchdringen versuchte. Die Luft war klamm und der Boden unter seinen Füßen feucht und weich. Dustin keuchte, das Atmen fiel ihm schwer. Die Äste der Bäume und Sträucher zerrten wie dürre, knochige Finger an seinem Pullover und seinen Haaren. Es war, als versuche der Canyon Forest, ihn gewaltsam zurückzudrängen. »Du bist unerwünscht, dreh um!«, schien er zu rufen – und der Wald hatte recht: Eigentlich sollte Dustin so schnell wie möglich fort aus Rapids. Er durfte nicht bleiben, nicht jetzt, wo es eine Leiche gab, ein menschliches Opfer. Doch irgendetwas trieb ihn an, das Schreckliche mit eigenen Augen zu sehen. Das, was er schon seit Tagen befürchtet hatte, jedoch nicht hatte abwehren können.
Bereits vor ein paar Stunden, als er den verendeten Wolf im Unterholz entdeckt hatte, war eine böse Vorahnung in Dustin gewachsen. Er hatte Angst gewittert – und den Tod. Der Wind hatte ihm die grausige Tat zugetragen, bevor sie zur Gewissheit geworden war.
Anna war ermordet worden. Elizabeth – oder May, wie sie sich nun nannte – hatte es ihm wutentbrannt ins Gesicht geschrien, in der festen Überzeugung, dass er der Täter war.
Dustin kämpfte sich weiter vorwärts. Plötzlich hielt er inne und lauschte … Aufgebrachtes Stimmengewirr tönte ihm entgegen. Er musste bereits ganz in der Nähe des Tatortes sein. Dustin pirschte sich nun langsamer voran und versuchte dabei, ruhiger und gleichmäßiger zu atmen. Ein Stück vor ihm blitzten bläuliche Lichtkegel wie von Taschenlampen auf. Dustin blickte sich suchend um und entdeckte einen Trampelpfad aus niedergetretenen Sträuchern und unzähligen Fußabdrücken. Je weiter er ihm folgte, desto heller wurde es um ihn herum. Das kalte Licht ließ den Wald gespenstisch und unheilvoll erscheinen. Dustin betrat eine kleine Lichtung und blieb im Schatten eines Baumes stehen. Uniformierte Polizisten mit Taschenlampen versperrten ihm die Sicht auf das, was sich zweifellos vor ihnen am Boden befand. Ringsherum standen in einiger Entfernung mehrere Jugendliche mit bleichen, fassungslosen Gesichtern. Ein paar von ihnen kannte er flüchtig. Wahrscheinlich hatten sie Anna auf der Wohnheimfeier vermisst und nach ihr gesucht. Auch Carol war unter ihnen. Sie kauerte allein am Boden, die Arme um ihren Körper geschlungen, den Blick starr.
Dustin roch den Tod. Er lag in der Luft – schwer und erdrückend und unwiderruflich. Satzfetzen trafen seine Ohren: »Was hatte sie um diese Zeit überhaupt hier zu suchen?«
»… sicher ein Date mit einem Jungen …«
»… schlimme Bisswunden … viel Blut verloren …«
»… möglicherweise von einem wilden Tier angegriffen.«
»… hatte keine Chance … konnte sich nicht mehr wehren …«
Eine junge Polizistin stützte eine kleine, zerbrechlich wirkende Frau. Sie redete leise und eindringlich auf sie ein, doch die Frau reagierte nicht. Sie schien nichts um sich herum wahrzunehmen und blickte nur apathisch ins Leere. Bestimmt war sie eine Angehörige. Dustin spürte ein mulmiges Gefühl in sich aufsteigen. Er hatte sich Anna gegenüber nicht fair verhalten. Auch wenn er ihr nichts versprochen hatte, er hatte von Anfang an gemerkt, wie interessiert sie an ihm war – und das hatte er ausgenutzt. Er hatte mit Anna an seiner Seite versucht, Sarah von sich fernzuhalten. Wahrscheinlich war Anna ihm in den Wald gefolgt, nachdem er sie auf der Party einfach hatte stehen lassen. Und deswegen hatte sie sterben müssen. Dustin merkte, wie sich eine grausame Kälte in ihm breitmachte. Der Ermittler hatte von Blutverlust und schlimmen Bisswunden gesprochen. Aber Anna war nicht von einem Tier angegriffen worden, sie war das Opfer einer viel schlimmeren Kreatur: einer rachsüchtigen, blutdürstigen Bestie, die Freude dabei empfand, Lebewesen zu quälen und grausam hinzurichten. Kein Zweifel, SIE war hier gewesen. »Emilia«, flüsterte Dustin. Ein kalter Windhauch blies ihm bestätigend und voller Hohn ins Gesicht, als er ihren Namen in den Mund nahm, nachdem er es jahrzehntelang vermieden hatte, ihn auszusprechen.
Im nächsten Augenblick traten zwei der uniformierten Männer beiseite. Der Anblick, der sich ihm bot, raubte Dustin den Atem: Annas langes rotes Haar hing in stumpfen Strähnen über ihren geschundenen Körper. Scharfe Krallen hatten ihre Kleider zerfetzt und sich tief in ihr Fleisch gegraben. Der Waldboden unter ihr hatte sich rot verfärbt. Annas Gesicht war Dustin zugewandt und ihre Augen blickten ihn, geweitet vor Schreck und Panik, an.
»Es tut mir so leid, Anna«, flüsterte Dustin mit erstickter Stimme. »Das wollte ich nicht … Ich wollte nicht, dass so etwas passiert, ich –«
Plötzlich wurde Dustin durch eine Bewegung abgelenkt. Zwischen den umherstehenden Jugendlichen wandte sich eine Gestalt langsam um und blickte direkt in seine Richtung. Sie trug einen langen dunklen Mantel. Das Gesicht der Person war halb von einer Kapuze verdeckt, doch im Lichtkegel einer Taschenlampe leuchteten für eine Sekunde zwei grüne Augen hervor. Ein messerscharfes Lächeln umspielte blutrote, glänzende Lippen und der Wind ließ eine kupferfarbene Haarsträhne wie eine Feuerflamme hervorzüngeln.
Dustin stürzte aus dem Schatten des Baumes hervor und auf die Gestalt zu, doch diese drehte sich blitzschnell um und verschwand lautlos wie ein Schatten zwischen den dicht stehenden Bäumen. Im selben Moment überkam Dustin ein schreckliches Schwindelgefühl, das ihn daran hinderte weiterzurennen. Er taumelte, hielt sich den Kopf. Sein Körper war schwer und wie gelähmt, seine Beine gehorchten ihm nicht mehr. Erst als sich die Augen einiger Polizisten auf ihn richteten, erwachte er aus seiner Starre.
»Was willst du hier, Junge?«, fuhr ihn einer der uniformierten Männer an und marschierte auf ihn zu. Er hatte ein rotes, kantiges Gesicht. »Hier gibt es nichts zu sehen! Mach, dass du wegkommst. Oder … hast du uns etwas zu sagen? Warst du dabei, als das Mädchen gefunden wurde?« Der Mann sah Dustin aus zusammengekniffenen Augen an.
Dustin schüttelte den Kopf.
»Also, dann verzieh dich. Und halte dich gefälligst um diese Uhrzeit woanders auf. Am besten zu Hause in deinem Bett. Ich weiß nicht, was mit euch Kids los ist.« Kopfschüttelnd wandte sich der Polizist ab.
Dustin stand wie angewurzelt und starrte in die Richtung, in der die Gestalt verschwunden war. SIE hatte sich ihm schon lange nicht mehr gezeigt, auch wenn er ihre Anwesenheit oftmals gespürt hatte. Hass stieg in ihm auf, unbändige Wut und der Wunsch, diese Bestie leiden zu sehen. Sie sollte die Schmerzen, die sie unzähligen anderen zugefügt hatte, am eigenen Leib spüren. Er ballte seine Hände zu Fäusten. »Eines Tages wirst du das alles büßen«, zischte er durch zusammengebissene Zähne. »Das schwöre ich bei meiner Ewigkeit … Der Zeitpunkt wird kommen, hörst du? Der Zeitpunkt wird kommen …« Dustins Stimme war unbeabsichtigt lauter geworden. Ein strafender Blick des Polizisten ließ ihn verstummen und kehrtmachen. Doch schon nach ein paar Metern hielt Dustin erneut inne. Er hatte das Gefühl, als durchbohrten ihn Annas tote, schreckgeweitete Augen von hinten. Dustin erschauderte. Und zugleich schoss ihm ein anderes furchtbares Bild durch den Kopf: Sarah … Er sah sie plötzlich an Annas Stelle liegen, die sanften haselnussbraunen Augen starr und leblos, ihr schmaler Körper blutverschmiert. Dustin spürte Panik in sich aufsteigen. Als müsste er sich vergewissern, dass sich das tote Mädchen auf dem Waldboden nicht in Sarah verwandelt hatte, drehte er sich noch einmal um – und blickte in ein anderes bekanntes Augenpaar.
Jonathan stand regungslos da und starrte Dustin an, ohne auch nur einmal mit der Wimper zu zucken. Wo kam er so plötzlich her? Dustin hatte ihn vorhin nirgends bemerkt. Jonathans Gesichtsausdruck war unergründlich. Lag Vorwurf darin? Schmerz? Wut? Hass? Dustin vermochte es nicht zu sagen. Er tat einen Schritt auf ihn zu, wollte den Mund öffnen und ihn fragen, was passiert war, wer Anna gefunden hatte. Aber bevor er auch nur ein Wort hervorbringen konnte, machte Jonathan eine kurze, abwehrende Geste und wandte sich von Dustin ab. Mit gesenktem Kopf ging er hinüber zu Carol. Er setzte sich neben sie und legte tröstend einen Arm um ihre Schultern. Dustin schluckte. Jonathan hatte mitbekommen, wie häufig Dustin in letzter Zeit mit Anna zusammen gewesen war. Er würde doch hoffentlich nicht … Nein, er hatte nichts gegen Dustin in der Hand. Er wusste nichts über ihn, er konnte ihm unmöglich diese schreckliche Tat zutrauen. Trotzdem gab Jonathans eigenartiger Gesichtsausdruck Dustin ein ungutes Gefühl. Es war, als würde er –
»Du hängst ja immer noch hier herum! Jetzt verschwinde endlich … Auf der Stelle!«, zischte der rotgesichtige Polizist zu Dustin herüber. »Wir haben genug Ärger, das siehst du doch!«
Dustin drehte sich um und ging. Die Gedanken wirbelten unkontrolliert in seinem Kopf umher. Dennoch war ihm eines bewusst: Annas Tod würde für viel Unruhe sorgen und er musste aufpassen, dass er selbst nicht ins Zentrum dieses Tumults geriet. Er musste sich unsichtbar machen, durfte nicht ins Wohnheim zurückkehren. Zumindest nicht so lange, bis die Polizei sich ganz sicher war, dass Anna tatsächlich von einem Tier angegriffen worden war.
Die Sonne scheint. Seltsam … Wer hat es ihr erlaubt? Ein paar alte Frauen unterhalten sich drüben an der Haltestelle. Eine beschwert sich, dass der Bus wieder einmal zu spät kommt. »So was Ärgerliches«, sagt sie. »Jetzt komme ich schon wieder zu spät zu meinem Bingo-Abend.« Zwei Jungen spielen in einer Hauseinfahrt Basketball. Sie grölen und lachen. Sie lachen …
Alles ist so normal, so selbstverständlich.
Sie ist brutal, diese Selbstverständlichkeit. So laut ist sie, so auffällig und aufgesetzt, dass sie mir gar nicht mehr echt erscheint. Jemand hat die Sonne angeknipst und der Frau ein Zeichen gegeben, wann und worüber sie sich beschweren soll. Danach sollten die beiden Jungen lachen.
Sie ist so falsch, diese Selbstverständlichkeit. Jemand führt Regie über sie. Mir soll vorgemacht werden, das Leben ginge weiter und alles würde irgendwann wieder normal. Auch ohne ihn, auch ohne Dad. Aber ich weiß, das wird es nicht, das kann es nicht. Und es soll auch nicht …
»Wach auf, Sarah, es wird Zeit.«
Sarah schreckte hoch und blinzelte. Ihre Mutter saß an ihrem Bett und streichelte ihre Hand. »Geht es dir gut? Habe ich dich erschreckt?«
Sarah richtete sich auf und schüttelte benommen den Kopf. Sie brauchte eine Weile, bis sie zu sich fand. Sie hatte noch nie mit ihrer Mutter über die Träume gesprochen, die sie nachts heimsuchten. Die Träume, in denen es um den Tod ihres Vaters ging. Sie wusste, dass sie ihrer Mutter damit nur Sorgen bereiten würde – und am Ende landete sie vielleicht noch bei einem Psychotherapeuten. Sie musste allein damit zurechtkommen.
In der letzten Zeit waren die Träume immer seltener geworden. Seit dem Tag, an dem sie Dustin kennengelernt und sich in ihn verliebt hatte. Aber nun war Dustin fort – und ihre Träume kehrten zurück. Seit genau einer Woche hatte sie nichts mehr von ihm gehört, seit jenem Freitagabend, an dem Annas grausam zugerichtete Leiche im Canyon Forest gefunden worden war.
Sarah hatte Dustin gesucht, war jeden Tag zum Wohnheim gelaufen, hatte Jonathan nach ihm gefragt, hatte auf irgendein Zeichen, irgendeine Botschaft gehofft … Nichts. Dustin blieb spurlos verschwunden und tief in ihrem Innern spürte Sarah, dass er vielleicht nie wiederkommen würde. Er war vor ihren Augen in die Dunkelheit getaucht und diese hatte ihn verschluckt. Augenblicklich breitete sich in Sarah wieder dieses mulmige Gefühl aus, welches sie seit Tagen begleitete.
»Hattest du einen Albtraum, Schatz?«
»Nein«, murmelte Sarah und bemühte sich zu lächeln. »Ich … ich glaube, ich bin nur etwas nervös wegen Annas Beerdigung.«
Laura Eastwood nickte. »Ja, das kann ich gut verstehen.« Dann fügte sie besorgt hinzu: »Bist du wirklich sicher, dass du hingehen willst? Ich meine, du hattest in den letzten Monaten schon genug zu verarbeiten.«
Sarah zögerte mit ihrer Antwort. »Doch«, sagte sie dann, »ich muss hingehen. Für unseren Jahrgang fällt sogar der Unterricht aus. Ich kann mir nicht einfach einen netten freien Tag machen.«
»Wie du meinst, Schatz. Aber frühstücke auf jeden Fall noch etwas, bevor du losfährst, ja?«
»Schon gut, Mom. Ich hab noch genügend Zeit. Nichtangehörige sollen erst um zwei beim Friedhof sein.«
»Ach, wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dich nicht so früh geweckt. Wie geht es eigentlich May inzwischen? Kommt sie auch?«
Sarah schälte sich aus der Bettdecke.
»Nein, sie wurde immer noch nicht aus dem Krankenhaus entlassen. Ich wollte sie später besuchen.«
Insgeheim beneidete Sarah May dafür, dass sie Annas Beerdigung verpasste. Tatsächlich hatte sie lange mit sich gerungen, ob sie selbst hingehen sollte oder nicht. Sie hatte schreckliche Angst davor, dass ihre eigenen Erinnerungen sie erneut einholten. Sie hatte sich bemüht, den Tag aus ihrem Gedächtnis zu verbannen, an dem ihr Dad beigesetzt worden war. Das Schlimmste an jenem Tag war die Tatsache gewesen, dass das Leben um sie herum völlig normal weitergelaufen war, so als wäre nichts geschehen. Sarah war auf alles und jeden wütend gewesen. Auf das Zwitschern der Vögel am Morgen, auf die fluchenden Männer von der Müllabfuhr, auf die Luft zum Atmen. Auf alles.
Aber Sarah war zu dem Schluss gekommen, dass ihre Erinnerungen sie einholen würden, wenn sie es wollten. Es würde keine Rolle spielen, ob sie nun zu Annas Beerdigung ging oder nicht. Und wenn sie es nicht tat, würde sie sich ewig Vorwürfe machen.
Als Sarah aus der Dusche stieg, hörte sie ihr Handy klingeln. Es steckte noch in der Tasche ihrer Jeans, die sie gestern vorm Zubettgehen achtlos über den Rand der Badewanne geworfen hatte. Sie zog es hervor. Jonathan, zeigte das Display an. Sarah zögerte einen Moment, dann drückte sie auf die Taste mit dem grünen Hörer.
»Hallo, Jonathan?«
»Hi, Sarah. Störe ich? Habe ich dich geweckt?«
»Nein, nein, ich komme nur gerade aus der Dusche.«
Sarah biss sich auf die Lippen. Warum erzählte sie ihm das? Genauso gut konnte sie Jonathan verraten, dass sie nackt war. Als könnte er sie jetzt sehen, wickelte sie sich umständlich ein Handtuch um und fuhr sich nervös durch die nassen Haare. Jonathan räusperte sich und Sarah bemerkte im Spiegel, dass sie rot wurde.
»Ich wollte nur fragen, ob ich dich vielleicht nachher abholen soll«, sagte Jonathan. »Ich kann mir vorstellen, dass du nicht so gerne allein zum Friedhof möchtest. Es ist sicherlich nicht leicht für dich und … na ja, ich muss sowieso bei euch vorbei, da wäre es also noch nicht mal ein Umweg. Aber nur, wenn du willst …«
Sarah musste unwillkürlich lächeln. Jonathan war nach ihrer Aussprache auf der Wohnheimfeier unglaublich bemüht, nicht zu aufdringlich zu wirken, wenn er ihr seine Hilfe anbot oder ihr einen Gefallen tun wollte. Er war wirklich süß. So unbeholfen und schüchtern hatte sie den aufgedrehten blonden Sunnyboy früher nie erlebt. Vor allem seit der Sache mit Anna schien er wie ausgewechselt. Er wirkte irgendwie ernster und in sich gekehrt.
»Danke, das wäre wirklich nett von dir, Jonathan«, erwiderte Sarah und spürte, dass ihr ein riesiger Stein vom Herzen fiel. Mit ihm zusammen würde der Gang zum Friedhof zumindest etwas leichter werden.
»Gut, dann hol ich dich so gegen halb zwei zu Hause ab, okay?«
»Ja, in Ordnung, bis dann!«
»… Und so werden wir sie auf ewig in unseren Herzen bewahren, denn sie hat unser Leben durch ihr Dasein bereichert …«
Sarah ließ ihren Blick über die golden gefärbten Blätter der Ahornbäume wandern, die den Friedhof säumten. Sie versuchte, sich abzulenken und die Worte des Priesters nicht an sich herankommen zu lassen. Sie wollte sie nicht hören. Nicht noch einmal. Sie klangen wie auswendig gelernt, beliebig und austauschbar. Sarahs Augen wanderten zu den anderen Trauergästen. Sie war erstaunt, dass nur so wenige Leute gekommen waren. Sie hatte angenommen, Annas Familie wäre in der Stadt angesehen und sie selbst würde in einer riesigen Menge untergehen. Aber bis auf den Priester, die Sargträger sowie einige Schüler und Lehrer der Canyon High waren nur noch zwei Personen anwesend: ein alter Mann mit dunklen Schatten um die kleinen wässrigen Augen, der sich zitternd auf seinen Gehstock stützte, und eine zerbrechlich wirkende Frau mit schmalen Schultern und tiefen Sorgenfalten im fahlen Gesicht. Sarah schätzte sie auf Mitte vierzig, aber vermutlich war sie jünger, als sie aussah. Sie trug ein einfaches Kleid aus dunkler Baumwolle, das für diesen sonnigen, aber sehr kalten Oktobertag viel zu dünn war, darüber eine schwarze Strickweste. Ihr kinnlanges aschfahles Haar war von wenigen blassroten Strähnen durchzogen, die ihren ursprünglichen Farbton erahnen ließen.
»Das sind Annas Mom und ihr Großvater«, flüsterte Carol Sarah mit tränenerstickter Stimme zu. Sarah blickte das Mädchen erstaunt an. Das sollte Annas Mutter sein? Sarah hatte zwar keine genaue Vorstellung von ihr gehabt, aber sie hatte wie selbstverständlich angenommen, dass Annas Mom eine schillernde Erscheinung sein musste – wie ihre Tochter.
Als der schlichte Holzsarg in die Tiefe gelassen wurde, schloss Sarah die Augen. Sie versuchte, sich Anna nicht als bis zur Unkenntlichkeit zugerichtete Leiche vorzustellen, sondern als das Mädchen, das sie gekannt hatte. Aber so sehr sich Sarah auch bemühte, immer wieder verschwammen Annas Züge vor ihrem inneren Auge. Nur ihre wallenden roten Haare und ihre grün geschminkten Augen, die sie ausdruckslos anstarrten, blitzten immer wieder bruchstückhaft vor ihr auf. Sarah war wütend auf sich selbst und schämte sich gleichzeitig dafür, dass ihr Gedächtnis Anna auf so wenige Merkmale reduzierte. Auch wenn sie sich nie besonders nahegestanden hatten – immerhin waren sie und Anna seit über einem Jahr im selben Jahrgang und hatten sich fast täglich gesehen. Sarah öffnete die Augen und blickte hinüber zu Carol, die mit blassem Gesicht auf das Grab starrte.
Sarah kam Annas Beerdigung vor wie ein böser Traum, zäh und beklemmend unwirklich. Niemand außer dem Priester hatte eine Ansprache gehalten oder ein Gebet gesprochen und nachdem dieser mit gedehnter Stimme den Segen gegeben hatte, löste sich die kleine Gemeinschaft augenblicklich auf und die meisten verschwanden schnell und lautlos in ihren dunklen Gewändern wie scheue Schattenwesen. Nur vereinzelt traten Leute zu Annas Mutter und ihrem Großvater, um ihnen ihr Beileid auszusprechen. Carol umarmte Annas Mom und die kleine Frau hielt sich an ihr fest wie eine Ertrinkende. Sarah wusste nicht, was sie tun sollte. Schließlich kannte sie Annas Familie gar nicht. Gerade als sie sich zu einem ersten Schritt durchringen wollte, drehten sich die beiden um und gingen langsam davon.
»Schon gut«, sagte Jonathan leise an Sarahs Ohr. »Sie wissen es auch so zu schätzen, dass wir hier waren.« Er strich Sarah kurz über den Rücken. »Ich glaube, es ist wichtiger, dass wir uns in Zukunft etwas um Carol kümmern. Immerhin war Anna ihre beste Freundin«, fügte er hinzu.
Sarah nickte. Jonathan hatte recht. Sie konnten Annas Familie nicht helfen, aber sie konnten zumindest für Carol da sein.
Carol trat zu Sarah und Jonathan und die drei blieben noch eine Weile schweigend stehen. Die Totengräber begannen bereits, mit versteinerten Mienen das Grab zuzuschaufeln. Sarah zuckte zusammen, als die erste Schaufel voll Erde dumpf auf das Holz traf. Es klang unheimlich und endgültig.
Diese Männer müssen dieses schreckliche Geräusch jeden Tag ertragen, dachte sie. Sie verdienen ihr Leben mit dem Tod. Sarah schauderte und wandte sich Carol zu.
»Carol«, begann sie, »wenn du reden willst oder einfach nicht allein sein möchtest, dann gib Bescheid.« Sie wusste nicht, was sie sonst noch sagen sollte. Ihre Worte erschienen ihr nutzlos und leer, ebenso wie die des Priesters. Hilfe suchend sah sie zu Jonathan. »Ja«, murmelte er schließlich, »das gilt natürlich auch für mich. Also, ich meine, wenn du irgendwie Hilfe brauchst …«
»Danke.« Carols Stimme klang dünn. »Ich … ich weiß, was ihr denken müsst. Über Anna, meine ich …« Sie schniefte, schien zu überlegen, wie sie weiterreden sollte. Ihre kleinen verquollenen Augen wanderten zwischen Sarah und Jonathan hin und her. »Anna war … sie war wirklich nett. Und sehr lieb. Auch wenn sie vielleicht auf die meisten etwas oberflächlich gewirkt hat. Ich …« Carol schüttelte den Kopf, als müsste sie sich zwingen fortzufahren. Sarah streichelte ihr über den zitternden Rücken.
»Anna wollte nie, dass jemand erfährt, was in ihrer Familie wirklich los war«, sprach Carol weiter. »Ihr Dad ist ein ziemlich bekannter Auslandskorrespondent und ständig unterwegs. Irgendwann hat er seine Frau und seine Tochter verlassen – von heute auf morgen, für eine andere. Anna war gerade mal zwölf. Sie hat ihren Vater vergöttert, hätte alles für ihn getan. Aber er hat den Kontakt so gut wie abgebrochen, hat Anna nur einmal im Jahr eine große teure Reise geschenkt, hat sie aber nie begleitet. Und Anna hat irgendwann angefangen, eine Fassade aufzubauen. Sie hat einfach so getan, als wäre alles wie früher, obwohl sie und ihre Mutter das Haus aufgeben und in eine kleine Wohnung draußen am Stadtrand ziehen mussten. Anna hat danach nie wieder jemanden zu sich eingeladen und ihre Geburtstage feierte sie in irgendwelchen schicken Restaurants. Ihre Mom nimmt alle möglichen Gelegenheitsjobs an, um über die Runden zu kommen, und Anna hat sich in den Ferien heimlich etwas Geld dazuverdient, damit sie sich ihre Klamotten leisten konnte. Ich glaube, insgeheim hat sie ihre Mom dafür verantwortlich gemacht, dass ihr Dad gegangen ist. Und sich selbst wohl auch.« Carol holte tief Luft. »Im Moment ist ihr Vater irgendwo auf den Philippinen unterwegs.« Sie lachte bitter und schüttelte den Kopf. »Er hat es noch nicht einmal zur Beerdigung seiner eigenen Tochter geschafft.«
Sarah starrte Carol voller Entsetzen an. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung gehabt, wie Annas Leben tatsächlich ausgesehen hatte. Sie war – wie wahrscheinlich alle anderen auch – voll und ganz auf Annas Fassade hereingefallen, hatte die rothaarige Schönheit für verwöhnt und oberflächlich gehalten. Dabei war sie diejenige, die oberflächlich gewesen war und sich nie ernsthaft für Anna interessiert hatte. Sie hatte sie von Anfang an in eine Schublade gesteckt. Und sie hatte ihre Vorurteile bestätigt gesehen, als Anna versucht hatte, bei Dustin zu landen. Dustin … Der Gedanke an ihn und ihre letzte Begegnung versetzte Sarahs Herz unvermittelt einen Stich. Es war so viel passiert an jenem Abend vor genau einer Woche – zu viel. Und die schrecklichen Schreie, die Sarah gehört hatte, als sie Dustin in den Wald gefolgt war, hallten noch immer in ihrem Kopf nach. Sie wusste nun, wer so geschrien hatte, und der Gedanke daran schnürte ihr die Kehle zusammen. Anna. Anna hatte um ihr Leben geschrien …
Zwei
Es wird dich dürsten bald nach Blut,
du wirst es brauchen, um zu sein.
Doch Nahrung spenden Wolf und Reh,
die Gier nach Menschenblut bringt Pein.
Nur dann, wenn Liebe ist gewiss,
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