Blood Romance (Band 3) - Bittersüße Erinnerung - Alice Moon - E-Book

Blood Romance (Band 3) - Bittersüße Erinnerung E-Book

Alice Moon

4,8

Beschreibung

Gibt es noch Hoffnung für Sarah? Nachdem Dustin ihr Blut getrunken hat, befindet sie sich in einem Zwischenstadium. Wird sie sterblich bleiben oder ohne Herzschlag ihr Dasein fristen müssen? Doch selbst wenn Sarah überlebt, ist die Gefahr nicht vorüber - denn SIE setzt alles daran, Dustins und Sarahs Liebe zu zerstören. Dustin begreift, dass er sich endlich seiner Vergangenheit stellen muss. Nur die wahre Liebe bringt Erlösung für einen Vampir, sodass er sich zurück in einen Menschen verwandeln kann! Aber Vorsicht: Sind die Gefühle nicht absolut echt, bedeutet das ewige Verdammnis für beide! Alice Moon zeigt in der vierteiligen Reihe Blood Romance ein völlig neues Vampirsetting mit viel Gefühl für Mädchen ab 14 Jahren. "Bittersüße Erinnerung" ist der dritte von vier Bänden der Blood Romance-Reihe. Die beiden Vorgängertitel lauten "Kuss der Unsterblichkeit" und "Dunkles Versprechen".

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 318

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (11 Bewertungen)
9
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



In solchem Augenblick, der wie ein Blick der Augen, Der Liebesaugen kommt, Besinnung wegzusaugen, In solchem Augenblick, wer ihn, eh er geschwunden,

Eins

Italien, 1881

»Lasset uns beten für die Reinheit und die Unverzagtheit seiner Seele, damit sie dem listigen Schmeicheln des Satans nicht noch auf ihrem letzten Stück Weges verfalle, sondern den falschen Verlockungen der Hölle widersage und voller Zuversicht aufstrebe in den rettenden Schoß des Himmels.«

»Wir bitten dich, erhöre uns …«

Das monotone Murmeln jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Im Licht der Kerzen, das die dichten Rauchschwaden kaum zu durchbrechen vermochte, wirkten die Gestalten mit ihren dunklen Gewändern und gesenkten Häuptern wie Schattenwesen. Der beißende Geruch von Weihrauch drang in seine Nase und raubte ihm den Atem.

Dong-dong … Dong-dong … Dong-dong …

Er taumelte, als die schweren Glocken zu läuten begannen – eindringlich, auffordernd und unerbittlich. »Begreif endlich, was passiert ist. Jeder Widerstand ist zwecklos«, schienen sie ihm mit ihren tiefen Stimmen entgegenzudröhnen.

Eine schmale Hand packte seinen Arm. Der Junge schrie vor Schreck auf. »Nein, lass mich!« Panik stieg in ihm hoch. Er wusste, was man nun von ihm erwartete und versuchte, sich loszureißen. Aber es gelang ihm einfach nicht, sich aus dem festen Griff seiner Mutter zu befreien.

»Die Leute starren dich schon an! Du wirst deine Pflicht tun, hast du verstanden?«, zischte ihre Stimme dicht an seinem Ohr. Sie zerrte ihren Sohn zu dem offenen Sarg. Ihre Schritte hallten auf dem kalten Steinboden. Er versäumte es, früh genug die Augen zu schließen. Das Bild traf ihn wie ein Faustschlag. Seine Kehle schnürte sich zusammen und er hatte plötzlich das Gefühl, ersticken zu müssen.

Wie ein gieriger Wurm hatte sich der Tod in das Gesicht des Mannes vor ihm gegraben, hatte sich seine Wege zwischen jedem einzelnen Knochen seines Schädels hindurchgebahnt, hatte den Glanz aus seinem Haar, alle Farbe und Stärke aus seinen Zügen gefressen und tiefe graue Furchen in der fahlen Haut hinterlassen.

Eiseskälte breitete sich in ihm aus.

Das ist er nicht, das kann er nicht sein, hämmerte es fortwährend in seinem Kopf. Die Glockenschläge schmerzten in seinen Ohren und ließen seinen Magen vibrieren. Die Mauern schienen auf ihn zuzukommen, ihn in die Enge treiben und erdrücken zu wollen.

Er darf es nicht sein, darf nicht, darf nicht …

»Er ist nicht tot, er lebt noch!«, schrie er gegen den Glockenlärm an.

»Wirst du wohl still sein!«

»Das ist ein Irrtum, ganz bestimmt! Er ist mächtiger, viel mächtiger als der Tod!«

»Heilige Maria Muttergottes, er ist vom Teufel besessen«, wisperte es von der Seite. »Er ist ein Sohn des Satans! Allmächtiger, nimm dich seiner an.«

Alle Gesichter wandten sich ihm zu, ihre Münder flüsterten und raunten, von überall starrten ihn feindselige Augen an. Sie kamen näher, immer näher, begafften, verhöhnten und beschimpften ihn, Finger zeigten auf seine Brust. Ihm wurde schwindelig. Seine Beine konnten ihn nicht mehr halten, der Steinboden kam wie von selbst auf ihn zu. Für einen kurzen Moment war ihm, als sähe er eine aschfahle, sehnige Hand über sich auftauchen, die herabschnellte, um sich kalt um seine Kehle zu legen. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.

Dustin saß in seinem Bett und starrte ins Nichts. Seine Eltern hatten ihn, nachdem er wieder zu sich gekommen war, nach Montebello zurückgebracht, schweigend, aber mit vorwurfsvollem Blick.

Tot, tot, tot, dröhnte es nach wie vor in seinem Kopf. Was war nur schiefgelaufen? Sein Großvater hätte nicht sterben dürfen, niemals. Er hatte es ihm versprochen, hatte verbissen gegen den Tod angekämpft, so vehement, wie er es immer getan hatte, wenn etwas oder jemand seine Pläne durchkreuzen wollte. Und sein Plan war es gewesen, am Leben zu bleiben, selbst, nachdem er vor einem Jahr so schwer krank geworden war.

»Heute Nacht wollte mich der Tod überführen«, hatte der alte Mann seinem Enkel vor einigen Monaten beim Frühstück zugeflüstert und Dustin war es eiskalt den Rücken hinuntergelaufen. »Aber ich war stärker als er, ich habe ihn besiegt. Ha, ich lasse mir doch nicht einfach das Leben verbieten – auch nicht vom Tod persönlich! Ich glaube fest an mich und meine Stärken. Denn wenn man fest genug an etwas glaubt, ist alles möglich. Denk immer daran, mein Junge!«

Dustin hatte seinen Großvater, diesen starken und unerschrockenen Kämpfer, voller Bewunderung und Faszination betrachtet. Giacomo di Ganzoli war ein Mann, dem alles gelang, dem niemand widersprach und dem selbst der Tod nichts anhaben konnte.

»Und woran glaubst du, Dustin?«

Dustin hatte einen Moment lang überlegt und schließlich voller Überzeugung geantwortet: »Ich glaube auch an dich, Großvater!«

Wenn ich ihm vertraue, kann mir auch nichts passieren, hatte sich Dustin gesagt. Aber nun war genau dieser Mann, an den Dustin so fest geglaubt hatte, nicht mehr vorhanden. Er lag, geschunden und besiegt vom Tod, in einer dunklen Kiste aus Holz, würde bald zu Asche und Staub zerfallen.

Der Tod hatte Dustin nicht nur seinen Großvater genommen, sondern auch seinen Glauben an die Unbesiegbarkeit von Giacomo di Ganzoli zerstört.

Der Tod besaß mehr Macht als der stärkste Mann. Niemand, kein Lebewesen auf Erden, konnte sich ihm widersetzen.

Niedergeschmettert von dieser neuen, bitteren Erkenntnis und innerlich leer schlief Dustin an diesem Abend ein. Doch mitten in der Nacht schreckte er hoch, zitternd und mit angstvoll klopfendem Herzen. Er sah seinen Großvater deutlich vor sich, als wäre er eben aus seiner Gruft auferstanden. Seine Stimme war nicht mehr als ein heiseres, schauerliches Krächzen.

»Du hast nicht fest genug an mich geglaubt, Dustin«, flüsterte der alte Mann. »Nur deshalb musste ich sterben. Du bist schuld an meinem Tod, dein Zweifeln hat mich verraten!« Giacomo di Ganzolis Worte brannten sich unwiderruflich in Dustins Kopf ein.

Selbst zwölf Jahre später verfolgte ihn der vorwurfsvolle Ausdruck in den Augen seines Großvaters noch. Und obwohl Dustin längst wusste, dass sie nur das Hirngespinst eines Siebenjährigen gewesen waren, hatten die Blicke seines Großvaters dunkle Spuren in seiner Seele hinterlassen. Spuren, die sich allen Ablenkungsversuchen zum Trotz nur oberflächlich beseitigen ließen, in denen sich in Wirklichkeit jedoch heimlich, in aller Stille und Langsamkeit, Angst ansammelte. Angst vor dem eigenen Tod.

Zwei

»May, bitte! Hast du denn alles vergessen? Wir standen uns einmal so nahe, wir haben uns geliebt, haben eine Menge füreinander riskiert … Ich weiß, ich habe Fehler begangen. Ich habe dir unrecht angetan und ich wünschte, ich könnte es ungeschehen machen! Ich schwöre dir, das alles tut mir schrecklich leid. Aber von jetzt an werde ich aus deinem Leben verschwinden und nie wieder auch nur in deine Nähe kommen …«

»Schweig!«, unterbreche ich ihn. »Du hattest deine Chance, Dustin. Aber du hast dich dafür entschieden, eine blutrünstige Bestie zu werden. Du hast dir Simon als Opfer ausgesucht, um mein frisch gewonnenes Glück zu zerstören. Du konntest es nicht ertragen, dass ich meine wahre Liebe gefunden hatte und wieder Mensch sein durfte. Aber nun bin ich an der Reihe, mich zu rächen. Ich habe lange auf diesen Moment gewartet. Ich will unbarmherzig sein. Ich will dich leiden sehen. Ich will, dass du durch die Hölle gehst!«

»May, bitte …«

»Nein! Es ist zu spät, es ist zu spät, zu spät, zu spät!«, singe ich und lache. Ich lache und lache! Dieses Bild vor mir ist so wunderbar, so befriedigend, ich will tanzen, vor Freude springen. Gleich wird seine Verwandlung beginnen. Ich setze mich neben sein Gefängnis und blicke zu ihm hinab. Und tatsächlich … Durch Dustins Körper geht ein Ruck und alle Farbe weicht aus seinem Gesicht.In rasanter Geschwindigkeit verdörrt es und schrumpft zusammen, bis es seine schöne Form, seine ebenmäßigen Züge verloren hat. Ich staune, lächle fasziniert beim Anblick dieses lang ersehnten Grauens. Die letzte Feuchtigkeit rinnt traurig sein Kinn herab, bis sich nur noch rissige Haut und Sehnen um seinen Schädel spannen und seine Augen grau und stumpf in dunklen Höhlen liegen, wie trockene, ausgeglühte Kohlen. Ein letztes schwaches Flehen glimmt darin auf.

»May, bitte …«

Winselnd streckt er mir seine zitternde, knochige Hand entgegen, seine Stimme ist nur mehr ein heiseres Hauchen. Aber ich trete nur nach ihm, springe auf und lache. Ich lache, lache, lache …

May fuhr von ihrem Bett hoch. Ihr Nachthemd klebte an ihrem Körper und der Raum kam ihr unerträglich heiß und stickig vor. May riss das Fenster auf und lehnte sich in die frische Dunkelheit hinaus. Mit geschlossenen Augen atmete sie tief ein und aus, bis sich ihr Puls langsam wieder beruhigte. Sie hatte heute Abend nicht einschlafen wollen. Obwohl sie sehr müde gewesen war, hatte sie sich fest vorgenommen, wach zu bleiben. Aber vielleicht war dieser Traum eine letzte hilfreiche Übung gewesen. Eine Vorbereitung auf das, was bald passieren würde. »Ach, Simon«, flüsterte May und ihre Finger umklammerten den roten tropfenförmigen Stein, der an einem schwarzen Lederband hing. »Simon, bitte hilf mir heute Nacht bei meinem Vorhaben, damit ich endlich Ruhe finde, damit wir endlich Ruhe finden.«

Mays Erinnerungen an Simon waren fast immer dieselben. Sie sah sein lachendes Gesicht vor sich, vernahm seine warme Stimme und blickte in seine klaren grünen Augen. Aber die Gefühle, die diese Bilder in ihr auslösten, waren unberechenbar. Manchmal schlief May selig und mit einem Lächeln auf den Lippen ein, wenn sie an Simon dachte. Ihr war dann, als läge er neben ihr und begleite sie in den Schlaf. Aber seit einiger Zeit schmerzten sie die Erinnerungen an ihre kurze gemeinsame Zeit so sehr, dass sie glaubte, daran zu zerbrechen. Oft hatte sie nachts Träume, in denen sie Hass und den Drang nach Rache verspürte. Bis vor Kurzem waren May solche Gefühle fremd gewesen. Doch mittlerweile bemächtigten sie sich ihrer sogar tagsüber, als hätten sie sich das Recht dazu nach langer Zeit des Abwartens erkämpft. May wollte Dustin wehtun, ihn leiden sehen. Dustin, Simons Mörder, der ihr Glück zerstört hatte. Vor vielen Jahren hatte May geglaubt, Dustin zu lieben. Wie naiv sie gewesen war! Dustin, dieses Scheusal, das nun auch noch ihre einzige Freundin in seinen Bann gezogen hatte. Er würde Sarah ins Unglück stürzen, wenn May nichts dagegen unternahm. Ihre geträumten Rachefeldzüge waren in den letzten Wochen immer brutaler geworden, und oft war May schreiend und mit laut klopfendem Herzen aufgewacht. Sie hatte sich vor sich selbst geekelt. Aber auch das hatte allmählich nachgelassen und May wusste nicht mehr, wozu sie tatsächlich fähig sein würde, wenn sie Dustin wieder begegnete. Sie hatte in ihren Träumen Freude verspürt, wenn sie ihn jagte und in die Enge trieb, hatte ein Hochgefühl dabei empfunden, wenn er sich in ein winselndes Nichts verwandelte und sie ihn dabei auslachte. Sie hatte bereits alle erdenklichen Schreckensbilder geträumt, war mit allen möglichen Varianten seiner Vernichtung vertraut. Sie war vorbereitet auf die Grausamkeit, die ihr Vorhaben mit sich bringen würde, und sie würde sich nicht erweichen lassen – weder von Dustins Flehen, noch von seinen Entschuldigungen. Sie würde nicht überwältigt und umgestimmt werden von plötzlichem Mitleid, denn sie hatte in ihren Träumen geübt, sich an seinem Leiden und Dahinsiechen zu erfreuen.

Wenn Du nach wie vor Gefühle für mich hast und glaubst, Deine Liebe ist stark genug, dann komm in der Nacht von Freitag auf Samstag um Mitternacht zum alten Steinbruch am Waldrand. Von dort aus wird Dich eine Fährte zu mir führen. Du kannst sie nicht verfehlen …

May hatte nicht genügend Zeit gehabt, den ganzen Brief zu lesen, als er Sarah aus der Manteltasche gefallen war, aber dennoch waren ihr ein paar Zeilen ins Auge gestochen. Die entscheidenden Zeilen. Dustin hielt sich anscheinend in der Nähe des Steinbruches auf und wollte Sarah treffen. Morgen Nacht. Aber sie, May, würde sich schon heute auf den Weg machen und nach einer Spur zu seinem Versteck suchen. Vielleicht hatte sie Glück und konnte ihren Plan endlich in die Tat umsetzen.

May hatte seit seinem Verschwinden geahnt, dass Dustin noch in der Nähe war, und nun hatte sie endlich einen konkreten Hinweis erhalten – vielleicht durch Zufall, vielleicht aber auch, weil es doch so etwas wie Schicksal oder Gerechtigkeit gab. May bekam die Chance, Rache zu nehmen, und sie würde sie ergreifen. Es war ihre Pflicht, Dustin für alle Ewigkeit unschädlich zu machen. Für sich, für Simon und für Sarah.

May blickte auf ihre Armbanduhr: halb zehn.

»Es wird Zeit, Simon«, flüsterte May und küsste den roten Anhänger. »Wir sollten uns auf den Weg machen.«

»Was ist mit ihr? Kann es sein, dass … Ich meine, sie sieht aus, als wäre sie –«

»Nein, verdammt, sie ist nicht tot! Sie ist nur … ohnmächtig. Jonathan, ich kann mir vorstellen, wie seltsam das hier auf dich wirken muss, aber es gibt für alles eine Erklärung, glaub mir.«

Jonathan nickte zögerlich. »Okay, wir können später noch darüber reden. Erst einmal muss sie von hier weg, sie ist ja schon völlig durchgefroren.«

Sarahs Hände waren eiskalt und im bleichen Mondlicht wirkte ihr Gesicht wie versteinert. Um sie herum war es totenstill, so als würde der Wald jedes Geräusch verschlucken.

Dustin blickte sich nervös um. Er versuchte, seine Gedanken zu sortieren. Es war alles so schnell gegangen. Er hatte zunächst gar nicht realisiert, dass es Jonathan gewesen war, der ihn und Sarah aus der Grube befreit hatte.

Jonathan hatte recht: Sie mussten Sarah so schnell wie möglich aus dem Wald schaffen. Wer wusste schon, wo SIE sich gerade aufhielt und wann sie wieder an der Grube auftauchen würde, um nach Dustin zu sehen? Die Frage war nur, wohin sie Sarah jetzt auf die Schnelle bringen sollten?

Und vor allem – an welchem Ort war sie im Moment vor IHR sicher?

»Jonathan, bitte hör mir jetzt genau zu«, flüsterte Dustin eindringlich. Er musste seinen Schulkameraden unbedingt auf seiner Seite haben. »Es ist wichtig, dass niemand erfährt, was hier geschehen ist und wohin wir Sarah bringen, hörst du? Selbst wenn dir das alles merkwürdig erscheint und dir sicherlich viele Fragen im Kopf herumschwirren – sprich mit niemandem darüber, okay? Wir müssen sie an einen Ort bringen, wo sie bleiben kann, bis es ihr besser geht. Ihrer Mutter lassen wir irgendeine Nachricht zukommen, in der steht, dass sie übers Wochenende bei einer Freundin übernachtet oder so etwas in der Art. Sie darf sich auf keinen Fall Sorgen machen und auf die Idee kommen, nach ihr zu suchen. Sarah gerät sonst in große Schwierigkeiten.«

Jonathan betrachtete Dustin ein paar Sekunden lang schweigend, dann runzelte er verständnislos die Stirn und öffnete langsam die Lippen, als wolle er nachhaken. Dustins Puls raste vor innerer Anspannung.

»Ja, ich glaube, du hast recht«, erwiderte Jonathan schließlich knapp.

Dustin konnte seine Verwunderung kaum verbergen. War Jonathan nur taktvoll oder interessierte es ihn tatsächlich nicht, was hier vorgefallen war?

Skeptisch fixierte er sein Gegenüber, aber dessen Miene verriet nichts.

»Wahrscheinlich ist es das Beste, wenn vorerst niemand von der Sache Wind bekommt«, ergänzte Jonathan dann, mehr, als spräche er zu sich selbst. »Die Lage ist auch so schon kompliziert genug.« Dann fügte er nach einer kurzen Pause hinzu: »Ich hab eine Idee, wo wir Sarah verstecken können. Los, komm! Je eher wir sie von hier wegbringen, desto besser.«

Dustin bückte sich, um Sarah vom Waldboden zu heben, aber sein verletztes Bein machte ihm noch immer zu schaffen und er fand nur schwer Halt.

»Lass mich das lieber machen!« Jonathan schob Dustin beiseite und nahm Sarah auf seine Arme, als sei sie leicht wie eine Feder. Er betrachtete ihr regloses Gesicht und strich ihr behutsam eine Haarsträhne aus der Stirn. Dustin spürte einen schmerzhaften Stich und augenblicklich flammten auch die anderen Bilder wieder in seinem Kopf auf. Sarah und Jonathan, wie sie sich auf der Straße umarmten – zu lange und zu innig. Groll stieg in Dustin auf, unsägliche Abneigung gegenüber Jonathan. Aber gleichzeitig fühlte er sich selbst schuldig. Er hätte früher aus Rapids verschwinden sollen, gleich nach Annas Tod, dann wäre es gar nicht zu dieser Situation gekommen.

»Sag mal, was hattest du heute überhaupt mitten im Wald zu suchen, Jonathan? Du bist doch sicher nicht zufällig vorbeigekommen.« Dustin konnte den provokanten Unterton in seiner Stimme nicht verbergen und ärgerte sich bereits im selben Moment über seine Frage, die einfach aus ihm herausgeplatzt war.

Jonathan lachte bitter und marschierte sicheren Schrittes los. Sarahs Gewicht schien ihm dabei nicht das Geringste auszumachen.

»Nachdem du nach Annas Tod einfach verschwunden warst, ohne Sarah eine Nachricht zu hinterlassen, war sie ziemlich fertig«, antwortete er schließlich. »Sie hat sich bei mir ausgeheult. Aus irgendeinem Grund hatte sie wohl angenommen, da sei mehr zwischen euch und das mit dir und Anna hätte keine große Bedeutung gehabt.« Jonathan warf Dustin einen geringschätzigen Blick zu. »Um ehrlich zu sein, habe ich selbst auch nicht so ganz verstanden, was Anna und du für eine Art Beziehung hattet. Erst flirtest du mit Sarah, aber kurz darauf bist du mit Anna zusammen. Dass du noch nicht einmal zu Annas Beerdigung erschienen bist, war übrigens mehr als schwach, aber das brauche ich dir wohl nicht extra zu sagen. Na, jedenfalls … Sarah und ich haben seitdem viel Zeit miteinander verbracht. Für heute Abend waren wir eigentlich auch verabredet, bevor … das hier dazwischen gekommen ist.«

Jonathan schwieg und Dustins Magen krampfte sich zusammen. Es war klar, was hier ablief. Jonathan wollte ihn quälen und gleichzeitig provozieren. Dabei wusste er genau, wieviel Dustin an Sarah lag. Dustin riss sich zusammen. Er durfte sich jetzt nicht von Jonathan aus der Fassung bringen lassen. Nur so hatte er eine Chance zu erfahren, weshalb Sarah nach ihm gesucht hatte. Dustin ballte seine Hände zu Fäusten und konzentrierte sich darauf, möglichst ruhig zu wirken, während sie weitergingen.

Mehrere Minuten verstrichen, ohne dass einer von ihnen etwas sagte. »Tja, plötzlich hat Sarah kurzfristig abgesagt«, sprach Jonathan endlich weiter. »Sie schien am Telefon ziemlich durcheinander und natürlich habe ich mir Sorgen gemacht. Ich wollte wissen, was sie so Wichtiges vorhatte, bin zu ihrem Haus gefahren und ihrem Auto gefolgt. Das war alles. Anfangs hatte ich keinen blassen Schimmer, was sie beim Steinbruch zu suchen hatte. Und dann habe ich auf dem Gelände auch noch ihre Spur verloren. Aber plötzlich hörte ich aus der Entfernung Stimmen und bin schließlich zu dieser Grube gelangt. Zum Glück … Wer weiß, was ihr sonst noch zugestoßen wäre.«

Dustin schielte zu Jonathan hinüber. Was hatte diese letzte Bemerkung zu bedeuten? Nahm er etwa an, dass Dustin Sarah etwas hatte antun wollen?

In Dustins arbeitete es. Er musste jetzt höllisch aufpassen, was er sagte. Wenn er die Nerven verlor und ausrastete, lieferte er Jonathan am Ende noch mehr Gründe, ihm zu misstrauen. Aber er musste irgendwie auf das Gesagte eingehen.

 »Also, ich … ich habe für einige Tage eine Hütte in der Nähe des Steinbruches gemietet«, begann er. »Ich musste den Kopf freibekommen nach der Sache mit Anna. Wir waren eigentlich gar kein richtiges Paar mehr zu dem Zeitpunkt, als sie … gestorben ist. Wir haben uns zwar nach wie vor ganz gut verstanden, aber mehr war nicht. Trotzdem hat mich ihr Tod ziemlich aus der Bahn geworfen.« Dustin räusperte sich. »Immerhin … hatte ich gerade erst das mit meiner … anderen Freundin hinter mir.«

Jonathan erwiderte nichts und ging einfach weiter.

»Na ja, ich dachte mir natürlich, dass Sarah mein Verhalten verwirrt haben musste«, erklärte Dustin weiter. »Immerhin wäre kurz davor beinahe etwas zwischen uns passiert.« Er beobachtete Jonathan, doch dieser hielt seinen Blick nach wie vor starr geradeaus gerichtet. »Deshalb habe ich ihr vor ein paar Tagen eine Nachricht zukommen lassen, in der stand, dass es mir gut ginge, dass ich nur etwas Zeit für mich bräuchte. Dass ich mir über vieles klar werden müsste … Auch über meine Gefühle. Ich hatte keine Ahnung, dass sie das zum Anlass nehmen würde, nach mir zu suchen.« Dustin hoffte inständig, dass Jonathan ihm diese Geschichte abkaufte.

Er holte tief Luft. »Heute Abend bin ich spazieren gegangen und in diese verdammte Grube gestürzt. Sarah muss meinen Schrei gehört haben und hat mich schließlich gefunden. Aber als sie mir heraushelfen wollte, ist sie selbst hinuntergefallen und hat sich verletzt.«

Der Waldboden knirschte unter ihren Schritten. Eine Zeit lang sagte wieder niemand etwas und Dustin konnte nicht einschätzen, was Jonathan dachte. Natürlich musste er sich fragen, was Dustin mitten im Dickicht, jenseits aller Wege, zu suchen gehabt hatte. Aber auch jetzt hakte er nicht nach. Seltsam, diese Zurückhaltung bin ich von Jonathan gar nicht gewohnt, dachte Dustin, auch wenn er im Moment froh darüber war, dass er sich nicht weiter um Kopf und Kragen reden musste.

»Verletzt … Ihr hätte noch Schlimmeres zustoßen können«, murmelte Jonathan schließlich verächtlich.

Dustin konnte den Vorwurf deutlich heraushören, doch er ging nicht auf die Bemerkung ein. Ihm war bewusst, dass Jonathan keine besonders hohe Meinung von ihm hatte, aber das beruhte auf Gegenseitigkeit. Obwohl Jonathan ihnen vorhin aus der Grube geholfen hatte, wusste Dustin nicht genau, was er von ihm halten sollte. Eigentlich hatten sie sich am Anfang ganz gut verstanden. Aber nachdem klar geworden war, dass sie beide an Sarah interessiert waren, hatte sich ihr Verhältnis schlagartig geändert. Am liebsten hätte Dustin Sarah aus Jonathans Armen gerissen. Es passte ihm nicht, dass der blonde Sunnyboy Sarah so nahe sein durfte, während er selbst wie der Verlierer nebenhertrottete. Außerdem war es riskant: Jonathan konnte auf diese Weise leicht bemerken, dass Sarahs Herz nicht mehr schlug, obwohl sie noch atmete.

Aber sosehr Dustin Jonathan auch zum Teufel wünschte, er durfte ihn sich nicht durch unüberlegte Reaktionen zum Feind machen. Immerhin hatte Jonathan ihm unbewusst zur Flucht verholfen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis SIE Dustin vermisste – spätestens morgen Nacht, wenn sie mit seiner grauenhaften Verwandlung rechnete. Und sie würde vor Wut kochen und alles unternehmen, um ihn erneut aufzuspüren. Jonathan musste unter allen Umständen den Mund halten und wenn sich Dustin dafür noch so sehr verbog und vor Eifersucht platzte. Eifersucht … Dustin hatte dieses Nagen, dieses Beißen seit Langem nicht gespürt. Seltsam, dieses Gefühl, dachte er. Unangenehm, beinahe so, als wäre man von Kopf bis Fuß vergiftet und doch … genoss Dustin dieses lang entbehrte, ungewohnte Empfinden. Denn Eifersucht bedeutete auch, dass jemand einem wichtig war. Wirklich wichtig.

»Wir müssen noch ein Stück links am Steinbruch vorbei. Dort steht mein Auto. Am besten fahren wir dann direkt zum Wohnheim.«

»Zum Wohnheim?« Dustin blieb abrupt stehen. »Dort sind wir doch am wenigsten sicher, ich meine … ungestört. Außerdem glaube ich nicht, dass Sarah –«

»Ich dachte an den Keller des Westtraktes. Da wird niemand nachsehen«, unterbrach Jonathan ihn knapp. »Dort sind nur Lagerräume voller Schrott.«

Dustin widersprach nicht. Ihm fiel keine bessere Alternative ein und vielleicht war Jonathans Vorschlag tatsächlich gar nicht so schlecht. Er musste ohnehin erst abwarten, bis Sarah aufwachte, bevor er über die nächsten Schritte nachdenken konnte.

Ohne ein weiteres Wort zu wechseln, liefen sie weiter Richtung Steinbruch. Immer wieder drehte sich Dustin um und versuchte, die Umgebung im Blick zu behalten. Aber seit sein Herz durch Sarahs Blut wieder schlug, hatte die Schärfe seiner Sinne merklich nachgelassen, was ihm ein Gefühl von Unsicherheit gab. Seine Augen konnten die Dunkelheit kaum noch durchdringen, sie war wie ein dicker schwarzer Vorhang, der alles verdeckte und jede Gefahr tarnte. Auch sein Gehör und sein Geruchssinn waren stark beeinträchtigt. Dustin konnte nur hoffen, dass sie nicht bereits beobachtet wurden – von jemandem, der es nur darauf anlegte, ihnen Schaden zuzufügen. Wenn SIE angriff, würde auch Jonathan ihnen nicht mehr helfen können.

Nein, sie hatte sich nicht getäuscht. Es waren Schritte, die aus dem Wald kamen, ganz eindeutig. Und sie bewegten sich in ihre Richtung. May blieb stehen und verhielt sich ruhig. Beinahe hätte sie schon aufgegeben, da sie auch nach einer Stunde Suchen keinerlei Anzeichen entdeckt hatte, die auf Dustins Verbleib hindeuteten. Aber nun glomm die Hoffnung wieder in ihr auf. Vielleicht war sie doch nicht umsonst hergekommen. Sie atmete so leise wie möglich und betete, dass sie auf dem Kiesboden des verlassenen Steinbruchgeländes keine Geräusche verursacht hatte, die ihren Standort verrieten. Sie konzentrierte sich mit all ihren Sinnen. Ja, da war jemand, ganz in ihrer Nähe. Wahrscheinlich ging Dustin auf Beutezug. Und sie war auf ihr Zusammentreffen vorbereitet. Mit feuchten Fingern tastete May nach ihrem Lederband mit dem roten Anhänger. Damit würde sie ihn von hinten überraschen und drosseln. Mit dem Zeichen ihres gegenseitigen Versprechens, sich stets an ihre Menschlichkeit, ihre Herkunft zu erinnern, um sich niemals zu verlieren und dem Drang nach Menschenblut nachzugeben. Dustin hatte sein Versprechen gebrochen, er hatte es vergessen und seinen Blutdurst gestillt, bis er auch den letzten Rest Moral verloren hatte. Und nicht nur das – er hatte auch Mays Leben zerstört. Mays Finger umklammerten das Lederband. Zwar würde Dustin dadurch nicht ersticken, aber das war auch nicht Sinn der Sache. May wollte, dass er litt. Er würde bewusstlos werden und sie hätte Zeit, ihn zu fesseln und an einen Ort zu schleifen, an dem ihn niemand so leicht finden würde. Und dann würde sie ihn in seinem Gefängnis dem Schicksal überlassen. Er würde nach ein paar Tagen ausgehungert und auf alle Zeiten eingeschlossen sein, schwach und wehrlos und mit ewigem Lechzen nach Leben. May lief bei dieser Vorstellung ein Schauer über den Rücken. Würde sie so etwas tatsächlich fertigbringen? Doch dann dachte sie an die letzten schrecklichen Bilder von Simon, die sie für immer verfolgen würden: an seinen blutleeren Körper und den stummen, entsetzten Blick in seinen schönen Augen. Tränen der Wut stiegen in May empor. Nein, sie tat nichts Unrechtes. Dustin würde lediglich das bekommen, was er schon längst verdiente.

Die Geräusche kamen immer näher. Dustin konnte nicht mehr weit sein. Mays Herz begann vor Aufregung laut zu klopfen. Sie hatte gelernt zu jagen, und obwohl sie sich seit ihrer Rückverwandlung nicht mehr so schnell und zielstrebig in der Dunkelheit bewegen konnte, fand sie sich nach wie vor gut zurecht und wusste genau, wie sie vorgehen musste, um ein Lebewesen zu überwältigen. Aber auch Dustin war geübt und ihr mit seinen Fähigkeiten weitaus überlegen. Also durfte sie nicht voreilig handeln. Sie musste reglos abwarten, bis Dustin ein paar Meter an ihr vorüber war, und sich dann im Rhythmus seiner Schritte von hinten annähern, damit er nicht von irgendwelchen Lauten … May erschrak. Das konnte nicht nur eine Person sein. Jetzt, wo sie die Schritte mit jeder Sekunde deutlicher vernahm, fiel ihr die Unregelmäßigkeit der Geräusche auf. Es mussten mindestens zwei Personen sein, die am Rand des Steinbruchs auf sie zukamen.

Schließlich stoppten die Schritte abrupt. May hielt die Luft an und lauschte angestrengt. Sie starrte in die Richtung, wo die Geräusche verebbt waren, konnte aber nichts erkennen. Dann vernahm sie ein leises Murmeln. Kurz darauf ein Quietschen, als würden Autotüren geöffnet und dann wieder zugeschlagen. Ein Motor heulte auf. Ohne Licht brauste der Wagen los. Erst nach einigen Metern, kurz bevor er in der nächsten Kurve verschwand, blendeten die Scheinwerfer auf und May hielt sich schützend die Hand vor die Augen. Trotzdem glaubte sie, das Auto erkannt zu haben: einen silbernen Chrysler.

Jonathan kehrte voll beladen in den Kellerraum zurück, den sie als Notquartier ausgewählt hatten. Zwar stand ziemlich viel Gerümpel dort herum, aber immerhin gab es Licht und nebenan befand sich ein kleiner Waschraum mit Toilette und fließendem Wasser.

»Am besten legen wir sie auf die Matratze da drüben. Ich habe noch ein paar Decken, Schokoriegel und etwas zu trinken mitgebracht. Sie muss sich stärken, wenn sie aufwacht. Hat sie sich mittlerweile schon bewegt?«

Dustin schüttelte den Kopf. »Nein, aber sie atmet zum Glück gleichmäßig.«

»Hoffentlich wacht sie bald auf, sonst –« Jonathan beendete seinen Satz nicht, aber der Groll in seiner Stimme war nicht zu überhören. Groll und … eine versteckte Drohung? Dustin blickte Jonathan scharf an, aber dieser wandte sich von ihm ab und begann, ein paar Kisten und alte Wohnheimmöbel beiseitezuschieben, sodass zumindest in einer Zimmerhälfte Platz war. Wortlos errichteten sie dort ein Lager für Sarah, legten sie vorsichtig auf die Matratze und deckten sie zu. Sie zuckte noch nicht einmal mit den Augenlidern.

Wie zerbrechlich sie aussieht, dachte Dustin. Und dabei hat sie schon so viel Stärke und Mut bewiesen.

Jonathan tastete Sarahs Mantel ab, den sie ihr ausgezogen hatten, damit sie besser Luft bekam.

»Was machst du da?«

Jonathan zog Sarahs Handy aus der Manteltasche hervor. »Wir sollten ihrer Mutter eine Nachricht schreiben. Das hattest du doch selbst vorgeschlagen, oder?« Jonathan klang herausfordernd, aber Dustin bemühte sich, ruhig zu bleiben. Er blickte Jonathan über die Schulter, der zu tippen begann:

Hi, Mom! Würde gerne übers Wochenende bei May bleiben. Wir haben ziemlich viel für die Schule zu tun. Ist das okay? Liebe Grüße, Sarah

»Was meinst du, klingt das nach ihr?«

Dustin zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, das ist in Ordnung.«

Jonathan drückte auf Senden. »Ihre Mom arbeitet ziemlich viel, oft auch an den Wochenenden. Wahrscheinlich wird sie gar nicht groß nachfragen.«

Dustin ärgerte sich über die Selbstverständlichkeit, mit der Jonathan das sagte. Der Typ tat gerade so, als ginge er täglich bei Sarah und ihrer Mom ein und aus und wäre bestens über ihre Lebensgewohnheiten informiert. Aber was Dustin am meisten wurmte, war die Tatsache, dass dies möglicherweise sogar stimmte. Wer wusste, wie oft Jonathan Sarah schon besucht hatte, während er selbst in seiner dunklen Waldhütte gesessen und überlegt hatte, wie es zwischen ihnen weitergehen sollte.

»Können wir sonst noch irgendetwas für sie tun?« Jonathans Frage riss Dustin abrupt aus seiner düsteren Grübelei.

»Nein, ich glaube nicht. Sie muss sich einfach ausruhen, dann wird sie hoffentlich bald wieder zu Kräften kommen. Du musst hier nicht warten, ich mach das schon.« Dustin wollte Jonathan endlich loswerden, obwohl er ahnte, dass das nicht so einfach werden würde. Umso mehr wunderte er sich, als Jonathan sagte: »Okay, dann werde ich jetzt in mein Zimmer gehen, ich bin echt fertig. Sobald es Probleme gibt und sich ihr Zustand verschlechtert, gib Bescheid. Oder auch, falls du mal wegmusst. Du weißt ja, wo du mich findest.«

»Ja, ist gut.«

Bevor Jonathan den Raum verließ, drehte er sich noch einmal zu Dustin um. »Wenn dir so viel an ihr liegt, warum bist du dann nicht für sie da, wenn sie dich braucht?«, fragte er leise. »Warum hast du dich hinter einer Beziehung mit einem Mädchen versteckt, das du gar nicht liebst? Wieso hast du dir Anna als Alibi gesucht, um nicht mit Sarah zusammen sein zu müssen?«

Diese plötzliche Direktheit überrumpelte Dustin. Er starrte Jonathan erst entsetzt an, dann senkte er den Blick.

»So war es doch, oder?« Jonathan schüttelte verständnislos den Kopf. »Wenn du dich insgeheim bereits gegen Sarah entschieden hast – aus welchen Gründen auch immer –, dann solltest du sie ein für alle Mal in Frieden lassen und ihr nicht immer wieder falsche Hoffnungen machen. Das ist mehr als unfair. Noch hast du die Wahl, in diesem Fall das Richtige zu tun.«

»Sarah ist mir nicht egal«, murmelte Dustin leise. »Sie ist mir ganz und gar nicht egal. Ich weiß nur nicht, ob ich –«

»Ja?«

»Ach, was soll’s …« Dustin fuhr sich durch die Haare. »Du verstehst das alles nicht. Für dich scheint es nur ein Entweder und ein Oder zu geben.«

»Und? Ist das so falsch?«

Dustin schüttelte den Kopf. »Ich finde eben nur, dass man mit der Liebe vorsichtig sein sollte und nicht leichtfertig oder voreilig damit umgehen darf. Sarah hat jemanden verdient, der sie wirklich glücklich macht.«

Jonathan lachte bitter auf. »Ach, was du nicht sagst. Und was sollte ich daran bitte schön nicht verstehen? Was diesen einen Punkt betrifft, sind wir uns einig. Die Frage ist nur, wer sie tatsächlich glücklich machen kann und wer sie mit seinen leeren Versprechungen nur ins Unglück stürzt.«

Einen Augenblick blieb Jonathan noch an der Tür stehen, aber Dustin vermied es nach wie vor, ihn anzusehen. Hitze stieg ihm in die Wangen und am liebsten wäre er auf Jonathan losgegangen. Warum bildete der Kerl sich ein, ihn zu kennen, und glaubte, ihm Moralpredigten halten zu müssen? Aber es wäre äußerst unklug, jetzt mit Jonathan in Streit zu geraten, wo Sarah gerade in Sicherheit war.

Schließlich fiel die Tür ins Schloss und Jonathans Schritte entfernten sich. Dustin atmete erleichtert auf und entspannte sich. Endlich war er mit Sarah allein und konnte seine Gedanken sortieren. Er setzte sich neben sie, um behutsam seine Hand auf ihr Herz zu legen. Nein, es tat sich nichts, er hatte sich vorhin nicht geirrt. Sarahs Herz war verstummt – von jenem Moment an, in dem das seine angefangen hatte zu schlagen. Sie hatte ihm zu viel Blut gegeben, wenn auch nicht so viel, dass sie gestorben war. Sie atmete, schlief den festen traumlosen Schlaf, den auch er, Dustin, einst geschlafen hatte, nachdem SIE ihm sein Blut genommen hatte. Sarah schlummerte der Ewigkeit entgegen und Dustin hatte sie nicht davor bewahren können. Wut und Verzweiflung stiegen in ihm hoch. Bald würde sie erwachen und ihr zierlicher Körper wäre nur noch eine Hülle ohne Leben, erfüllt von grauenhafter Kälte. Das würde ihr Angst machen. Dustins eigenes Herz verkrampfte sich bei dieser Vorstellung. Wie um sie zu wärmen, legte er sich neben sie und schmiegte sich an sie, die Arme um ihren Körper geschlungen. »Ich würde dich so gerne vor dieser Kälte beschützen, Sarah«, flüsterte er. »Du hast sie nicht verdient, du bist ein so warmherziger Mensch.«

Plötzlich sah Dustin etwas aus Sarahs Hosentasche ragen. Er zog es hervor. Es war ein zusammengefaltetes Papier, das schon ziemlich zerknittert aussah. Dustin zögerte. Es missfiel ihm, ohne Sarahs Erlaubnis in ihren privaten Dingen herumzustöbern, aber vielleicht war dies ein nützlicher Hinweis. Mit klopfendem Herzen faltete Dustin den Zettel auseinander. Es war ein Brief.

Liebe Sarah!

Ich ahne, wie sehr Dich das, was in den letzten Tagen geschehen ist, verwundern und erschrecken muss. Ich würde Dir gerne alles selbst erklären, aber …

Dustins Blick hing fassungslos an diesen ersten Zeilen fest. Das waren seine Worte an Sarah, sein Versuch, ihr zu erklären, weshalb er fortmusste, dass er sie nicht länger gefährden wollte. Aber … dies hier war nicht seine Handschrift. Dustins Gedanken fuhren Karussell. Ja, er erinnerte sich. Sarah hatte vorhin tatsächlich einen Brief erwähnt, hatte behauptet, eine Botschaft von Dustin erhalten zu haben. Dustin schauderte. SIE musste diesen Brief geschrieben und ihn Sarah gebracht haben, SIE war in ihrer Straße und vor ihrem Haus gewesen, nur ein paar Meter von Sarah entfernt. Allein die Vorstellung ließ Dustin wahnsinnig vor Angst werden. Er musste sich förmlich zur Ruhe zwingen, um endlich weiterlesen zu können.

… wir müssen vorsichtig sein. Keiner darf uns belauschen, niemand darf uns zusammen sehen, denn es gibt mächtigere Wesen als mich. Sie kennen sich in der Ewigkeit besser aus und täten nichts lieber, als uns und unsere Liebe zu vernichten. Ich habe einst ein falsches Versprechen abgegeben – früher, lange vor Deiner Zeit. Ich habe eigennützig gehandelt, ohne Rücksicht auf diejenigen, die es ehrlich mit mir gemeint haben. Ich war ein Heuchler der schlimmsten Sorte, Sarah. Dies solltest Du wissen, denn es ist der Grund, weshalb ich beschattet werde, weshalb man mich bedroht und verfolgt.

Ich will jedoch nicht, dass Dir etwas zustößt, ich möchte Dich schützen. Du und ich – wir haben eine Chance, unsere Liebe hat eine Chance. Aber wir müssen uns an einem geheimen Ort treffen und wir dürfen nicht mehr lange warten. Die Zeit läuft uns davon …

Wenn Du nach wie vor Gefühle für mich hast und glaubst, Deine Liebe ist stark genug, dann komm in der Nacht von Freitag auf Samstag um Mitternacht zum alten Steinbruch am Waldrand. Von dort aus wird Dich eine Fährte zu mir führen. Du kannst sie nicht verfehlen.

Sprich mit niemandem über diesen Brief und lass Dich von keiner Menschseele blenden und täuschen. Manchmal können Augen lügen, das habe ich gelernt.

Nur eines noch, bevor wir uns endlich wiedersehen: Ich bin dankbar dafür, dass wir einander kennenlernen durften. Du hast mir einen kostbaren Moment Deines Lebens geschenkt und ihn zu dem schönsten meines Daseins gemacht.

In Liebe

D.

PS: Bitte pass gut auf Dich auf und achte darauf, dass dieser Brief nicht in falsche Hände gerät.

Dustin ließ den Brief sinken und lehnte sich matt gegen die kalte Kellerwand. SIE hatte seine Zeilen abgeändert. Sie hatte Sarah mit dem Brief zu ihm führen wollen, um ihr vor seinen Augen etwas anzutun. Sarah sollte dabei zusehen, wie sich Dustin vor Hunger veränderte, wie er zu einer wehrlosen, hässlichen Kreatur mutierte. IHR Vorhaben war ausgeklügelt und eiskalt, so, wie er erwartet hatte. Aber – Dustin überflog die Zeilen noch einmal – Sarah war einen Abend zu früh gekommen und hatte damit wahrscheinlich IHREN Plan durchkreuzt. Irgendetwas hatte Sarah dazu bewogen, nicht länger abzuwarten, sondern schon früher in Richtung Steinbruch aufzubrechen. Dafür hatte sie ihre Verabredung mit Jonathan abgesagt und nur deshalb war dieser ihr gefolgt und hatte sie beide rechtzeitig retten können. Es kamen so viele Zufälle zusammen, beinahe zu viele. Und dennoch – genauso musste es sich abgespielt haben. Sie hatten wohl gerade noch einmal Glück gehabt. Zumindest was ihre Flucht vor Emilia betraf. Sarahs Zustand hingegen …

Plötzlich holte Sarah neben ihm schwer Luft und drehte seufzend ihren Kopf auf die andere Seite. Ihre Augen blieben jedoch geschlossen. Dustin beugte sich über sie und streichelte ihr zärtlich übers Haar.

»Sarah? Sarah … Ich bin bei dir, hörst du? Ich bin bei dir. Bitte erschrick nicht, wenn du aufwachst. Egal, was auch geschieht und welche Fragen dich quälen werden, ich bin immer für dich da. Bis in alle Ewigkeit …« Dustin blickte in Sarahs schlafendes Gesicht. Noch sah es so friedlich aus, aber schon bald würden Angst und Enttäuschung in ihren Augen stehen. Sarah hatte an ihn geglaubt, hatte seine Gefühle für wahr gehalten. Und er hatte im Stillen selbst gehofft, dass sie recht hatte und noch genügend von ihm und seiner Seele übrig geblieben wäre, um sie wahrhaft lieben zu können.

»Warum hast du das nur getan, Sarah? Warum hast du mir dein Blut gegeben und mich nicht in meinem Rausch gestoppt? Du hättest sterben können … Warum hast du mir vertraut? Du wirst so enttäuscht von mir sein, wenn du in der Ewigkeit erwachst, du wirst mich hassen. Du wirst glauben, ich hätte dir tatsächlich diesen Brief geschrieben und dich hergelockt, um dich mit Absicht –«

Dustin zuckte zusammen, als plötzlich wie aus dem Nichts ein Bild vor ihm aufblitzte: grüne Augen, rotes Haar, spitze weiße Zähne, Tränen, ein Blick voller Zorn … Wie um diese Erscheinung wegzuwischen, fuhr er sich über die Augen, doch es gelang ihm nicht, sie loszuwerden. Im Gegenteil: Die Szene schien immer klarere Formen anzunehmen, immer länger zu verweilen und plötzlich begannen auch noch Stimmen in seinem Kopf laut zu werden …