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Ist es nur ein unbegründetes Gefühl der Angst oder wird die Detektivin Kirsten Stein von ihrer Vergangenheit eingeholt? Was hat es auf sich mit dem Tod ihrer Klienten und wer hat Kis Freundin gefoltert? Hauptkommissar Martin Bender weiß nicht, was er von der spröden Kampfsportlerin halten soll. Als erneut eine Klientin von Ki ermordet wird, gerät sie selbst in Verdacht. Doch während Kirsten versucht, ihre Unschuld zu beweisen, zieht sich die Schlinge immer enger zu. Dieser Roman ist eine überarbeitete Neuauflage von „Gottesgericht – Ki und die Schatten der Vergangenheit“. Für diesen Krimi erhielt die Autorin 2012 den 1. Leipziger Krimipreis.
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Cornelia Lotter
Blutangst
Ki und der Griff aus der Vergangenheit
1. digitale Auflage 2016
© 2016 Cornelia Lotter
Wiebelstraße 6, 04315 Leipzig
www.autorin-cornelia-lotter.de
E-Book Erstellung: mybookMakeUp.com
Covergestaltung: Tanja Prokop
unter Verwendung eines Fotos vonpexels.com
Alle Rechte vorbehalten!
Nachdruck, auch auszugsweise,
nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Über die Autorin
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
Ist es nur ein unbegründetes Gefühl der Angst oder wird die Detektivin Kirsten Stein von ihrer Vergangenheit eingeholt? Was hat es auf sich mit dem Tod ihrer Klienten und wer hat Kis Freundin gefoltert? Hauptkommissar Martin Bender weiß nicht, was er von der spröden Kampfsportlerin halten soll. Als erneut eine Klientin von Ki ermordet wird, gerät sie selbst in Verdacht. Doch während Kirsten versucht, ihre Unschuld zu beweisen, zieht sich die Schlinge immer enger zu.
Dieser Roman ist eine überarbeitete Neuauflage von „Gottesgericht – Ki und die Schatten der Vergangenheit“. Für diesen Krimi erhielt die Autorin 2012 den 1. Leipziger Krimipreis.
Cornelia Lotter wurde in Weimar geboren, wuchs in der Nähe auf und studierte in Meiningen Lehramt. Nach zwei Jahren im Schuldienst entschloss sie sich, einen Ausreiseantrag zu stellen und wechselte deshalb als Pflegerin in ein christliches Alterspflegeheim. 1984 durfte sie nach Tübingen übersiedeln, wo sie eine Umschulung zur Industriekauffrau absolvierte. Bis 2014 arbeitete sie als Sekretärin. Seit 2015 ist sie als Freie Autorin tätig.
"Blutangst" ist der 1. Fall für die Leipziger Ermittler Kirsten Stein und Martin Bender.
Cornelia Lotter veröffentlicht unter insgesamt 5 Pseudonymen sowohl in Verlagen als auch als Self-Publisherin.
Sie ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller, im Syndikat und im Selfpublisher-Verband.
Das Geräusch kam aus dem hinteren Teil der Halle. Erschrocken drehte Ki sich um. Gerade hatte sie den Eisenschlitten wieder über die Bodenluke gezogen. Das laute Scheppern des Metalls hallte in ihr nach und verursachte eine Gänsehaut. Die danach einsetzende Stille dröhnte in ihren Ohren. Doch da war dieses Klirren gewesen. Das Klirren von Glas.
Sie griff den Rattanstock am Butt und konzentrierte sich auf ihren Atem. Der Strahl der Taschenlampe schnitt eine Bahn in das Halbdunkel. Nichts. Hatte sie sich getäuscht? Ihr Gehör war - seit dieser Sache damals - darauf geschult, kleinste Geräusche wahrzunehmen. Und sie hatte das Gefühl, dass sich in der Halle noch jemand bewegte.
Doch auch im grellweißen Lichtfinger der Maglite, der über Scherbenberge, Metallteile und Holzpaletten glitt, war nichts zu sehen. Werde ich langsam paranoid?, fragte sie sich.
Morgensonne drang durch die wenigen halbblinden Überreste der Fensterscheiben und ließ auf ihren Strahlen die Staubkörnchen tanzen. Die dünnen Drähte ihrer selbstgebastelten Alarmanlage, die sich kreuz und quer durch die alte Fabrikhalle zogen, glänzten. Ki warf einen letzten Blick auf den Schlitten, der früher wohl zum Transport der schweren Stoffballen gedient haben mochte. Ihr Einstieg war gut verdeckt.
Sie schulterte ihren Rucksack und legte die zwanzig Meter bis zum Ausgang der Halle unter mehrfachem Umschauen zurück. Bevor sie das Vorhängeschloss öffnete, stellte sie den Stock hinter eine aufrecht neben der Tür stehende Palette.
»Fuck!«, entfuhr es ihr, als plötzlich ein warmes weiches Etwas um ihre Füße strich. Dann seufzte sie erleichtert. Es war nur die Katze. Und die könnte auch das Geräusch verursacht haben. Könnte.
»He du, lass das gefälligst! Ich hab keine Lust, wegen dir über meine eigenen Füße zu stolpern!«
Wütend über die Katze, die sie fast zu Fall gebracht hätte, schlug Ki die Tür der Halle zu, nachdem sie die Kette mit dem Schloss entfernt hatte. Auch ihre angestaute Angst entlud sich in der kraftvollen Armbewegung. Das laute metallische Geräusch erschreckte sie, und auch das Tier ließ ein Maunzen hören. Warum begriff die Katze nicht, dass ihre neue Herrin sich nicht freiwillig um sie kümmerte? Seine, berichtigte Ki sich selbst. Auf dem Fressnapf hatte Wotan gestanden und das wies ja wohl auf einen Kater hin. Doch letztlich interessierte Ki das Geschlecht der Katze nicht genug, um sie hochzuheben und zu versuchen, es eindeutig zu bestimmen. Wotan - was für ein Name! Und überhaupt: Waren Katzen nicht seit ewigen Zeiten darauf programmiert, sich ihr Fressen in Form von Mäusen selbst zu beschaffen? Daran sollte es hier in der Industriebrache nicht mangeln.
Als sie die Kette außen wieder angebracht hatte und den Schlüssel in das Vorhängeschloss steckte, wurde sie sich, wie fast jedes Mal, der Sinnlosigkeit dieser Handlung bewusst. Reine Selbstberuhigung, weitab jedes praktischen Nutzens. Wenn er in die Halle wollte, bräuchte er nur mit einer Leiter durch eines der zerbrochenen Fenster einsteigen. Oder einen Bolzenschneider für die Kette mitbringen, an der das Schloss baumelte. Kein Problem. Nicht für ihn.
Ki verdrängte die Gedanken, die sie in letzter Zeit wieder häufiger plagten. Dann sollte es eben so sein. Sie hatte ihr Leben in so großem Maße auf das Verstecken ausgerichtet, dass sie zeitweise aus lauter Trotz leichtsinnig wurde.
Auch die Ausstellung, zu der sie sich nun begab, vorbei am Kanal, hin zu der Alten Baumwollspinnerei, war nur einem Moment des Trotzes und dem Aufflammen ihres Wunsches nach einem normalen Leben geschuldet.
Als sie das erste Mal das Gelände mit seinen Backsteingebäuden und dem einzelnen Schornstein betreten hatte, war ihr klar gewesen: Hier wollte sie ihre Fotos ausstellen. Nach der Wende hatte dort die Künstlerszene Leipzigs ihr neues Zuhause gefunden. Und am Samstag würde in einer der vielen Galerien ihre erste Ausstellung eröffnet werden.
Ihr Weg führte sie vorbei am dichten Bewuchs, der zum Karl-Heine-Kanal hinunter wucherte und die einzelnen Pontonbrücken und Boote verdeckte, die dort ankerten. Brombeerbüsche, Holunder und Weiden. Metalltreppen ermöglichten den Bewohnern der neu gebauten Mehrfamilienhäuser oberhalb des Weges schnellen Zugang zum Wasser. Als die Saalfelder Brücke in Sicht kam, über der die gleichnamige Straße entlangführte, wandte sich Ki nach rechts und bog nach einigen Metern in die Spinnereistraße ein. Am Scheitelpunkt der Straße, kurz vor der Bahnunterführung, stand ein verfallenes Gebäude, auf dem weiße Tafeln die Schriftzüge Leipziger Baumwollspinnerei trugen. Nach wenigen Metern trat sie durch das Eingangstor auf das Gelände.
Als Ki die Tür zur Galerie aufzog, fiel das Gefühl der Bedrohung von ihr ab. Und obwohl die Luft dort drin stickig war, konnte sie plötzlich wieder tief durchatmen. Hier in diesen hohen Räumen, an deren Wänden nun ihre Schwarz-Weiß-Fotografien hingen, hier fühlte sie sich sicher.
Ki stieg gleich nach dem Eingang links die Stahltreppe hinauf zu dem eingezogenen Zwischenstockwerk, wo Silke, die Galeristin, ihr Büro hatte. Die beiden Frauen begrüßten sich mit Wangenküssen. Ki warf ihre Lederjacke über einen Holzstuhl und nahm sich eine Tasse Kaffee. Während sie gierig den ersten Schluck des Tages trank, erzählte Silke den neuesten Tratsch aus der Community.
»Stell dir vor, unser Maler-Star hatte Besuch von einem Spiegel- Journalisten!«
Ki wusste, dass keine Rückfragen nötig waren, um Silke zum Weiterreden zu animieren.
»Und bei der Gelegenheit hat sich der Reporter auch in den Ateliers und Galerien auf dem Gelände umgesehen.«
Jetzt machte Silke eine weit ausholende Armbewegung hinunter zu Kis Fotografien, die man von der Empore sehen konnte.
»Tatatataaa!«
Fragend sah Ki die Galeristin an.
»Na, was glaubst du?«
Sie machte eine Pause und Kis Herzschlag beschleunigte sich.
»He, Kirsten Stein, jemand zu Hause?«
Silke wedelte mit ihrer Hand vor Kis unbewegtem Gesicht. Kopfschüttelnd fuhr sie fort: »Er war begeistert von deinen doppelbelichteten Fotos! Begeistert! Hörst du?«
»Ja, ich höre dich. Laut und deutlich. Er war begeistert. Na und?«
»Na und?!«
Silke zündete sich eine Zigarette an.
Ki nahm die F6-Schachtel in die Hand.
»Die habe ich auch mal gequalmt.«
»Willst du eine?«
»Nein, nein, ich rauche schon lang nicht mehr.«
In Gedanken fügte sie hinzu: Es reicht, wenn mir eine Niere fehlt, da brauche ich nicht noch eine kaputte Lunge.
»Vielleicht wirst du bald berühmt«, scherzte Silke nun. »Er hat auch einen Flyer mitgenommen.«
Ki setzte sich auf den Stuhl. Das brauchte sie so nötig wie einen Kropf. Eine Erwähnung im Spiegel! Wer wusste schon, was für Informationen der Journalist in seinem Bericht ausposaunte. Da könnte sie genauso gut eine persönliche Einladung an ihn schicken. Immer noch verbot sich Ki, seinen Namen auch nur zu denken. Dieser Mann würde nicht mehr Platz in ihrem Leben bekommen, als ihm die Angst und die Erinnerung zugestanden. Gegen die Angst trainierte Ki Montag und Donnerstag Modern Arnis, eine philippinische Kampfkunst, die sie entdeckt hatte, als sie nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus nach einer Möglichkeit suchte, sicherzustellen, dass sie nie wieder wehrlos einem solchen Angriff ausgeliefert sein würde. Wenn sie nicht in die Turnhalle nach Stötteritz fuhr, wo der Polizeisportverein trainierte, hielt sie sich im Fitness-Studio in Form.
Die Erinnerung war schwerer unter Verschluss zu halten. Wie ein ungebetener Gast verschaffte sie sich immer wieder Zugang zu ihrem Leben. Die Erinnerung war rot. Und sie hatte den Geruch von Eisen.
»Ist dir nicht gut?« Ki spürte Silkes Blick auf sich ruhen. Sie schüttelte die Haare ihrer schwarzen Pagenperücke und wehrte ab.
»Ich habe letzte Nacht schlecht geschlafen. Ein bisschen müde, das ist alles.«
Die Galeristin wechselte das Thema. »Hast du dir jetzt überlegt, wen wir zur Vernissage einladen wollen? Es ist höchste Zeit, die Flyer rauszuschicken!«
»Nicht so viele, wenn`s geht.«
In Silkes Stimme schwang leichter Ärger mit.
»Du weißt aber schon, dass ich von dem lebe, was ich hier verkaufe?«
Ki nickte und eine heiße Welle stieg in ihren Kopf.
»Was meinst du, wer hier die Galerien besucht, wenn nicht ab und zu mal in der LVZ über eine neue Ausstellung berichtet wird?«
Silke begann, zwischen Bücherregal und Schreibtisch auf und ab zu gehen.
»Die Herren Künstler, die hier auf dem Gelände leben? Hobbykünstler, nachdem sie nebenan beim boesner ihre Pinsel und Leinwände gekauft haben? Nein, die bringen mir nichts. Vielleicht hoffen sie ja auf eine Inspiration für ihr eigenes Schaffen, doch gekauft hat noch keiner was von denen.«
Die Asche ihrer Zigarette fiel auf den Betonboden und Silke stäubte sie mit einem Tritt ihrer Pumps über den Rand der Empore nach unten.
»Oder meinst du, die Schreiberlinge, die zu den Seminaren der Textmanufaktur gehen, um endlich zu lernen, wie man den ultimativen Bestseller schreibt, oder um vom Dozenten entdeckt zu werden, meinst du, die kaufen was? Und wer verirrt sich sonst noch hierher?«
Silke blieb stehen und stemmte die Hände in die Hüften.
Während ihrer erregten Rede hatte sich Ki auf ihrem Stuhl zusammengekauert, als habe sie Bauchschmerzen. Leise wandte sie ein: »Das versteh ich ja alles, aber glaub mir, ich habe meine Gründe!«
Silke ging auf Ki zu und blieb vor ihr stehen.
»Kirsten, ich brauche den Artikel in der Zeitung!«
»Aber bitte ohne Foto von mir!«
Silke rieb sich Stirn.
»Hör zu, ich weiß nicht, wovor oder vor wem du Angst hast, aber als du hier hereingeschneit bist, mit deiner Mappe unter dem Arm, wusstest du genau, worauf du dich einlässt!«
Als Ki schwieg, legte ihr Silke versöhnlich die Hand auf die Schulter.
»Okay Ein guter Bekannter von mir, Jo Reichert, arbeitet im Kulturressort der LVZ. Den habe ich schon mal vorab über die Vernissage informiert. Ich werde ihm sagen, dass er kein Foto von dir bringen darf, und er macht den Bericht. Einverstanden?«
Ki nickte resigniert.
Zufrieden drückte die Galeristin die Zigarette aus, die bis auf den Filter heruntergebrannt war, und ging auf die Treppe zu. Ki folgte ihr.
Die Ausstellungsflächen waren durch massive Stellwände, die den Raum in verschiedenen Winkeln durchzogen, auf ein Vielfaches der Wandflächen vergrößert worden. Es war fast wie in einem Labyrinth. Unter dem Dach zeugte ein Stahlträger mit der Aufschrift Tragkraft 9000 kg und eine Laufschiene, auf der noch die Rolle nebst Zahnrädern saß und eine Stahlkette herunterhing, von der ursprünglichen Nutzung der Halle. Unterhalb der Laufschiene zog sich ein Stuckfries die Eingangsseite entlang. Ein reizvoller und ungewöhnlicher Kontrast.
Die Frauen gingen die Bilder ab und entschieden sich, einige von ihnen anders zu hängen.
»Wie hast du das nur hingekriegt?«, wollte Silke nicht das erste Mal von Ki wissen. »Dass du die Gesichter so genau auf die verfallenen Gebäude appliziert hast?«
Ki verdreht die Augen.
»Jetzt fang bloß nicht wieder davon an, dass ich gar nicht analog fotografiert hab! Und nein, ich habe die Bilder nicht digital nachbearbeitet!«
Silke zeigte auf das Foto mit dem zerfurchten Gesicht einer alten Frau. Das Glas eines zersplitterten Fensters befand sich genau in ihrem Auge. »Das ist mein Lieblingsbild.»
Auch damit sagte sie Ki nichts Neues.
»Sag mal, ist das nicht die Halle da hinten, rechts das letzte Haus hinter der Märzgalerie? Wo in jedem dritten Fenster das Schild hängt: Sanierungsobjekt Nr. 7. Jegliche Beschädigung führt sofort zur polizeilichen Strafanzeige!?«
Ki nickte. Silke warf ihren Kopf in den Nacken. »Ist das nicht ein Witz, diese Schilder? Wo doch der nächste Windstoß alles zum Einsturz bringen kann?« Beide Frauen lachten.
»Ich glaube, diese Halle wurde schon einmal in einem Polizeiruf als Location für Hundekämpfe genutzt.«
»Interessant!«
»Und was glaubst du, was hier los war, als die Bundeskanzlerin vor einigen Monaten hier war? Zum hundertfünfundzwanzigjährigen Gründungstag der Spinnerei - den Aufriss hättest du sehen sollen! Überall Sicherheitsbeamte mit Knopf im Ohr, tolle Typen, sag ich dir!« Silke schnalzte mit der Zunge. Ki schwieg. An solchen Orten wollte sie am allerwenigsten sein. Menschenaufläufe waren ihr ein Gräuel. Deshalb sah sie auch der Vernissage mit gemischten Gefühlen entgegen. Einerseits freute sie sich darauf, zu sehen, wie andere Menschen ihre Bilder betrachteten und ihre Kunst schätzten, andererseits griff schon bei dem Gedanken daran die wohlbekannte Angst nach ihren Eingeweiden und drückte sie zusammen.
Nachdem Ki sich von Silke mit einer Umarmung verabschiedet hatte, ging sie ins Café Mule, wo die Stammgäste den Besuch des Journalisten diskutierten. Sie war traurig darüber, dass der Umbau des Cafés in den nächsten Tagen beginnen und der Besitzer ebenso wie der Name wechseln sollte. Ki grüßte in die Runde und setzte sich an ihren üblichen Tisch gegenüber der Theke. Sie bestellte sich einen Rooibostee und dazu die Nudeln mit Pesto. Während sie Überlegungen anstellte, wie wohl die künftige Speisekarte aussehen würde, blätterte sie in einem der kleinen schwarzen Bücher, die auf jedem Tisch die Gäste dazu einluden, ihre Gedanken hineinzuschreiben. Auch diese Besonderheit würde vielleicht nach der Neueröffnung nicht mehr zum Charme des Cafés beitragen. Manche Besucher hatten sich zeichnerisch verewigt, manche in Form von Gedichten. Andere hatten sich einfach nur für den guten Kuchen bedankt. Doch einige Seiten vor der letzten Eintragung stockte Kis Hand und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Die Rache ist mein; ich will vergelten. Zu seiner Zeit soll ihr Fuß gleiten; denn die Zeit ihres Unglücks ist nahe, und ihr Künftiges eilet herzu stand da in einer unregelmäßigen Schrift, die ihr bekannt vorkam. Nichts weiter, nur dieses Bibelzitat. Warum nur wurde ihr auf einmal so heiß und gleich darauf wieder kalt, als wehe sie ein Zug arktischer Luft an?
Ki kannte die Antwort. Vor ihrem inneren Auge sah sie all jene Briefe ohne Absender, die nach der Verurteilung von ihm ihren Briefkasten überschwemmt hatten. Stets war im Umschlag ein Zettel mit einem Bibelspruch gewesen. Auch dieser Spruch aus dem Buch Moses war dabei, da war sie sich ganz sicher. Die Botschaft war klar: Du entkommst mir nicht! Egal, wohin du dich verziehst. Egal, ob ich im Knast bin.Nicht immer war eine Briefmarke auf dem Umschlag gewesen. Und nicht immer war es ein harmloser Umschlag, der da in ihrem Kasten steckte. Manchmal lag darin auch anderes. Stinkendes. Und ab und zu auch etwas, das einmal geatmet hatte.
Egal, wie oft sie umzog, sein Arm reichte überall hin. Erst, nachdem sie eine neue Identität bekommen hatte, hörten die kaum verhohlenen Drohungen auf.
Sie klappte das Buch zu und schob es bis an den Rand der gegenüberliegenden Tischkante. Dort lag es, unschuldig schwarz, ein Notizbuch, wie auf allen anderen Tischen. Und doch war es Ki, als breite sich von seinem Ledereinband eine übel riechende Wolke aus. Ihr Blick wurde immer wieder wie von Magneten zu diesem Buch gezogen. Sie stand auf, nahm sich von der Theke die Leipziger Volkszeitung und legte sie darüber.
Sollte sie die Chefin fragen, ob in letzter Zeit jemand Unbekanntes hier aufgekreuzt war, auf den ihre Beschreibung zutraf? Hatte er sie wirklich aufgespürt, trotz Namensänderung, Perücken und farbiger Kontaktlinsen? Obwohl sie in keinem öffentlich zugänglichen Verzeichnis auftauchte? Ki trommelte mit den Fingerkuppen auf das schwarzlackierte Holz der Tischplatte. Sie schrak zusammen, als der Kellner den nach Vanille duftenden Tee vor ihr abstellte. Sollte sie riskieren, sich lächerlich zu machen?
Hastig nahm sie den ersten Schluck von ihrem Tee und verbrannte sich dabei die Zunge. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und ihr war nach Weglaufen zumute. Doch allzu oft war sie in ihrem kurzen Leben schon davongelaufen. Seit gut einem Jahr lebte sie jetzt in Leipzig. Sie würde nirgends heimisch werden können, so etwas wie Familie würde es für sie nicht geben. Einzig ihre Minolta war ein Stück Heimat für sie. Mit ihr bewahrte sie all das vor dem Vergessen, was ihr wichtig war. Industrielandschaften in Lindenau und Plagwitz, die vor sich hin verfielen, Wohnhäuser, deren Eigentümer kein Geld für die Sanierung hatten und die deshalb Künstler und junge Familien mit alternativen Lebensvorstellungen und handwerklichem Geschick darin für wenig Geld wohnen ließen. Wächterhäuser, in denen die Bewohner oft die Stromleitungen erneuern und auch die Sanitäranlagen komplett austauschen mussten – einschließlich der Wasserrohre. Auch sie hatte in den ersten Monaten in Leipzig in einem solchen Haus gewohnt. Aber auch die zerfurchten Gesichter alter Menschen waren ihr stets ein lohnendes Motiv. Menschen, die nur noch auf den Tod zu warten schienen. Die Vergänglichkeit, die die Versprechen auf Jugend und Genuss ad absurdum führte, die Versprechen, die ihr in Form von abbröckelnden Plakatschichten in Bushaltestellen und auf Litfass-Säulen entgegenschrien, das war ihr Thema.
Aber auch Anblicke hielt sie fest, von denen sie wusste, dass sie sie niemals in ihrem Leben vergessen würde: Das alte Ehepaar, das sie um Hilfe gebeten hatte, weil es sich bedroht fühlte, blutüberströmt im Wohnzimmer, die Katze miauend, immer um die beiden herumstreichend, als könne sie nicht verstehen, wieso ihre Ernährer so leblos dalagen.
Sie war eine knappe Stunde später als verabredet gekommen, weil sie wieder einmal einem Enrique-Iglesias-Verschnitt nicht hatte widerstehen können. Während sie sich in Satinlaken wälzte, waren ihre Klienten abgestochen worden, weshalb auch immer. Da war es das Mindeste gewesen, die verwirrte Katze mit zu sich in ihre Luxusbehausung zu nehmen, bevor die Bullen anrückten und Ki dumme Fragen stellten. Einen Anruf machte sie immerhin noch, wenn auch anonym und von ihrem nicht registrierten Handy. Sie hätte den Ermittlern ohnehin nicht weiterhelfen können. Denn außer, dass die beiden sich bedroht und beobachtet fühlten, wusste sie nichts.
Dieses Gefühl kannte sie gut. Zu gut. Wenn sie nachts in ihren Unterschlupf zurückkehrte, stets unter den üblichen Sicherheitsvorkehrungen, konnte sie sich manchmal des Eindrucks nicht erwehren, jemand beobachte sie. Verstecke gab es rund um das verfallene Fabrikgelände zur Genüge. Büsche und Bäume entlang des Kanals, wuchernde Vegetation auf dem Grundstück, das den roten Backsteinbau und den imposanten Schornstein von den Mietskasernen an der Wiprechtstraße trennte.
Nachdem sie ihre Nudeln verspeist und noch einen Cappuccino getrunken hatte, machte sie sich auf den Weg in ihr Fitness-Studio. Die Sporttasche mit frischen T-Shirts und ausreichend Handtüchern ließ sie immer im Spind, so dass sie nicht jeden Tag ihre Sachen durch die Gegend schleppen musste. Einmal in der Woche wusch sie ihre Wäsche im Waschsalon. Die Tatsache, dass sie sich im Studio oder im Polizeisportverein duschen konnte, machte ihr das spartanische Leben in ihrem Verlies erträglich.
Wie immer gönnte sich Ki anschließend in der Sauna Erholung für Muskeln und Seele. Damit belohnte sie sich für die Plackerei an den Geräten, dieses eintönige, immer gleiche Heranziehen und Wegschieben, das Pressen und Strecken. Für die angebotenen Kurse konnte Ki sich nicht begeistern. Sie fand es lächerlich, zusammen mit dreißig anderen erwachsenen Frauen die Bewegungen der Vorturnerin im gleichen Takt und der gleichen Geschwindigkeit zu ohrenbetäubend lauter Musik nachzuturnen. Nein, ein Herdentier war Ki nie gewesen. Auch an jenem Spinning genannten Sport, bei dem man ebenfalls in der Gruppe, auf Rädern in verschiedenen Geschwindigkeiten abwechselnd im Sitzen und Stehen radelte, ohne jemals vom Fleck zu kommen, angetrieben von wummernden Endlosbässen, fand Ki keinen Gefallen.
Es war bereits dunkel, als sie das Sportcenter verließ. Jeden Tag, den der Winter näher rückte, senkte sich die Dämmerung früher herab. Ki hasste diese kurzen Tage und die frühe Dunkelheit.
Nachdem sie auf der Lützner Straße aus dem Bus ausgestiegen war, ging sie über die Luisenbrücke zu McDonalds, um ihren Hunger zu stillen. Danach überquerte sie erneut die Brücke und bog in den Weg am Kanal ein. Nach zwanzig Metern mündete ein von rechts unter der Brücke herkommender Pfad in den von Laternen schwach beleuchteten Weg. Ki schaute sich mehrmals um. Der Leere, die sie erblickte, traute sie nicht.
Sie hatte gerade die zweite Lampe auf dem Weg erreicht, als sie merkte, dass sie verfolgt wurde. Vielleicht hatte er sie schon auf der Lützner Straße ins Visier genommen, oder hatte sich vom McDonalds aus an ihre Fersen geheftet. Sie spürte, wie das Adrenalin in ihren Adern zu pulsen begann. Würden ihr jetzt die vielen Arnis-Trainingsstunden helfen? Doch vor allem wollte sie wissen, wer er war, warum er sie verfolgte.
Ki verlangsamte ihren Schritt. Hörte, wie ihr Verfolger schnell aufschloss. Als er nur noch wenige Meter hinter ihr war, drehte sie sich blitzschnell um. Sie wollte ihm noch eine Chance geben. Vielleicht täuschte sie sich ja.
Er war etwa gleichgroß, sein Gesicht lag im Schatten einer dunklen Kapuze. »Was willst du?«, blaffte sie ihn an und ging zwei Schritte auf ihn zu. Sein Mund war zu einem höhnischen Grinsen verzerrt. Ki ahnte die Bewegung, noch bevor er seinen rechten Arm, der zu ihrem Hals wies, ganz ausgestreckt hatte. Blitzschnell wich sie der Hand nach links aus und leitete mit ihrer linken Hand den Arm vorbei. Dabei machte sie eine Vorwärtsbewegung und schlug mit der Handkante ihrer rechten Hand von unten zwischen seine Beine. Sofort krümmte er sich stöhnend zusammen und in einer leichten Drehung zu ihm hin schlug sie mit der linken Faust auf seine kurzen Rippen und trat ihm anschließend in das schon eingebeugte rechte Knie.
Das gab ihm den Rest. Zu ihren Füßen lag ein röchelndes Häufchen.
»Steh auf, du Wichser! Und zeig dein Gesicht!«
Ihrer Stimme versuchte Ki eine Festigkeit zu geben, die sie vergeblich in sich suchte. Der Mann, der sich immer noch am Boden krümmte, schien nicht in der Lage, ihrer Aufforderung Folge zu leisten.
»Hör zu, du Pisser, entweder du zeigst mir jetzt sofort dein Gesicht und sagst, was du von mir gewollt hast, oder ich rufe die Bullen. Ist das angekommen?«
Endlich zog sich der Mann die Kapuze vom Kopf und sah sie mit hasserfüllten Augen an. Ki atmete innerlich auf. Es war nicht Fred. Kein Grund zur Panik. Ungeduldig insistierte sie.
»Also, spuck‘s aus, du Dreck. Was wolltest du von mir? Ein bisschen ficken? Oder brauchtest du Geld für Alk oder Gras?«
»Ficken!«, spie er ihr entgegen.
»Okay Arschloch, das glaub ich dir sogar. So wie du aussiehst, kommst du ja auf anderem Weg nicht zum Schuss!« Der Mann versuchte vergeblich, auf die Füße zu kommen. Er schien es nicht gewohnt zu sein, sich von einer Frau derartige Dinge gefallen zu lassen. Ki sah seine Halsschlagader in schnellem Rhythmus pochen. Bevor er sich hochrappeln konnte, befahl Ki ihm mit drohender Stimme:
»Du wartest, bis ich dir sage, dass du aufstehen kannst, kapiert? Und dann gehst du in die Richtung zurück, aus der du gekommen bist. Fragen?«
Der Mann presste die Zähne zusammen, dass Ki das Knirschen hörte. Zögernd und voll unterdrückter Wut schüttelte er den Kopf.
Ki bewegte sich rückwärts und ließ den Kerl nicht aus den Augen. »Besser, du streichst diesen Weg aus deiner Wanderkarte, sonst könnte es passieren, dass wir uns noch mal begegnen. Und das würde dir schlecht bekommen, das kann ich dir schriftlich geben.«
Als Ki etwa fünfzig Meter zurückgelegt hatte, erlaubte sie dem Mann aufzustehen und sich zu entfernen. Gebückt und humpelnd leistete dieser ihren Anweisungen Folge.
Immer noch mit klopfenden Herzen ging Ki den Weg, den sie gekommen war, ein Stück zurück, um zu der Stelle zu gelangen, an der sie durch das Loch im Zaun auf das Fabrikgelände gelangen konnte.
Das Schloss an der Hallentür war intakt, doch was hieß das schon? Ki griff hinter die Palette nach ihrem Stock. Das kühle Rattanholz schmiegte sich beruhigend in ihre Handfläche. Jetzt war sie gewappnet und eine Welle der Zuversicht durchströmte sie. Sie hatte sich erfolgreich gegen einen Vergewaltiger zur Wehr gesetzt. Ohne Waffen! Nur mit der Effizienz der Bewegungen, die sie seit fünf Jahren trainierte. Was konnte ihr jetzt noch passieren? Sollte er doch kommen!
Mit ihrer Taschenlampe leuchtete sie auf den Betonboden und inspizierte die Stolperfallen. Hierfür hatte sie ein paar Drähte gespannt und zu einer Vorrichtung geleitet, die mittels einer batteriebetriebenen Hupe Alarm gab, sobald die Drähte berührt wurden. Dann wusste sie, dass sich oben jemand herumtrieb und konnte durch ihren Notausgang verschwinden. Doch ob die Anlage ihre Funktion tatsächlich erfüllen würde, wusste sie nicht. Sie war - ebenso wie das Schloss - wohl eher ein Mittel zur Selbstberuhigung.
Der Kater kam auf sie zu geschlichen und miaute kläglich. Er vermisste wohl die Streicheleinheiten seiner früheren Versorger. Würde sie, so fragte sich Ki mit Blick auf das Tier, jetzt ständig mit Fehlalarm rechnen müssen, weil die Katze die Drähte berührte bei ihren Streifzügen durch die Halle? Oder würde es genügen, die Drähte höher zu spannen, so dass der Kater darunter hindurch passte? Hatten Katzen ihren Schwanz immer aufgestellt? Oder waren sie gar so intelligent, dass sie über die Drähte hinwegstiegen?
Ki beendete ihre Runde durch die Halle und näherte sich der Falltür. Die Taschenlampe schob sie sich in den Mund, um die Hände frei zu haben. Ächzend schob sie den Metallschlitten zur Seite und griff in die unsichtbare Vertiefung der Bodenplatte. Dann hob sie die Luke an und ging vorsichtig auf den schmalen Stufen nach unten. Mit einem leisen Geräusch ließ sie die Tür wieder fallen und zog die Leiter aus den Metallhaken, in die sie eingehängt war.
Das Gelass maß etwa vier Meter im Quadrat. Zwischen zwei der Mauern spannte sich eine Hängematte. Ihr fröhlich-buntes Gewebe passte so gar nicht in die Düsternis ihres selbst gewählten Gefängnisses. Im unverputzten Mauerwerk waren zwischen den Naturbruchsteinen handtellergroße Metallringe eingelassen. Dort konnte sie die Hängematte gut befestigen. Sie hatte sich im Vergleich zur Matratze als bessere Lösung erwiesen, nachdem sich ab und an eine Ratte in das Kellerloch verirrte. Was Ki noch weniger gebrauchen konnte als die Aufmerksamkeit ihres ehemaligen Peinigers, war nachts, während sie schlief, von einem dieser Nager angeknabbert zu werden.
Die Möbel bestanden aus stabilen Archivkartons für Akten, die sie aus dem Baumarkt besorgt und zu Modulen zusammengestellt hatte.
Als sie das Gelass zum ersten Mal auf ihren Streifzügen durch die Industriebrachen der Stadt besichtigt hatte, war ihr ein kreisrund vermauertes Stück in einer der Wände aufgefallen. Die Ziegel schienen wesentlich neuer zu sein als die naturbelassenen Bruchsteine, aus denen die Grundmauern der Halle gebaut waren. Sie besorgte sich Werkzeug und kratzte den porösen Mörtel zwischen den roten Ziegeln weg. Als sie alle Steine entfernt hatte, sah sie in ein Rohr, das etwas mehr als einen Meter Durchmesser aufwies und einen modrigen Geruch verströmte. Mit einer Taschenlampe bewaffnet erkundete sie gebückt den Gang, in dem pelzige Schatten fiepend vor ihr davonhuschten. Wie vermutet, endete das Rohr oberhalb des Kanals. Der Ausstieg war von wild wuchernder Vegetation verdeckt. Das hatte den Ausschlag dafür gegeben, dass Kis Wahl auf diesen ungastlichen Ort gefallen war. Sie saß nicht wie in einer Falle. Konnte ungebetene Besucher gebührend empfangen. Und notfalls flüchten. Das Loch verdeckte sie durch einen großen Umzugskarton, den sie mit den herausgebrochenen Steinen füllte. Jetzt war er so schwer, dass keine Ratten eindringen, sie ihn aber gerade noch zur Seite schieben konnte, sollte Gefahr drohen.
Sogar ein Spiegel lehnte am Mauerwerk. Ki riss sich ihre Perücke vom Kopf, schleuderte sie auf die Hängematte und fuhr mit den Fingern durch ihr streichholzkurzes Haar. Sie hasste Perücken. Sie juckten auf der Kopfhaut und ließen sie schwitzen. Ki massierte ihren Schädel und kratzte sich. Als sie sich danach die Finger ansah, klebte Blut unter den Nägeln.
Nachdem sie ihren Stock in die dafür vorgesehene Halterung gesteckt und die Öllampe sowie ein paar Kerzen angezündet und die Maglite ausgeknipst hatte, entledigte sie sich ihrer Ledermontur. Die war ihr wie eine zweite Haut an den Körper gewachsen. Ebenso mit Narben und Rissen übersät wie ihre eigene. Im Kanister war nicht mehr viel Wasser. Sie würde sich Nachschub besorgen müssen.
Sie wusch sich gründlich die Hände in einer Plastikschüssel – Plaste und Elaste aus Schkopau, dachte sie jedes Mal - bevor sie ihre blauen Kontaktlinsen entfernte, säuberte und in ihren Behältnissen verwahrte. Dann putzte sie ihre Zähne und legte sich in die Hängematte. Sogleich kam Wotan angesprungen und stupste sie mit seiner Schnauze an. Die Aufforderung verstand Ki sofort. Da musste sie kein Katzenspezialist sein. Am Vorabend war er noch auf Distanz geblieben, hatte nur ab und zu ein unglückliches Miauen von sich gegeben. Ki berührte unsicher sein weiches Fell. Noch nie war ihre Hand dem Körper eines Tieres so nah gewesen. Sie spürte die Wärme, die vom pulsierenden Katzenkörper in ihre Handfläche überging. Aus der Kehle des Tieres drang ein gurgelndes Knurren, ein rollender, nicht enden wollender Ton. Es schien der Katze zu gefallen. Sie drückte den Körper Kis Hand entgegen und Ki ahnte die Knochen, Muskeln und Sehnen unter dem Fell. Im Schein der Kerzen zitterten die Schnurrhaare, als stünden sie unter Strom.
Der Schlaf griff mit tastenden Fingern nach ihr. Mit dem letzten Rest ihres fast schon entschwundenen Bewusstseins mahnte sie sich, noch die Kerzen und die Öllampe zu löschen, bevor sie einschlief.
Irgendwann verbrenne ich hier unten mit Haut und Haar, dachte sie noch, dann fiel sie unter dem weichen warmen Fell auf ihrer Haut in einen tiefen Schlafes.
Kriminalhauptkommissar Martin Bender war sauer. Mit schnellen Schritten eilte er, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, in den ersten Stock des Dienstgebäudes Dimitroffstraße 5. Als er den Gang zu seinem Büro mehr lief als ging, grüßte er nicht wie sonst seine Mitarbeiter, die hinter den offen stehenden Türen an ihren Schreibtischen arbeiteten. Den Kopf gesenkt wie ein Stier beim Sturm auf das rote Tuch, war es ihm egal, was seine Kollegen von ihm dachten. Er konnte sich die vielsagenden Blicke, die von Schreibtisch zu Schreibtisch ausgetauscht wurden, auch so vorstellen. Doch dieser Doppelmord in Markkleeberg war wirklich nicht dazu angetan, den Leiter des Kommissariats 11 der Leipziger Polizeidirektion in gute Laune zu versetzen. Auch wenn seine Kollegen keine Schuld traf am Tod des Ehepaares, auch wenn er das Ganze wieder einmal zu persönlich nahm.
Am Morgen war eine Sonderkommission Markkleeberg gebildet worden. Da das Kommissariat 11 nur aus 15 Mitarbeitern bestand, von denen derzeit nur 10 im Dienst waren, hatte man noch das K12 hinzugenommen und Martin Bender die Leitung der SOKO übertragen. Nun trafen sich die Ermittler zum zweiten Mal an diesem Tag, um den Kenntnisstand auszutauschen. Die Kollegen des örtlichen Polizeireviers AmPoseidon hatten die Schutzpolizei, die wie immer zuerst am Tatort eingetroffen war, dabei unterstützt, die Befragung unter den Bewohnern des Hauses sowie der Nachbarhäuser durchzuführen. Später würden die Berechtigten in die Dimitroffstraße 5 zum Erkennungsdienst kommen, um sich die Fingerabdrücke nehmen zu lassen. Das war nötig, um die wirklich relevanten herauszufiltern. Die, die weder dem Nachbarn noch dem Sohn gehörten.
Ein Zeuge hatte eine Person das Haus verlassen sehen. Gekleidet in schwarzes Leder, kurzer dunkler Pagenkopf, Größe circa 180 Zentimeter, schlank. Ob es sich dabei um eine Frau oder einen Mann gehandelt hatte, konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen. »Dem Gang nach eine Frau«, waren seine Worte gewesen. In ihrer Hand hatte er eine größere Tasche gesehen.
»Ich bin dafür, eine Beschreibung in der Presse zu veröffentlichen und die Zeugin aufzufordern, sich bei uns zu melden.« Kriminalmeisterin Verena Zetschke wurde rot, als sich alle Köpfe in ihre Richtung drehten. Normalerweise hielt sie sich mit Vorschlägen eher zurück. Bender nickte. Er mochte die etwas schüchterne junge Frau, die es zwischen ihren dominierenden männlichen Kollegen nicht immer leicht hatte. Sie war als letzte Frau zum Team gestoßen, war außerdem die Jüngste. Da ließen es die erfahrenen Polizisten oft am nötigen Respekt fehlen.
»Was ist mit anderen Zeugenaussagen? Irgendetwas Verwertbares?«
Sebastian Bauer vom K12, der für die Auswertung der Befragungen zuständig war, gab einen kurzen Überblick.
»Eine Frau Krone hat sich bei uns gemeldet, dass sie um achtzehn Uhr mit Klara Konrad und einigen anderen Frauen zum Bridge verabredet war. Als das Opfer Zehn nach Sechs noch nicht erschienen war, hat sie angerufen. Frau Konrad hat sich entschuldigt, ihr gehe es nicht gut. Laut Zeugin klang Frau Konrad gepresst oder jedenfalls nicht so wie immer. Die Zeugin hat dies aber auf ihre gesundheitlichen Probleme zurückgeführt.«
Martin Bender schrieb an die rechte Seite der Tafel unter der Überschrift Zeitlicher Ablauf die Uhrzeit und dahinter letzter Kontakt zu Klara K.
»Wann ging der Anruf von der Zeugin ein, die den Mord gemeldet hat?