Blutige Bucht - Allie Reynolds - E-Book

Blutige Bucht E-Book

Allie Reynolds

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Beschreibung

Niemand verlässt die Bucht lebend Kenna ist schockiert als sie erfährt, dass ihre beste Freundin Mikki einen Mann heiraten will, den sie gerade erst kennengelernt hat. Kurzerhand macht sie sich auf den Weg nach Sydney, um die beiden zu überraschen. Doch sie wollen zum Surfen, also bleibt Kenna nichts anderes übrig, als sie zu begleiten. An der abgelegenen Ostküste Australiens trifft sie auf eine Gruppe ungleicher Menschen, die sich fernab der Zivilisation einen Rückzugsort geschaffen hat und alles tut, um ihn vor der Außenwelt zu bewahren. Hier zählen nur die Wellen, das Wetter und die Gezeiten. Doch das Küstenparadies birgt ein dunkles Geheimnis und schnell wird klar: niemand verlässt die Bucht lebend.

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Seitenzahl: 501

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Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem TitelThe Bay bei Headline Publishing Group Ltd., London.

© 2022 by Allie Reynolds Deutsche Erstausgabe © 2023 für die deutschsprachige Ausgabe by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Covergestaltung von wilhelm typo grafisch Coverabbildung von Stock High angle view, F Photography R / Shutterstock E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck ISBN E-Book 9783749905850www.harpercollins.de

PROLOG

Die Flut kommt. Jede Welle kriecht ein bisschen höher den Strand hinauf. Stück für Stück löschen sie die Spuren meiner Tat aus.

Es hat etwas Tröstliches, einen Fuß vor den anderen zu setzen, die Zehen in den Sand zu graben. Das Unwetter von gestern Nacht hat alles Mögliche angeschwemmt: Blätter, Samenkapseln, Frangipani-Blüten. Eine Orange, die ein schmatzendes Geräusch von sich gibt, als ich drauftrete, und die, wie sich herausstellt, fast nur noch mit Meerwasser gefüllt ist.

Die anderen schlafen noch – wenigstens hoffe ich das. Weiter oben habe ich den Sand verwischt, aber wenn sie jetzt kämen, würden sie es trotzdem sehen. Vielleicht würden sie sich fragen, was ich so früh am Strand zu suchen habe, noch dazu ohne mein Brett. Nicht, dass man heute surfen könnte. Das Meer ist unruhig und trübe vom Sand, den der Sturm aufgewirbelt hat. Der Wind heult noch immer. Die Möwen stemmen sich mit zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen und aufgeplustertem Gefieder dagegen. Eine läuft direkt vor mir durch den Sand, die Schwanzfedern wie eine Federboa aufgestellt.

Ich gehe am Wassersaum entlang, beobachte und warte.

Noch haben die Haie die Leiche nicht gefunden. Aber das wird sich bald ändern.

1

KENNA

»He, Sie!« Eine blonde Frau hält mir einen Zettel hin. »Bitte, nehmen Sie einen!«

Ein leichter Akzent: Niederländisch oder Schwedisch vielleicht.

Ich blinzle, geblendet von der Sonne nach dem Halbdunkel der Bahnhofshalle. Warum ist es so hell? Ich bin so müde, als wäre es mitten in der Nacht.

»Bestes Thaifood!«, ruft ein junger Mann.

»Suchst du ein Zimmer?«, fragt ein Mädchen mit Piercings im Gesicht.

Die Promoter stehen da und halten dem Strom der Menschen stand, der sich aus dem Bahnhof ergießt – zumindest versuchen sie es. Sydney mag am anderen Ende der Welt liegen, doch bisher erkenne ich nur marginale Unterschiede zu London oder Paris.

Wegen meines schweren Rucksacks bin ich etwas wacklig auf den Beinen. Der Typ vom Thai-Restaurant versucht, mir einen Flyer zu geben, aber ich habe die Fahrkarte in der einen und meinen kleinen Tagesrucksack in der anderen Hand, deshalb zucke ich lediglich entschuldigend mit den Achseln und mache einen Bogen um ihn.

»Happy Hour!«, ruft eine weitere Stimme. »Ein großes Bier für sechs Dollar!«

Während ich mich frage, wie groß so ein großes Bier wohl sein mag, fasst mich jemand am Handgelenk. Die Niederländerin. Sie ist um die fünfzig mit dunkelblondem Haar und leuchtend blauen Augen. Sie ist hübsch – oder sie wäre es, wenn sie nicht so ernst und angespannt aussähe. Ich möchte mich losmachen und weitergehen, die Frau wie alle anderen ignorieren, doch die Verzweiflung in ihrer Miene lässt mich innehalten. Ich werfe einen flüchtigen Blick auf ihren Zettel.

Vermisst! Elke Hartmann, deutsche Staatsangehörige.

Das Foto zeigt eine lachende Blondine mit einem Surfbrett unter dem Arm.

»Meine Tochter.« Die Stimme der Frau klingt heiser.

Also doch keine Niederländerin. Ich bin nicht besonders gut, was Akzente angeht. Der Strom der Menschen teilt sich und fließt um uns herum, während ich den Zettel überfliege.

Elke ist neunundzwanzig – also ein Jahr jünger als ich – und seit sechs Monaten verschwunden. Ich schenke der Frau ein kleines mitfühlendes Lächeln. Hoffentlich ist es nicht allzu weit bis zur Bushaltestelle, mein Rucksack wiegt nämlich ungefähr eine Tonne.

Ein Aktenkoffer trifft mich an der Wade. Ich werfe einen Blick auf die Uhr am Bahnhofsgebäude. Halb sechs, abendliche Stoßzeit. Mein Schädel pocht. Im Flugzeug kann ich nie schlafen. Ich bin seit nunmehr zwei Tagen ohne Pause wach.

»Haben Sie schon mal einen geliebten Menschen verloren?«, fragt die Frau.

Ich drehe mich wieder zu ihr um. Ja, das habe ich in der Tat.

»Sie war hier auf Rucksacktour.« Die Frau deutet mit einem Nicken auf mein Gepäck. »So wie Sie.«

Ich bin nicht auf Rucksacktour, will ich ihr sagen, doch sie gibt mir keine Gelegenheit dazu.

»Sie sind in einem fremden Land unterwegs, in dem sie niemanden kennen. Wenn sie verschwinden, dauert es oft Tage, bis es jemandem auffällt. Sie sind leichte Ziele.«

Beim letzten Wort bricht ihre Stimme. Sie lässt den Kopf hängen, und ihre Schultern beben. Etwas unbeholfen nehme ich sie in den Arm. Meine Handflächen sind schweißfeucht, und ich will ihre Bluse nicht ruinieren, außerdem muss ich weiter. Aber ich bringe es nicht übers Herz, sie in diesem Zustand allein zu lassen. Sollte ich mit ihr irgendwohin gehen? Sie auf einen Tee einladen? Aber ich will bei Mikki sein, ehe es dunkel wird. Ich beschließe, ihr eine Minute Zeit zu geben. Hoffentlich hat sie sich dann ausgeweint.

Büroangestellte eilen vorbei. Die Frauen hier sehen gepflegter aus als in England: glänzendes Haar, gebräunte Beine in High Heels und kurzen Röcken. Die Männer haben die Ärmel ihrer Hemden aufgekrempelt und tragen die obersten zwei Knöpfe offen. Sakkos lässig über die Schulter geworfen, von Krawatten keine Spur.

Schweiß sammelt sich in meinen Achselhöhlen. Diese feuchte Hitze. Mikki hat sich immer darüber beschwert. Fast so schlimm wie in Japan.

Es ist März, australischer Herbst, und ich habe nicht damit gerechnet, dass es so heiß ist.

Ich sehe den Promotern zu, wie sie versuchen, ihre Flyer an den Mann zu bringen. Der Typ vom Thai-Restaurant gibt jedem einen, der sich nicht wehrt, die anderen hingegen scheinen es gezielt auf Backpacker abgesehen zu haben. Mit ihren überdimensionierten Rucksäcken und wahlweise milchweißen oder sonnenverbrannten Gliedmaßen erkennt man sie schon auf eine Meile Entfernung. Leichte Ziele.

Elkes Mutter zieht die Nase hoch. »Entschuldigung.« Sie kramt in ihrer Handtasche und holt Papiertaschentücher hervor.

»Kein Problem«, sage ich. »Geht es wieder?«

Verlegen betupft sie sich die Augen. »Ich lasse Sie jetzt in Ruhe. Aber passen Sie gut auf sich auf, ja?«

»Natürlich. Machen Sie sich um mich keine Sorgen, ich bin keine Backpackerin. Ich besuche eine Freundin, die bald heiratet.«

»Oh, dann entschuldigen Sie bitte. Sie wartet sicher schon auf Sie.«

»Ja«, sage ich.

Obwohl das nicht stimmt.

2

KENNA

»Ich bringe dich um!«, sagt Mikki.

Unter der Last meines Rucksacks gebeugt, stehe ich auf ihrer Schwelle. »Ich wusste, dass du sauer sein würdest.«

Mikkis Stirn und Wangen sind übersät mit Sommersprossen. Ihre langen Haare, früher glänzend und schwarz, wurden von der australischen Sonne zu einem stumpfen Braun verblichen. Der blühende Baum neben der Haustür erfüllt die Abendluft mit seinem exotischen Duft und unterstreicht die Tatsache, dass ich mich auf der anderen Seite des Erdballs befinde.

Sie sieht mich an, als könne sie nur schwer entscheiden, ob sie sich freut, mich zu sehen, oder nicht. »Wieso hast du mir nicht Bescheid gesagt, dass du kommst?«

Weil du gesagt hast, dass ich nicht kommen soll. Aber darüber wollen wir jetzt nicht reden. »Ich habe versucht, dich anzurufen, aber du bist nicht rangegangen.«

»Ich sagte doch, dass es an dem Strand, zu dem wir oft fahren, kein Netz gibt.«

Das weiße Top von Roxy bringt ihre straffen Oberarme und sonnengebräunte Haut besonders gut zur Geltung.

So unauffällig wie möglich halte ich Ausschau nach blauen Flecken, kann jedoch keine entdecken. Ich erlaube mir, ein wenig aufzuatmen. Allem Anschein nach geht es ihr gut. Meiner besten Freundin.

Jetzt grinst sie. »O mein Gott, Kenna! Du bist wirklich hier!«

Auch ich muss grinsen. Sie sagt ständig O mein Gott! Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft ich den Ausruf schon aus ihrem Mund gehört habe – normalerweise nachdem ich mal wieder etwas Verrücktes gemacht habe.

Sie nimmt mich in die Arme und drückt mich an sich.

Siehst du? Alles ist gut. So ist das zwischen besten Freundinnen. Wenn man lautere Absichten hegt, darf man hin und wieder auch mal Grenzen überschreiten. Was ist eine Freundschaft anderes als die Summe der Erinnerungen an die gemeinsam verbrachte Zeit? Und je schöner die Erinnerungen, desto tiefer die Freundschaft. Meine Erinnerungen an Mikki: wie wir eines Abends in angetrunkenem Zustand nackt surfen waren; wie ich in einer schmalen Gasse in Cornwall ihren uralten VW Käfer anschieben musste, weil er nicht anspringen wollte; ein gemeinsamer Campingurlaub, bei dem sie vergessen hatte, das Zelt einzupacken, sodass wir die Camper nebenan bequatschen mussten, damit sie uns eins liehen.

Wir haben so viele lustige Dinge zusammen erlebt. Und diese Aktion hier wird als eine davon in unsere gemeinsame Geschichte eingehen: als ich nach Australien flog, um Mikki einen Überraschungsbesuch abzustatten. Wenigstens versuche ich, mir das einzureden. Sie muss heute gesurft sein – ihre Haare sind klebrig vom Salz. Ich löse eine Strähne von meinen Lippen und befreie mich aus ihrer Umarmung, um sie eingehender zu betrachten.

»Ich kann nicht glauben, dass du die weite Reise auf dich genommen hast«, sagt sie. »Was, wenn ich nicht zu Hause gewesen wäre?«

Der Gedanke ist mir auch schon gekommen. »Dann hätte ich mir ein Hotel gesucht.«

Zwischen uns hakt es ein wenig. Vielleicht liegt das daran, dass wir uns seit über einem Jahr nicht mehr gesehen haben, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass mehr dahintersteckt.

»Na, komm rein«, sagt sie.

Vor Betreten des Hauses ziehe ich mir die Schuhe aus. Mikki ist mit sechs Jahren aus Japan weggezogen, hat aber viele japanische Sitten von ihren Eltern übernommen. Ich stelle mein Gepäck ab und schaue mich um. Holzdielen, Möbel aus dem Trödelladen. Ist ihr Verlobter da? Hoffentlich nicht.

»Hast du Hunger?«, erkundigt sie sich.

»Hm. Weiß nicht genau.«

Sie lacht.

»Meine innere Uhr ist völlig durcheinander. Wie spät ist es überhaupt?«

Sie sieht nach. »Kurz vor sieben.«

»Im Ernst?« Ich denke angestrengt nach. »In England ist es jetzt acht Uhr morgens.«

»Ich mache gerade eine Riesenportion nikujaga.«

Ich folge ihr in die Küche, wo mir der würzige Duft von Fleisch in die Nase steigt, und ich stelle fest, dass ich tatsächlich Hunger habe. Meine Haut ist glitschig vom Schweiß. Die Fenster sind geöffnet, die Tür zum Garten ebenso, aber die Brise, die durch den Fliegendraht hereinweht, ist genauso stickig wie die Luft im Raum, und der Deckenventilator rührt die Hitze lediglich um.

Mikki fächelt sich Kühlung zu, während sie im Topf rührt.

Nun, da sie den anfänglichen Schock überwunden hat, scheint sie sich wirklich über meinen Besuch zu freuen, allerdings weiß man bei Mikki nie so genau. Sie entstammt einer Kultur, in der Höflichkeit über allem steht. Ich hingegen habe eins dieser Gesichter, in denen sich jede Emotion spiegelt, deshalb achte ich darauf, nicht in ihre Richtung zu schauen.

In der Spüle stapelt sich das Geschirr, Ameisen krabbeln über die Arbeitsflächen. Komisch. Mikki legt sehr großen Wert auf Sauberkeit – jedenfalls hat sie das früher getan. Unsere letzte gemeinsame Wohnung in Cornwall sah immer aus wie geleckt.

Sie bemerkt, wie ich mich umsehe, und zerdrückt einige Ameisen mit dem Finger.

Mein Schädel pocht – eine Kombination aus Flüssigkeitsmangel, Müdigkeit und Jetlag. »Könnte ich vielleicht ein Wasser haben?«

Sie füllt ein Glas aus dem Wasserspender am Kühlschrank. In meiner Hast schütte ich mir etwas von dem eisigen Nass über Finger und T-Shirt. Das Gefühl ist so herrlich erfrischend, dass ich am liebsten das gesamte Glas über mir ausgießen würde.

Mikki wischt sich die Stirn. Sie sah noch nie so schlank und muskulös aus wie jetzt, nicht mal zu ihren Zeiten als Leistungssportlerin. Ihre Füße sind nackt, die Nägel glänzend schwarz lackiert.

»Du siehst toll aus«, sage ich.

»Danke. Du auch.«

»Lüg nicht. Nach dem langen Flug wohl kaum. Kein Wunder, dass du nicht zurück nach England kommen möchtest. Wer würde freiwillig so eine weite Reise ein zweites Mal auf sich nehmen?« Ich bemühe mich um Leichtigkeit, doch es gelingt mir nicht, die Anspannung zu vertreiben.

»Deine Haare.« Sie streckt die Hand aus und berührt sie. »Die sind so …«

»Langweilig?« Seit wir uns in der Grundschule kennengelernt haben, hatten meine Haare so ziemlich jede Farbe des Regenbogens, nur nicht mein natürliches Mausbraun.

Sie lacht. »Ich wollte ›normal‹ sagen.«

Auch ich lache, obwohl ›normal‹ in Mikkis Augen vermutlich kein Kompliment ist. Und in meinen auch nicht.

Sie schöpft Eintopf in zwei tiefe Teller. Als sie sie auf den Frühstückstresen stellt, sehe ich das Tattoo an der Innenseite ihres Handgelenks.

»Was ist denn das?«

Sie schaut nur flüchtig hin, als wäre es keine große Sache.

Ich selbst habe einen fliegenden Vogel auf dem Schulterblatt, den Mikki eigens für mich entworfen hat. Ehe ich mir das Motiv stechen ließ, unterhielten wir uns über Tätowierungen, und ich schlug ihr vor, sich auch eine machen zu lassen.

»Auf gar keinen Fall«, sagte sie damals. »Meine Eltern würden mich umbringen. Viele Japaner halten Tattoos für unanständig. Damit lassen sie einen nicht ins Fitnessstudio oder ins öffentliche Schwimmbad.«

»Ist das immer noch so?«

»Ja. Oder man muss sie bedecken. Viele Firmen geben einem keinen Job, wenn man tätowiert ist. Das ist nicht gut für ihr Image.«

Deshalb falle ich fast aus allen Wolken, als ich jetzt das Tattoo an ihrem Handgelenk sehe. »Zeig mal.«

Mikki streckt mir ihren Arm hin. Es ist ein Schmetterling in verschiedenen Schwarz- und Brauntönen mit einem dicken, gestreiften Leib und Fühlern mit kleinen Hörnern. Ich sollte etwas sagen – dass ich das Motiv schön finde. Aber das wäre gelogen. Es sieht schrecklich aus.

Wir nehmen uns zwei Hocker. Es gibt so viel, was ich sie gerne fragen würde. Aber das muss warten. Ich will die Stimmung zwischen uns nicht vollends kaputtmachen.

Es ist seltsam, in dieser winzigen stickigen Küche nikujaga zu essen. Wie oft haben wir es in unserer zugigen Küche in Cornwall gegessen, nachdem wir vor Kälte schlotternd vom Surfen wiederkamen?

»Wie ist es so in London?«, fragt sie.

Ich bin vor Kurzem dreißig geworden, und fast niemand hat von meinem Geburtstag Notiz genommen. Meine neuen Kollegen wussten nicht Bescheid, und ich habe es ihnen auch nicht gesagt. Mum hat eine Karte geschickt, und ein paar Freunde haben mir Nachrichten geschrieben oder angerufen, aber das war es auch schon. »Ich finde es toll. Ich habe schon ein paar echt nette Leute kennengelernt.«

»Und die Arbeit?«

»Auch gut. Viel zu tun. Meine Patienten holen sich regelmäßig irgendwelche Verletzungen.«

Mikki sieht mich ungläubig an. »In London?«

»Ja. Rugby, Yoga, so was eben.« Das immerhin entspricht der Wahrheit. Ich erzähle ihr von einigen Verletzungen, die ich behandelt habe, doch sie scheint nur mit halbem Ohr zuzuhören.

»Was ist mit dir? Arbeitest du immer noch in diesem Club?«

»Nein, da bin ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr.«

Mikki muss ein kleines Vermögen geerbt haben, als ihr Großvater gestorben ist, denn sie hat erwähnt, dass sie hier ein Haus kaufen möchte.

»Und was machst du stattdessen?«, frage ich.

»Ach, so dies und das.« Sie nimmt einen Flyer vom Tisch.

(McMorris Surfbretter: handgemacht für alle, die den Unterschied kennen) und fächelt sich damit Luft zu. »Scheiße, ist das schwül heute.«

»Wann hast du das Fluchen gelernt?«

Sie lächelt. »Daran sind die Aussies schuld.«

Ich erwidere ihr Lächeln, während ich gleichzeitig ganz fest die Zähne zusammenbeiße, bis mir davon der Kiefer wehtut.

All die Dinge, die ich ihr gerne sagen würde, steigen mir die Kehle hinauf und drohen aus mir herauszuplatzen.

3

KENNA

Ist er gewalttätig, Mikki? Schlägt er dich?

Ich hoffe inständig, dass ich mich irre, aber ich habe während unserer Telefonate so viele Warnsignale wahrgenommen. Wie bringe ich das Thema zur Sprache? Sage ich es einfach geradeheraus? Aber vielleicht geht sie dann in Abwehrhaltung und streitet alles ab. Stattdessen beschließe ich, auf eine günstige Gelegenheit zu warten, während wir uns über gemeinsame Bekannte, unsere Eltern und die Brasilianerin Maya Gabeira unterhalten, die den Weltrekord für die größte jemals von einer Frau gesurfte Welle hält.

Ein Klimpern von Schlüsseln, dann betritt ein großer, blonder, muskulöser Mann das Haus.

Sein Auftauchen scheint Mikki ein wenig aus dem Konzept zu bringen. »Äh, das ist Jack. Jack, das ist Kenna.«

Ich bin sofort auf der Hut. Das ist er also. Ich habe ihn während unserer Face-Time-Gespräche hin und wieder kurz im Hintergrund gesehen, allerdings nie sein Gesicht. Er schüttelt mir mit einem selbstbewussten Lächeln die Hand. »Ich habe schon viel von dir gehört.«

Er mustert mich dermaßen eindringlich, dass ich rot werde. Aber auch ich taxiere ihn und seine kräftige Statur. Niemand bedroht meine beste Freundin und kommt ungestraft davon. Mach mal halblang, Kenna. Du weißt doch überhaupt nicht, was los ist. Nun, ich habe definitiv die Absicht, es herauszufinden.

Jack wirft Mikki einen belustigten Blick zu. »Wusstest du, dass sie kommt?«

Mikkis Lächeln wirkt erzwungen. »Nein.«

Er wendet sich wieder an mich. »Zum ersten Mal in Australien?«

»Ja.« Ich will diesen Kerl auf gar keinen Fall heiß finden, aber er sieht wirklich unverschämt gut aus. An seiner Bräune und den stellenweise fast weiß gebleichten Haaren erkennt man, dass er viel Zeit im Freien verbringt. Er ist glatt rasiert mit einem markanten Kiefer, einem Kinngrübchen und breiten Schultern, die sein Quiksilver-T-Shirt optimal ausfüllen. Er könnte dem Set der Serie Home and Away entstiegen sein.

»Ich war noch nie in England«, sagt er. »Zu kalt und so. Einer meiner Kumpels war mal für ein Jahr drüben und hat sich fast die Eier abgefroren. Wie soll man mit Handschuhen und Mütze surfen? Und das im Sommer?«

»Wie war es auf der Arbeit?«, erkundigt sich Mikki.

»Ganz okay.« Jack gibt sich Eintopf auf einen Teller. Er hat sie nicht zur Begrüßung geküsst oder auch nur umarmt – aber welches Recht habe ich, darüber zu urteilen, wie Partner sich begrüßen sollten?

»Du hast früh Feierabend gemacht.« In Mikkis Stimme schwingt ein anklagender Unterton mit. Auch das wandert auf meine mentale Liste mit Fragezeichen.

»Ja.« Jack zieht sich das T-Shirt aus und wirft es in eine Ecke, dann holt er sich ein Bier aus dem Kühlschrank. »Du auch eins, Kenna?«

Ich gebe mir Mühe, ihm weiterhin ins Gesicht zu schauen und meine Blicke nicht in Richtung seiner Brust abdriften zu lassen. »Lieber nicht, sonst schlafe ich gleich ein.« Und ich muss alle Sinne beisammenhaben.

Jack setzt sich neben mich und nimmt einen tiefen Schluck. Ich bin hin- und hergerissen, ob ich ihn hassen oder scharf auf ihn sein soll. Ich kann nicht abstreiten, dass die beiden rein optisch ein tolles Paar abgeben. Er blond und athletisch, sie zierlich und dunkel. Und sie haben ein gemeinsames Interesse: das Surfen. Trotzdem hat Mikki während unserer Telefonate kaum von ihm gesprochen. Wenn sie ihn wirklich lieben würde, könnte sie doch bestimmt gar nicht aufhören, von ihm zu erzählen, oder?

Sie ist bereits kurz nach dem Kennenlernen bei ihm eingezogen. Sie hat seine Miete gezahlt, als er keinen Job hatte, und dann auch noch diese Blitzverlobung – man müsste meinen, die zwei wären bis über beide Ohren verliebt. Doch in Wahrheit ist davon nichts zu merken. Mikki wirkt eher leicht genervt von seiner Gegenwart, während er die ihre gutmütig zu ertragen scheint. Mikki war immer schon ein sehr reservierter Mensch, der seine Gefühle nicht gern offen zeigt, außerdem sind sie seit fast einem Jahr zusammen, deshalb lodert das Feuer der Leidenschaft vielleicht nicht mehr ganz so heiß wie zu Beginn. Aber ihre ausweichende Art, wann immer es um Jack geht, deutet für mich darauf hin, dass irgendwas faul ist.

Das wenige, was ich über ihn weiß, musste ich ihr förmlich aus der Nase ziehen. Er arbeitet nicht viel, weil er Rückenprobleme hat, deshalb »unterstützt« sie ihn finanziell, und sie hat ihre Pläne, durch Australien zu reisen, aufgegeben, weil er ihr »den besten Strand der Welt« gezeigt hat. Für meinen Geschmack klingt das so, als würde sie sich ihm viel zu stark unterordnen.

Dass sie bald heiraten wollen, hat sie letzte Woche ganz nebenbei erwähnt, als wäre es ursprünglich gar nicht ihre Absicht gewesen, es mir zu sagen. Das war für mich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

»Ich komme zu dir«, sagte ich sofort.

»Nein, nein. Wir wollen es ganz unkompliziert halten. Im kleinen Kreis, nichts Aufwändiges.« Ihr Tonfall klang irgendwie müde und resigniert – beinahe traurig.

»Bist du schwanger?«

Ich hörte, wie sie sich verschluckte. »Nein!«

Warum dann heiraten? Doch sie blieb mir eine Erklärung schuldig. Meine Sorge um sie war so groß, dass ich sofort im Anschluss an unser Telefonat einen Flug buchte. Ich musste mir einen Monat von der Arbeit freinehmen, was nicht gerade ideal war, aber ich bin selbstständig, deshalb kann ich prinzipiell verreisen, wann ich will, außerdem habe ich in den letzten anderthalb Jahren extrem viel gearbeitet. Ich war Mikki eine schlechte Freundin und viel zu sehr mit meinem eigenen Elend beschäftigt. Als ich sie vor zwei Jahren brauchte, war sie für mich da, deshalb bin ich es ihr schuldig, ihr jetzt beizustehen.

Vor meinem Abflug habe ich ihre Eltern angerufen, um ihnen von meinen Plänen zu berichten und sie gleichzeitig ein bisschen auszuhorchen. Die Hochzeit erwähnte ich mit keinem Wort, und da sie ihrerseits auch nicht darauf zu sprechen kamen, gelangte ich zu dem Schluss, dass sie nichts davon wussten: ein weiteres Warnsignal.

Ich habe Angst, Jack könnte sie zur Heirat drängen, weil er hinter ihrem Geld her ist. Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand Mikki ausnutzt. Sie lässt sich von jeder rührseligen Geschichte einlullen. Sie wissen schon: Leute, die auf der Straße um Geld betteln, weil sie angeblich ihr Portemonnaie verloren haben und jetzt dringend zwei fünfzig für die Busfahrt nach Hause brauchen – und am nächsten Tag sieht man, wie sie genau dieselbe Masche wieder abziehen. Mikki ist jemand, der ihnen jedes Mal die zwei fünfzig gibt. Sie ist der netteste Mensch, den ich kenne, aber für die Welt der Erwachsenen scheint sie nicht adäquat gerüstet zu sein.

Weiß Jack, dass ihre Familie eine Kette erfolgreicher Surfshops betreibt? Selbst wenn sie es ihm nicht gesagt hat, hätte er sie googeln können.

Mit seiner großen Hand umfasst er Mikkis Unterarm. »Ist der Papierkram fertig?«

Sofort versteife ich mich.

»Ja«, sagt Mikki. Ihre Körpersprache lässt keine Hinweise auf Angst erkennen, aber das bedeutet natürlich nicht, dass sie keine Angst hat.

»Heute in zwei Wochen, richtig?«, sagt Jack.

Ach du Scheiße. Bestimmt meinen sie die Hochzeit. Ich hatte keine Ahnung, dass sie es so eilig haben. Mir bleiben also nur vierzehn Tage, um sie umzustimmen. Ich schaue nach, ob sie einen Verlobungsring trägt, aber ihre Finger sind schmucklos. Das sollte mich wahrscheinlich nicht wundern, zumal Jack ja offenbar nicht viel Geld hat. Ich glaube auch nicht, dass es Mikki stört, dass sie keinen Ring trägt. Sie ist zwar wohlhabend, aber alles andere als materialistisch.

Ich sehe Jack beim Essen zu. Ihrem Verlobten. Ich kann es immer noch nicht fassen. Seit ich sie kenne, hatte Mikki nie einen richtigen Freund. Auf der Schule ist sie ein paarmal mit Jungs ausgegangen, und auch danach hatte sie hin und wieder Beziehungen, aber die hielten nie lange. Eine Weile habe ich mich gefragt, ob sie vielleicht auf Frauen steht, aber das scheint nicht der Fall zu sein. Vielleicht ist das Surfen ihre einzige wahre Leidenschaft, und sie braucht nicht mehr.

Jack ist ganz anders als die Männer, mit denen sie früher ausgegangen ist – größtenteils bärtige Künstlertypen mit langen Haaren und Hippieklamotten. Jack ist eher der kernige, sportliche Typ Mann. Und deutlich attraktiver als ihre bisherigen Liebschaften.

Kein sehr hilfreicher Gedanke, Kenna.

Seine Tattoos sind das andere, was mir Rätsel aufgibt. Er ist quasi am ganzen Körper tätowiert, mit aufwändig gestalteten Meereswesen und mystischen Tieren. Eine Schlange windet sich wie ein Armband um sein Handgelenk. Hat Mikki ihren Eltern deshalb nichts von der bevorstehenden Hochzeit erzählt? Weil sie weiß, dass sie ihn nicht gutheißen würden?

Jack sieht mich schon wieder an, und ich erschauere. Ich muss unbedingt mit Mikki unter vier Augen sprechen und mehr über ihn herausfinden. Er räumt die leeren Teller ab. Wenigstens hilft er im Haushalt.

Während er abspült, öffne ich meinen Rucksack und hole Geschenke heraus: englische Schokolade – Minstrels und Revels –, weil Mikki gesagt hat, dass sie sie vermisst; Bücher und ein hübsches Paar Flipflops von Havaianas mit einem Manga-Mädchen darauf. Mikki schiebt ihre Füße hinein. »Oh, die sind total toll!«

»Und …« Etwas scheu hole ich das Make-up hervor – all die Markenprodukte, die sie geliebt hat, als wir noch zusammen wohnten. »Ich wusste nicht, ob du die Sachen hier bekommen kannst. Und ob du dich überhaupt noch schminkst.«

Sie schraubt den Deckel vom Lippenstift und tritt vor den Spiegel im Wohnzimmer, um ihn aufzulegen. »Man kriegt sie hier, aber trotzdem danke.«

Mit rosa glänzenden Lippen schließt sie mich noch einmal in die Arme, ehe sie sich wieder hinsetzt. Da ist immer noch diese merkwürdige Spannung zwischen uns, aber wenigstens sieht sie jetzt ein bisschen mehr aus wie die alte Mikki.

»Wie geht es Tim?«, fragt sie.

Ich staune, dass sie sich den Namen gemerkt hat. »Wir sind nur ein paarmal miteinander ausgegangen. Ich habe schon vor Ewigkeiten mit ihm Schluss gemacht, habe ich dir das nicht erzählt?«

»Gut so. Er schien ein totaler Langweiler zu sein.«

Ich lache. Sie kennt mich zu gut. »Warum hast du mir das nicht früher gesagt?«

Auch sie muss lachen. »Die Verlockung war da.«

Einen Moment lang ist es wie in alten Zeiten. Sie und ich, beste Freundinnen für immer. Ich habe keine Schwester, nur einen großen Bruder, dem ich nicht besonders nahestehe, aber Mikki ist mein Ersatz.

»War er zu nett?«

»Nicht direkt.« Insgeheim wundere ich mich über die Frage. Verrät sie etwas über ihre Beziehung mit Jack? »Es … Ich war einfach nicht mit dem Herzen dabei.«

»Dann bist du zurzeit also Single?«, fragt sie.

Jack wirft mir über die Schulter einen Blick zu.

»Ja«, sage ich, unangenehm berührt.

Er trocknet sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und tritt zu uns. »Ein Glück, dass du rechtzeitig gekommen bist, Kenna. Wir wollen nämlich morgen an die Küste fahren.«

Ich sehe Mikki um Bestätigung heischend an. Ihre schuldbewusste Miene trifft mich tief. Ich bin den ganzen weiten Weg geflogen, und jetzt kann ich sie nur ein paar Stunden lang sehen?

»Hast du schon Pläne für deinen Aufenthalt hier?«, erkundigt sich Jack.

»Also …« Ich will Zeit mit meiner besten Freundin verbringen. Mehr über diesen zwielichtigen Australier erfahren, den sie zu heiraten gedenkt. Sie zur Vernunft bringen und zurück nach Hause holen. »Nein, eigentlich nicht.«

»Dann komm doch mit«, schlägt Jack vor.

Mikkis Augen weiten sich, was ihm allerdings nicht auffällt. Sie strahlt eine ganz merkwürdige Energie aus, bis sie bemerkt, dass ich sie beobachte, und sich am Riemen reißt. »Ja, auf jeden Fall.«

»Ich möchte eure Zweisamkeit nicht stören«, sage ich.

»Wir sind insgesamt zu sechst«, erwidert Jack.

Ich versteife mich. Mikki hat nicht viel von der Gruppe erzählt, mit der sie surfen geht, aber das, was ich bislang gehört habe, gefällt mir gar nicht. Ich versuche, Zeit zu gewinnen. »Wo soll es denn hingehen?«

»Einfach an einen Strand.« Jack grinst. Es ist ein Witz, den ich nicht verstehe.

Ich wende mich an Mikki. »Ist das der Surfstrand, den du erwähnt hast? Der, den fast niemand kennt?«

»Genau.« Mikki und Jack tauschen wortlos einen Blick. Sie errötet.

»Wie lange wollt ihr denn dort bleiben?«

»So lange wie möglich«, antwortet Jack. »Stimmt’s, Mikki?«

Ich warte darauf, dass einer der beiden die Hochzeit anspricht, doch das passiert nicht. »Wollt ihr zelten?«

»Ja«, sagt Jack. »Du surfst doch auch, oder?«

»Früher schon. Inzwischen nicht mehr.«

»Wie kommt’s?«

Ich will das jetzt nicht erklären. »Ich habe eben aufgehört.«

Jack runzelt die Stirn. »Wie kann man mit dem Surfen aufhören?«

Weil ich den Anblick des Meers nicht länger ertragen konnte. Nicht nach dem, was geschehen ist. »Ich bin wegen der Arbeit weggezogen.«

»Na ja, aber hier musst du nicht arbeiten, stimmt’s?«

»Ich habe kein Board.«

»Was surfst du denn, Shortboard oder Longboard?«

So viele Fragen. »Äh. Shortboard.«

»Warte kurz.« Jack verlässt das Zimmer.

Ich wende mich an Mikki. »Wenn du nicht möchtest, dass ich mitkomme, sag es einfach.«

»Natürlich möchte ich, dass du mitkommst.«

Ich senke die Stimme. »Ist alles in Ordnung bei dir? Wenn er dir … wehtut, dann kann ich dir helfen.« So. jetzt ist es raus.

Mikki zuckt zusammen. »Was? Nein!«

Die schnelle Antwort macht mich misstrauisch. »Besonders glücklich wirkst du aber nicht.«

»Damit hat es nichts zu tun. Wirklich nicht. Ich war bloß überrumpelt, als du auf einmal unangemeldet vor der Tür standest.«

Sie wirft einen Blick zur Tür. »Und die Sippe ist seit einiger Zeit ein bisschen komisch.«

»Die was?«

»So nennen wir uns. Aber du solltest auf jeden Fall mitkommen. Das wäre total cool.«

Jetzt trägt sie ein bisschen zu dick auf. Worauf hat sie sich da eingelassen? Panik steigt in mir hoch. »Das ist mir während unserer Gespräche schon aufgefallen, deshalb bin ich hergekommen. Ich möchte dich mit nach Hause nehmen.«

»Nein, ich …«

Jack kehrt zurück. Er hat ein Shortboard mitgebracht.

Verdammt. Er stellt es neben mir ab. Die Oberfläche ist gewachst, doch seinem tadellosen Zustand nach ist es fast nie benutzt worden. Ich zucke zusammen, und Zorn flackert in mir auf, als er mich an der Schulter nimmt und näher an das Brett heranschiebt.

Abwägend blickt er von meinem Kopf zur Spitze des Bretts. »Na, was denkst du? Es ist fünf Fuß elf.«

Ich schüttle seine Hand ab und funkle ihn böse an.

Er bemerkt nichts, sondern schaut zu seiner Freundin. »Ansonsten hat Mikki auch noch ein paar.«

Mikki hatte immer alle Bretter, die sie sich nur wünschen konnte, weil ihre Eltern eine Surfshop-Kette besaßen. In der Woche vor meinem einundzwanzigsten Geburtstag habe ich mein einziges Brett kaputtgemacht, und sie hat mir zum Geburtstag ein neues geschenkt. Es war wunderschön verpackt. Sie musste eine ganze Rolle Geschenkpapier dafür verbraucht haben. Sie hat mir immer teurere Geschenke gemacht, als ich ihr machen konnte – noch ein Grund, weshalb ich fest entschlossen bin, sie jetzt nicht im Stich zu lassen.

Mikki nickt energisch. »Es gibt reichlich Auswahl.«

»Vertrau mir«, sagt Jack. »Wenn du die Wellen siehst, wirst du sie surfen wollen. Wir haben ein zusätzliches Zelt. Wir haben alles, was du brauchst. Also. Kommst du mit?« Seine Begeisterung gleicht der eines kleinen Kindes.

»Tja …« Wieder schaue ich zu Mikki. Es ist mir extrem unangenehm, mitzukommen, wenn Mikki das ganz offensichtlich nicht will, aber sie steckt in Schwierigkeiten, und ich muss tun, was nötig ist, um sie sicher nach Hause zu bringen.

4

KENNA

Jacks Auto ist so riesig, dass es fast schon wie ein kleiner Laster aussieht. Schwarz mit jeder Menge Chrom, einem personalisierten Nummernschild – Jack0 – und höhergelegt auf überdimensionierten Reifen. Wie kann er sich so ein Auto leisten, wenn er knapp bei Kasse ist? Oder hat Mikki es bezahlt?

Das Radio plärrt. Es wird heiß heute! Für den Fall, dass ihr auf dem Weg zum Strand seid: Die Wellen sind etwa einen Meter hoch bei leichtem Westwind.

Aufgrund des Jetlags wachte ich schon um zwei Uhr auf. Ich lag im Bett und grübelte, wie ich Mikki mehr Informationen entlocken konnte, doch als sie schließlich aufstand, war Jack bereits wach und packte den Wagen, sodass ich keine Gelegenheit hatte, sie allein zu erwischen. Immerhin lächelt sie heute Morgen die ganze Zeit und scheint sich aufrichtig zu freuen, dass ich mitkomme.

Jack biegt um eine Kurve. »Bondi Beach«, sagt er und zeigt aus dem Fenster.

Durch eine Lücke zwischen den Gebäuden sehe ich das glitzernde blaue Meer und einen hufeisenförmigen Strand. Es ist noch früh am Morgen, aber die Menschen drängen sich bereits auf dem hellen Sand. Einzelne Jogger laufen barfuß am Wasser entlang; Rettungsschwimmer mit roten und gelben Kappen halten Wache. Das Sonnenlicht ist gleißend hell, die Farben sind so kräftig und leuchtend, dass ich meine Augen mit der Hand abschirmen muss. Wenn man ein Foto vom Bondi Beach neben das eines englischen Strands legen würde, würde man denken, dass der Fotograf bei Letzterem vergessen hat, den Blitz einzuschalten.

Einige Hundert Surfer schaukeln im Wasser und stürzen sich auf jede Welle, die in ihre Richtung kommt. Ich sehe drei Personen, die alle dieselbe Welle surfen: ein Longboarder, ein Shortboarder und, halb von der Gischt versteckt, ein Bodyboarder. Der Shortboarder paddelt zum Longboarder und gestikuliert aufgebracht. Hinter den beiden lauert der Bodyboarder, als wolle er zwischen ihnen hindurchsurfen. Die Welle bricht, und die drei segeln in einem Durcheinander aus Armen, Beinen, Brettern und Gischt ins Wasser. Ich halte den Atem an, bis ihre Köpfe wieder auftauchen.

»Warum fahren wir hier lang?«, fragt Mikki vom Beifahrersitz aus.

»Ich dachte, ich zeige Kenna mal die Gegend«, antwortet Jack. »Für den Fall, dass sie nicht noch mal herkommt.«

»Wie meinst du das?«, will ich wissen. »Mein Rückflug geht von hier, ich komme also definitiv zurück.«

Jack wirft mir über die Schulter einen Blick zu. Seine Augen sind hinter einer verspiegelten Sonnenbrille verborgen. »Wer weiß? Vielleicht gefällt es dir ja so gut, dass du gar nicht mehr wegwillst.« Das Gespenst eines Lächelns huscht über sein Gesicht.

Trotz der stickigen Luft im Auto überläuft mich ein kalter Schauer.

Jack biegt auf den Parkplatz eines Supermarkts ein. »Erinnert mich daran, dass ich noch Campinggas kaufen muss.«

Er und Mikki gehen in den Laden und nehmen sich jeweils einen Einkaufswagen. Ich folge ihnen. Jack lädt Beutel mit Pasta und Reis, Dosen mit Gemüse und Fisch und vier riesige Wasserkanister in seinen Wagen.

Mikki hakt Sachen auf einer Liste ab.

»Brokkoli oder grüne Bohnen?«, fragt Jack.

»Brokkoli hält sich länger.«

Er hebt eine große gelbe Frucht hoch, die ich nicht kenne.

»Igitt, nein«, sagt sie, und er legt sie zurück.

Ich beobachte die Dynamik zwischen den beiden und suche nach weiteren Warnsignalen. Bisher hat er nichts mit der dominanten Person gemein, die ich mir ausgemalt habe, aber vielleicht hält er sich meinetwegen zurück. Kann sein, dass er hinter verschlossenen Türen ganz anders ist.

Ich zeige auf eine pinkfarbene stachlige Frucht. »Was ist denn das?«

Mikki nimmt sie in die Hand. »Drachenfrucht. Die wirst du lieben.«

Wenn ich in einem fremden Land bin, schaue ich immer gerne, was für Schokolade es dort gibt, doch zu meiner großen Enttäuschung schieben die beiden ihre Einkaufswagen am Gang mit den Süßigkeiten vorbei. Zum Glück gibt es noch eine kleine Auswahl neben der Kasse. Einige Sorten sind mir bekannt, andere nicht. Ich suche mir einige Tafeln aus, während die beiden die Lebensmittel aufs Band legen. Jack zwinkert mir zu, und ich komme mir vor wie ein kleines Kind, das heimlich etwas zum Naschen in den Einkaufswagen seiner Eltern geschmuggelt hat.

Er schiebt seinen Wagen nach draußen und überlässt Mikki das Bezahlen. Es gab dazu keinerlei Kommunikation zwischen ihnen, was auf eine eingespielte Gewohnheit schließen lässt. Noch etwas, was gegen ihn spricht.

»Hier, nimm das.« Ich hole zweihundert Dollar aus meinem Portemonnaie. Am Flughafen habe ich fünfhundert abgehoben.

Mikki wehrt ab. »Auf keinen Fall! Vielleicht bleibst du ja nur ein oder zwei Tage.«

Ehe ich darauf bestehen kann, schiebt sie ihren Wagen nach draußen.

Jack hat die hinteren Türen seines Wagens geöffnet. Dahinter verbirgt sich eine große Kühlbox, die wir mit Milch, Käse und Fleisch füllen. Die Reste von Mikkis Eintopf befinden sich bereits darin. Ich wuchte einen Sack Reis aus dem Einkaufswagen. Er ist schwerer als gedacht, und ich komme ins Straucheln.

Jack ist zur Stelle und legt seine Hände auf meine. »Ich habe ihn.« Er schiebt sein nacktes Knie unter den Sack, um ihn abzustützen.

Der Hautkontakt löst ein merkwürdiges Gefühl in mir aus. Ich lasse den Sack los, und er hebt ihn mühelos in die Kühlbox.

Dann wendet er sich an Mikki. »Wie sieht’s mit deinem Blutzuckerspiegel aus? Willst du eine Banane?«

»Nein, mir geht’s gut«, sagt sie.

Insgeheim bin ich beeindruckt, dass er nachgefragt hat. Mikki hat seit jeher ein Problem mit ihrem Blutzuckerspiegel und muss regelmäßig essen, sonst fühlt sie sich schlecht.

Jack holt eine Banane aus einer Tüte, schält sie und beißt hinein. »Du, Kenna?«

»Im Moment nicht, danke.«

Im Auto ist es unerträglich heiß, und beim Einsteigen stoße ich einen kleinen Schrei aus, weil das Leder des Sitzes mir fast die Haut verbrennt.

»Sorry«, sagt Jack. »Die Klimaanlage ist kaputt.«

Der Geruch von gemähtem Gras vermischt sich mit Benzindämpfen, als wir die Außenbezirke erreichen. Wir kommen an Cricketfeldern und Rugbyplätzen vorbei. Jedes Mal, wenn wir an einer Ampel halten, sehe ich kleine Schnappschüsse australischen Alltagslebens. Ein Mann mit Strohhut steht am Flussufer und angelt; eine vierköpfige Familie schleppt eine gigantische Kühlbox über die Straße. Jedes Auto scheint irgendeine Art von Wasserfahrzeug zu transportieren, sei es auf dem Dach, im Innenraum oder auf einem Anhänger – da gibt es Jetskis und Surfbretter, Boote und Kanus.

»Ihr kennt euch seit der Grundschule, stimmt’s?«, fragt Jack.

»Ja«, bestätige ich. »Nachdem mein Vater seinen Job verloren hat, sind wir von Schottland nach England umgezogen. Der Bruder meiner Mutter hatte eine Farm in Cornwall und brauchte Hilfe, also bin ich mitten im Jahr auf eine andere Schule gewechselt. Ich war die Neue mit dem komischen schottischen Akzent. Der Lehrer hat mich in die Klasse geführt, und da habe ich dieses Mädchen gesehen, das dieselben Turnschuhe anhatte wie ich.«

»Dieselben was?«

»Sneaker.« Mikki dreht sich um und grinst mich an. »Eigentlich sprechen Aussies ja dieselbe Sprache wie wir – aber nicht wirklich.«

Es waren Adidas. Schwarz mit weißen Streifen.

Cooler Name, sagte Mikki, als ich mich neben sie setzte.

Das ist die Kurzform von McKenzie, erklärte ich. Ich mag deine Schuhe. Mehr war nicht nötig. In dem Alter ist das Leben noch einfach. Wenn es doch nur so bleiben könnte.

Ich sehe eine Frau im Bikini, die ein Longboard auf ihrem Wagen befestigt. Das weckt Erinnerungen an die Sommer meiner späten Jugend in Cornwall, als der Dachgepäckträger von Mikkis VW Käfer unter der Last unserer Bretter fast zusammenbrach.

Der Verkehr ist dicht, als wir uns dem Stadtzentrum nähern.

»Komm schon, fahr zu!« Jacks Knie wippen ungeduldig. »Ich will endlich ins Wasser.«

»Ich auch«, sagt Mikki.

Hochhäuser gleiten vorbei und tauchen die Straße in Schatten. Eine Frau in einer Burka trägt ein Tablett mit Sushirollen über eine Kreuzung. Ein japanisches Mädchen hat eine McDonald’s-Tüte in der Hand. Fast könnte dies eine englische Großstadt sein – bis man genauer hinschaut und alte Männer in Shorts und Baseballkappen mit Surflogos sieht und ältere Damen mit nackten Beinen und Sandalen statt dicken braunen Strumpfhosen und festen Schnürschuhen.

Ein Plakat im Wartehäuschen einer Bushaltestelle erregt meine Aufmerksamkeit. Vermisst. Französische Staatsangehörige. Das Foto zeigt ein lächelndes dunkelhaariges Mädchen. Als der Bus weiterfährt, sieht man mehr von der Wand und ein weiteres Vermisstenplakat. Und dann noch eins.

»Wow! So viele verschwundene Rucksacktouristen.« Ich denke an Elkes Mutter und ihre traurigen Augen.

Miki macht eine Geste mit der Hand. »Australien ist ein großes Land. Hier verschwinden jedes Jahr dreißigtausend Menschen.«

Ich starre immer noch durch die hintere Scheibe auf die Poster, als Jack weiterfährt. Drei junge Frauen.

»Sieh mal!«, ruft Jack.

Zwischen den Hochhäusern erhasche ich einen Blick auf die strahlend weißen Segel der Oper von Sydney, aber im Moment bin ich eher an den vermissten Touristinnen interessiert. »Aber wie verschwinden sie denn?«

Mikki dreht sich auf ihrem Sitz zu mir herum und sieht mich an. Die Streben der Sydney Harbour Bridge malen filigrane Muster auf ihr Gesicht.

»Wer weiß? Manche verlaufen sich irgendwo, andere wollen einfach mal für eine Weile verschwinden. Die meisten tauchen früher oder später wieder auf.«

5

KENNA

Als der Verkehr langsam nachlässt, gibt Jack Gas, und eine höchst willkommene Brise weht durchs geöffnete Fenster herein.

Kupferrote Klippen ragen zu beiden Seiten der Straße auf, die mitten durch den Fels gehauen wurde. Man nennt Australien »the lucky country«, das Land im Glück, aber ich bezweifle, dass die Menschen, die diese Straße gebaut haben, besonders glücklich waren.

»Dieser Strand.« Ich muss rufen, um mir über das Pfeifen des Windes Gehör zu verschaffen. »Wie weit ist es bis dorthin?«

»Vier bis fünf Stunden«, antwortet Jack. »Kommt auf den Verkehr an.«

»Wow, das ist aber ganz schön weit.« Angeblich kann ich mit dem Zug oder Bus zurückfahren, wenn ich will.

»Keine Sorge, es lohnt sich.«

Mikki nickt. »Auf jeden Fall.«

Ihre Begeisterung ist ansteckend. Ein Strand. Ich war nicht mehr am Strand, seit ich vor anderthalb Jahren aus Cornwall weggezogen bin. »Hat er auch einen Namen?«

»Sorrow Bay«, sagt Jack. »Aber wir nennen es einfach die Bucht.«

Die Straße steigt an. Hier und da zweigen zwischen Waldstücken tiefe Schluchten ab.

»Am südlichen Ende gibt es einen Felsvorsprung mit Kliffbrechern«, sagt Jack. »Und eine Flussmündung im Norden. Auf einer Seite liegt eine kleine Siedlung, aber da, wo wir sind, ist es praktisch menschenleer. Der Strand liegt eine Stunde von der nächsten Landstraße entfernt, und man braucht Allradantrieb, um hinzukommen. Es gibt zwar eine Piste, aber die ist voller Schlaglöcher. Man muss wissen, wo die Bucht liegt, sonst findet man den Weg nicht.«

Ich öffne Google Earth auf meinem Smartphone. Sorrow Bay. Da ist sie. Der winzige gelbe Strand liegt am Rand eines großen grünen Nationalparks. Und da ist auch der Fluss. »Shark Creek? Gibt es da welche? Haie, meine ich?«

Jack wirft Mikki einen Blick zu, als wüsste er nicht genau, ob er es mir sagen soll. »Es gab im Laufe der Jahre ein paar Vorfälle, aber uns kommt das zugute. Es schreckt Besucher ab.«

»Mit Vorfällen meinst du …?«

»Na ja, es sind hauptsächlich weiße Haie. Eine Begegnung mit denen überlebt man so gut wie nie. Aber deshalb ist der Strand auch nicht überfüllt. Früher war es ein beliebter Platz zum Zelten, jetzt surfen nur noch wir da.«

Ich schlucke. »Ein Glück, dass ich nicht vorhabe, ins Wasser zu gehen.«

»Warte, bis du den Strand gesehen hast.«

Haie sind etwas, woran Surfer nach Möglichkeit nicht denken. In Cornwall mussten wir uns darüber keine Gedanken machen, aber sowohl Mikki als auch ich haben auch schon an Orten gesurft, wo öfter Haie gesichtet wurden. Bei diesem Sport muss man das Risiko einfach hinnehmen, so wie Skifahrer und Snowboarder das Risiko von Lawinen hinnehmen müssen.

Mikki beugt sich über ihr Handy. Das macht sie hier also – sie surft mit Haien? Eigentlich sollte mich das nicht überraschen. Seit ich sie kenne, ist Surfen ihr Leben. Es war viele Jahre lang auch meines, aber Mikkis Verbindung zum Surfen reichte noch tiefer. Weil sie als Surflehrerin arbeitete, verbrachte sie praktisch den ganzen Tag im Wasser.

Ich unterdrücke ein Gähnen. Der Jetlag macht sich schon wieder bemerkbar. Ich fühle mich, als wäre es mitten in der Nacht, obwohl die Sonne scheint.

Ich schreibe meinen Eltern eine E-Mail und schaue mich dann ein bisschen auf Social Media um. Als ich das nächste Mal aus dem Fenster sehe, kann ich mir fast vorstellen, dass wir in Cornwall sind. Ich sehe hügelige Wiesen voller Löwenzahn, auf denen Kühe neben schneeweißen Gänsen grasen. Nur die Palmen verraten, wo wir uns wirklich befinden – und die Trockenheit der Vegetation. Es ist, als hätte jemand den Ofen zu heiß eingestellt und vergessen, ihn auszuschalten. Schilder fliegen vorbei. Swans Creek, Herons Creek. Für mich ist ein »Creek« ein schlammiger Bach, wenig mehr als ein Graben, aber hier sind die Creeks so breit, dass ich sie als Flüsse bezeichnen würde. Muddy Creek. Eight Mile Creek.

Auch Mikki ist mit ihrem Handy beschäftigt.

Ich lehne mich nach vorn und tippe ihr auf die Schulter. »Alles klar?«

»Ja, wieso?«

»Du bist so still.« Seit wir Sydney verlassen haben, hat sie kaum ein Wort gesagt.

»Sie hatte noch keinen Kaffee.« Jack gibt ihr einen kleinen Knuff. »Stimmt’s, Mikki? Wir halten noch mal an der Tanke, bevor wir vom Highway abfahren.«

Aufs Neue bin ich beeindruckt davon, wie gut er sie kennt. Mikki kann sehr launisch sein, vor allem wenn sie Koffein braucht. Ich schaue aus dem Fenster. Grassy Plains. Shallow Bay. Ich mag die Schlichtheit der Namen hier. Die Orte heißen so, wie sie sind. Cow Creek – ist dort mal eine Kuh stecken geblieben? Mosquito Creek. In den möchte ich nicht reinfallen. Rattle Creek. In den auch nicht.

Als wir an der Tankstelle halten, gehen Mikki und ich auf die Toilette, während Jack den Wagen volltankt. Als ich zurückkomme, betrachtet Mikki etwas am Schwarzen Brett. Es ist über und über mit Zetteln bedeckt, die im Luftzug der Klimaanlage flattern: Wettervorhersagen, Buschwanderungen, Yogakurse und ein Männerkreis …

Vermisst. Deutsche Staatsangehörige. Zuletzt gesehen am2. September am Bondi Beach.

Zwei vertraute Augen blicken mich an: Elke. Ein seltsames Gefühl ergreift von mir Besitz. Fast ist es, als würde sie mich verfolgen.

Mikki erschrickt, als sie mich neben sich stehen sieht, und zieht mich zum Tresen. »Was möchtest du?«

»Cappuccino«, sage ich. »Aber den übernehme ich.«

»Lass mal.« Sie wirkt geistesabwesend.

Jack kommt ans Fenster.

Mikki signalisiert ihm durch eine Handbewegung, er solle zurück zum Wagen gehen. »Ich zahle!«, ruft sie und tritt vor, um unsere Bestellung aufzugeben. Ihr Blick springt kurz zurück zu dem Plakat, während wir auf unseren Kaffee warten.

Noch einmal versuche ich, Mikki mein Geld aufzudrängen, doch sie will davon nichts wissen.

»Danke«, sage ich und nippe an meinem Kaffee.

Draußen steht Jack neben einem knallgelben Jeep mit Surfbrettern auf dem Dach und unterhält sich mit zwei Frauen. Rent-a-Jeep steht an der Seite.

»Es gibt die Bumble Bay oben im Norden«, sagt er gerade. »Die ist ziemlich gut.«

»Moment mal.« Eine der Frauen blättert in einem kleinen Surfführer. »Ja, hier steht sie.«

Für den Moment verdränge ich die Gedanken an die verschwundenen Backpackerinnen.

»Hi. Seid ihr Amerikanerinnen?«

»Aus Kanada«, sagt die zweite Frau.

»Tut mir leid. Mit Akzenten bin ich ganz schlecht.«

Mit seinem Kaffeebecher in der Hand tritt Jack hinter die größere der beiden Frauen. »Keine Bewegung!«

Sie reißt die Augen auf. Sie ist hübsch mit ihren roten Haaren und ihrem kurzen Jumpsuit aus Jeansstoff.

Jacks Hand landet auf ihrer Schulter. »Moskito. Hab ihn erwischt!«

Sie lacht. »Danke! Die Viecher sind die reinsten Bestien hier.«

»Warte, da ist noch einer.«

Er kann die Finger gar nicht von ihr lassen. Ich glaube, er sucht lediglich nach einem Vorwand, um sie anzufassen. Ich schiele in Mikkis Richtung. Die Situation ist mir unangenehm, doch sie zeigt keinerlei Reaktion. Vielleicht macht er das öfter.

»Meine Ehefrau hat eben süßes Blut«, sagt die Dunkelhaarige.

»Hast du ihr schon von Sorrow Bay erzählt?«, frage ich Jack.

»Hey, wir müssen dann mal weiter«, sagt er.

Die Frau wirft einen Blick in ihr Büchlein. »Sorrow Bay? Davon steht hier nichts.«

Doch Jack ist bereits unterwegs zu unserem Wagen. In einem Moment flirtet er schamlos mit ihr, doch sobald er das Wort »Ehefrau« hört, muss er auf einmal dringend los. Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass er im Beisein seiner Verlobten fremde Frauen angräbt – homophob ist er auch noch?

»Wahrscheinlich ist sie zu klein«, sage ich.

»Lass uns weiterfahren, Kenna«, drängt Mikki.

Sie auch? Ich will den Frauen beweisen, dass ich anders bin. »Es gibt sogar einen Zeltplatz. Wir sind auf dem Weg dorthin.«

»Kenna!« Mikki zieht mich grob am Arm.

Eine der Frauen zückt ihr Mobiltelefon. »Ich google es mal.«

Jack drückt auf die Hupe.

Mikki kugelt mir fast den Arm aus. »Mein Gott, Kenna, jetzt komm doch endlich!«

»Sorry«, sage ich. »Wir müssen los. Schönen Aufenthalt noch!«

»Euch auch!«, ruft die Frau.

Im Auto herrscht Schweigen, als Jack wieder auf die Straße auffährt.

»Schaut euch die Bäume an«, sagt er irgendwann. »Der Wind kommt aus Süden. Diese Bastarde kriegen all die guten Wellen ab.«

Was für ein Arschgesicht. Lass es gut sein, sage ich mir.

Er knufft Mikki in die Seite. »Magst du noch mal die Vorhersage checken, bevor wir abbiegen?«

Mikki holt ihr Telefon heraus. Ich erinnere mich an die verschwundenen Touristinnen und zücke ebenfalls mein Handy. Es gibt diverse Artikel über sie. Ich klicke auf den ersten. Acht verschwundene Rucksacktouristen, und kein Ende in Sicht … Flüchtig schaue ich mir die Fotos an. Die meisten sind Frauen, aber es gibt auch zwei Männer, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Einer trägt einen Neoprenanzug, und seine nassen blonden Haare kleben ihm seitlich im Gesicht; der andere sieht in Anzug und Krawatte so sauber und adrett aus, dass man ihn sich überhaupt nicht als Rucksacktouristen vorstellen kann. Auch die Nationalitäten sind verschieden: USA, Schweden, Irland … Einige haben ein Surfbrett in der Hand.

Der Kaffee zeigt bei mir keinerlei Wirkung. Ich bin kurz davor, einzudösen, obwohl ich mich nach Kräften bemühe, wach zu bleiben.

»Heute haben die Wellen drei bis vier Fuß«, verkündet Mikki. »Morgen leicht nachlassend.«

»Mist!«, sagt Jack.

Ich klammere mich an meinen Sitz, als er um eine Kurve biegt.

Ein Schild fliegt an mir vorbei: Willkommen im Sorrow Nationalpark.

Wir befinden uns auf einer einspurigen Schotterpiste. Zwischen den Bäumen ist hin und wieder dunkles Wasser zu erkennen. Der Shark Creek, nehme ich an. Für mich sieht es nach einem ausgewachsenen Fluss aus.

Dann ein weiteres Schild: Gefahr von Überflutung.

»Was macht der Wind?«, will Jack wissen.

Mikki starrt auf das Display ihres Smartphones. »Morgens aus südlicher Richtung, zum Nachmittag hin eher Nordwind.«

Gähnend klicke ich auf den nächsten Artikel. Ein weiterer vermisster Tourist wurde genau wie Elke zuletzt am Bondi Beach gesehen. Na ja, wahrscheinlich zieht es die meisten Backpacker dorthin.

»Beeil dich lieber«, sagt Jack, als er sieht, was ich tue. »Gleich ist das Signal weg.«

»Ernsthaft?«

»Hier draußen ist ja niemand«, sagt Jack. »Jedenfalls niemand außer uns.«

So langsam bereue ich, mitgekommen zu sein. »Es gibt hier kein Internet, keinen Handyempfang, gar nichts? Scheiße!«

Der Artikel lädt nicht. Tatsächlich: Kein Netz. Normalerweise bin ich ständig online. Patienten buchen mich über meine Website. Ich habe dort zwar gepostet, dass ich den ganzen Monat über im Urlaub bin, aber wenn einer meiner Stammpatienten sich verletzt, wird er mir vermutlich eine Nachricht schreiben. Und was, wenn ich von hier wegwill? Ohne Telefon, um mir ein Taxi oder ein Uber zu rufen, bin ich von einem Typen abhängig, den ich kaum kenne.

Meine Augenlider sind mittlerweile so schwer, dass es wehtut, sie offen zu lassen. Ich kann nicht länger gegen den Jetlag ankämpfen. Im Fußraum finde ich einen schwarzen Hoodie. Ich hebe ihn auf, knülle ihn zusammen und lege ihn gegen das Fenster als Kissen. Dann schließe ich die Augen. Während ich wegdämmere, höre ich Mikkis Stimme.

»Sie schläft«, sagt sie anklagend. »Du hast es doch nicht schon wieder gemacht, oder?«

»Nein!«, sagt Jack. »Natürlich nicht. Sie ist deine Freundin!«

Im Halbschlaf frage ich mich, worüber sie reden. Aber ich bin zu müde, um mir darüber Gedanken zu machen.

6

KENNA

Ich reiße die Augen auf, als ich jäh nach vorne geschleudert werde. Der Wagen kommt schlingernd zum Halten. Ein Blätterdach verdeckt den Himmel und taucht die Straße ins Halbdunkel – wenn man es überhaupt als Straße bezeichnen kann. Eigentlich sind es nur Staub und Steine.

Vor uns taucht eine Absperrung auf. Gefahr! Erdrutsche. Straße gesperrt.

Mikki öffnet die Beifahrertür, springt ins Freie und zieht die Absperrung zur Seite. Jack fährt weiter. Schotter knirscht unter den Reifen. Mir wird ganz mulmig zumute. Auf einmal bin ich hellwach und recke den Hals, um zu sehen, wo Mikki ist. Jack tritt erneut auf die Bremse, und Mikki steigt wieder ein. Hinter uns steht die Absperrung wieder an ihrem Platz.

Während wir über die Piste holpern, spähe ich nach vorn durch die Windschutzscheibe. »Da stand doch, dass die Straße gesperrt ist.«

»Mach dir deswegen keinen Kopf.« Jack fährt mehrere Minuten lang weiter. Der Wagen hüpft durch Schlaglöcher.

Ein metallisches Geräusch ertönt, als wir in einem besonders tiefen Krater landen. Ich umklammere meinen Sitz aus Angst, dass ein Reifen platzen könnte. Was dann? Ich werfe einen Blick auf mein Handy. Immer noch kein Netz. Wir wären nicht mal in der Lage, einen Abschleppwagen zu rufen.

Der Wald erstreckt sich scheinbar endlos in alle Richtungen. Die Stämme der Bäume sind nackt und stellenweise geschwärzt, aber hier und da sprießen mutig einzelne junge Blättchen. Hinter einer Kurve kommen wir an eine Senke, in der Wasser über die Straße fließt. Jack fährt hindurch, ohne das Tempo zu drosseln, sodass Fontänen bis zu den Fenstern hochspritzen. Inzwischen habe ich wirklich ein bisschen Angst. Mir war nicht klar, dass diese Bucht so abgelegen ist.

»Ich habe gar keinen Schlafsack dabei«, sage ich.

»Wir haben noch einen übrig«, erwidert Mikki.

»Ich habe auch keine Sonnencreme mitgenommen.«

»Du kannst meine benutzen.« Sie sieht mich an. »Früher hast du dir nie so viele Gedanken gemacht. Aber mir ging es auch so, als ich zum ersten Mal hier war. Der Strand wird dir guttun.«

Jack macht eine Vollbremsung.

»Was ist denn?«, fragt Mikki.

Jack deutet auf etwas Langes, Dunkles, das vor uns auf dem Weg liegt. Ein Ast. Nein, eine Schlange.

Jack lässt den Motor aufheulen, doch das Tier bewegt sich nicht vom Fleck. »Fuck.«

»Fahr einfach drüber«, sagt Mikki.

»Ich will sie nicht zerquetschen.« Jack atmet langsam ein. Seine Knöchel am Lenkrad sind weiß.

»Soll ich …«, beginnt Mikki.

Doch Jack öffnet die Tür und springt nach draußen. »Nein.«

»Vorsicht!«, ruft Mikki.

Er schlägt die Fahrertür zu. Wir beide beobachten ihn durch die Windschutzscheibe.

»Ist die giftig?«, frage ich.

»Wahrscheinlich«, sagt Mikki. »Er hat furchtbare Angst vor Schlangen.« Jack bückt sich und hebt ein vertrocknetes Blatt auf, mit dem er nach der Schlange wirft. Es landet auf ihrem Rücken, und sie kriecht ins Unterholz.

Mit bleichem Gesicht steigt er wieder ein.

Mikki tätschelt seine Schulter. »Gut gemacht.«

Er umklammert lange das Lenkrad, ehe er weiterfährt.

Ein Stück voraus kommen mehrere Fahrzeuge in Sicht: ein auffälliger roter Pick-up und ein schlammbespritzter Geländewagen. Jack hält neben ihnen. Als ich aussteige, ist der Untergrund hart und trocken unter meinen Füßen. Ich rieche Baumrinde und Moos, und die Luft ist erfüllt vom Summen der Insekten.

Jack öffnet die hinteren Türen. »Nehmt mit, was ihr tragen könnt.«

Beladen mit Taschen, geht Mikki einen schmalen Pfad hinunter. Ich schwinge mir meinen Rucksack auf die Schultern, hole das Surfbrett heraus, das Jack mir gestern gezeigt hat, schnappe meinen Tagesrucksack und folge ihr. Es fühlt sich seltsam an, wieder ein Surfbrett unter dem Arm zu halten. Ich habe nicht vor, eine Gewohnheit daraus zu machen. Mikki biegt um eine Kurve und verschwindet aus meinem Blickfeld. Das Surfbrett schlägt gegen meine Hüfte, als ich meine Schritte beschleunige. Der Pfad gabelt sich, aber Mikki ist nirgends zu sehen.

Ein hölzernes Hinweisschild: zum Strand. In der Ferne das Rauschen der Wellen. Insektensummen in meinen Ohren, als ich weiterlaufe. Der Pfad ist halb überwuchert, Zweige zerkratzen mir das Gesicht. Dann versperrt mir ein Spinnennetz den Weg. Ich mag schon unter normalen Umständen keine Spinnen, aber die in England sind wenigstens nicht tödlich. Ich werfe einen Blick zurück in der Hoffnung, Jack zu sehen, doch da ist niemand. Auch die Wellen sind nicht mehr zu hören, was merkwürdig ist. Vorsichtig schiebe ich mit der Nase des Surfbretts das Netz zur Seite, dann ducke ich mich, Ausschau nach Spinnen haltend, darunter hindurch. Die Bäume stehen dicht an dicht zu beiden Seiten, und im Vorbeigehen verfangen sich immer wieder Zweige in meinem Haar. Habe ich den falschen Weg genommen?

Hinter der nächsten Kurve steht ein Mann.

Ich bleibe wie angewurzelt stehen. »Hi.«

Er trägt nichts als ein Paar Boardshorts. Er hat sehr kurz geschorenes schwarzes Haar und atemberaubende graugrüne Augen. Er starrt mich an, als hätte er einen Geist gesehen.

»Ich bin Kenna.«

Er räuspert sich. »Clemente.«

Er ist braun gebrannt und hat die schmalen Hüften und den starken Oberkörper eines Surfers. Tattoos zieren seine Arme und Beine. Er muss einer ihrer Freunde sein – ein Mitglied der Sippe.

»Ich suche den Strand«, sage ich. »Und meine Freundin Mikki.«

Clemente gibt sich einen Ruck. »Dann bist du hier falsch.«

Er spricht mit leichtem Akzent – Spanisch, wenn ich mich nicht irre.

»Oh«, sage ich. »Aber das Schild …«

»Komm.« Ehe ich ihn aufhalten kann, nimmt Clemente mir das Surfbrett ab. Ich folge ihm durchs Unterholz zurück bis zur Gabelung. Nach kurzer Zeit erreichen wir eine Lichtung, auf der vier Zelte um eine hölzerne Picknickbank und einen Grill gruppiert sind. Zu einer Seite steht ein kleines Gebäude aus Beton – ein Klohäuschen?

Eine junge Frau kommt auf mich zu. »Scheiße, wer bist du denn?«

Ich versuche, nicht zurückzuzucken. Sie hat einen starken australischen Akzent, lange blonde Dreads und eine Haut, die zu viel Sonne abbekommen hat.

»Das ist Kenna«, stellt Jack mich vor. »Mikkis Freundin aus England. Kenna, das ist Sky.«

Sky fährt zu Mikki herum.

»Er hat sie eingeladen, nicht ich«, sagt diese leise.

Ich spüre einen schmerzhaften Stich in der Brust.

Jack legt mir einen Arm um die Taille und lotst mich zu einem Haufen aus Taschen und Brettern. »Stell erst mal alles hier ab.«

Ausnahmsweise bin ich froh, dass er so zupackend ist. Argwöhnisch gehe ich an Sky vorbei. Halb rechne ich damit, dass sie mich anfällt. Ein junger Mann mit dunkler Haut, rasiertem Schädel, markanten Wangenknochen und dicken Muskeln tritt vor und stellt sich neben sie und Clemente. Die drei taxieren mich von oben bis unten. Ich komme mir vor wie eine Kriminelle vor Gericht.

Sky wendet sich an Jack. »Du kannst nicht einfach ohne Absprache irgendwelche Leute anschleppen.« Sie ist schlank und muskulös – der Ringerrücken ihres Tops bringt ihre definierten Schultern zur Geltung – und mehrere Zentimeter kleiner als ich. Sie trägt zerrissene Carghoshorts, und die Zehennägel ihrer nackten Füße sind meerblau lackiert.

Der Kahlrasierte schüttelt den Kopf. »Ja, das kannst du echt nicht ständig machen, Bruder.« Seinen Akzent kann ich nicht einordnen.

»Sie ist extra aus England hergeflogen«, sagt Jack. »Wär doch schade, wenn sie so weit reist und dann nur ein paar Stunden mit ihrer Freundin verbringen kann.«

Als Mikki die Sippe erwähnte, habe ich mir einen Haufen Hippies vorgestellt, die Blumen im Haar tragen, Gras rauchen und barfuß ums Lagerfeuer tanzen. Nicht so was wie das hier.

Sie stehen eng zusammen und diskutieren darüber, wie sie mit mir verfahren sollen. Ihr Verhalten erinnert mich an das einer Sportmannschaft, die überlegt, mit welcher Taktik sie das gegnerische Team am besten fertigmachen soll.

7

KENNA

Mikki wirft mir einen hilflosen Blick zu. Sag was, Mikki. Setz dich für mich ein. Doch sie schweigt. Ich spüre, wie unangenehm ihr die Situation ist. Meine Ankunft hat ihr Ärger eingebracht.

Jack stößt Clemente in die Seite. »Was meinst du? Sie erinnert mich an …«

»Lass!« Clementes Blick trifft meinen. Diese unglaublichen Augen … ich kann nicht wegsehen. Oder schlucken. Oder auch nur atmen. Mir fällt ein Stein vom Herzen, als er herumwirbelt und zwischen den Bäumen verschwindet.

Sky seufzt. »Was machen wir denn jetzt?«

»Kenna bleibt ein paar Tage hier, dann reist sie weiter«, sagt Mikki.

Endlich. Leider ein bisschen zu spät.

»Genau«, sagt Jack. »Wenn wir das nächste Mal Vorräte holen, fahren wir sie zur Greyhound-Haltestelle.«

Um mir mein Unbehagen nicht anmerken zu lassen, trinke ich einen Schluck aus meiner Wasserflasche und schaue mich um. Eine zwischen den Bäumen aufgespannte Plane schützt die Sportausrüstung: Yogamatten, Gymnastikbälle und Faszienrollen wie die, die ich auch in meiner Praxis verwende.

Überall liegen Surfbretter herum, die gewachsten Oberseiten zum Schutz vor dem Sonnenlicht, das durchs Blätterdach fällt, nach unten gedreht.

»Aber jetzt kennt sie die Bucht«, gibt der Kahlrasierte zu bedenken.

»Wem soll sie denn davon erzählen, Victor?«, fragt Jack.

»Das ist ja das Problem!« Victor hebt die Stimme. »Wir wissen es nicht, stimmt’s?«

Eine Krähe fliegt auf und stößt über den Baumwipfeln einen Warnschrei aus.

»Sei still.« Sky fasst ihn an der Schulter, dann tritt sie zu mir. »Victor hat recht. Du darfst niemandem von diesem Ort erzählen, Kenna.«

Victor folgt ihr. »Was wir hier haben, ist was ganz Besonderes.« Er legt den Arm um sie; anscheinend sind die beiden ein Paar.

»Wem sollte ich denn davon erzählen?«, frage ich. »Ich kenne niemanden in Australien bis auf Mikki und euch.«

Jack wendet sich an die Runde. »Seht ihr?«

»Hohe Brandung!«, ruft eine Stimme.

Wir alle drehen uns um. Clemente kommt den Pfad entlanggelaufen.

»Es ist zu windig«, meint Sky.

»Er hat die Richtung gewechselt.« Clemente fängt an, ein Brett zu wachsen.

Auf einmal heben alle ihre Bretter auf und reichen das Wachs herum. Ich warte darauf, dass sie sich an mich erinnern, aber Clemente verschwindet den Pfad entlang, und die anderen laufen hinter ihm her, bis nur noch Mikki und ich zurückbleiben.

Mikki wirkt aufgewühlt und durcheinander. »Tut mir leid. Sie sind ziemlich eigen, was diesen Ort hier angeht. Die kriegen sich schon wieder ein.«