9,99 €
Astrid Sammils Leben gerät immer mehr aus den Fugen. Als Diplomatin hat sie mit Staatsbesuchen und dem anstehenden Thronjubiläum alle Hände voll zu tun. Und auch privat bleibt ihr keine Ruhe: Seit einiger Zeit bekommt sie immer wieder Hass-E-Mails und muss sich mit Anfeindungen und Drohungen im Internet auseinandersetzen. Als dann auch noch eine Freundin spurlos verschwindet, gerät Astrid immer tiefer in gefährliche Verstrickungen aus Neid, Macht und Hass. Dann wird auf ihrem Grundstück in Dalarna eine Leiche gefunden, und nichts ist mehr, wie es war …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Cover & Impressum
PROLOG
Stockholm, Schweden
KAPITEL 1
London, England & Dalarna, Schweden
KAPITEL 2
Stockholm & Dalarna
KAPITEL 3
Dalarna
KAPITEL 4
Dalarna
KAPITEL 5
Dalarna
KAPITEL 6
Stockholm & Dalarna
KAPITEL 7
Stockholm & Dalarna
KAPITEL 8
Stockholm & Dalarna
KAPITEL 9
Dalarna & London
KAPITEL 10
Island, Dalarna & Stockholm
KAPITEL 11
Dalarna & Stockholm
KAPITEL 12
Dalarna & Stockholm
EPILOG
Stockholm
Silvester 2012/13
Astrid Sammils trat an die Glaswand und blickte auf London hinab. Tief dort unten glitzerte der Verkehr auf der Kensington High Street, ein Strom von weißen und roten Lichtern, hektisch, aber lautlos von ihrem Aussichtspunkt zehn Stockwerke darüber betrachtet. Sie hob den Blick und ließ ihn über die erleuchtete Weltstadt schweifen, die erwartungsvoll vibrierte, bereit, in Jubel und Feuerwerk zu explodieren, sowie die Uhr Mitternacht schlug.
In der dicken Glasscheibe erkannte sie ihr eigenes Spiegelbild, es zeigte eine hochgewachsene, kräftige dunkelhaarige Frau mit markanten Zügen in schmaler Hose und einer Abendjacke. Sie hatte sie von einem uralten Schneider in Warschau maßschneidern lassen, und obwohl sie perfekt saß, verzog Astrid das Gesicht. Ich wirke wie eine Karikatur, dachte sie, nicht sonderlich überzeugend.
Die Türklingel ertönte in einem gedämpften Dreiklang, wie eine Vorankündigung der Neujahrsglocken. Astrid öffnete, und draußen stand eine Frau mit einer Weinflasche und einem gehetzten Ausdruck in den Augen. Sie war klein und zierlich, hatte dunkle Haare und trug einen eleganten schwarzen Mantel und hochhackige Schuhe.
»Entschuldige, Astrid«, sagte Amanda Forssell. »Ich weiß, dass ich eine Stunde zu früh dran bin – mindestens –, doch ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten, im Hotel zu sitzen und …«
»Kein Problem, du darfst gerne schon reinkommen«, erwiderte Astrid und umarmte ihre Freundin flüchtig. »Aber wo hast du Peter gelassen?«
»Das ist es ja gerade« sagte Amanda und warf Astrid über die Schulter einen Blick zu, während sie ihren Mantel an der Garderobe aufhängte. »Er musste zu einem Termin mit der Geschäftsleitung des Unternehmens, das seine Firma übernehmen will, und hätte schon längst wieder da sein sollen. Er geht nicht ans Handy, und ich weiß nicht, wo er steckt, ich kann’s mir einfach nicht erklären!«
Ihre Stimme wurde zunehmend lauter und schriller. Als sie Astrid die Weinflasche reichte, merkte diese, dass Amandas Hände schweißnass waren und ihre Finger zitterten.
»Er ist dort bestimmt nur in eine Silvesterparty geraten«, erwiderte Astrid beruhigend und schlang einen Arm um Amandas Schultern. »Oder er hat kein Taxi mehr erwischt, es ist schließlich Silvester, oder ist mit der U-Bahn irgendwo hängen geblieben. Komm rein, trink erst mal was und sag Stefan und den anderen Hallo.«
Astrid war erstaunt. Dieses Verhalten sah Amanda so gar nicht ähnlich. Solange Astrid sie kannte, war sie eine unbezwingbare und vor Energie sprudelnde Optimistin, ein Dynamo, der sämtliche Hindernisse, die ihr in die Quere kamen, beseitigte. Die Amanda, die jetzt so aufgewühlt vor ihr stand, war nicht die Frau, die sie kannte.
Sie gingen ins Wohnzimmer. Zwei Frauen saßen auf dem großen schwarzen Ecksofa, von ihrem Gastgeber Stefan Hallgrimsson aber war nichts zu sehen. Geräusche aus dem Arbeitszimmer verrieten, dass er immer noch vollauf darin vertieft war, mit seinem dreizehnjährigen Neffen Online-Games zu spielen.
Stefan Hallgrimsson war seit nunmehr zwei Jahren der Mann in Astrids Leben. Sie wusste, dass viele ihrer Bekannten sich darüber wunderten, vor allem diejenigen, die noch ihren Exmann, den Lyriker und Übersetzer Gabriel Wrede, kannten. Der Gegensatz zwischen Stefan und Gabriel hätte kaum größer sein können: Stefan war der Sohn eines Trawlerkapitäns aus Nordisland und ein vermögender Geschäftsmann. Er war im Dunstkreis eines isländischen Bankimperiums tätig gewesen, das 2008 einen sagenhaften Börsencrash hingelegt hatte. Aber Astrid hatte schon bei ihrer ersten Begegnung widerstrebend seine Anziehungskraft verspürt und nach näherer Bekanntschaft mit ihm festgestellt, dass die zynische und ironische Fassade, die er nach außen hin zeigte, etwas anderes verbarg, als sein Äußeres zunächst vermuten ließ, wenn es auch nicht unbedingt ein Herz aus Gold war. Sie konnten zusammen lachen und waren fasziniert von den Eigenarten des anderen. Astrid wusste, dass er im Zuge des Bankenzusammenbruchs nahe daran gewesen war, für Insidergeschäfte angeklagt zu werden. Sie vermied es, ihm zu viele Fragen darüber zu stellen, musste aber zugeben, dass die Vorstellung, dass er sich in Grauzonen bewegte, gefährlich nahe an Grenzen, die nicht überschritten werden durften, sie insgeheim reizte.
Solche Gefühle waren für eine Diplomatin wie Astrid, eine Botschafterin für Menschenrechte, natürlich höchst unpassend und auch der Grund dafür, dass sie nicht zusammengezogen waren und das vermutlich auch nie tun würden. Aber dass Astrid Silvester in Stefans Londoner Wohnung feiern würde, hatte für sie beide gar nicht zur Diskussion gestanden. Vor zwei Tagen war sie angekommen und genoss nun den ungezwungenen Komfort des Appartements in Kensington, nachdem sie wochenlang hart gearbeitet hatte und so viel auf Reisen gewesen war, dass sie beim Aufwachen kaum noch gewusst hatte, in welcher Stadt sie sich gerade befand. Dublin, Straßburg, Warschau … die Bilder der anonymen Hotelzimmer vermischten sich miteinander. Nach einer Besprechung der Menschenrechtskommission des Europarats und einer umständlichen Flugreise von Straßburg nach Schweden, war sie einen Tag nach dem Luciatag am 14. Dezember wieder in ihre Stockholmer Wohnung zurückgekehrt. Dort hatte sie resolut ihre verwelkten Topfpflanzen entsorgt, zwei elektrische Kerzen hervorgekramt und mit viel Glück eine freie Waschmaschine im Waschkeller ergattert. Die letzte Woche vor Weihnachten hatte sie in Besprechungen zugebracht, sehr viel Zeit darauf verwendet, die Papiere durchzugehen, die sich auf ihrem Schreibtisch angehäuft hatten, und an dem abschließenden OSZE-Arbeitsgruppenbericht gearbeitet.
Zwei Tage vor Heiligabend war sie zum Hof ihrer Familie in Granåkers Hästberg, einem Dorf in den tiefen Wäldern Dalarnas, gefahren, um mit einer gemischten Schar von Freunden, Verwandten und Nachbarn Weihnachten zu feiern und sich ein paar Dingen zu widmen, die im vergangenen Herbst liegen geblieben waren.
Nach alldem war sie einfach nur froh, dass von ihr als Gastgeberin niemand erwartete, den Kochlöffel zu schwingen. Andere gastgeberische Pflichten, wie die Unterhaltung am Laufen zu halten und dafür zu sorgen, dass keiner der Gäste ausgeschlossen wurde, gelangen ihr nach beinahe zwanzig Jahren in Diplomatenkreisen mühelos.
Sie versorgte Amanda mit einem Drink und stellte sie den anderen beiden Frauen vor. Das Auftreten ihrer Freundin überraschte Astrid jedoch weiterhin. Amanda setzte sich ganz ans Ende des Sofas und wirkte so geistesabwesend, dass Stefans Schwester Asdis Hallgrimsdottir, genannt Disa, nach einigen misslungenen Anläufen, den neuen Gast in die Unterhaltung miteinzubeziehen, Astrid einen verwunderten, fragenden Blick zuwarf.
Disa lebte seit fünfzehn Jahren in London und war so bodenständig und geradeheraus wie ihr Bruder ironisch und ausweichend. Während Stefan im Cyberspace mit Millionen jonglierte, arbeitete sie als Fitnesstrainerin. Sie war ebenso hochgewachsen wie ihr Bruder, hatte eindringlich blickende blaue Augen und trug ihre dunkelblonden Haare in einer zerstrubbelten Kurzhaarfrisur. Astrid mochte sie sehr, obwohl ihr Disas muskulöse Oberarme das Gefühl gaben, selbst mehr trainieren zu müssen.
Zoe Miller, eine erfolgreiche Psychoanalytikerin und Disas Lebensgefährtin, warf Amanda ebenfalls forschende Blicke zu. Mit ihren wogenden, hennagefärbten Locken und langen, bunten Röcken, exotischem Schmuck und kunstvoll drapierten Schals wirkte sie wie ein moderner Hippie. Ihr Verstand aber war scharf und schnell. Wenn Zoe ihre dunklen Augen auf sie richtete, fühlte sich Astrid oft unangenehm durchschaut.
»Soll ich dir nachschenken, Amanda?«, fragte Astrid.
Amanda, die sich mit einer Miene über ihr Handy beugte, als wäre sie ein gestrandeter Flugpassagier, zuckte zusammen und sah auf.
»Was? Entschuldige, ich frage mich nur, wo Peter bleibt, er hätte doch schon längst hier sein müssen.«
»Peter? Ist das Ihr Mann?«, fragte Zoe freundlich. Die Frage zauberte ein Lächeln auf Amandas Gesicht, und sie begann, lebhaft, ausführlich und etwas zu exaltiert von ihrem Ehemann und seinen Geschäften zu berichten – eine Ausführung, die ebenso deplatziert war wie ihre vorige Schweigsamkeit.
Astrid kannte Amanda aus ihrer Studienzeit in Uppsala Ende der Achtzigerjahre. Sie hatten auf demselben Flur im Studentenwohnheim gewohnt, derselben Studentennation angehört und mit der Zeit auch derselben Clique von Studentinnen, die sich gelegentlich traf, um sich über ihre Erfahrungen mit herablassenden Professoren, niederträchtigen Funktionären der Studentenschaft und weiteren Hindernissen auszutauschen, auf die sie zu ihrem Erstaunen als Frauen stießen.
Ein paar Jahre lang waren Amanda und Astrid nahezu unzertrennlich gewesen, und Astrid hatte Amandas unglaubliches Talent, etwas zu bewegen, bewundert. Wenn die Frauengruppe eine Ausstellung oder eine Vorlesungsreihe organisieren wollte, war es immer Amanda gewesen, die die richtigen Personen zu fassen bekommen und sie von einer Teilnahme überzeugt, finanzielle Unterstützung oder die perfekten Räumlichkeiten aufgetan und ihnen kostenlose Werbung verschafft hatte.
Dennoch hatten sich ihre Wege allmählich getrennt. Während Astrid mehrere Jahre auf dem Balkan gearbeitet hatte und in das Diplomatennachwuchsprogramm des Schwedischen Außenministeriums aufgenommen worden war, hatte Amanda Karriere in der PR- und Öffentlichkeitsarbeit gemacht. Nach einigen Jahren bei diversen Unternehmen hatte sie ihre eigene PR-Firma »Jaxon Communications« gegründet, die kurz vor der Jahrtausendwende von Peter Forssell, einem namhaften Gründer eines Start-up-Unternehmens in der Mobilfunkbranche, beauftragt worden war. Zwischen beiden hatte es buchstäblich gefunkt, und aus der Geschäftsbeziehung war eine private geworden. Amanda hatte sogar ihre Firma aufgegeben, um ihr PR-Talent ausschließlich für das Unternehmen ihres Mannes einzusetzen – mit großem Erfolg.
In der Woche vor Weihnachten war Astrid Amanda zufällig im Gedränge Shoppingwütiger über den Weg gelaufen. Bei einem Espresso hatte Amanda begeistert und vor Energie sprudelnd wie eh und je erzählt, dass ihr Mann und sie Silvester in London feiern würden, da Peter vor Ort mit dem Management eines internationalen IT-Riesen verhandelte, das ein Übernahmeangebot für sein Unternehmen unterbreitet hatte.
»Lade sie doch für Silvester zu uns ein«, hatte Stefan zu Astrid gesagt, als Astrid ihm via Skype von der Begegnung erzählt hatte. Sie hatte trotz der schlechten Bildschirmqualität ihres Laptops das Funkeln in seinen Augen gesehen, was ihr verraten hatte, dass er einen lukrativen Geschäftsdeal witterte.
»Du willst Peter doch nur betrunken machen, damit er dir Unternehmensgeheimnisse verrät, die du dann bei deinen Börsenspekulationen zu deinem Vorteil nutzen kannst«, hatte Astrid Stefan gleichermaßen verärgert wie amüsiert an den Kopf geworfen, Amanda und Peter aber trotzdem eingeladen.
Und jetzt saß Amanda allein hier.
»Mein Mann ist sehr darauf bedacht, in Form zu bleiben«, sagte sie zu Disa, die gerade von ihrer Arbeit erzählte. »Wir gehen jeden Morgen zusammen joggen und einmal pro Woche zu einem Fitnesstrainer. Peter sagt immer, dass man gut auf sich achtgeben muss, wenn man so viel arbeitet wie wir …«
Plötzlich gab Amandas Handy einen Ton von sich, und sie schoss vom Sofa hoch. Den Blick auf das Telefon geheftet, steuerte sie auf die Diele zu. Nach kurzem Zögern folgte Astrid ihr unter den erstaunten Blicken von Disa und Zoe.
Amanda hatte sich schon den Mantel übergeworfen und eine Hand auf die Türklinke gelegt, als Astrid in den Flur kam. Amandas Augen waren groß und dunkel und ihr Gesicht so blass, dass die Sommersprossen an ihren Nasenflügeln selbst in der gedämpften Flurbeleuchtung zu erkennen waren.
»Sorry«, sagte sie schnell, »aber ich muss mich beeilen, bitte entschuldige, Astrid …«
Lag da etwas Flehendes in ihrem Blick? Astrid legte eine Hand auf Amandas Arm.
»Aber ihr kommt doch wieder, Peter und du? Ihr seid uns willkommen, selbst wenn es spät wird.«
»Das hoffe ich, das hoffe ich wirklich«, sagte Amanda leise und war aus der Tür, bevor Astrid noch etwas sagen konnte. Sie erhaschte noch einen letzten Blick auf ihre Freundin und ihre in der Fahrstuhlkabine mehrfach widergespiegelte Gestalt, bevor sich die Fahrstuhltüren lautlos schlossen.
Carina Svahn stand am Küchenfenster und sah auf den dunklen Hofplatz hinaus, der nur von einem blassen Lichtfleck direkt am Haus erleuchtet wurde. Hier gab es keine Straßenlaternen, keine Neonreklame, keine festlich erstrahlenden Neujahrslichter – nur die Sterne und den Mond, die hin und wieder durch Risse in der Wolkendecke schimmerten.
Sie öffnete das Fenster und zündete sich eine Zigarette an, gleichzeitig belustigt und verärgert darüber, dass sie nicht einmal in ihrem eigenen Haus zu rauchen wagte. Doch am Neujahrstag erwartete sie den Besuch ihres Enkels, und ihre Tochter Tina hatte eine Nase wie ein Bluthund – außerdem sehr entschiedene Ansichten über das Rauchen in Räumen, in denen sich der kleine Valle aufhielt.
Genüsslich nahm sie einen Lungenzug und lehnte sich aus dem Fenster, um den Rauch hinauszublasen. Die Luft war feucht und für einen Silvesterabend recht mild, bestimmt mehrere Plusgrade. Der Regen, der früher am Tag durchgezogen war, hatte den meisten Schnee weggespült. Gut so. Weiße Winterlandschaften waren nichts für Carina Svahn und Schneeschaufeln definitiv nicht ihr Ding, obwohl es sich nicht vermeiden ließ, wenn man allein in einem abgelegenen Haus an einem unbefestigten Weg mitten in den tiefen Wäldern der Region Bergslagen wohnte. Aber jetzt waren von dem elenden Schnee nur noch ein paar vereinzelte Häuflein übrig, denen der Regen nichts hatte anhaben können. Was für eine Erlösung, dachte Carina und nahm einen weiteren Lungenzug. Im Fenster sah sie ihr Spiegelbild, eine hagere Frau mit schwarz gefärbten Haaren und spitzem Kinn in Jeans und einem schwarzen Lurexpullover mit V-Ausschnitt, der so alt war, dass die Bündchen an den Handgelenken ausgeleiert waren. Sie war immer noch so dünn wie ein Teenager, obwohl sie auf die fünfundvierzig zuging. Das muss am vielen Rauchen liegen, dachte sie und drückte die Zigarette auf dem Fensterblech aus.
»Na dann«, sagte sie und wandte sich zur Küche um. »Möchtest du etwas trinken, bevor wir das Essen auftischen?«
»Gern«, sagte ihr Silvestergast, »aber du denkst doch noch daran, dass ich nicht alles darf?«
Er lächelte entschuldigend.
»Natürlich«, sagte Carina und nahm zwei Gläser aus dem Küchenschrank, »du bist trockener Alkoholiker, und kein einziger Tropfen Alkohol darf über deine Lippen kommen. Kein Problem, ich habe literweise Apfelsaft, und im Kühlschrank steht Eiswasser. Und ein kleiner Rest Weihnachts-Malzbier, falls dir das lieber ist.«
Sie füllte ihr eigenes Glas mit Weißwein aus dem Tetrapack im Kühlschrank und entkorkte für ihren Gast eine Flasche von Tinas Bio-Apfelsaft. Dann öffnete sie eine Tüte Chips und schüttete sie in eine Plastikschale, die sie auf den Küchentisch stellte, bevor sie sich setzte, um ihr Werk zu betrachten. Jesses, dachte sie selbstironisch, Drinks und Snacks vor dem Abendessen, wer hätte das von Carina Svahn gedacht?
»Skål«, sagte sie und hob ihr Glas. »Schön, dass du kommen konntest, Sölve!«
»Skål, und danke für die Einladung«, antwortete er. »Kaum zu glauben, dass ich mit meiner Schwester Silvester feiere – noch vor zwei Monaten wusste ich nicht einmal, dass es dich gibt.«
Sie lächelten einander an.
Im November hatte Sölve Svahn Carina angerufen und erklärt, dass er ihr Halbbruder sei und sie gerne treffen wolle. An seiner Stimme hatte sie gehört, dass er mit einer Abfuhr rechnete, aber trotzdem – oder vielleicht auch genau deswegen – sofort zugestimmt.
Dass sie einen ihr unbekannten Bruder hatte, war nicht ganz unerwartet. Carinas Vater, Valentin Svahn, Gelegenheitsarbeiter, Akkordeonspieler und berüchtigter Schwarzbrenner, war in seiner Jugend ein fescher Kerl gewesen, und dass er seine Gene über Dalarna verstreut hatte, als er mit Tanzorchestern und dem Tivoli herumreiste, war im Nachhinein keine große Überraschung. Nur war sie selbst nie auf die Idee gekommen, solange sie, schon früh eine Waise, während ihrer schwierigen Kindheit zwischen verschiedenen Pflegeeinrichtungen und -familien herumgereicht worden war.
Sölve war neun Jahre älter als sie und in Malung geboren. Valentin hatte bereitwillig und unbekümmert die Vaterschaft anerkannt, ansonsten aber nichts weiter mit seinem Sohn und dessen Mutter zu tun gehabt. Dennoch hatte Sölve, ein talentierter Saxofonist und Akkordeonist, den Nachnamen des Vaters angenommen, als er Ende der Achtzigerjahre sein eigenes Tanzorchester gegründet hatte. Seine Band »Sölve Svahns« war auf den Tanzböden in Dalarna schnell erfolgreich geworden und hatte es 1991 mit Sölves wehmütigem Song In deinen traurigen Augen in die Hitparade geschafft und sie sogar drei Wochen lang angeführt.
Privat war es für Carinas Halbbruder jedoch nicht ganz so gut gelaufen. Seine zwei Ehen waren zerbrochen, und seine Alkoholsucht war immer schlimmer geworden. Auch die Band hatte sich aufgelöst. Als er Carina anrief, war er gerade aus einer Entzugsklinik entlassen worden. Aus einer unbestimmten Sehnsucht heraus hatte er die Idee gehabt, nachzuprüfen, ob er irgendwelche unbekannten Verwandten hatte, und über das Einwohnermeldeamt Carina problemlos ausfindig machen können.
Sie hatten sich an einem Samstag Ende November in einem Café in Hammarås getroffen. Beide waren ein wenig nervös gewesen, hatten sich aber auf Anhieb verstanden. Sie hatten festgestellt, dass sie die gleichen Augen hatten, grün und gelb gefleckt, und dass ihre Stimmen und ihre Gestik sich ähnelten. Carina hatte außerdem registriert, dass Sölve etwas Weiches an sich hatte, das ihn den Tiefschlägen des Lebens auslieferte, während sie selbst knallhart und unverwundbar war.
Sie beglückwünschte sich selbst zu der großartigen Idee, ihn für den Silvesterabend eingeladen zu haben. Ihre Tochter Tina, die bei ihrem Vater und dessen neuer Frau aufgewachsen war und viele Jahre lang nichts mit ihrer leiblichen Mutter hatte zu tun haben wollen, hatte sie pflichtschuldig zur Silvesterfeier in ihrer Gründerzeitvilla in Falun eingeladen, aber Carina hatte nie die Absicht gehabt hinzugehen. Auf keinen Fall wollte sie dort in einer Ecke stehen und sich zwischen den kultivierten Gästen aus der oberen Mittelschicht Faluns deplatziert fühlen.
Da war ihr die Begründung, bereits ihren Bruder eingeladen zu haben, ganz gelegen gekommen. Carina hatte Sölve mit ihrem alten Auto, das eigentlich ihrer Freundin Astrid Sammils gehörte, in Hammarås abgeholt, nachdem ihr Bruder ihr gestanden hatte, dass ihm der Führerschein für zwei Jahre entzogen worden war. Carina hatte gar keinen Führerschein, aber das ließ sie lieber unerwähnt. Sie war trotzdem eine gute Fahrerin.
Die Schale mit Chips leerte sich schnell, wofür vor allem Sölve sorgte. Er sieht gut aus, dachte Carina, mit seinen grünen Augen, den regelmäßigen Gesichtszügen, die nicht so scharf geschnitten waren wie ihre, und seinem bereits leicht ergrauten Haar, das aber noch immer dicht, dunkel und lockig war. Allerdings war er in schlechter Verfassung, hatte schmale Schultern und einen leichten Bauchansatz über dem Gürtel.
»Und du willst jetzt also dein Abitur machen«, sagte Sölve und tippte die letzten Chipskrümel mit dem Zeigefinger auf. »Darf man dann kommen und gratulieren?«
Carinas Wangen röteten sich. Ja, sie würde tatsächlich ihr Abitur machen, auch wenn sie es selbst nie so formuliert hätte – »das Abitur machen« war etwas, was Jugendliche taten, unbefangene und hoffnungsvolle Jugendliche in weißen Mützen, keine fünfundvierzigjährigen Frauen mit fragwürdiger Vergangenheit. Aber sie war auf das Abendgymnasium gegangen und hatte binnen zwei Jahren die Hochschulreife erlangt – mit Noten, die die meisten ihrer ehemaligen Lehrer in Staunen versetzt hätten.
»Ach was«, sagte sie, stolz und verlegen zugleich, »es gibt ja keine Abschlussfeier oder Studentenmützen und so etwas, und ich habe noch eine mündliche Prüfung vor mir, bevor ich das Abschlusszeugnis bekomme. Aber wenn ich das geschafft habe, kannst du mich ja auf ein Glas im Pub einladen, wenn du magst. Du darfst mich sogar zu einer Pizza einladen, falls du dir das leisten kannst.«
Sie wusste, dass Sölve alles andere als abgebrannt war. Sein Hit In deinen traurigen Augen hatte eine Renaissance erlebt, seit er die Titelmelodie einer neuen schwedischen Fernsehserie war, und offenbar bekam Sölve jedes Mal Geld, wenn er irgendwo gespielt wurde. Großartig, dachte Carina, Geld verdienen, ohne zu arbeiten. Sie selbst lebte von staatlicher Studienförderung und wechselnden Putzstellen … und von einer kleinen Nebenbeschäftigung, von der weder ihre Tochter noch ihre Freunde etwas wussten.
»Deal«, sagte Sölve und hob sein Glas mit Apfelsaft. »Pizza und Wein im Pub, wenn du die Schule abgeschlossen hast.«
»Okay«, sagte Carina, »darauf freue ich mich schon. Und jetzt lass uns ins Wohnzimmer gehen, da steht das Essen. Nimm dein Glas und den Apfelsaft mit.«
Ihre Vorbereitungen für das Abendessen erschöpften sich darin, von den Schüsseln und Tellern, die Tina am Vormittag vorbeigebracht hatte, die Deckel abzunehmen und die Plastikfolie zu entfernen. Ihre Tochter hatte aus dem Delikatessenladen ihrer Familie in Falun ein kleines Büfett der Extraklasse aufgefahren – vermutlich mit einer Mischung aus Erleichterung und schlechtem Gewissen, weil Carina ihre Teilnahme an der Silvesterfeier abgesagt hatte. Sölve starrte verblüfft auf den reich gedeckten Tisch.
»Wow«, sagte er. »Toast Skagen, Hummersalat, Krabbenmousse, Vitello tonnato, Roastbeef – sollen wir zwei das alles verdrücken? Das würde ja für ein ganzes Orchester reichen.«
»Wir müssen unser Bestes geben«, entgegnete Carina vergnügt. »Setz dich und hau rein!«
Sie prosteten sich zu, sie aßen, sie redeten und merkten dabei, wie das Band zwischen ihnen immer stärker wurde, je mehr Anekdoten sie sich erzählten, je mehr Erinnerungen sie teilten und je mehr sie sich einander öffneten.
Carina konnte sich nicht erinnern, jemals einen so gelungenen Silvesterabend erlebt zu haben. Dann dachte sie an Camilla, die Freundin, von der sie das Haus geerbt hatte, und hob still ihr Glas für einen Toast zu ihrem Andenken.
Sie hatten gerade Fisch und Meeresfrüchte vertilgt und waren zu den Fleischgerichten übergegangen, als es an der Tür klopfte, ein leises und schüchternes Klopfen, dem nach einigen Sekunden ein lauteres Hämmern folgte.
Sölve und Carina sahen einander an, überrascht und ein wenig beunruhigt.
»Shit«, sagte Carina und versuchte, den kleinen Anflug von Unbehagen mit einem Scherz zu überspielen, »das muss der Weihnachtsmann sein, der endlich hergefunden hat. Es war ja auch wirklich nicht die feine Art, dass er Heiligabend nicht aufgetaucht ist, obwohl ich das ganze Jahr über so artig war.«
Mit Sölve auf den Fersen ging sie in die Diele und öffnete vorsichtig die Tür. Draußen stand ein Mann mit einer bis über die Ohren herabgezogenen Strickmütze und einem Zettel in der Hand.
»Guten Tag«, sagte er höflich. »Wir sind falsch … we are lost, please.«
Auf dem Hof stand ein Auto mit laufendem Motor, ein roter Dacia, ziemlich alt, ziemlich ramponiert und mit dem Nationalitätskennzeichen »RO«. Im Schein der Außenlampe über der Tür sah Carina, dass zwei weitere Männer im Auto saßen. Vielleicht sind das die rumänischen Bauarbeiter, dachte sie, die gerade in Hammarås eine Schule umbauen. Sie hatte in der Lokalzeitung von ihnen gelesen. Schade, dass Astrid nicht hier war, sie sprach perfekt Rumänisch. Aber sie war über Silvester in London.
»Please«, sagte der Mann mit der Mütze, »can you help us find …«
Er schaute auf den Zettel in seiner Hand und sagte langsam und übertrieben deutlich:
»… Ramsnoret?«
»Ramsnoret?«, wiederholte Carina erstaunt.
Sie kannte den Ort – eine ehemalige »Anstalt für Geistesschwache«, vier, fünf Kilometer weiter im Wald, ein unheimlicher Ort, an dem sich Schreckliches abgespielt hatte. Sie konnte sich überhaupt nicht vorstellen, was jemand dort an einem Silvesterabend suchen könnte.
Der Unbekannte sah sie hoffnungsvoll an.
»Sie finden Ramsnoret?«, fragte er.
»Ja«, sagte Carina. »Ich weiß, wo das ist. Aber was wollen Sie dort?«
Der Mann schien zu verstehen, was sie sagte. Er breitete die Arme aus.
»Arbeiten«, sagte er. »Immer arbeiten, arbeiten, make some money.«
Einer der anderen Männer war ausgestiegen und hatte sich eine Zigarette angezündet. Er war jung und hatte dunkles, lockiges Haar, ein hübscher Junge, vielleicht Anfang zwanzig. Sollte er den Silvesterabend in einem eiskalten, verfallenen Haus ohne Strom und Wasser mitten im Wald zubringen müssen?
Carina fasste einen raschen Entschluss. Was soll’s, sie hatte genug zu essen für ein ganzes Orchester. Sie öffnete weit die Tür.
»Kommen Sie rein«, sagte sie, »schließlich ist Silvester. Kommen Sie rein und essen Sie mit uns!«
Disa sah auf, als Astrid ohne Amanda zurückkehrte.
»Was ist aus deiner Freundin geworden? Waren wir ihr zu langweilig? Obwohl – so unterhaltsam war sie selbst auch nicht. Zuerst war sie stumm wie ein Fisch, dann hat sie so lange von ihrem Mann geschwärmt, bis einem die Ohren wehtaten.«
»Sie hat eine rätselhafte SMS bekommen und gesagt, dass sie aufbrechen muss«, erklärte Astrid. »Ich verstehe nicht, was heute Abend in sie gefahren ist. Das sieht ihr gar nicht ähnlich.«
Zoe warf Astrid aus dicht bewimperten Augen einen langen Blick zu.
»Woher kennt ihr beide euch eigentlich, du und Amanda? Das hab ich vorhin nicht richtig mitgekriegt.«
»Wir waren Kommilitoninnen in Uppsala«, sagte Astrid. »Regelrecht unzertrennlich. Manche hielten uns sogar für Schwestern. In letzter Zeit hatten wir allerdings nicht mehr so viel Kontakt. Wenn es hochkommt, haben wir uns vielleicht einmal im Jahr gesehen.«
Zoe nickte nachdenklich.
»Sie hat in der Studienzeit bestimmt zu dir aufgesehen, oder? Hatte dieselben Ansichten wie du, dieselbe Kleidung und dieselbe Frisur?«
Astrid zuckte mit den Schultern. Eine schmerzvolle Erinnerung daran, wie eine Mitstudentin sie einmal als zwei Matroschkas bezeichnet hatte, von ihrer Größe abgesehen identisch, stieg wieder in ihr hoch.
»Ahhh, Doktor Zoe analysiert wieder!«, spottete Disa und strich ihr über die Haare. »Fünfundsechzig Pfund für eine Einzelsitzung, aber heute, bei unserem besonderen Silvesterangebot, eine Schnellanalyse nach nur zehn Minuten ganz umsonst. Wie kommst du denn darauf, Zoe?«
Zoe musterte Astrid nach wie vor, registrierte jede Reaktion.
»Amanda zeigt meiner Ansicht nach typische Symptome für Heldenverehrung«, sagte sie nachdenklich. »Sie ist ein Mensch, der jemanden braucht, den sie bewundern, nachahmen und dem sie den Weg ebnen kann. Und um zu verstehen, dass ihr Mann der Fixstern ihres Universums ist, braucht man noch nicht mal zehn Minuten. Das hat natürlich etwas mit der Lösung ihres Ödipuskomplexes zu tun, ich wüsste nur zu gern …«
Disa lachte lauthals auf.
»O nein, nein und nochmals nein, nicht schon wieder der Ödipuskomplex, Liebling. Nicht heute Abend! Es ist doch Silvester, wir wollen uns amüsieren!«, rief sie aus.
Die Geräusche aus dem Arbeitszimmer waren verstummt. Stefan kam mit Disas Sohn Jon ins Zimmer. Der hielt triumphierend den Daumen hoch.
»Onkel Stefan hat eine Tracht Prügel kassiert«, rief er vergnügt, »ich hatte völlig die Oberhand. Du hattest keine Chance, oder, Stefan?«
Stefan wirkte für einen flüchtigen Moment verärgert, sein Gesicht war nach dem aufgeheizten Spiel immer noch gerötet. Astrid wusste, dass er so ehrgeizig war, dass er auch gegen seinen minderjährigen Neffen mit vollem Einsatz spielte, außerdem war er ein furchtbar schlechter Verlierer. Aber zum Glück war er auch reif genug, um innerhalb kürzester Zeit eine Niederlage zu überwinden.
»Aber das nächste Mal nehme ich Rache«, sagte Stefan und zerzauste Jons dichte braune Locken. »Ich hab dieses Spiel schließlich zum ersten Mal gespielt. Beim nächsten Mal bist du es, der keine Chance hat!«
Jon kicherte, holte sich eine Limo aus dem Kühlschrank und schnappte sich eine Handvoll Nüsse aus einer Schale auf dem Couchtisch.
»Ich surfe noch ein bisschen im Internet«, sagte er lässig. »Ich muss doch nicht hierbleiben und mir euer langweiliges Gerede anhören, oder?«
»Geh nur, mein Schatz«, sagte Disa liebevoll. »Wenn wir essen, kannst du ja aus deiner Höhle kommen.«
Stefan, in Jeans und T-Shirt, auf dem ein Asche sprühender Vulkan die Botschaft »Don’t fuck with Iceland« verkündete, schielte auf seine Armbanduhr und murmelte, dass er sich vielleicht umziehen sollte, bevor die Gäste kämen. Dann hielt er inne und warf einen Blick auf den leeren Platz auf dem Sofa, auf dem gerade noch Amanda gesessen hatte.
»War da nicht bereits jemand gekommen?«, fragte er. »Ich habe doch eine Stimme gehört. Habt ihr die ersten Gäste etwa schon wieder verjagt?«
»Das war Astrids Freundin Amanda Forssell«, sagte Disa. »Sie war von uns nicht so angetan. Sie hat eine seltsame SMS bekommen und beschlossen zu gehen.«
Stefan sah Astrid an.
»Eine SMS? Von wem denn?«
»Das hat sie nicht gesagt«, erwiderte Astrid mit einem Achselzucken. »Aber sie war total nervös. Ihr Mann hat sich offenbar nach einem Termin mit diesem Unternehmen, das seine Firma übernehmen will, verspätet, und sie hat die ganze Zeit nur dagesessen und auf ihr Handy gestarrt. Ich nehme also an, dass er es war.«
Stefan fuhr sich durch seine dunkelblonden Haare. Ein berechnender Ausdruck trat in seine Augen, und auf einmal schien er meilenweit entfernt zu sein. Astrid kannte diesen Blick, es war der eines Spielers, der rasch Chancen und Risiken gegeneinander abwog.
»Sie hat nervös gewirkt, aha …«, sagte er gedehnt, »und ihr Mann ist bei einem Termin, der sich in die Länge gezogen hat. Das muss etwas bedeuten. Mir sind in den letzten Tagen so ein paar Gerüchte über Peter Forssell zu Ohren gekommen …«
Jäh drehte er sich um und ging zurück in sein Arbeitszimmer, statt sich umzuziehen.
»Stefan, du Langweiler!«, stöhnte Disa. »Sag nicht, du willst dich sogar an Silvester deinen ominösen Aktiengeschäften widmen!« Ganz und gar nicht so weltfremd, wie sie sich sonst gern gab, fügte sie an die anderen gewandt hinzu: »Die Börsen sind doch schon geschlossen, oder nicht?«
»Nicht in New York«, rief Stefan.
Schweigen breitete sich aus. Disa verdrehte die Augen, Zoe betrachtete die Ringe an ihrer Hand, und Astrids Gedanken kehrten zu Amanda zurück. Hatte Zoe vielleicht recht? Hatte Amanda sie, Astrid, bewundert, so wie sie jetzt Peter vergötterte? Nein, der Gedanke war einfach lächerlich …
Sie zuckte zusammen, als ihr Handy mit einem Pling den Eingang einer Mail verkündete. Astrid starrte auf ihr Smartphone. Wer um alles in der Welt verschickte denn um diese Zeit, und noch dazu an Silvester, Mails? Wohl kaum jemand aus dem Außenministerium. Vielleicht kam sie ja von dem slowenischen Diplomaten aus ihrer Arbeitsgruppe, der gerade in London war. Er wollte heute Abend zu ihrer Party kommen, womöglich war ihm etwas dazwischengekommen.
Astrid rief die E-Mail auf. Als sie die ersten Worte las, wünschte sie sich augenblicklich, sie hätte es nicht getan. Aber nachdem sie einmal angefangen hatte, konnte sie nicht mehr aufhören. Mit trockenem Mund las sie das ganze Schreiben: »Ich wünsch dir ein sauschlechtes neues Jahr, du hässliche, abscheuliche, zigeunerliebende Fotze. Es ist eine Schande, dass solche wie du unser Land vertreten, aber was soll man auch anderes von diesem blonden Luder von Außenministerin erwarten. Ich hoffe, 2014 wird das Jahr, in dem sie und du und euer gesamter widerlicher Haufen das kriegt, was ihr verdient. Glaub mir, viele von uns sind bereit, etwas zu unternehmen, wenn die Natur es nicht von selbst regelt und ihr über eure eigene Dummheit stolpert. Dass jemand mit einem so niedrigen IQ wie dem deinen es so weit gebracht hat, liegt doch nur an der Quotenregelung. Alle wissen schließlich, dass es in deiner Familie vor Idioten nur so wimmelt und du selbst einer bist. Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm, haha. Ja, du bist eine Idiotin und so hässlich, dass es ein Wunder ist, dass dein Mann es über sich gebracht hat, dich so lange zu bumsen. Mit ihm muss etwas nicht stimmen, kein normaler Mann will seinen Schwanz in jemanden wie dich stecken, du fette Kuh, aber selbst er hatte letztlich genug von dir. Hast du dich mal gefragt, was Frauen wie du tun sollten, die zu dumm und zu hässlich sind, um einen Mann abzukriegen? Aber warte nur, eines Tages fällt uns etwas für euch ein, und dann kriegt ihr, was ihr verdient!«
Die E-Mail – Astrid stellte fest, dass der Text vollkommen fehlerfrei war – war nicht unterschrieben. Der Absender war eine Hotmail-Adresse, die keinerlei Aufschluss über den Absender gab.
Ob vielleicht irgendeine Fernsehsendung der Auslöser für diese Hasstirade war? Eine Silvesterreportage oder eine Kultursendung vielleicht, in der Gabriels Buch besprochen worden war? Was für ein Mann wohl dahintersteckte und sich mit so etwas aufmunterte, während er allein und vergrämt vor dem Fernseher saß? Ein junger Mensch bestimmt nicht, dachte sie. Sondern ein Mann mit einer gewissen Ausbildung, bei dem irgendetwas im Leben schiefgelaufen war – eine Frau, die ihn verlassen hatte, eine Karriere, die zum Erliegen gekommen war – und der jemanden suchte, dem er die Schuld dafür geben konnte.
Diese Überlegung machte die ganze Sache aber nicht leichter. Sie merkte geradezu, wie das Zimmer um sie herum schrumpfte, sie von Zorn und Verachtung überschwemmt wurde.
Die Hassschreiben kamen seit der Woche vor Weihnachten. Angesichts der steigenden Anzahl von Bettlern mit Roma-Herkunft in Stockholm war Astrid zu Gast im Studio einer Nachrichtensendung gewesen. Als Arbeitsgruppenleiterin hatte sie zuvor den zehn Jahre alten Aktionsplan zur Verbesserung der Lage der Roma und Sinti im OSZE-Gebiet auswerten sollen, und ihre Mitarbeiter und sie waren gründlich zu Werke gegangen, hatten entsprechende Siedlungen und Elendsquartiere besucht und behördliche Vertreter befragt. Astrid wusste also, wovon sie sprach, und obwohl es ihr gelungen war, sich die ganze Zeit in der Sendung im Rahmen dessen zu bewegen, was für eine Angestellte des Außenministeriums legitim war, hatte sie sich mit einer Klarheit und Schärfe ausgedrückt, die viele Leute als Provokation empfunden hatten.
Unglücklicherweise war am selben Abend ein Interview mit Astrids Exmann über seinen neu erschienenen Roman Verheiratet ausgestrahlt worden, einem hingerissenen Rezensenten zufolge »die schonungsloseste Schilderung einer zerfallenden Ehe seit Strindbergs Beichte eines Toren, die wie ihr Vorgänger nur so von Gift und Herzblut durchtränkt ist« und das Thema in den Kulturnachrichten war. Eine Morgenzeitung hatte noch dazu am selben Tag einen langen Auszug aus dem Buch abgedruckt.
In den sozialen Medien und den Internetklatschseiten war es daraufhin hoch hergegangen. Vor Tagesende hatten alle, die auch nur das geringste Interesse an der Sache hatten, gewusst, dass die kastrierende Karrierefrau Hedvig aus Gabriel Wredes Roman jener Astrid Sammils nachempfunden war, die sich in den Nachrichten so unverblümt geäußert hatte. Tags darauf war das erste anonyme Schreiben auf Astrids Fußmatte gelandet, von jemandem persönlich abgeliefert, der sich dafür keine Briefmarke hatte leisten wollen. Weitere Schreiben analog und digital waren gefolgt, alle mit derselben Botschaft: Astrid sei eine männerhassende Missgeburt, gehöre zu jener staatsfeministischen Mafia, die aus Schweden ein Saudi-Arabien des Feminismus gemacht hätte, in dem schwedische Männer und schwedische Werte nichts mehr gelten würden. Darüber hinaus sei sie so dumm, hässlich und abstoßend, dass jeder normale Mann es als Strafe empfinden würde, mit ihr ins Bett zu gehen.
Astrid konnte nicht begreifen, was an ihr so provozierend sein sollte.
Die abscheulichen Worte aber ließen sich nicht abschütteln, wie sehr sie es auch versuchte. Vor allem die, die ihr Aussehen betrafen, ließen ihre Welt zusammenschrumpfen, als würden ihr auf Schritt und Tritt hasserfüllte Blicke folgen. Als Teenager hatte Astrid von einer Karriere am Theater geträumt, hatte diesen Traum aber aufgegeben, als ihr klar geworden war, dass sie als Schauspielerin immer auch an ihrem Aussehen gemessen werden würde. Wie viel sie auch an Gewicht verlöre, sie würde immer zu groß, breitschultrig und grobschlächtig für die Rollen sein, von denen sie insgeheim träumte. Nie würde sie die Julia spielen können …
»Was ist mit dir, Astrid?«, fragte Disa.
Sie klang besorgt. Astrid versuchte unbekümmert zu lächeln und legte mit einer gleichgültigen Geste das Handy auf den Couchtisch.
»Ach, nur eine blöde E-Mail, die Idiotenbrigade macht an Silvester anscheinend Überstunden.«
Die beiden anderen Frauen starrten sie an. Sie wirkten nicht überzeugt. Anscheinend habe ich mein Schauspieltalent eingebüßt, dachte Astrid. Es war natürlich schön, dass es ihnen nicht egal war, wie es ihr ging, aber sie hatte die Schreiben bisher niemandem gezeigt und hatte es auch jetzt nicht vor.
Doch noch bevor Astrid reagieren konnte, hatte sich Disa, die perfekt Schwedisch sprach, Astrids Telefon geschnappt und fing an zu lesen. Astrid sah ihr mit einem unbehaglichen Gefühl dabei zu.
»Du brauchst wirklich nicht alles für dich zu behalten«, sagte Disa, nachdem sie fertig war. »Glaubst du denn, männerhassende Lesben wie wir wissen nicht, was es heißt, solch einen Müll zu bekommen? Da bist du nicht die Einzige, ganz und gar nicht. Alle Frauen, die auf irgendeine Art herausragen, sind früher oder später von so etwas betroffen.«
Disa übersetzte die Mail für Zoe. Obwohl sie leise sprach, wand sich Astrid vor lauter Unbehagen, als bekämen die hasserfüllten Worte so artikuliert noch mehr Kraft, als erfüllten sie den Raum mit ihrem Gift.
»Nein, du bist nicht die Einzige«, sagte Zoe mit verhaltener Stimme. »Unsere gesamte Zivilisation gründet sich doch auf der Furcht vor den Frauen, vor der weiblichen Macht. In den USA hat man sogar den 11. September den Feministinnen in die Schuhe geschoben, die die amerikanische Gesellschaft verweichlicht und verweiblicht haben sollen. Auch Breivik hat Feministinnen verabscheut. Wir leben in einer Gesellschaft, die von unseren Jungs verlangt, alles Weibliche in sich zu töten, um zum Mann zu werden. In den Augen des Patriarchats öffnet die weibliche Macht der Anarchie, dem Chaos und dem Untergang Tür und Tor. Es ist die Furcht vor der präödipalen Mutter, allmächtig und allumschließend, dem ersten, verlorenen Liebesobjekt …«
Disa lachte gezwungen auf.
»O nein, Liebling, komm mir jetzt bitte nicht mit der präödipalen Mutter, das ist ja noch schlimmer als der Ödipuskomplex. Nimm dir ein Glas Sekt, Astrid, und vergiss diese Blödmänner für heute Abend! Wir sind auf deiner Seite, das ist alles, was ich sagen wollte.«
Astrid lächelte sie dankbar an.
In diesem heiklen Moment kam Stefan, jetzt in einem dunklen Anzug, herein, mit einem Lächeln auf den Lippen, das angesichts der angespannten Atmosphäre langsam erstarb.
»Und, hast du inzwischen eine Million gemacht?«, bemerkte Disa spitz.
»Kann sein, oder aber ich habe eine verloren«, sagte Stefan. »Und ihr? Was ist denn hier los?«
»Ach, nichts weiter«, sagte Zoe und schüttelte ihren Lockenkopf, während Disa ihm wortlos Astrids Handy mit der Mail auf dem Display reichte.
Während Stefan langsam und konzentriert die Mail las, herrschte Schweigen. Astrids Wangen röteten sich. Eigentlich wollte sie wütend auf Disa sein, wusste aber im Grunde, dass diese recht hatte – wenn ihre Beziehung zu Stefan weiterhin funktionieren sollte, durfte sie das nicht vor ihm geheim halten. Andererseits konnte sie es kaum ertragen, ihn das lesen zu sehen, schämte sich und fürchtete, dass er sie mit dem hasserfüllten Blick des Absenders sehen könnte.
Zoe erhob sich von der Couch und zog ihre Lebensgefährtin mit sich.
»Komm, Disa. Lass uns mal schauen, was Jon so treibt und ob es ihm schon gelungen ist, die Welt zu vernichten.«
Als Stefan fertig war, lachte er unsicher auf, um zu demonstrieren, dass er der Sache nicht allzu viel Bedeutung beimaß. Doch die roten Flecken auf seinen Wangen und die Schweißperlen am Haaransatz passten nicht zu einem Mann, der sich stets darum bemühte, ungerührt zu bleiben.
»Na, der Typ hat ja wohl keine Ahnung«, sagte er mit einer Stimme, die ebenso unsicher wie sein Lachen klang. Er ließ sich neben Astrid auf die Couch sinken, schlang einen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Astrid nahm den Duft frisch gewaschener Haare und seine Körperwärme wahr.
»So was in seinem Posteingang zu finden ist alles andere als witzig«, fuhr er fort, »und dazu noch dieses Buch von deinem Ex. Hast du noch mehr solche Schreiben bekommen?«
»Ja, ein paar«, erwiderte Astrid. »Eigentlich sollte man sie mit einer Geste des Abscheus ins Kaminfeuer werfen … obwohl das schade ums Telefon wäre, und wir haben ja auch keinen Kamin.«
»Ich würde lieber herausfinden, wer sich dahinter verbirgt«, sagte Stefan. »Es ist doch das reinste Kinderspiel, die IP-Adresse zu ermitteln und ihn aufzuspüren. Ich kümmere mich darum, dann kannst du dir überlegen, was du dagegen unternehmen willst.«
Zum Glück hat er es so gut aufgenommen, dachte Astrid erleichtert. Sie wusste allerdings nicht richtig, was sie eigentlich befürchtet hatte. Vielleicht, dass er sich für sie schämen oder das andere Extrem wählen und den Mann zum Duell fordern würde. In Stefans Bücherregal stand die genuswissenschaftliche Dissertation seiner Exfreundin mit dem Titel »Die Struktur isländischer Männlichkeit als Schlüssel zum Verständnis der Bankenkrise Islands«. Astrid hatte darin geblättert und die nicht besonders freundliche Widmung – »Stefan, dein Beitrag war unbezahlbar« – gelesen. Aber das Bild, das die Dissertation von den isländischen Bankiers und ihren katastrophalen Geschäften als Ergebnis einer Männlichkeitskultur zeichnete, die Heldentum und irrsinnige Risikobereitschaft honorierte, fand sie treffend. Nur eine Sache ließ sie vermissen, jedenfalls was Stefan betraf, das hatte sie damals beim Lesen gedacht, und auch jetzt stieg dieser Gedanke wieder in ihr auf.
Astrid lächelte ihm zu.
»Es freut mich, dass Frauen dir keine Angst einjagen.«
Zoe, die gerade mit einer Flasche Sekt zurückkehrte, hörte Astrids Worte. »Das liegt am Meer, am Nordatlantik«, sagte sie. »Ich war mal mit Disa auf Island und an Bord des Trawlers eures Vaters. Es hat gestürmt, und ich dachte, mein letztes Stündlein hätte geschlagen. Aber als es mir so schlecht ging und ich darauf wartete, jeden Moment über Bord zu gehen, wurde mir klar, dass das Meer so wie die präödipale Mutter ist – unvorhersehbar, allmächtig und allumschließend, es gibt und nimmt Leben – und dass Männer, die einem Sturm auf dem Nordatlantik trotzen, keine Frauen fürchten müssen. ›Unser Meer, unsere Mutter‹, wie die alten Römer sagten – mare nostrum, mater nostra.«
Zoe klang zutiefst ernst. Die Vorstellung von ihr in Regenkleidung und Südwester, wie sie sich bei Sturm an Bord eines Fischerbootes in freudianischen Theorien erging, ließ Stefan und Astrid in befreiendes Gelächter ausbrechen. In dem Moment klingelte es an der Tür.
Die ersten Gäste waren zwei isländische Bekannte von Disa und Stefan sowie der slowenische Diplomat mit seiner italienischen Frau, in Partykleidung und Feierlaune. Von diesem Moment an wurde Astrids Silvesterabend in London all das, was sie sich davon erhofft hatte: leckeres Essen, guter Wein, angenehme Gesellschaft und fruchtbare Konversation. Kurz vor zwölf traten sie hinaus auf die Dachterrasse und sahen zu, wie der Himmel Londons vor Feuerwerkskörpern explodierte, in Silberweiß, Pink, Blau, Grün und Orange glitzernde Kaskaden, Sterne und Ringe, die ebenso rasch wieder erloschen, während die Kirchenglocken mit schweren Schlägen das neue Jahr einläuteten. Die Partygesellschaft prostete sich zu, sang »Auld lang syne« und verschickte SMS an Freunde auf der ganzen Welt.
Amandas und Peters Stühle aber blieben den ganzen Abend leer. Obwohl Astrid immer wieder verstohlen auf ihr Handy sah, kam keine Nachricht von Amanda. Astrid war besorgt. Ein Ausdruck der Verzweiflung hatte in Amandas Augen gelegen …
Gegen ein Uhr nachts, als die Gäste sich auf den Sofas drängten, Disa noch mehr Kaffee kochte und Jon ganz high von Limonaden war, die er zu Hause nie trinken durfte, versuchte Astrid ein letztes Mal, Amanda zu erreichen. Auf dem Handy ihrer Freundin meldete sich nur die Mobilbox, aber plötzlich fiel Astrid ein, dass sie ja in Amandas Hotel anrufen könnte. Wo Amanda und Peter abgestiegen waren, wusste sie, hatte sie ihnen doch selbst die kleine, intime Unterkunft nahe der Albert Hall empfohlen. Sie selbst hatte oft dort gewohnt, das Personal kannte sie also, und erst gestern hatte sie dort mit Amanda Tee getrunken.
Astrid erkannte die Stimme der Rezeptionistin sofort wieder.
»Ein frohes neues Jahr, Mrs Kapoor, hier spricht Astrid Sammils«, meldete sie sich.
»Ah, die Frau Botschafterin, ein frohes neues Jahr! Was kann ich für Sie tun?«
»Es geht um meine Freundin Mrs Forssell, die bei Ihnen im Hotel wohnt«, sagte Astrid. »Ich möchte ihr gerne ein frohes neues Jahr wünschen, aber ihr Handy-Akku muss leer sein. Wissen Sie vielleicht, ob sie und ihr Mann zurzeit da sind?«
»Ja, sie sind vor ein paar Stunden gekommen und haben lange in der Bar gesessen«, sagte Mrs Kapoor. »Soll ich Sie durchstellen?«
Sie bemühte sich, neutral zu klingen, wie eine Hotelangestellte, die nicht mal im Traum daran dachte, ihre Gäste zu kommentieren. Aber Astrid konnte ihr anhören, dass sie mit etwas hinter dem Berg hielt. Während das Telefon in Amandas und Peters Zimmer wiederholt klingelte, ohne dass jemand abnahm, ging Astrid eine Vielzahl böser Vorahnungen durch den Kopf.
»Es meldet sich niemand«, sagte Mrs Kapoor nach einer Weile.
»Würden Sie bitte zu ihrem Zimmer hochgehen und nachsehen, ob sie da sind?«, sagte Astrid. »Ich mache mir Sorgen. Wenn nun etwas passiert ist! Mrs Forssell hat ein schlechtes Herz und ihre Herzmedikamente in Stockholm vergessen. Sie wollte versuchen, einen Arzt aufzutreiben, aber das ist an einem Tag wie heute sicher schwer.«
Ihre improvisierte Lüge schien Mrs Kapoor zu überzeugen. Sie versprach, sofort hochzugehen und an die Tür zu klopfen. Oder war sie womöglich schon selbst beunruhigt und nur froh, einen Vorwand zu haben, etwas zu unternehmen?
Astrid trommelte mit den Fingern auf den Bartresen der Küche, während sie wartete. Das Gelächter und das Gemurmel, die aus dem Wohnzimmer drangen, traten in den Hintergrund. Nach einer gefühlten Viertelstunde meldete Mrs Kapoor sich wieder.
»Sind Sie noch da, Frau Botschafterin?«
Sie sprach gedämpft, flüsterte beinahe, sodass Astrid sie kaum verstehen konnte. Ihre bösen Ahnungen manifestierten sich. Sie hatte einen dicken Kloß im Hals.
»Es ist furchtbar«, flüsterte Mrs Kapoor in den Hörer, »ich weiß nicht, was ich tun soll. Bitte kommen Sie her, Sie kennen sie doch und stammen aus demselben Land wie sie und sind Botschafterin … Ich weiß nicht, was ich tun soll!«
Ihre Stimme brach, und sie begann haltlos zu schluchzen.
Carina spürte Sölves unausgesprochene Skepsis, als sie die drei unbekannten Männer einlud, aber sie kümmerte sich nicht darum. Es war ihr Haus, und zu stehlen gab es ohnehin nichts, nur mehr zu essen, als sie zu zweit schaffen konnten. Sie gab gern davon ab, und außerdem war sie neugierig, was die drei Männer in dem klapprigen Auto wohl in Ramsnoret wollten.
Angst hatte sie nicht. Den größten Teil ihres Lebens hatte sie hauptsächlich mit Männern zu tun gehabt, und sie war überzeugt davon, dass sie – oft schon auf den ersten Blick – einschätzen konnte, bei wem sie vorsichtig sein musste. Sie war vielen Männern begegnet, die gefährlich waren – gewalttätig, labil, suchtkrank –, doch bei den drei ziemlich unrasierten und abgerissenen Exemplaren, die jetzt in ihrer Diele standen, schrillten keine Alarmglocken. Sie gaben ihr die Hand und verbeugten sich mit einem Lächeln, das verriet, dass sie über die Einladung gleichermaßen überrascht wie erfreut waren.
Ihre Nachnamen vergaß sie sofort wieder, aber die Vornamen merkte sie sich: Tudor, Matei und Vasile. Letzterer war derjenige, der an die Tür geklopft hatte, und als er die Strickmütze abnahm, sah Carina, dass er auf dem Foto zu dem Zeitungsbericht über die rumänischen Bauarbeiter abgebildet gewesen war. Er war der Einzige der drei, der Englisch sprach, doch während des viermonatigen Arbeitsaufenthalts hier in Dalarna hatten sie alle rudimentäres Schwedisch gelernt, das sie großzügig mit Flüchen würzten, worüber Carina lächeln musste.
Sie führte sie ins Wohnzimmer – beim Anblick der Teller, die sich unter dem Essen bogen und denen kaum anzusehen war, dass Carina und Sölve sie angerührt hatten, machten sie große Augen – und ging dann in die Küche, um Teller, Gläser und Besteck zu holen. Ein Glück, dass beide Weinkartons noch voll sind und dass Sölve sich an Apfelsaft hält, dachte sie.
Trotz der Sprachschwierigkeiten entwickelte sich schnell ein lebhaftes Tischgespräch. In einer Mischung aus Schwedisch und Vasiles ausgezeichnetem Englisch erzählten Carinas Gäste, dass sie alle aus Craiova im Süden Rumäniens kamen und bei einem rumänischen Bauunternehmen angestellt waren, das Schulumbauten in Schweden durchführte. Vasile war Elektroingenieur, aber auf dem Bau arbeitete er als Elektriker. Die beiden anderen waren Onkel und Neffe.
Der dreiundzwanzigjährige Matei sah wirklich ausgesprochen gut aus, stellte Carina fest, besonders nachdem das Essen, der Wein und die Wärme seine Augen zum Glänzen gebracht hatten und sein Gesicht in einem Lächeln erstrahlte.
»Was wollen Sie denn in Ramsnoret?«, fragte sie langsam und deutlich. »Das ist ein beklemmender Ort, not a nice place.«
»Arbeit«, sagte Matei mit einer ausgreifenden Geste, wobei er beinahe Sölves Glas umwarf, »ein Mann kommen mit Geld, viel, viel Kohle …«
Er rieb vielsagend den Daumen gegen Zeigefinger und Mittelfinger, während die beiden anderen Männer einen Blick wechselten, den Carina nicht deuten konnte. Tudor sagte etwas auf Rumänisch, und Vasile übersetzte ins Englische. Er erzählte, dass eines Tages vor der Turnhalle, in der die rumänischen Arbeiter schliefen, ein Mann gewartet hatte. Er hatte sich direkt an Vasile gewendet – vermutlich, weil er in dem Zeitungsartikel über ihn gelesen hatte – und ihn gefragt, ob er sich etwas dazuverdienen wolle. Es gehe um ein einsam gelegenes Haus, das seit Langem leer stehe und nun bewohnbar gemacht werden solle – Kabel sollten verlegt, zerbrochene Fensterscheiben ausgetauscht und verrottete Bodenbretter erneuert werden.
»Er meinte, dass drei, vier tüchtige, hart arbeitende Männer es an einem Wochenende schaffen müssten«, sagte Vasile, »und er hatte ein dickes Bündel Euroscheine, das wir dafür bekommen sollten, die eine Hälfte sofort und die andere, wenn die Arbeit erledigt ist. Die Materialien, die wir für die Arbeit bräuchten, wären vor Ort. Ich sagte Ja, und er gab mir das Geld. Ich nehme Tudor und Matei mit, weil ich weiß, dass sie einen guten Job machen. Nicht mehr Leute, denn je weniger wir sind, desto mehr Geld bleibt für jeden. Wir mussten allerdings bis heute auf der Baustelle arbeiten. Mal sehen, wie viel wir morgen noch schaffen. Wir müssen es dann wohl am nächsten Wochenende fertig machen, sobald die Arbeiten an der Schule abgeschlossen sind.«
Er zuckte wieder die Achseln.
»Keine Papiere?«, fragte Sölve und machte eine Geste, als ob er einen Vertrag unterzeichne. Vasile schüttelte den Kopf.
»Aber wer war das?«, fragte Carina.
Matei grinste.
»Ich sehe auch der Mann. Er sehr … secretos«, sagte er, drückte das Kinn auf die Brust, legte einen Arm vor den Mund und tat so, als zöge er sich eine Schirmmütze ins Gesicht.
»Ich glaube, ihm gehört das Haus«, sagte Vasile mit nachdenklich gerunzelter Stirn.
Carina war ebenfalls nachdenklich geworden. Schwarzarbeit war nichts Ungewöhnliches, das hatte sie selbst oft genug gemacht, doch das hier klang übertrieben geheimnisvoll. Aber das sollte nicht ihr Problem sein. Wer auf die Idee kam, eine stillgelegte Irrenanstalt mitten im Wald zu kaufen, hatte wahrscheinlich sowieso nicht alle Tassen im Schrank.
In diesem Moment fiel Mateis Blick auf Sölves Akkordeon, das auf dem Sofa stand. Seine Miene hellte sich wieder auf, und er wandte sich eifrig auf Rumänisch an Tudor und Vasile.
»Er fragt, ob er ein bisschen spielen darf«, übersetzte Vasile. »Ich glaube, er spielt sehr gut.«
Sölve stimmte überraschend begeistert zu. Carina hatte bereits bemerkt, dass sie nicht die Einzige war, der das gute Aussehen des jungen Rumänen aufgefallen war. Oje, dachte sie – sie ahnte, warum die beiden Ehen ihres Bruders so kurzlebig gewesen waren
Matei schnallte sich das Akkordeon um, überlegte ein paar Sekunden und begann dann, »La Paloma« zu spielen. Carina hörte sofort, dass er das Instrument beherrschte, und selbst wenn sie es nicht gehört hätte, hätten Sölves verzückter Gesichtsausdruck sowie die Tatsache, dass er sein Saxofon hervorholte und ebenfalls zu spielen begann, es ihr verraten.
Es klang großartig. Als das Stück zu Ende war, applaudierten Tudor, Vasile und Carina begeistert. Als Nächstes spielte Sölve In deinen traurigen Augen, und obwohl sein Erfolgsschlager in Rumänien kein größerer Hit gewesen war, konnte Matei die Melodie schnell aufnehmen.
»Verdammt gut«, sagte Tudor anerkennend, und Vasile erhob sich, ging um den Tisch herum und reichte Carina mit einer kleinen Verbeugung seine Hand. Sie stand auf, beförderte mit einem Tritt den Teppich zur Seite und ließ sich von ihm auf den improvisierten Tanzboden führen. Sie tanzte gern, und an Silvester zu Livemusik zu tanzen war ein unverhofftes Vergnügen. Tudor forderte sie zu »Tango Jalousie« auf, dann wieder Vasile zu »Besame mucho«, und nachdem Sölve irgendwann auf die Uhr gesehen hatte, sagte er, sie sollten jetzt besser den Fernseher einschalten, wenn sie Mitternacht nicht verpassen wollten. Sie begrüßten das neue Jahr, indem sie mit Apfelsaft und den letzten Schlucken Wein anstießen, und jetzt war Carina endgültig davon überzeugt, dass sie noch nie einen so gelungenen Silvesterabend erlebt hatte.
Es verstand sich von selbst, dass Tudor, Vasile und Matei über Nacht blieben, anstatt nach Ramsnoret weiterzufahren. Sie holten ihre Schlafsäcke aus dem Auto, breiteten sie im Wohnzimmer aus, und Carina erschauerte allein schon bei dem Gedanken, in dem kalten, verfallenen Haus mitten im dunklen Tannenwald schlafen zu müssen.
Für Sölve hatte sie schon ein Bett in dem kleinen Zimmer im oberen Stockwerk bezogen, das einmal dem kleinen Bruder von Camilla gehört hatte.
»Was für ein Musiker, dieser Matei!«, sagte Sölve begeistert, als sie gemeinsam die Treppe hinaufstiegen. »Was für eine fantastische Begabung! Hast du gehört, wie er In deinen traurigen Augen einfach mitgespielt hat, auf Anhieb, obwohl er das Stück noch nie gehört hatte? So jemand darf nicht auf dem Bau arbeiten, das ist eine verdammte Vergeudung von Talent.«
»Sicher«, sagte Carina mit einem Gähnen, »aber was soll man dagegen tun? Die Welt ist voller vergeudeter Begabungen und voller Menschen, die niemals eine Chance bekommen haben.«
»Aber ich habe Kontakte«, sagte Sölve mit ungebremstem Enthusiasmus. »Ich kenne jeden einzelnen Bandleader und Booker in Dalarna und Umgebung. Ich kann ihm Engagements besorgen, das verspreche ich dir!«
Carina spürte bei seinen Worten ein vages Unbehagen, das sie nicht erklären konnte. Sie waren in dem kleinen Flur im oberen Stockwerk angekommen, und sie stellte sich vor ihren Bruder und sah ihm tief in die Augen.
»Aber er ist doch wohl nicht …«, sagte sie und machte eine vielsagende Geste mit der Hand. Sölve lächelte melancholisch.
»Ah, du hast mein dunkles Geheimnis erraten. Aber ich kann dir versichern, dass er mich nur als Musiker interessiert.«
»Das ist auch besser so«, murmelte Carina.
»Ja«, sagte Sölve, »ich fange gleich morgen Vormittag an herumzutelefonieren. Am Abend vor dem Dreikönigstag finden viele Tanzveranstaltungen statt, und irgendwo kann ich sicher einen Gig für Matei organisieren.«