Blutklingen - Joe Abercrombie - E-Book

Blutklingen E-Book

Joe Abercrombie

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Beschreibung

Helden zwischen Gut und Böse, Action wie im Kino und spannend bis zum Schluss

Jenseits der Grenze zum Königreich der Union beginnt das Land der Gesetzlosen. Ein Land, in dem jeder sich selbst der Nächste ist und in dem nur das schnellste Schwert oder die härteste Faust überlebt. Doch nun wurde hier Gold gefunden, und im großen Sturm auf die einst verlassenen Berge treffen Tausende Goldsucher, zwei rachedurstige Nordmänner, eine Bande von Mördern und die Agenten des Königreiches zusammen – und Blut, Gold und Tränen fließen in Strömen …

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Seitenzahl: 965

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JOE ABERCROMBIE

Blutklingen

Roman

Aus dem Englischen

von Kirsten Borchardt

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der Originalausgabe

RED COUNTRY

Deutsche Erstausgabe 05/2013

Redaktion: Werner Bauer

Copyright © 2012 by Joe Abercrombie

Copyright © 2013 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Karte: Dave Senior

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

unter Verwendung von © shutterstock/Maciej Sobcak

Satz und eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN: 978-3-641-10396-5

FÜR TEDDY

UND CLINT EASTWOOD.

ABER DA CLINT DAS WAHRSCHEINLICH NICHT DIE BOHNE INTERESSIERT, VOR ALLEM FÜR TEDDY.

I

ÄRGER

»Wie kann ich euch, die ihr Männer

nach dem Heft und der Scheide beurteilt,

eine gute Klinge schmieden?«

JEDEDIAH M. GRANT

EIN ECHTER FEIGLING

Gold.« So, wie Weh das sagte, klang es wie ein Rätsel, zu dem es keine Lösung gab. »Das macht die Männer verrückt.«

Scheu nickte. »Jedenfalls diejenigen, die es nicht sowieso schon sind.«

Sie saßen vor Stupfers Fleischladen, dessen Name zwar nach einem Bordell klingen mochte, der aber tatsächlich das schlechteste Essen im Umkreis von fünfzig Meilen auftischte, und das wollte bei der hiesigen Konkurrenz schon etwas heißen. Scheu hockte auf den Säcken, die auf ihrem Karren lagen, und Weh saß auf dem Zaun, wie er das immer zu tun schien, als hätte er einen riesigen Splitter im Hintern und sei mit dem dort hängen geblieben. Sie beobachteten die Leute.

»Ich bin hierhergekommen, weil ich niemanden mehr sehen wollte«, sagte Weh.

Scheu nickte. »Und jetzt sieh dir das alles bloß mal an.«

Im letzten Sommer hätte man einen Tag lang durch die Stadt streifen können, ohne auf ein bekanntes Gesicht zu treffen; überhaupt wäre man auch an mehreren Tagen kaum mehr als zwei Menschen begegnet. Aber ein paar Monate und ein Goldfund können eine Menge verändern! Jetzt platzte Handelsguth aus seinen ausgefransten Nähten, so viele kühne Pioniere strömten durch die Straßen. Der Verkehr ging nur in eine Richtung, nach Westen, den erträumten Reichtümern entgegen. Manche drängten sich so schnell hindurch, wie es die dichte Menge eben zuließ, andere machten Rast, um selbst zu Geschäftigkeit und Chaos beizutragen. Wagenräder ratterten, Maultiere schnaubten und Pferde wieherten, es blökte das Vieh und die Ochsen brüllten. Männer, Frauen und Kinder gleich welcher Herkunft und Rasse brüllten und blökten ebenfalls in den verschiedensten Sprachen und aus den unterschiedlichsten Gründen. Es hätte ein buntes Treiben sein können, wenn der herumwirbelnde Staub nicht alle Farben mit einer grauen, allgegenwärtigen Dreckschicht überzogen hätte.

Weh nahm geräuschvoll einen Schluck aus seiner Flasche. »Ziemlich gemischtes Publikum, was?«

Scheu nickte. »Alle fest entschlossen, irgendwas umsonst zu bekommen.«

Die Menschen waren von verrückter Hoffnung gepackt. Oder von Gier, je nachdem, wie viel Vertrauen der Beobachter in die Menschheit setzte, und das war in Scheus Fall nicht übertrieben viel. Sie alle waren geradezu besoffen von der Möglichkeit, dort draußen im großen Nichts in einen kalten Teich zu fassen und sich mit beiden Händen ein neues Leben herauszuziehen. Ihr langweiliges Ich am Ufer hinter sich zurückzulassen wie eine abgestreifte Haut, um die Abkürzung zum Glück zu nehmen.

»Keine Lust, da mitzumachen?«, fragte Weh.

Sie drückte die Zunge gegen die Vorderzähne und spuckte durch die Lücke. »Ich? Nee.« Wenn sie es überhaupt lebend bis nach Fernland schaffen würden, dann standen die Chancen gut, dass sie einen Winter lang mit dem Hintern im eisigen Wasser hockten und nichts als Dreck herausschaufelten. Und wenn der Blitz in den Spatenstiel einschlug, was dann? Es war ja nicht so, dass Reiche keine Sorgen kannten.

Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte Scheu noch daran geglaubt, dass man etwas umsonst bekam. Da hatte sie ihre Haut abgestreift und war lächelnd beiseitegetreten. Aber oft genug war letztlich die nackte Wahrheit die gewesen, dass Abkürzungen einen nicht an den Punkt brachten, auf den man gehofft hatte, und oft genug durch blutiges Land führten.

»Schon allein das Gerücht, dass es irgendwo Gold gibt, macht sie verrückt.« Der Knubbel an Wehs Hals bewegte sich, als er noch einen Schluck nahm, während er zwei Möchtegern-Goldsuchern zusah, die an einem Verkaufsstand um die letzte Spitzhacke stritten. Der Verkäufer versuchte, sie vergeblich zu beruhigen. »Jetzt stell dir mal vor, wie diese Ärsche sich aufführen würden, wenn sie erst mal einen Goldklumpen in die Hände bekämen.«

Das musste sie sich gar nicht erst vorstellen. Sie hatte es bereits erlebt, und das zählte nicht gerade zu ihren schönsten Erinnerungen. »Männer brauchen nicht viel, um sich wie Tiere aufzuführen.«

»Frauen auch nicht«, ergänzte Weh.

Sie sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Wieso guckst du mich dabei an?«

»Hatte dich wohl gerade im Kopf.«

»Hm. Ich weiß nicht, ob es mir gefällt, deinem Gesicht so nahe zu sein.«

Weh zeigte ihr lachend seine Grabsteinzähne und reichte ihr die Flasche. »Wieso hast du keinen Mann, Scheu?«

»Wahrscheinlich mag ich Männer nicht besonders.«

»Du magst niemanden besonders.«

»Die anderen haben angefangen.«

»Sie alle?«

»Genug von ihnen jedenfalls.« Sie wischte die Flaschenöffnung sorgfältig ab und achtete darauf, nur einen kleinen Schluck zu nehmen. Sie wusste, wie leicht ein Schluck zum nächsten führte, mehrere zu einer ganzen Flasche und eine Flasche schließlich leicht dazu, dass man, wenn man aufwachte, nach Pisse stank und mit einem Bein im Bachbett lag. Es gab Leute, die sich auf sie verließen, und sie hatte genug davon, eine Enttäuschung zu sein.

Die Streithähne waren inzwischen getrennt worden und spuckten einander nun in ihren jeweiligen Sprachen Beleidigungen entgegen, die zwar vom Gegenüber nicht im Wortlaut entschlüsselt, aber trotzdem grundsätzlich verstanden wurden. Offenbar war die Spitzhacke in dem ganzen Durcheinander verschwunden; vermutlich hatte ein weniger begriffsstutziger Pionier sie beherzt eingesteckt, während aller Augen anderswohin blickten.

»Ganz sicher kann Gold die Leute verrückt machen«, brummte Weh so wehmütig, wie sein Name nahelegte. »Aber trotzdem, wenn sich der Boden unter mir auftäte und das gute Zeug direkt vor meiner Nase läge, dann würde ich die Goldklumpen wahrscheinlich auch nicht liegen lassen.«

Sie dachte an den Hof, an die viele Arbeit, die zu tun war – Arbeit, für die sie niemals genug Zeit hatte –, und rieb sich mit den rauen Daumen die wund gekauten Finger. Für einen winzigen Augenblick schien eine Reise in die Berge doch keine so verrückte Idee. Was, wenn es da oben wirklich Gold gab? Wenn es dort in irgendeinem Bachbett in unfassbarer Fülle herumlag und nur darauf wartete, von ihren juckenden Fingerspitzen geküsst zu werden? Scheu Süd, die glücklichste Frau in ganz Naheland …

»Ha.« Sie verscheuchte den Gedanken wie eine lästige Fliege. Große Hoffnungen waren ein Luxus, den sie sich nicht leisten konnte. »Meiner Erfahrung nach tut sich der Boden aber nicht einfach auf und gibt seine Schätze preis. Da ist er genauso geizig wie wir alle.«

»Du hast wohl jede Menge, was?«

»Hä?«

»Erfahrung.«

Sie zwinkerte, als sie ihm die Flasche zurückgab. »Mehr, als du dir vorstellen kannst, alter Mann.« Verdammt mehr als die meisten Pioniere jedenfalls, das stand mal fest. Scheu schüttelte den Kopf, als sie den nächsten Schwung Leute erblickte, hochwohlgeborene Unionisten, augenscheinlich eher für ein Picknick gekleidet als für einen anstrengenden, viele Meilen langen Marsch durch ein Land, in dem es kein Gesetz gab. Leute, die mit ihrem bequemen Leben hätten zufrieden sein sollen, die aber plötzlich den Entschluss gefasst hatten, sich noch mehr sichern zu wollen. Sie fragte sich, wie lange es dauern würde, bis diese Menschen wieder in die andere Richtung humpeln würden, kaputt und pleite. Wenn sie es denn überhaupt noch schafften …

»Wo steckt eigentlich Gully?«, fragte Weh.

»Auf dem Hof. Der kümmert sich um meinen Bruder und meine Schwester.«

»Hab ihn schon lange nicht mehr gesehen.«

»Er war auch schon lange nicht mehr hier. Meint, dass ihm das Reiten wehtut.«

»Der wird alt. Aber so geht’s uns allen. Wenn du ihn siehst, sag ihm, dass ich ihn vermisse.«

»Wenn er hier wäre, hätte er dir die Flasche in einem Zug ausgesoffen, und du würdest jetzt seinen Namen verfluchen.«

»Stimmt.« Weh seufzte. »So ist das wohl mit Sachen, die einem fehlen.«

Inzwischen bahnte sich Lamm einen Weg durch die Menschenflut auf der Straße, und sein grauer, wilder Schopf ragte trotz seiner gebeugten Haltung über die Köpfe der anderen; er sah so aus, als ob ein noch größeres Gewicht auf seinen Schultern lastete als sonst.

»Was hast du gekriegt?«, fragte sie und sprang vom Wagen.

Lamm verzog das Gesicht, als wüsste er schon, was nun kommen würde. »Siebenundzwanzig?« Seine tiefe, grollende Stimme ging am Wortende ruckartig in die Höhe, um eine Frage daraus zu machen, die eigentlich lautete: Wie schlimm habe ich es denn vergeigt?

Scheu schüttelte den Kopf, spielte mit der Zunge in der Innenseite ihrer Wange und zeigte damit an, dass es ihrer Meinung nach irgendwo zwischen mittel und schlimm lag. »Du bist echt so ein blöder Feigling, Lamm.« Sie klopfte auf die Säcke, sodass eine kleine Wolke Kornstaub aufstieg. »Ich habe die doch keine zwei Tage lang bis hierher geschleppt, damit du sie verschenkst.«

Er blickte noch ein wenig besorgter drein, und sein graubärtiges Gesicht knitterte rund um die alten Narben und Lachfältchen, wettergegerbt und mit Dreck zugesetzt. »Ich kann nicht so gut handeln, Scheu, das weißt du doch.«

»Sag noch mal schnell, was kannst du überhaupt gut?«, warf sie ihm über die Schulter hinweg zu und schlug bereits den Weg zu Clays Börse ein, ließ schnell noch ein paar gescheckte Ziegen blökend passieren und huschte dann seitlich durch das Gedränge. »Außer Säcke schleppen?«

»Das ist doch auch schon was, oder nicht?«, brummte er.

Der Laden war sogar noch voller als die Straße. Es roch nach frisch gesägtem Holz und Gewürzen und eng aneinandergedrängten, hart arbeitenden Körpern. Sie musste sich an einem Schreiber und einem tiefschwarzen Südländer vorbeidrängeln, der sich in einer Sprache verständlich machen wollte, die sie noch nie zuvor gehört hatte; dann an einem finster dreinblickenden Geist, der das rote Haar mit Zweigen hochgebunden hatte, an denen noch die Blätter hingen. All diese Leute, die sich nach Westen durchschlagen wollten, verhießen gutes Geld. Ein Kaufmann, der versuchen wollte, Scheu um ihren Anteil daran zu betrügen, würde nichts zu lachen haben.

»Clay?«, bellte sie, da mit Flüstern nichts zu erreichen war. »Clay!«

Der Händler sah mit gerunzelter Stirn auf; er war gerade dabei, Mehl auf seiner mannshohen Waage abzuwiegen. »Scheu Süd in Handelsguth. Wenn das heute nicht mein Glückstag ist.«

»Sieht ganz so aus. Du hast eine ganze Stadt voller Windbeutel – die kannst du gerne bescheißen!« Sie betonte das letzte Wort ein wenig, woraufhin ein paar Köpfe herumgingen und Clay seine großen Hände in die Hüften stemmte.

»Hier bescheißt niemand irgendwen«, sagte er.

»Jedenfalls nicht, solange ich ein Auge auf die Geschäfte habe.«

»Ich und dein Vater, wir haben uns auf siebenundzwanzig geeinigt, Scheu.«

»Du weißt, dass er nicht mein Vater ist. Und du weißt auch, dass ihr euch auf einen Scheiß geeinigt habt, bevor ich nicht dazu Ja gesagt habe.«

Clay warf Lamm unter hochgezogenen Augenbrauen einen Blick zu, und der Nordmann sah zu Boden, schob sich ein wenig zur Seite und vermittelte den Eindruck, als ob er erfolglos versuchte, sich in Luft aufzulösen. Lamm war zwar ein großer Kerl, hielt aber keinem Blick stand, sobald ihm jemand direkt ins Gesicht sah. Er hatte durchaus Liebe in sich und konnte hart arbeiten, und er war ein ordentlicher Ersatzvater für Ro und Pit und auch für Scheu gewesen, soweit sie das zugelassen hatte. Eigentlich ein recht guter Mann, aber bei den Toten, er war eben einfach ein ziemlicher Feigling!

Scheu schämte sich für ihn und wegen ihm, und das ärgerte sie. Sie fuchtelte mit ihrem Zeigefinger vor Clays Gesicht herum wie mit einem blanken Dolch, den sie ohne Hemmungen benutzen würde. »Handelsguth ist ein komischer Name für eine Stadt, in der du dir ein Geschäft zurechtgezimmert hast! Bei der letzten Ernte hast du achtundzwanzig gezahlt, und da hattest du nicht halb so viele Kunden. Ich nehme achtunddreißig.«

»Was?« Clay quiekte noch höher, als sie erwartet hatte. »Das Korn ist wohl aus Gold, was?«

»Haargenau. Allererste Güte. Mit meinen eigenen blasenübersäten, blutigen Händen gedroschen.«

»Und mit meinen«, brummte Lamm.

»Pscht«, machte Scheu. »Ich nehme achtunddreißig, und davon weiche ich kein Stück ab.«

»Du willst es mir wohl schwer machen.« Clays Gesicht legte sich in wütende Falten. »Weil ich deine Mutter so gern hatte, biete ich dir neunundzwanzig.«

»Du hast nie etwas anderes gern gehabt als deine eigene Tasche. Weniger als achtunddreißig kommt nicht infrage, sonst setze ich mich neben deinen Laden und biete die ganze Ladung den Durchreisenden an. Und zwar zu einem Preis, der knapp unter deinem liegt.«

Er wusste, dass sie das tun würde, selbst wenn sie dabei Verlust machte. Mach nie eine Drohung, von der du dir nicht zumindest halbwegs sicher bist, dass du sie auch einlösen kannst. »Einunddreißig«, presste er hervor.

»Fünfunddreißig.«

»Du hältst diese ganzen guten Leute hier auf, du selbstsüchtige Kuh!« Nun, das mochte durchaus so sein, vor allem aber gab sie den guten Leuten eine Ahnung davon, welche Profite er einstrich, und das würde sich über kurz oder lang herumsprechen.

»Die sind bis auf den letzten Mann nichts als Abschaum, und ich werde sie aufhalten, bis Juvens aus dem Totenreich wiederkehrt, wenn ich dann meine fünfunddreißig kriege.«

»Zweiunddreißig.«

»Fünfunddreißig.«

»Dreiunddreißig, und dann kannst du meinen Laden beim Rausgehen auch noch gleich niederbrennen!«

»Führe mich nicht in Versuchung, Dicker. Dreiunddreißig, und dann kannst du noch ein paar neue Schaufeln drauflegen und ein bisschen Futter für meine Ochsen. Die fressen fast so viel wie du.« Sie spuckte in ihre Handfläche und streckte sie dann aus.

Clays Kinnmuskeln arbeiteten, aber schließlich spuckte auch er in seine Hand und schlug ein. »Deine Mutter war um nichts besser.«

»Konnte die Alte nicht ausstehen.« Sie boxte sich mit den Ellenbogen einen Weg zur Tür und ließ Clay stehen, der seinen Ärger am nächsten Kunden ausließ. »Das war doch nicht so schwer, oder?«, zischte sie über ihre Schulter hinweg Lamm zu.

Der große alte Nordmann fummelte an der Kerbe in seinem Ohr herum. »Ich denke, ich hätte mich lieber mit den siebenundzwanzig zufriedengegeben.«

»Weil du ein ziemlicher Feigling bist. Besser, man geht eine Sache gleich an, als sich lange vor ihr zu fürchten. Hast du mir das nicht immer gesagt?«

»Mit der Zeit habe ich die Schattenseiten dieses Ratschlags kennengelernt«, raunte Lamm, aber Scheu war zu sehr damit beschäftigt, sich selbst zu beglückwünschen.

Dreiunddreißig war ein guter Preis. Sie rechnete alles durch, und danach blieb von dreiunddreißig noch etwas für Ros Bücher übrig, wenn sie das undichte Scheunendach repariert und sich ein paar Zuchtschweine zugelegt hatten, als Ersatz für die Tiere, die im Winter geschlachtet worden waren. Vielleicht reichte es sogar noch für ein wenig Saatgut, und sie konnte versuchen, das Kohlfeld wieder hinzubekommen. Sie grinste bei dem Gedanken, was sie mit dem Geld wieder ins rechte Lot bringen, was sie würde aufbauen können.

Du brauchst keine großen Träume, pflegte ihre Mutter früher zu sagen in den seltenen Augenblicken, in denen sie guter Laune war, kleine tun’s auch.

»Komm, wir müssen die Säcke abladen«, sagte sie.

Er kam zwar allmählich in die Jahre und war so langsam wie eine alte Lieblingskuh, aber Lamm war so stark wie eh und je. Er ging unter keinem Gewicht in die Knie. Scheu musste nichts weiter tun, als auf dem Wagen zu stehen und die Säcke nacheinander auf seine Schultern zu wuchten, während er dastand und unter dieser Last weniger murrte, als der Karren es getan hatte. Dann schleppte er sie über die Straße, vier auf einmal, und schichtete sie in Clays Hof auf, als enthielten sie nur Federn. Scheu wog vielleicht nur halb so viel wie er, hatte aber die leichtere Arbeit und war außerdem fünfundzwanzig Jahre jünger, und trotzdem quoll schon bald das Wasser aus ihren Poren wie aus einem frisch gegrabenen Brunnen, das Hemd klebte am Rücken und das Haar am Gesicht, die Arme waren rot gerieben vom Sackleinen und mit weißem Kornstaub bedeckt, und die Zunge klemmte in der Lücke in ihren Vorderzähnen, während sie aus Leibeskräften fluchte.

Lamm stand da, zwei Säcke auf einer Schulter, einen auf der anderen. Er atmete nicht einmal erkennbar schwerer, und die tiefen Lachfältchen in seinen Augenwinkeln zogen sich zusammen. »Brauchst du eine Pause, Scheu?«

Sie warf ihm einen Blick zu. »Eine Pause von deinem Genörgel höchstens.«

»Ich könnte ein paar von den Säcken umschichten und ein kleines Nest für dich bauen. Vielleicht liegt da hinten sogar noch eine Decke. Dann könnte ich dich in den Schlaf singen wie früher, als du klein warst.«

»Ich bin noch immer klein.«

»Kleiner. Manchmal denke ich noch an das kleine Mädchen, das mich angelächelt hat.« Lamm richtete den Blick auf eine unbestimmte Stelle in der Ferne und schüttelte den Kopf. »Und ich frage mich – was haben deine Mutter und ich falsch gemacht?«

»Vielleicht, dass sie gestorben ist, während du nichts taugst?« Sie stemmte einen weiteren Sack hoch und ließ ihn aus so großer Höhe auf seine Schulter fallen, wie sie nur konnte.

Lamm grinste nur, als er mit der Hand oben drauf klopfte. »Vielleicht ist das der Grund.« Als er sich umwandte, prallte er beinahe mit einem anderen Nordmann zusammen, der genauso groß war wie er, aber wesentlich hartgesottener aussah. Der Mann knurrte einen Fluch, brach aber mittendrin ab. Lamm stapfte weiter, den Kopf gesenkt, so wie er es immer tat, sobald es auch nur ein kleines bisschen nach Ärger aussah. Der Nordmann sah Scheu grimmig an.

»Was denn?«, brummte sie und erwiderte seinen Blick.

Der Mann sah Lamm mit finsterem Gesicht hinterher, dann ging er weiter und kratzte sich den Bart.

Die Schatten wurden länger, und im Westen färbten sich die Wolken rosa, als Scheu unter Clays grinsendem Gesicht den letzten Sack fallen ließ. Er hielt ihr das Geld hin, einen Lederbeutel, den er an seinem Zugband von seinem dicken Zeigefinger baumeln ließ. Scheu streckte den Rücken durch, wischte sich die Stirn mit einem Handschuh ab, dann zog sie den Beutel auf und sah hinein.

»Alles da?«

»Ich werde dich schon nicht berauben.«

»Worauf du einen lassen kannst.« Sie begann, das Geld zu zählen. Einen Dieb kann man immer daran erkennen, hatte ihre Mutter stets gesagt, dass er mit seinem eigenen Geld überaus vorsichtig ist.

»Vielleicht sollte ich auch alle Säcke genau untersuchen, um sicherzugehen, dass überall auch wirklich Korn drin ist und keine Scheiße?«

Scheu schnaubte. »Und wenn es Scheiße wäre, würdest du es doch trotzdem verkaufen.«

Der Kaufmann seufzte. »Mach, was du willst.«

»Ganz bestimmt.«

»Das tut sie meistens«, setzte Lamm hinzu.

Es folgte eine Pause, in der es nur das Klappern der Münzen gab und die Zahlen, die sie im Kopf zusammenrechnete. »Ich hab gehört, dass Glama Golding in einer Arena bei Greyer schon wieder einen Kampf gewonnen hat«, sagte Clay. »Alle sagen, er sei der härteste Drecksack in ganz Naheland, und da gibt es ja nun wirklich eine Menge harte Kerle. Nur ein Dummkopf würde jetzt noch gegen ihn wetten, egal wie die Quoten stehen. Und nur ein Dummkopf würde gegen ihn antreten.«

»Bestimmt«, brummte Lamm, der immer still wurde, wenn es um Gewalttaten ging.

»Einer, der dabei war, hat mir erzählt, wie er dem alten Bär Stockling eine derartige Abreibung verpasst hat, dass dem die Eingeweide aus dem Arsch kamen.«

»Das ist bestimmt tolle Unterhaltung, was?«, fragte Scheu.

»Immerhin besser, als die eigenen Gedärme auszukacken.«

»Das ist aber auch nicht gerade eine Empfehlung.«

Clay zuckte die Achseln. »Gibt aber auch schlimmere Sachen. Habt ihr von dieser Schlacht gehört, da bei Rostod?«

»So am Rande«, murmelte sie, während sie versuchte, sich aufs Zählen zu konzentrieren.

»Die Rebellen sind schon wieder geschlagen worden, habe ich gehört. Und zwar dieses Mal richtig heftig. Jetzt sind sie alle auf der Flucht. Jedenfalls alle, die nicht von der Inquisition erwischt wurden.«

»Arme Schweine«, sagte Lamm.

Scheu hielt einen Augenblick inne, dann rechnete sie weiter. Es gab jede Menge arme Schweine, aber die konnten nicht alle ihr Problem sein. Sie hatte genug Sorgen mit ihren Geschwistern, mit Lamm, mit Gully und mit dem Hof, und sie konnte jetzt nicht auch noch wegen der selbstgemachten Leiden anderer herumheulen.

»Vielleicht werden sie noch eine letzte Schlacht bei Mulkova wagen, aber sie werden sich nicht mehr lange halten können.« Der Zaun knarrte, als Clay sich mit seinem weichen, massigen Körper dagegen lehnte, die Hände unter die Achseln geklemmt, während die Daumen nach oben zeigten. »Der Krieg ist so gut wie vorbei, wenn man überhaupt von einem Krieg reden kann, und es gibt jede Menge Leute, die von ihrem Land vertrieben wurden. Oder denen man die Häuser angezündet hat, oder die alles verloren haben. Die Pässe werden wieder geöffnet, und es kommen wieder Schiffe durch. Jede Menge Leute suchen plötzlich im Westen ihr Glück.« Er deutete mit dem Kopf zu dem staubigen Durcheinander auf der Straße, das auch jetzt, da die Sonne unterging, kein bisschen nachgelassen hatte. »Das hier ist nur das erste Rinnsal. Da kommt noch eine richtige Flut.«

Lamm schniefte. »Höchstwahrscheinlich werden sie feststellen, dass die Berge nicht aus einem einzigen großen Stück Gold bestehen, und bald schon in die andere Richtung strömen.«

»Einige sicherlich, aber andere werden dort Wurzeln schlagen. Die Unionisten werden ihnen folgen. Egal, wie viel Land die sich unter den Nagel reißen, die wollen immer mehr, und bei den Funden da im Westen werden sie Geld wittern. Dieser hinterhältige alte Drecksack Sarmis hockt an der Grenze und rasselt für das alte Kaiserreich mit dem Säbel, aber sein Säbel rasselt immer. Damit wird er die Flut nicht aufhalten können, denk ich mal.« Clay trat einen Schritt näher an Scheu heran und sprach leise weiter, als wollte er ein Geheimnis mit ihr teilen. »Ich habe gehört, dass in Hormring schon Unionsagenten unterwegs sind und über eine Annektierung sprechen.«

»Sie kaufen die Leute raus?«

»In der einen Hand haben sie Geld, das stimmt wohl, in der anderen aber eine Klinge. Das ist immer so. Wir sollten darüber nachdenken, wie wir uns dazu stellen, wenn sie nach Handelsguth kommen. Wir sollten zusammenhalten, jedenfalls jene von uns, die schon eine Weile da sind.«

»Ich interessiere mich nicht für Politik.« Scheu interessierte sich genau genommen für nichts – was durchaus Ärger mit sich bringen konnte.

»Das tun die wenigsten von uns«, sagte Clay, »aber manchmal interessiert sich die Politik für uns. Die Unionisten werden kommen, und sie bringen Gesetze mit.«

»Gesetze sind doch vielleicht keine so schlechte Sache«, heuchelte Scheu.

»Vielleicht nicht. Aber sie ziehen Steuern nach sich, so sicher wie ein Esel einen Karren.«

»Kann nicht behaupten, dass ich mich für Steuern begeistern werde.«

»Ist nichts weiter als eine etwas feinsinnigere Art der Leichenplünderung, oder nicht? Da lasse ich mich lieber ehrlich von einem mit Maske und Dolch berauben, als dass mir so ein blutarmer Drecksack mit Feder und Papier zu Leibe rückt.«

»Keine Ahnung, was ich davon halten soll«, murmelte Scheu. Die Leute, die sie ausgeraubt hatte, hatten allesamt nicht so ausgesehen, als seien sie über diese Erfahrung besonders glücklich, manche hatten sogar einen ziemlich gegenteiligen Eindruck gemacht. Sie ließ die Münzen wieder in den Beutel gleiten und zog die Schnur zu.

»Na, was hat die Zählung ergeben?«, fragte Clay. »Fehlt was?«

»Diesmal nicht. Aber verlass dich drauf, dass ich trotzdem weiter wachsam bleiben werde.«

Der Kaufmann grinste. »Ich habe nichts anderes erwartet.«

Sie suchte einige Sachen zusammen, die sie brauchten – Salz, Essig, ein wenig Zucker, da der nur gelegentlich zu bekommen war, einen Keil getrocknetes Rindfleisch sowie einen halben Sack Nägel, zu dem Clay natürlich den vorhersehbaren Witz machte, dass sie selbst doch schon genug Stacheln hatte. Sie konterte mit dem ebenso vorhersehbaren Witz, dass sie dann ja leicht seine Nüsse an sein Bein nageln könnte, woraufhin Lamm ebenfalls vorhersehbar erklärte, Clays Nüsse seien so klein, dass man da gar keinen Nagel hindurchbekäme. Sie alle lachten ein wenig über die Schlagfertigkeit der anderen.

Beinahe hätte sie sich dazu hinreißen lassen, ein neues Hemd für Pit zu kaufen, obwohl sie sich das eigentlich nicht leisten konnten, aber dann kaufte sie lieber Nadel und Faden, um ihm eins aus Lamms altem zu nähen. Wahrscheinlich bekam sie aus einem abgelegten Stück von Lamm fünf für Pit, so dürr war der Junge. Die Nadeln waren von einer neuen Art, und Clay sagte, dass sie in Adua von einer Maschine gefertigt wurden, Hunderte mit einem einzigen Druck, und sie lächelte, als sie daran dachte, was Gully dazu sagen würde, wie er sein weißes Haupt schütteln und brummen würde, Nadeln aus einer Maschine, was denen wohl als Nächstes einfällt, während Ro sie in ihren flinken Fingern hin und her drehte und herauszufinden versuchte, wie das wohl funktionierte.

Sie hielt ganz kurz vor den Schnapsflaschen inne, deren Glas bernsteinfarben in der Dunkelheit glänzte, zwang sich dann aber, darauf zu verzichten, feilschte härter denn je mit Clay über die Preise, und dann waren sie fertig.

»Dass du dich ja nie wieder in diesen Laden hereinwagst, du verrückte Schlampe!«, schrie ihr der Händler nach, als sie neben Lamm auf den Wagen kletterte. »Du hast mich beinahe ruiniert!«

»Nach der nächsten Ernte?«

Er hob eine fleischige Hand, als er sich wieder seinen Kunden zuwandte. »Joh, bis dann.«

Sie beugte sich hinunter, um die Wagenbremse zu lösen, und hätte dabei fast in den Bart des Nordmanns gefasst, den Lamm zuvor beinahe umgestoßen hatte. Er stand direkt neben dem Karren und runzelte die Stirn, als versuchte er, eine unscharfe Erinnerung wieder klar zu bekommen, die Daumen in einen Schwertgurt gehängt, das große, schlichte Heft nahe bei der Hand. Eine ungeschlachte Gestalt mit einer Narbe neben dem Auge, deren gezackte Linie sich in seinem struppigen Bart verlor. Scheu sah weiterhin freundlich drein, während sie verstohlen ihr Messer zog und die Klinge so drehte, dass sie hinter ihrem Arm versteckt lag. Es war immer besser, ein wenig Stahl in Griffweite zu haben, auch wenn es vielleicht gar keinen Ärger gab, als wenn man in Schwierigkeiten geriet und dann ohne Klinge dastand.

Der Nordmann sagte etwas in seiner Sprache. Lamm sank noch ein wenig mehr auf seinem Sitz zusammen und sah sich nicht einmal nach ihm um. Wieder sprach der Nordmann. Lamm brummte eine kurze Entgegnung, dann schnalzte er mit den Zügeln, und der Karren setzte sich in Bewegung. Scheu wurde von dem Geruckel hin und her geworfen. Sie warf einen hastigen Blick über die Schulter, als sie ein kleines Stück auf der ausgefahrenen Straße zurückgelegt hatten. Der Nordmann stand noch da, eingehüllt in die Staubwolke ihres Wagens, und sah ihnen finster nach.

»Was wollte der denn?«

»Nichts.«

Sie ließ ihr Messer wieder in seine Scheide gleiten, stemmte einen Stiefel gegen die Stützstrebe und lehnte sich zurück, den Hut so tief ins Gesicht gezogen, dass die untergehende Sonne ihr nicht in die Augen schien. »Auf der Welt wimmelt es nur so vor komischen Leuten, das stimmt wohl. Wenn man sich jedes Mal darüber Gedanken machen wollte, was die so denken, dann würde man aus den Sorgen nicht mehr rauskommen.«

Lamm machte sich kleiner denn je zuvor, als wäre er am liebsten in seinem eigenen Brustkorb verschwunden.

Sie schnaubte. »Du bist echt so ein beschissener Feigling.«

Er sah sie von der Seite an, dann guckte er weg. »Es gibt Schlimmeres, was ein Mann sein kann.«

Sie lachten, als sie über die Anhöhe ratterten und das flache kleine Tal sich vor ihnen öffnete. Über irgendwas, das Lamm gesagt hatte. Seine Stimmung hatte sich wie immer gebessert, nachdem sie die Stadt verlassen hatten. In großen Menschenmengen fühlte er sich nie besonders wohl.

Aber auch Scheu versetzte es in bessere Laune, diesen Weg entlangzurumpeln, der aus kaum mehr als zwei schwach erkennbaren Spuren im langen Gras bestand. Als sie jünger gewesen war, hatte sie schwarze Zeiten durchlebt, kohlrabenschwarze Zeiten, in denen sie stets gefürchtet hatte, dass man sie unter freiem Himmel töten und ihren Leichnam verfaulen lassen, oder dass man sie erwischen, aufhängen und unbegraben liegen lassen würde, damit sich die Hunde über sie hermachten. Oft genug hatte sie sich in diesen Nächten voller Angstschweiß geschworen, für jedes Mal in ihrem Leben dankbar zu sein, wenn ihr das Schicksal es gestattete, diesen unscheinbaren Weg noch einmal zu beschreiten. Mit der ewigen Dankbarkeit hatte es nicht so richtig geklappt, aber so ist das eben mit Versprechen. Sie fühlte sich trotzdem immer ein bisschen leichter, wenn der Karren diesen Weg nahm.

Dann sahen sie den Hof, und das Lachen blieb ihnen in der Kehle stecken, und sie saßen stumm da, während der Wind durch das Gras um sie herum pfiff. Sie konnte nicht atmen, nicht sprechen, nicht denken, Eiswasser strömte durch ihre Adern. Dann war sie vom Karren herunter und rannte.

»Scheu!«, brüllte Lamm ihr nach, aber sie hörte es kaum. Ihr Kopf war erfüllt von ihrem rasselnden Atem, und vor ihren Augen zuckte der Himmel um sie herum, als sie den Abhang hinunterrannte. Quer über das Stoppelfeld, das sie keine Woche zuvor abgeerntet hatten. Über den niedergetrampelten Zaun und die Hühnerfedern, die dort in den Dreck getreten worden waren.

Sie stolperte in den Hof – oder vielmehr dorthin, wo früher der Hof gewesen war – und blieb hilflos stehen. Das Haus bestand nur noch aus toten, verkohlten Balken und Trümmern; das Einzige, was noch stand, war der wacklige Schornstein. Kein Rauch. Der Regen hatte das Feuer wohl schon vor ein oder zwei Tagen gelöscht. Aber alles war verbrannt. Sie rannte ums Haus zur geschwärzten Ruine der Scheune, und ein leises Wimmern begleitete nun jeden Atemzug.

Gully war an dem großen Baum hinter dem Haus aufgehängt worden. Sie hatten ihn über dem Grab ihrer Mutter aufgeknüpft und den Grabstein umgestoßen. Er war mit Pfeilen gespickt. Es waren vielleicht ein Dutzend, vielleicht auch mehr.

Scheu fühlte sich, als hätte sie einen Tritt in die Eingeweide bekommen, und sie knickte zusammen, die Arme um den Körper geschlungen. Sie stöhnte, und der Baum stöhnte mit ihr, als der Wind durch das Blätterdach fuhr und Gullys Leichnam leise schaukeln ließ. Der arme, harmlose Alte. Er hatte ihr noch hinterhergerufen, als sie mit dem Karren davongerattert waren. Dass sie sich keine Sorgen machen müsste, weil er nämlich auf die Kinder aufpassen würde. Sie hatte lachend zurückgerufen, sie sei wirklich beruhigt, aber eher, weil die Kinder auf ihn aufpassen würden. Plötzlich konnte sie nichts mehr sehen, weil ihre Augen so wehtaten und der Wind in ihnen brannte, und sie zog die Arme noch fester um sich, als sei ihr plötzlich so kalt geworden, dass nichts sie würde wärmen können.

Sie hörte Lamms Stiefel hastig näher kommen, langsamer werden und schließlich innehalten, als er sie erreicht hatte.

»Wo sind die Kinder?«

Sie durchsuchten das ganze Haus und die Scheune auch. Langsam und stetig und zuerst noch wie betäubt. Lamm zog die verkohlten Balken beiseite, während Scheu in der Asche wühlte und überzeugt war, jeden Augenblick auf die Knochen von Pit und Ro zu stoßen. Aber sie waren nicht im Haus. Und auch nicht in der Scheune. Oder im Hof. Sie suchte immer wilder, um die Angst im Zaum zu halten, dann immer hektischer, um die Hoffnung klein zu halten, durchkämmte das Gras, zerrte an den Trümmern, aber das Einzige, was Scheu von ihren Geschwistern entdecken konnte, waren ein verbranntes Spielzeugpferd, das Lamm vor Jahren einmal für Pit geschnitzt hatte, und die versengten Seiten von einem von Ros Büchern, dessen Überreste sie sich vom Wind aus den Fingern wehen ließ.

Die Kinder waren verschwunden.

Sie stand da, starrte in den Wind, den abgeschürften Handrücken gegen den Mund gepresst, während sich ihre Brust in harten Stößen hob und senkte. Sie konnte nur einen Gedanken fassen.

»Sie wurden verschleppt«, krächzte sie.

Lamm nickte nur. Sein graues Haar und sein grauer Bart waren voller Ruß.

»Warum?«

»Ich weiß es nicht.«

Sie wischte sich die geschwärzten Hände vorn an ihrem Hemd ab und ballte sie zu Fäusten. »Wir müssen ihnen nach.«

»Joh.«

Sie ging in die Knie und suchte den zerwühlten Rasen rund um den Baum ab. Wischte sich die Nase und die Augen. Folgte dann vornübergebeugt den Spuren bis zum nächsten umgepflügten Stück. Dort entdeckte sie eine leere Flasche, die in den weichen Boden getreten worden war, ergriff sie und warf sie wieder weg. Sie hatten sich keine Mühe gemacht, ihre Spuren zu verwischen. Überall rund um die Ruinen der Gebäude waren Hufspuren. »Ich würde sagen, es waren um die zwanzig. Vielleicht aber mit vierzig Pferden. Die überzähligen Tiere hatten sie dort drüben gelassen.«

»Vielleicht, um die Kinder zu tragen?«

»Wohin denn?«

Lamm schüttelte nur den Kopf.

Sie machte weiter, bestrebt, irgendetwas zu sagen, das die Leere füllen würde. Etwas zu tun, damit sie nicht nachdenken musste. »So, wie ich es sehe, kamen sie von Westen und hielten sich, als sie wieder gingen, nach Süden. Sie hatten es ziemlich eilig.«

»Ich hole uns zwei Schaufeln. Wir werden Gully begraben.«

Sie machten schnell. Scheu kletterte auf den Baum, auf dem sie jede Stelle zum Festhalten und Fußfassen genau kannte. Schon vor langer Zeit, noch bevor Lamm zu ihnen kam, war sie hier hinaufgestiegen, und ihre Mutter hatte ihr zugeguckt und Gully hatte geklatscht. Jetzt war ihre Mutter unter diesem Baum begraben, und Gully hatte man an seinen Ästen aufgehängt, und irgendwie wusste sie, dass sie daran schuld war. Eine Vergangenheit wie die ihre konnte man nicht einfach begraben und sich lachend abwenden.

Sie schnitt ihn herunter, brach die Pfeile weg und glättete sein blutiges Haar, während Lamm neben dem Grab ihrer Mutter eine Grube für Gully aushob. Behutsam schloss sie ihm die hervorquellenden Augen und legte ihm die Hand auf die Wange. Sie war kalt. Er sah plötzlich so klein aus und so dünn, und sie hätte ihm gern einen Mantel umgelegt, aber sie hatte keinen zur Hand. Lamm hob ihn mit einer ungelenken Umarmung in das Loch, sie schütteten es gemeinsam wieder zu, richteten den Grabstein ihrer Mutter wieder auf und traten das aufgeworfene Gras fest, während der kalte Wind kleine schwarze und graue Aschekrümel um sie herumtanzen ließ, als er über das Land ins Nichts fegte.

»Sollten wir etwas sagen?«, fragte Scheu.

»Ich habe nichts zu sagen.« Lamm schwang sich auf den Bock des Karrens. Vielleicht blieb ihnen noch eine Stunde Tageslicht.

»Das Ding nehmen wir nicht«, sagte Scheu. »Ich kann schneller laufen als die blöden Ochsen.«

»Aber nicht länger, schon gar nicht mit Gepäck. Es hat keinen Zweck, überstürzt zu handeln. Sie haben wie viel, zwei, drei Tage Vorsprung? Und sie werden schnell reiten. Zwanzig Männer, hast du gesagt? Wir müssen realistisch sein, Scheu.«

»Realistisch?«, flüsterte sie ungläubig.

»Wenn wir sie zu Fuß verfolgen und wir nicht verhungern oder in einem Sturm weggespült werden, und wenn wir sie dann erwischen, was passiert dann? Wir sind noch nicht einmal bewaffnet. Wir haben nichts außer deinem Messer. Nein. Wir werden ihnen so schnell folgen, wie Scale und Calder laufen können.« Er nickte zu den Ochsen hinüber, die gerade die Gelegenheit nutzten, um ein wenig zu grasen. »Und dann schauen wir, ob wir ein paar von der Gruppe trennen können. Und aus denen rauskriegen, was sie vorhaben.«

»Ist doch wohl völlig klar, was die vorhaben!« Sie deutete auf Gullys Grab. »Und was passiert mit Ro und Pit, während wir ihnen folgen, verdammte Scheiße?« Jetzt schrie sie ihn an, und ihre Stimme zerschnitt die Stille. Ein paar hoffnungsvolle Krähen flogen aus dem Baumwipfel auf.

Lamms Mundwinkel zuckten, aber er sah sie nicht an. »Wir folgen ihnen.« Als hätten sie das schon beschlossen. »Vielleicht können wir darüber reden. Oder sie zurückkaufen.«

»Sie kaufen? Die brennen unseren Hof nieder, hängen unseren Freund auf, stehlen unsere Kinder, und du willst ihnen dafür auch noch Geld bezahlen? Du bist so ein verdammter Feigling!«

Er sah sie immer noch nicht an. »Manchmal muss man eben ein Feigling sein.« Seine Stimme war rau. Knirschte in seiner Kehle. »Kein Blutvergießen wird diesen Hof wieder aufbauen, und Gully wird davon auch nicht mehr lebendig. Das ist geschehen. Wir können nur noch versuchen, die Kleinen auf irgendeine Weise zurückzuholen. Unversehrt.« Das Zucken ging jetzt von seinem Mundwinkel über die vernarbte Wange bis zu seinem Auge. »Und dann sehen wir weiter.«

Als sich der Karren in der untergehenden Sonne ruckartig in Bewegung setzte, sah sie sich ein letztes Mal um. Ihr Zuhause. Ihre Hoffnungen. Wie ein einziger Tag alles verändern kann. Nichts war geblieben außer ein paar verbrannten Balken, die in den sich rötenden Himmel ragten. Man braucht keine großen Träume. Sie fühlte sich so niedergeschlagen wie noch nie zuvor in ihrem Leben, dabei hatte sie schon einige schlimme, dunkle, niederschmetternde Dinge erlebt. Plötzlich hatte sie kaum noch die Kraft, ihren Kopf hoch zu halten.

»Wieso mussten sie denn alles abbrennen?«, flüsterte sie.

»Manche Männer zünden einfach gerne was an«, sagte Lamm.

Sie sah zu ihm hinüber, wie sich die Umrisse seiner zerklüfteten Züge unter dem ramponierten Hut abzeichneten und die fast erloschene Sonne sich schimmernd in einem Auge fing, und sie dachte, wie seltsam es war, dass er so ruhig blieb. Ein Mann, der nicht den Mut hatte, um mehr Geld zu feilschen, dachte völlig gefasst über Tod und Entführung nach. Und betrachtete das Ende all dessen, wofür sie je gearbeitet hatten, ganz realistisch.

»Wie kannst du so ruhig dasitzen?«, wisperte sie. »So, als … als ob du gewusst hättest, dass das passieren würde.«

Er sah sie immer noch nicht an. »So was passiert doch ständig.«

DER EINFACHE WEG

Ich habe viele Enttäuschungen erlebt.« Nicomo Cosca, Generalhauptmann der Kompanie der Gütigen Hand, stützte sich bei diesen Worten steif auf einen Ellenbogen, als er sich zurücklehnte. »Ich denke, dass jeder große Mann sich ihnen stellen muss. Dass er sich von Träumen verabschiedet, die durch Verrat zerstört wurden, um neue zu finden, die er verwirklichen kann.« Grimmigen Blickes sah er nach Mulkova hinüber, der brennenden Stadt, von der sich Rauchsäulen in den blauen Himmel erhoben. »Ich habe mich von sehr vielen Träumen verabschiedet.«

»Das hat sicherlich enorm viel Mut erfordert«, sagte Sworbreck, dessen Augengläser kurz aufblitzten, als er von seinen Notizen aufblickte.

»In der Tat! Ich kann nicht mehr zählen, wie oft einer meiner Feinde in vorschnellem Optimismus voreilig meinen Tod verkündete. Vierzig Jahre Prüfungen, Kämpfe, Herausforderungen, Verrat. Wenn man lange genug lebt … dann sieht man, wie alles zerstört wird.« Cosca schüttelte die Erinnerungen ab. »Aber zumindest war es nicht langweilig! Und was haben wir für Abenteuer dabei erlebt, nicht wahr, Tempel?«

Tempel verzog das Gesicht. Zu seinen persönlichen Erfahrungen der letzten fünf Jahre zählten gelegentliche Angst, häufige Langeweile, in regelmäßigen Abständen auftretender Durchfall und die Erkenntnis, dass man zwar der Pest nicht aus dem Weg gehen konnte, auch wenn man das noch so sehr versuchte, aber zumindest dem Kämpfen, wobei man Kämpfe mindestens ebenso sehr hasste wie die Pest. Aber er wurde nicht dafür bezahlt, die Wahrheit zu sagen. Im Gegenteil.

»Wahre Heldentaten«, sagte er.

»Tempel ist mein Rechtskundiger. Er bereitet die Verträge vor und achtet darauf, dass sie erfüllt werden. Einer der schlauesten Drecksäcke, die mir je begegnet sind. Wie viele Sprachen sprechen Sie, Tempel?«

»Richtig flüssig lediglich sechs.«

»Er ist der wichtigste Mann in der ganzen verdammten Kompanie! Abgesehen von mir natürlich.« Eine leichte Brise wehte über den Berghang und ließ die federweichen weißen Härchen auf Coscas leberfleckiger Platte erschauern. »Ich freue mich schon darauf, Ihnen meine Geschichten zu erzählen, Sworbreck!« Tempel unterdrückte erneut eine angeekelte Grimasse. »Die Belagerung von Dagoska!« Die in einer kompletten Katastrophe geendet hatte. »Die Schlacht von Afieri!« Ein beschämendes Desaster. »Die Blutsjahre!« In denen Cosca öfter die Seiten gewechselt hatte als sein Hemd. »Der Kadiri-Feldzug!« Ein betrunkenes Fiasko. »Jahrelang habe ich sogar eine Ziege gehalten. Ein störrische Vieh, aber sehr treu, das musste man ihr lassen …«

Sworbreck gelang die bemerkenswerte Leistung, im Schneidersitz vor einem großen Trümmerbrocken eine unterwürfige Verbeugung zu vollführen. »Ich zweifle nicht daran, dass meine Leser von Ihren Ausführungen fasziniert sein werden.«

»Es gibt genug Stoff für zwanzig Bände!«

»Drei wären mehr als ausreichend …«

»Ich war einmal Großherzog von Visserine, müssen Sie wissen.« Mit einer großzügigen Handbewegung wischte Cosca eine Demutsbezeugung beiseite, die gar nicht erfolgt war. »Keine Sorge, Sie müssen mich nicht mit Exzellenz ansprechen – hier bei der Kompanie der Gütigen Hand halten wir uns nicht mit Formalitäten auf, nicht wahr, Tempel?«

Tempel holte tief Luft. »Wir geben uns ganz formlos.« Die Männer der Kompanie waren größtenteils Lügner, allesamt Diebe, teilweise Mörder. Dass Formalitäten bei ihnen keine Rolle spielten, war nicht weiter überraschend.

»Feldwebel Freundlich ist sogar noch länger bei mir als Tempel, schon seit wir Großherzog Orso absetzten und Monzcarro Murcatto auf den Thron von Talins brachten.«

Sworbreck sah auf. »Sie kennen die Großherzogin?«

»Sehr gut sogar. Ich kann ohne Übertreibung sagen, dass ich ihr enger Freund und Mentor war. Bei der Belagerung von Muris habe ich ihr das Leben gerettet, und sie mir das meine! Die Geschichte ihres Aufstiegs muss ich Ihnen bei Gelegenheit einmal erzählen, das war ein edles Unterfangen. Es gibt nur wenige hochstehende Persönlichkeiten, für die oder gegen die ich nicht irgendwann einmal gekämpft habe. Feldwebel Freundlich?«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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