Feuerklingen - Joe Abercrombie - E-Book

Feuerklingen E-Book

Joe Abercrombie

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Beschreibung

Der zweite Band des Bestsellerepos von Joe Abercrombie

Für den Barbarenkrieger Logen Neunfinger, der eigentlich nur seine Ruhe haben will, und den zynischen Großinquisitor Glokta hat die Begegnung mit dem mächtigen Magier Bayaz alles verändert. Denn nun befinden sie sich im Zentrum eines verheerenden Krieges, bei dem es um nichts Geringeres als die Zukunft des Reiches geht. Nun werden offene Rechnungen eingefordert, uralte Geheimnisse aufgedeckt, und über allem schwebt die Magie aus den Anfängen der Zeit ...

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Seitenzahl: 1062

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Das Buch

Wie soll Sand dan Glokta die Verteidigung der auf einer Landzunge gelegenen Stadt Dagoska gegen seine Erzfeinde, die Gurkhisen, übernehmen, wenn seinen Verbündeten nicht zu trauen ist und sein Amtsvorgänger spurlos verschwunden ist? Das ist mehr als ein Inquisitor ertragen kann, und Glokta ist eigentlich bekannt dafür, dass er gegen Feinde wie auch Verräter aus eigenen Reihen mit eiskalter Profession vorgeht. Nun benötigt er selbst Antworten, und zwar schnell, bevor das Heer seiner Feinde vor den Toren der Stadt steht.

 

Um den Kronprinzen Ladisla zu schützen, hat sich indessen das Heer der Union gespalten und nimmt die Streitkräfte König Behods in die Zange. Doch die Nordmänner sind findig; unerkannt reitet eine Truppe gegen Ladisla, der sich unbesiegbar wähnt – ein gefährlicher Fehlschluss für seine gebeutelten und denkbar schlecht ausgerüsteten Krieger.

 

Während sich die Schlinge immer enger um Herrschende wie Untertanen zieht, reist Bayaz, der Erste der Magi, in die verlassene Ödnis rund um die alte Ruinenstadt Adua. Zu seinem Gefolge zählen neben seinem Zauberlehrling Quai noch Ferro, eine verhasste Mörderin, Neunfinger, ein gefürchteter Kämpfer, und Luthar, Emporkömmling der Unionstruppen. Gemeinsam könnten sie die Menschheit retten, wenn sie einander nur nicht so hassen würden. Da wird ein Anschlag auf Bayaz verübt und plötzlich werden offene Rechnungen eingefordert, uralte Geheimnisse aufgedeckt und über allem weht die Magie aus den Anfängen der Zeit …

Der Autor

Joe Abercrombie lebt und arbeitet als freischaffender Drehbuchautor in London. Mit »Kriegsklingen«, dem Auftakt eines großen Fantasy-Abenteuers, wurde der junge Autor in Großbritannien und nun auch in Deutschland als die Fantasy-Entdeckung gefeiert. »Feuerklingen« ist sein zweiter Roman.

Joe Abercrombie

Feuerklingen

Roman

Aus dem Englischenvon Kirsten Borchardt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen. Titel der Originalausgabe BEFORE THEY ARE HANGED (THE FIRST LAW: BOOK TWO)

 

Redaktion: Angela Kuepper

Copyright © 2007 by Joe Abercrombie Copyright © 2007 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlagin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Covergestaltung: Nele Schütz Design

unter Verwendung von shutterstock (MIKAIL BALASHOV, Milan M, Algol, Tursunbaev Ruslan)

 

Satz: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-06880-6 V005

 

www.heyne.de

FÜR DIE VIER LESER IHR WISST, WEN ICH MEINE

ERSTER TEIL

»Man muss seinen Feinden verzeihen, aber nicht früher, als bis sie gehenkt worden.«

HEINRICH HEINE

DER GROSSE GLEICHMACHER

Verdammter Nebel. Er gerät einem in die Augen, bis man nicht mehr als ein paar Schritte weit sehen kann. Er gerät einem in die Ohren, bis man nichts mehr hört, und wenn doch, dann weiß man nicht, aus welcher Richtung die Geräusche kommen. Er gerät einem in die Nase, bis man nichts mehr riecht außer Feuchtigkeit und Nässe. Verdammter Nebel. Er ist ein Fluch für jeden Kundschafter.

Ein paar Tage zuvor hatten sie die Weißflut überquert, den Norden verlassen und Angland erreicht, und den ganzen Weg über war der Hundsmann äußerst angespannt gewesen. Ein fremdes Land zu erkunden, während dort Krieg herrschte, der sie eigentlich nichts anging. Von Dreibaum einmal abgesehen, war keiner von ihnen je aus dem Nordland herausgekommen. Außer Grimm vielleicht. Der sagte nicht, wo er gewesen war.

Sie waren an einigen niedergebrannten Höfen vorbeigekommen, an einem Dorf, in dem niemand zu sehen gewesen war. Unionsgebäude, groß und solide. Spuren hatten sie entdeckt von Pferden und Menschen. Viele Spuren, aber nie hatten sie diejenigen zu Gesicht bekommen, die sie hinterlassen hatten. Hundsmann wusste allerdings, dass Bethod nicht weit sein konnte. Sein Heer hatte sich auf der Suche nach neuen Dörfern zum Niederbrennen, nach Nahrung zum Stehlen und nach Menschen zum Töten über das ganze Land verteilt. Seine Krieger brachten Unheil, wohin sie nur kamen. Er würde auch überall seine Kundschafter haben. Wenn er den Hundsmann schnappte oder einen der anderen, würden sie wieder zu Schlamm werden, aber nicht auf die schnelle Weise. Blutkreuz, aufgespießte Köpfe, das ganze Programm wartete dann auf sie, da war sich Hundsmann sicher.

Wenn die Union sie erwischte, waren sie aller Wahrscheinlichkeit nach genauso tot. Es herrschte immerhin Krieg, und im Allgemeinen dachten die Leute im Krieg nicht allzu lange nach. Hundsmann ging nicht davon aus, dass sich jemand die Zeit nahm, um einen freundlich gesinnten Nordmann von einem feindseligen zu unterscheiden. Das Leben war voller Gefahren, das war nun mal so. Diese Umstände reichten, um jeden nervös zu machen – und den Hundsmann, der schon zu seinen besten Zeiten ein bisschen angespannt war, sowieso.

Angesichts all dessen rieb Nebel sozusagen nur noch ein bisschen Salz in die Wunde.

Das Herumkriechen durch den Dreck hatte ihn durstig werden lassen, und daher schlug sich Hundsmann durch das Unterholz zu der Seite hinüber, wo er den Fluss plätschern hörte. Am Ufer kniete er sich hin. Verfaulende Pflanzenreste und altes Blattwerk trübten das Wasser, aber Hundsmann nahm nicht an, dass dieses bisschen Schlamm ihm etwas ausmachen würde, zumal er sich so ausgedörrt fühlte, wie man überhaupt nur sein konnte. Vorsichtig schöpfte er mit den hohlen Händen Wasser und trank. Dort, hinter den Bäumen, kam ein leichter Wind auf, der die Nebelbänke erst näher heranschob und dann wieder davonblies. Und da sah er ihn.

Er lag auf dem Bauch, die Beine im Wasser, mit dem Oberkörper auf der Böschung. Sie starrten einander eine Weile an, beide gleichermaßen erschrocken und überrascht. Ein langer Stiel ragte aus seinem Rücken. Ein abgebrochener Speer. Da wurde Hundsmann klar, dass der andere tot war.

Er spuckte das Wasser aus und kroch hinüber, wobei er sich sorgfältig umsah, ob dort auch niemand lauerte, der ihm eine Klinge in den Rücken stoßen wollte. Der Tote war ein Mann, der zwei Dutzend Jahre zählen mochte. Gelbes Haar, braunes Blut auf grauen Lippen. Er war mit einer gefütterten, vor Nässe aufgequollenen Jacke bekleidet, so wie man sie unter einem Kettenhemd trug. Ein Kämpfer demzufolge. Ein Nachzügler vielleicht, der den Anschluss an seine Truppe verloren hatte und dann erschlagen worden war. Zweifelsohne ein Unionsmann, aber er sah für den Hundsmann nicht so viel anders aus als andere, jetzt, da er tot war. Ein Leichnam sieht dem anderen recht ähnlich.

»Der große Gleichmacher«, murmelte der Hundsmann vor sich hin, als sich eine nachdenkliche Stimmung seiner bemächtigte. So nannten ihn die Bergmenschen. Den Tod. Er machte alle Unterschiede gleich. Ob Namhafter Mann oder ein Niemand, ob Süden oder Norden. Er holte am Ende jeden, und er behandelte alle gleich.

So wie es aussah, war dieser Mann höchstens ein paar Tage tot. Demzufolge war derjenige, der ihn getötet hatte, möglicherweise noch in der Nähe, und das machte den Hundsmann nervös. Der Nebel schien plötzlich voller Geräusche. Vielleicht lauerten außerhalb der Sichtweite ein paar hundert Carls. Vielleicht war es auch nur der Fluss, der an seinen Ufern schmatzte. Hundsmann ließ den Toten liegen und schlich zurück ins Gebüsch, wobei er von einem Baum zum nächsten eilte, die in der grauen Suppe vor ihm auftauchten.

Beinahe stürzte er über einen weiteren Toten, der halb unter einem Blätterhaufen vergraben war, auf dem Rücken liegend und mit ausgebreiteten Armen. Er kam an einem weiteren vorbei, der auf den Knien lag; ein paar Pfeile staken in seiner Seite, und er streckte das Gesicht gen Boden und den Hintern in die Luft. Der Tod kennt keine Würde, das ist nun einmal Tatsache. Der Hundsmann beeilte sich, es drängte ihn danach, zu den anderen zurückzukehren und ihnen zu erzählen, was er gesehen hatte. Und von diesen Leichen wegzukommen.

Er hatte schon viele gesehen, natürlich. Mehr, als ihm zukam. Aber er hatte sich nie wirklich an sie gewöhnt. Es ist leicht, einen Menschen in einen Kadaver zu verwandeln. Hundsmann kannte tausend Arten, das zu tun. Aber wenn man es getan hat, gibt es kein Zurück mehr. Eben noch ist er ein Mensch, voller Hoffnungen, Gedanken und Träume. Ein Mensch mit Freunden, mit Familie, mit einer Heimat. Einen Augenblick später ist er wieder Schlamm. Es erinnerte den Hundsmann an all die Scharmützel, in die er geraten war, an die Kämpfe und Schlachten, an denen er teilgenommen hatte. Es ließ ihn daran denken, wie glücklich er sich schätzen konnte, dass er noch immer atmete. Geradezu blödsinnig glücklich. Und es ließ ihn fürchten, sein Glück könnte nicht von Dauer sein.

Jetzt rannte er schon beinahe. Leichtsinnig. Er stolperte durch den Nebel wie ein unerfahrener Junge. Nahm sich keine Zeit, reckte die Nase nicht in den Wind, lauschte nicht. Ein Namhafter Mann wie er, ein Kundschafter, der den ganzen Norden erkundet hatte, hätte es besser wissen sollen, aber man kann nicht stets in Habachtstellung sein. Und so geschah es dann.

Er bekam einen schweren Schlag gegen die Seite, der ihn bäuchlings zu Boden warf. Als er sich aufzurichten versuchte, gab ihm jemand einen Tritt, dass er wieder hinfiel. Hundsmann kämpfte, aber wer auch immer der Drecksack hinter ihm war, er war fürchterlich stark. Bevor er wusste, wie ihm geschah, lag er auf dem Rücken am Boden, und das hatte er sich ganz allein selbst zuzuschreiben. Sich selbst und den Leichen und dem Nebel. Eine Hand packte seinen Hals und drückte ihm die Kehle zu.

»Gurgg«, krächzte er und kratzte an der Hand. Ihm war, als habe nun seine letzte Stunde geschlagen. All seine Hoffnungen würden zu Schlamm. Der große Gleichmacher kam nun auch zu ihm …

Dann hörten die Finger auf zu drücken.

»Hundsmann«, sagte eine Stimme nahe an seinem Ohr, »bist du das?«

»Gurgg.«

Die Hand löste sich von seiner Kehle, und er holte tief Luft. Fühlte sich an seiner Jacke gepackt und emporgezogen. »Scheiße noch mal, Hundsmann! Ich hätte dich umbringen können!« Jetzt erkannte er die vertraute Stimme. Der Schwarze Dow, dieser Drecksack. Hundsmann war halb erzürnt, dass man ihn beinahe zu Tode gewürgt hatte, und zur anderen Hälfte geradezu blödsinnig glücklich darüber, noch am Leben zu sein. Er hörte, wie Dow über ihn lachte. Ein herbes Lachen, wie der Schrei einer Krähe. »Alles klar?«

»Ich bin schon herzlicher begrüßt worden«, krächzte Hundsmann, der noch immer nach Luft rang.

»Du kannst verdammt froh sein, ich hätte auch härter zupacken können. Viel härter. Ich hab dich für einen von Bethods Kundschaftern gehalten. Dachte, du wärst drüben auf der anderen Seite des Tals.«

»Wie du siehst«, flüsterte Hundsmann, »bin ich das nicht. Wo treiben sich die anderen herum?«

»Die sind rauf auf einen Hügel, um über diesen Scheißnebel hinauszukommen. Sehen sich ein bisschen um.«

Hundsmann deutete mit dem Kopf in die Richtung, aus der er gekommen war. »Da drüben liegen Leichen. Jede Menge.«

»Jede Menge Leichen, echt?«, fragte Dow, als glaube er nicht, dass der Hundsmann wusste, wie jede Menge Leichen aussahen. »Ha!«

»Joh, jedenfalls ziemlich viele. Tote Unionsmänner, nehm ich an. Sieht aus, als hätte es hier einen Kampf gegeben.«

Der Schwarze Dow lachte wieder. »Einen Kampf, meinst du?« Hundsmann war sich nicht sicher, was er damit meinte. »Scheiße«, sagte er.

Sie standen oben auf dem Hügel, alle fünf. Der Nebel hatte sich verzogen, aber beinahe wünschte Hundsmann sich jetzt, er wäre noch da. Er sah nun, was Dow gemeint hatte, und wie. Das ganze Tal war voller Leichen. Sie lagen verstreut auf den Hängen, eingeklemmt zwischen Felsen, ausgestreckt unter dem Ginster. Sie lagen auf dem Gras im Tal wie Nägel, die aus einem Sack gefallen sind, zusammengekrümmt und furchtbar zugerichtet auf der braunen Erde der Straße. Man hatte sie am Fluss aufgetürmt, in einem hohen Haufen am Ufer aufgeschichtet. Arme und Beine und zerbrochene Waffen ragten aus den letzten Nebelfetzen heraus. Sie waren überall. Mit Pfeilen gespickt, mit Schwertern erstochen, mit Äxten zerfleischt. Krähen ließen ihre Schreie ertönen, während sie von einer Mahlzeit zur nächsten hüpften. Heute war ein guter Tag für die Krähen. Es war schon eine Weile her, dass Hundsmann ein richtiges Schlachtfeld gesehen hatte, und der Anblick löste einige bittere Erinnerungen aus. Fürchterlich bittere.

»Scheiße«, sagte er wieder. Ihm fiel nichts anderes ein.

»Ich nehme an, die Unionsmänner kamen diese Straße entlangmarschiert«, sagte Dreibaum mit gerunzelter Stirn. »Wahrscheinlich hatten sie es eilig. Versuchten wohl, Bethod zu überraschen.«

»Sieht aus, als hätten sie das Gelände nicht gut genug ausgekundschaftet«, grollte Tul Duru. »Und dann hat Bethod sie wohl überrascht.«

»Vielleicht war es neblig«, sagte der Hundsmann. »So wie heute.«

Dreibaum zuckte die Achseln. »Vielleicht. Ist ja die Jahreszeit dafür. Jedenfalls waren sie auf der Straße, in einer Kolonne, müde nach einem langen Tagesmarsch. Bethod hat sie von hier aus angegriffen, und von dort drüben, vom Hügelkamm. Zuerst mit Pfeilen, um die Kolonne aufzubrechen, dann mit den Carls, die brüllend und zu allem entschlossen von den Hängen ins Tal vorgestoßen sind. Die Unionstruppen sind schnell auseinander gebrochen, vermute ich.«

»Verdammt schnell«, sagte Dow.

»Und dann folgte ein Gemetzel. Schutzlos auf der Straße, vor dem Ufer eingekesselt. Kaum noch Fluchtmöglichkeiten. Männer, die hastig versuchen, ihre Rüstungen abzuwerfen, oder in voller Montur den Fluss durchschwimmen wollen. Die in Panik geraten und übereinanderstürzen, während ihnen die Pfeile um die Ohren fliegen. Einige haben es vielleicht sogar bis in das Wäldchen da vorn geschafft, aber wie ich Bethod kenne, hatte er dort sicher ein paar Reiter versteckt, die dann den Rest besorgt haben.«

»Scheiße«, sagte Hundsmann, dem mehr als nur ein bisschen schlecht war. Er hatte auch schon auf der Verliererseite eines solchen Gemetzels gestanden, und die Erinnerungen daran waren alles andere als angenehm.

»Sauber wie eine gerade Naht«, sagte Dreibaum. »Das muss man Bethod, diesem Drecksack, lassen, er versteht sein Handwerk wie kein anderer.«

»Ist das nun schon das Ende, Häuptling?«, fragte Hundsmann. »Hat Bethod bereits gewonnen?«

Dreibaum schüttelte den Kopf, ganz ruhig und langsam. »Es gibt ziemlich viele Südländer. Jede Menge. Die meisten leben auf der anderen Seite des Meeres. Es heißt, da gibt es mehr von ihnen, als man zählen kann. Mehr Menschen, als es Bäume im Norden gibt. Es wird vielleicht eine Weile dauern, aber sie werden kommen. Das ist nur der Anfang.«

Der Hundsmann blickte auf das feuchte Tal, auf all die toten Männer, die zusammengekrümmt, ausgestreckt oder verdreht am Boden lagen und jetzt nichts weiter waren als Futter für die Krähen. »Ein ziemlich übler Anfang, jedenfalls für sie.«

Dow rollte seine Zunge ein und spuckte aus, so geräuschvoll er konnte. »Zusammengetrieben und abgeschlachtet wie ’ne Herde Schafe! Willst du so draufgehen, Dreibaum? Hä? Willst du dich wirklich auf deren Seite stellen? Scheiß-Union! Die verstehen ja überhaupt nichts vom Krieg!«

Dreibaum nickte. »Dann werden wir ihnen wohl etwas beibringen müssen.«

 

Vor den Toren drängte sich eine große Menschenmenge. Es waren Frauen, ausgemergelt und mit hungrigem Blick. Es waren Kinder, zerlumpt und dreckig. Es waren Männer, alte und junge, die schweres Gepäck geschultert hatten oder Ausrüstung umklammert hielten. Einige hatten Maultiere oder Karren dabei, die sie schoben und auf denen sich allerlei nutzlos aussehendes Zeug stapelte. Holzstühle, Zinntöpfe, Ackergeräte. Viele hatten gar nichts außer ihrem Elend. Der Hundsmann vermutete, dass es zumindest davon reichlich gab.

Sie verstopften die Straße mit ihren Körpern und ihrem Gerümpel. Selbst die Luft schien dick vor Bitten und Drohungen. Hundsmann konnte ihre Angst riechen, die ihm so dickflüssig wie Suppe in die Nase stieg. Sie alle flüchteten vor Bethod.

Sie drängten sich mit viel Kraft gegeneinander, manche schoben nach innen, andere nach außen, und gelegentlich rutschte jemand in den Dreck zu ihren Füßen. Sie alle versuchten verzweifelt das Tor zu erreichen, als sei es die Milchzitze ihrer Mutter. Aber die Menge als Ganzes bewegte sich nirgendwohin. Hundsmann sah Speerspitzen über den Köpfen der Menschenmenge aufblitzen und hörte harte Stimmen rufen. Vorn standen Soldaten, die niemanden in die Stadt hineinließen.

Hundsmann beugte sich zu Dreibaum hinüber. »Sieht aus, als wollten sie nicht mal ihre eigenen Leute«, raunte er. »Meinst du, da wollen sie uns, Häuptling?«

»Sie brauchen uns, das ist eine Tatsache. Wir werden mit ihnen reden, und dann werden wir sehen. Oder hast du einen besseren Vorschlag?«

»Nach Hause gehen und sich raushalten?«, murmelte Hundsmann unterdrückt, folgte Dreibaum dann aber doch.

Die Südländer glotzten sie an, als sie sich einen Weg durch die Menschen bahnten. Ein kleines Mädchen starrte Hundsmann mit großen Augen an, als er vorbeiging, und hielt dabei einen alten Lumpen an sich gepresst. Hundsmann versuchte zu lächeln, aber seit langer Zeit hatte er nur mit harten Männern und hartem Metall zu tun gehabt, und es geriet wohl nicht besonders freundlich. Das Mädchen kreischte und rannte davon, und es war nicht allein mit seiner Angst. Die Menge teilte sich misstrauisch und schweigend, als die Leute Hundsmann und Dreibaum kommen sahen, obwohl sie ihre Waffen bei den anderen zurückgelassen hatten.

Sie kamen ohne weiteres bis vor das Tor, ohne sich mehr als ein kleines bisschen an einigen Männern vorbeischieben oder drängeln zu müssen. Jetzt bemerkte Hundsmann die Soldaten, ungefähr ein Dutzend, die in einer Reihe das Tor versperrten und dabei einer wie der andere aussahen. Noch nie zuvor hatte er derartig schwere Rüstungen gesehen. Sie waren von Kopf bis Fuß von Metallplatten umschlossen, die auf blendenden Glanz poliert worden waren, sie trugen Helme, die ihre Gesichter bedeckten, und standen bewegungslos da wie Metallpfeiler. Er fragte sich, wie man gegen so einen kämpfte, wenn es sein musste. Ein Pfeil würde wohl nicht viel ausrichten, ein Schwert vielleicht auch nicht, wenn man nicht gerade mit viel Glück ein Gelenk traf.

»Dafür braucht man eine Spitzhacke oder so was.«

»Was?«, zischte Dreibaum.

»Nichts.« Ganz offensichtlich hatten sie da unten in der Union ein paar seltsame Einfälle, was die Kriegsführung anging. Wenn jene Seite, die am meisten glänzte, die Kriege gewann, dann hätten sie Bethod wohl kräftig heimgeleuchtet, nahm der Hundsmann an. Leider war es aber ja nicht so.

Ihr Häuptling hatte sich in ihrer Mitte aufgepflanzt, er saß hinter einem kleinen Tisch, auf dem ein paar Papierfetzen lagen, und er sah noch seltsamer aus als alle anderen. Er trug eine komische Jacke, leuchtend rot. Ein seltsamer Stoff für einen Anführer, dachte Hundsmann. Er bot ein prächtiges Ziel für einen Pfeil, selbst aus großer Entfernung. Außerdem war er ziemlich jung für so einen Posten. Er hatte noch kaum Bartwuchs, obwohl er dennoch sehr von sich überzeugt wirkte.

Ein großer Mann in einem dreckigen Mantel stritt sich mit ihm herum. Hundsmann strengte seine Ohren an, um etwas von ihrem Unionsgerede zu verstehen. »Ich habe fünf Kinder bei mir«, sagte der Bauer, »und nichts für sie zu essen. Was soll ich Ihrer Meinung nach tun?«

Ein alter Mann drängte sich vor. »Ich bin ein enger Freund des Lord Statthalters, ich verlange, dass Sie mich vorlassen …«

Der junge Bursche ließ keinen von ihnen ausreden. »Mir ist völlig egal, wer Ihre Freunde sind, und mich kümmert nicht, ob Sie vielleicht hundert Kinder haben! Die Stadt Ostenhorm ist voll. Lord Marschall Burr hat verfügt, dass täglich nur zweihundert Flüchtlinge eingelassen werden, und wir haben diese Grenze schon heute Morgen erreicht. Ich schlage vor, dass Sie morgen wiederkommen. Am besten möglichst früh.«

Die zwei Männer standen da und starrten ihn an. »Welche Grenze?«, fauchte der Bauer.

»Aber der Lord Statthalter …«

»Verdammt noch mal«, schrie der junge Mann und schlug aufbrausend mit der Faust auf den Tisch. »Verderben Sie es nicht mit mir! Sonst lasse ich Sie tatsächlich rein! Indem ich Sie hineinschleifen und als Verräter aufhängen lasse!«

Das reichte den beiden, und sie zogen sich schnell zurück. Hundsmann dachte, dass es klug wäre, dasselbe zu tun, aber Dreibaum marschierte bereits auf den Tisch zu. Der junge Bursche sah sie mit einem verächtlichen Gesichtsausdruck an, als ob sie schlimmer stanken als zwei frische Scheißhaufen. Hundsmann hätte das eigentlich nicht viel ausgemacht, wenn er sich nicht vorher extra noch gewaschen hätte. Er war so sauber wie seit Monaten nicht mehr. »Was, zur Hölle, wollt ihr? Wir brauchen keine Spitzel oder Bettler!«

»Gut«, antwortete Dreibaum ruhig und geduldig. »Wir auch nicht. Mein Name ist Rudd Dreibaum. Das hier ist der Hundsmann. Wir sind gekommen, um mit demjenigen zu reden, der hier die Befehle erteilt. Wir sind gekommen, um eurem König unsere Dienste anzubieten.«

»Eure Dienste anzubieten?« Der Junge lächelte. Es war kein freundliches Lächeln. »Hundsmann, sagst du? Was für ein interessanter Name. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie er wohl zu dem gekommen ist.« Er lachte selbstgefällig über diese einfallsreiche Bemerkung, und Hundsmann hörte, dass auch anderswo gelacht wurde. Eine schöne Versammlung von Arschlöchern, dachte er, eingepackt in ihre bunten Fummel und glänzenden Uniformen. Wirklich prächtige Arschlöcher, aber es hatte keinen Zweck, ihnen das jetzt zu sagen. Es war gut, dass sie Dow nicht mitgenommen hatten. Er hätte diesem Idioten vermutlich schon das Fell abgezogen und damit ihr Leben verwirkt.

Der Junge beugte sich vor und sprach sehr langsam, als ob er sich an Kinder wandte. »Nordmänner haben keinen Zutritt in die Stadt, nicht ohne Sondergenehmigung.«

So wie es aussah, war die Tatsache, dass Bethod ihre Grenze überschritten hatte, ihre Armeen niedermetzelte und ihr Land mit Krieg überzog, kein Grund für eine solche Sondergenehmigung. Dreibaum ließ sich nicht abwimmeln, aber der Hundsmann fürchtete, dass er steinigen Boden zu pflügen versuchte. »Wir bitten nicht um viel. Nur um etwas zu essen und einen Platz zum Schlafen. Wir sind zu fünft, jeder ein Namhafter Mann, jeder ein erfahrener Kämpfer.«

»Seine Majestät hat mehr als genug Soldaten zur Verfügung. Allerdings fehlen uns ein paar Maultiere. Vielleicht hättet ihr Lust, als Lasttiere einzuspringen?«

Dreibaum war bekannt für seine Geduld, aber auch sie hatte ihre Grenze, und Hundsmann hatte das Gefühl, dass sie allmählich erreicht war. Dieser idiotische Bengel hatte keine Ahnung, mit wem er da sein Spiel trieb. Rudd Dreibaum, das war kein Mann, über den man sich lustig machte. Dort, wo sie herkamen, war sein Name bekannt. Es war ein Name, der Männern Angst einflößte, oder auch Mut, je nachdem, auf welcher Seite sie standen. Seine Geduld hatte Grenzen, und noch waren sie nicht überschritten. Zum Glück aller Beteiligten.

»Maultiere, ja?«, knurrte Dreibaum. »Maultiere können ausschlagen. Pass mal lieber auf, dass dir nicht mal eins den Kopf wegschlägt, Bürschchen.« Damit drehte er sich um und ging davon, den Weg zurück, den sie gekommen waren. Die verängstigten Leute machten ihnen Platz, drängten sich hinter ihnen wieder zusammen und suchten den Soldaten von neuem begreiflich zu machen, weswegen ausgerechnet sie eingelassen werden sollten, während andere draußen bleiben müssten.

»Das war nicht ganz der Empfang, auf den wir gehofft haben«, brummte der Hundsmann. Dreibaum sagte nichts, sondern ging mit gesenktem Kopf voraus. »Was jetzt, Häuptling?«

Der alte Kämpe warf ihm über die Schulter einen grimmigen Blick zu. »Du kennst mich. Meinst du, dass ich mich mit dieser Scheißantwort zufrieden gebe?« Wohl nicht, hatte der Hundsmann im Gefühl.

WOHL DURCHDACHTE PLÄNE

Es war kalt im großen Saal des Lord Statthalters von Angland. Die hohen Wände waren kalt und schlicht verputzt, der Boden des großen Raumes bestand aus kalten Steinfliesen, und im hohlen Kamin lag nur kalte Asche. Der einzige Schmuck war ein großer Wandteppich, der am anderen Ende der Halle hing und mit der goldenen Sonne der Union bestickt war, mit den gekreuzten Hämmern Anglands in der Mitte.

Lord Statthalter Meed saß zusammengesunken auf einem harten Stuhl vor einem riesigen, nackten Tisch, starrte ins Leere und hielt die Rechte schlaff am Stiel eines Weinglases. Sein Gesicht war bleich und hohlwangig, seine Staatsgewänder zerknittert und fleckig, und sein dünnes weißes Haar war zerzaust. Major West, der in Angland geboren und aufgewachsen war, hatte früher von Meed als einem starken Anführer reden hören, einer beeindruckenden Persönlichkeit, einem nimmermüden Kämpfer für die Provinz und ihre Menschen. Aber jetzt wirkte er wie die leere Hülle eines Mannes, der unter der schweren Bürde seines Amtes zusammengebrochen war und innerlich so kalt und leer war wie sein gähnender Kamin.

Und wenn es ohnehin schon kalt war, so war die Atmosphäre sogar noch eisiger. Lord Marschall Burr stand in der Mitte des Saales, die Beine leicht gespreizt, die großen Hände fassten mit weißen Knöcheln hinter dem Rücken ineinander. Major West stand mit gesenktem Kopf schräg hinter ihm, kerzengerade aufgerichtet, und wünschte sich, seinen Mantel nicht abgegeben zu haben. Es war hier drinnen kälter als draußen, falls das möglich war. Das Wetter war äußerst unfreundlich für die herbstliche Jahreszeit.

»Einen Schluck Wein, Herr Marschall?«, nuschelte Meed, der nicht einmal aufsah. Seine Stimme schien sich schwach und dünn in dem großen Raum zu verlieren. West bildete sich ein, dass er den Atem des alten Mannes weiß vor seinem Mund aufsteigen sah.

»Nein, Euer Ehren, vielen Dank.« Burr blickte finster drein. Das hatte er, soweit West beobachtet hatte, die letzten zwei Monate ununterbrochen getan. Er schien keinen anderen Gesichtsausdruck mehr zu haben. Es gab einen finsteren hoffnungsvollen Blick, einen finsteren zufriedenen Blick und einen finsteren überraschten Blick. Und jetzt war es ein finsterer Blick voll äußersten Zorns. West verlagerte sein Gewicht nervös von einem Fuß auf den anderen, versuchte, das Blut wieder zirkulieren zu lassen, und wünschte, er wäre woanders – irgendwo, nur nicht hier.

»Wie ist es mit Ihnen, Herr Major?«, hauchte der Lord Statthalter. »Möchten Sie etwas Wein?« West öffnete den Mund, um höflich abzulehnen, aber Burr kam ihm zuvor.

»Was ist geschehen?«, polterte er, und die harten Worte prallten von den kalten Wänden ab und hallten in den eisigen Dachsparren nach.

»Was geschehen ist?« Der Lord Statthalter setzte sich mit einem Ruck ein wenig auf und richtete die tief liegenden Augen langsam auf Burr, als sähe er den Marschall soeben zum ersten Mal. »Ich habe meine Söhne verloren.« Er griff mit bebender Hand nach seinem Glas und leerte es bis zur Neige.

West sah, wie sich Marschall Burrs Hände hinter seinem Rücken noch stärker verkrampften. »Mein Beileid für den schweren Verlust, der Sie getroffen hat, Euer Ehren, aber ich bezog mich auf die allgemeine Lage. Ich rede von Schwarzenquell.«

Meed schien vor der bloßen Erwähnung des Ortes zurückzuzucken. »Es kam zur Schlacht.«

»Es kam zu einem Gemetzel!«, bellte Burr. »Wie erklären Sie das? Haben Sie die Befehle des Königs nicht gelesen? Sie sollten jeden Soldaten zu den Waffen rufen, der Ihnen zur Verfügung stand, Ihre Verteidigungsanlagen bemannen und auf Verstärkung warten! Und unter keinen Umständen sollten Sie eine Schlacht mit Bethod riskieren!«

»Die Befehle des Königs?« Die Lippen des Lord Statthalters kräuselten sich. »Die Befehle des Geschlossenen Rats, meinen Sie? Die habe ich erhalten. Ich habe sie auch gelesen. Ich habe sie erwogen.«

»Und dann?«

»Dann habe ich sie zerrissen.«

West konnte hören, wie der Lord Marschall scharf die Luft durch die Nase einzog. »Sie haben sie … zerrissen?«

»Seit hundert Jahren haben meine Familie und ich Angland regiert. Als wir hierherkamen, war da nichts.« Meed reckte das Kinn, so stolz er konnte, und streckte die Brust heraus. »Wir haben die Wildnis gezähmt. Wir haben die Wälder gerodet, die Straßen angelegt, und wir haben die Höfe, die Minen und die Städte gebaut, die der ganzen Union viel Reichtum eingebracht haben!«

Die Augen des Alten begannen nun zu leuchten. Er schien größer, mutiger, stärker. »Die Menschen dieses Landes wenden sich zuerst an mich, wenn sie Schutz suchen, und erst dann schauen sie übers Meer! Sollte ich es diesen Nordmännern, diesen Barbaren, diesen Tieren gestatten, ungestraft durch meine Lande zu ziehen? Die großen Errungenschaften meiner Vorväter in Schutt und Asche zu legen? Zu rauben, zu brennen, zu vergewaltigen und zu morden, wie es ihnen gefällt? Sollte ich hinter meinen Mauern sitzen, während sie Angland dem Schwert überantwortet haben? Nein, Marschall Burr! So bin ich nicht! Ich rief alle Männer zusammen, bewaffnete sie und sandte sie aus gegen diese Wilden, und meine drei Söhne gingen an vorderster Front. Was hätte ich sonst tun sollen?«

»Sie hätten die Scheiß-Befehle befolgen sollen, die Sie bekamen! «, brüllte Burr völlig außer sich. West fuhr erschrocken zusammen, und das gewaltige Echo dröhnte in seinen Ohren.

Meed zuckte, sah Burr mit offenem Mund an, dann begann seine Lippe zu zittern. »Ich habe meine Söhne verloren«, flüsterte er und blickte auf den kalten Boden. »Ich habe meine Söhne verloren.«

»Mir tut es leid um Ihre Söhne und um alle anderen, deren Leben sinnlos verschwendet wurden, aber für Sie empfinde ich kein Mitleid. Sie haben sich das ganz allein selbst zuzuschreiben. « Burr erschauerte leicht, schluckte und rieb sich den Bauch. Mit langsamen Schritten ging er zum Fenster und blickte über die kalte, graue Stadt. »Sie haben Ihre Stärke leichtfertig vertändelt, und ich muss jetzt meine eigenen Truppen ausdünnen, um Ihre Städte und Ihre Festungen zu bemannen. Alle, die das Schwarzenquell-Massaker überlebt haben, und auch alle anderen, die unter Waffen stehen und kämpfen können, werden Sie sofort meinem Befehl überstellen. Wir werden jeden Mann brauchen.«

»Und ich?«, nuschelte Meed. »Ich nehme einmal an, die Bluthunde im Geschlossenen Rat werden nach meinem Blut lechzen? «

»Lassen Sie sie dürsten. Ich brauche Sie hier. Flüchtlinge sind auf dem Weg nach Süden, sie fliehen vor Bethod oder vor der Angst, die ihm vorauseilt. Haben Sie kürzlich einmal aus Ihrem Fenster gesehen? In Ostenhorm wimmelt es von ihnen. Sie lagern zu Tausenden vor den Stadtmauern, und das ist nur der Anfang. Sie werden sich um ihr Wohlergehen kümmern, und darum, dass man sie nach Midderland bringt. Seit dreißig Jahren haben sich die Menschen an Sie gewandt, wenn sie Schutz suchten. Sie werden hier immer noch gebraucht. «

Burr wandte sich wieder dem Raum zu. »Sie werden Major West eine Liste aller Einheiten zukommen lassen, die noch einsatzbereit sind. Die Flüchtlinge benötigen Verpflegung, Kleidung und Unterkunft. Die Vorbereitungen für ihre Einschiffung nach Süden sollten sofort beginnen.«

»Sofort«, hauchte Meed. »Natürlich, sofort.«

Burr warf West unter seinen dicken Augenbrauen einen kurzen Blick zu, atmete tief durch und marschierte dann zur Tür. West sah sich um, als er ihm folgte. Der Lord Statthalter von Angland saß noch immer zusammengesunken auf seinem Stuhl inmitten der leeren, eisig kalten Halle, den Kopf in die Hände gestützt.

 

»Das ist Angland«, sagte West und deutete auf die Karte. Dann wandte er sich den Anwesenden zu. Nur wenige der Offiziere zeigten auch nur einen Hauch von Interesse für das, was er zu sagen hatte. Das war zwar kaum überraschend, verletzte ihn aber dennoch.

General Kroy saß an der rechten Seite des langen Tisches, steif aufgerichtet und völlig reglos. Er war groß, hager, mit grauem, kurz geschorenem Haar und kantigem Kopf, und trug eine schwarze, schlichte und makellose Uniform. Die zahlreichen Mitglieder seines Stabs waren ebenso kurz geschoren, rasiert, poliert und so griesgrämig wie eine Trauergemeinde. Ihm gegenüber, zur Linken, hatte sich General Poulder niedergelassen, rundgesichtig, rotwangig und mit enormem Schnurrbart. Sein breiter Kragen, der steif war vor lauter Goldfäden, reichte beinahe bis an die großen, rosigen Ohren. Seine Gefolgschaft hockte auf den Stühlen, als säße sie im Sattel. Ihre roten Uniformen waren über und über mit Tressen verziert, die oberen Knöpfe hatten sie lässig geöffnet, und die Dreckspritzer vom letzten Ritt trugen sie wie Medaillen.

Auf Kroys Seite des Zimmers war der Krieg etwas Sauberes, bei dem es um Selbstkasteiung und strikte Einhaltung der Regeln und Befehle ging. Auf Poulders Seite hingegen war Krieg eine schillernde Angelegenheit, zu der man unbedingt ordentlich frisiert erscheinen musste. Beide Gruppen betrachteten sich über den Tisch hinweg mit hochfahrender Verachtung, als ob nur sie die Geheimnisse echter Kriegskunst kannten, während die jeweils andere Partei, und wenn sie sich auch noch so anstrengte, lediglich eine Behinderung darstellte.

In Wests Augen taten sie das beide, aber weder die eine noch die andere Gruppe würde echter Kriegsführung so sehr im Weg stehen wie die dritte, die sich ihm gegenüber, an der Stirnseite des Tisches, niedergelassen hatte. Ihr Vorgesetzter war kein Geringerer als der Thronerbe, Kronprinz Ladisla höchstpersönlich. Es war jedoch keine echte Uniform, die er trug, eher eine Art purpurfarbener Morgenrock mit Epauletten. Schlafzimmergarderobe mit Militärmotiv. Die Spitzenborte seiner Ärmel hätte für ein mittelgroßes Tischtuch gereicht, und sein Stab stand ihm an Putz in nichts nach. Einige der reichsten, gut aussehendsten, elegantesten und unfähigsten jungen Männer der ganzen Union hatten sich rund um den Prinzen hingefläzt. Hätte die Größe des Hutes Rückschlüsse auf die Größe eines Mannes erlaubt, dann wären hier wahrhaft große Persönlichkeiten versammelt.

West wandte sich wieder der Landkarte zu. Seine Kehle war unangenehm trocken. Er wusste, was er zu sagen hatte, er musste es nur über die Lippen bringen, so deutlich wie möglich, und sich wieder setzen. Gar nicht darüber nachdenken, dass einige der ranghöchsten Offiziere der Union hinter ihm saßen. Männer, von denen West wusste, dass sie ihn verachteten. Dass sie ihn hassten, für seinen hohen Rang und seine niedere Geburt. Dafür, dass er sich seinen Platz erkämpft hatte.

»Das hier ist Angland«, sagte West noch einmal, mit einer Stimme, die, wie er hoffte, ruhig und bestimmt klang. »Der Cumnur«, er zeichnete mit seinem Stock die gewundene blaue Linie des Flusses nach, »teilt die Provinz in zwei Teile. Der südliche ist wesentlich kleiner, aber hier lebt der Großteil der Bevölkerung, und hier befinden sich fast alle bedeutenden Städte, darunter auch die Hauptstadt Ostenhorm. Die Straßen sind recht gut ausgebaut, das Land ist einigermaßen offen. Soweit wir wissen, haben die Nordmänner den Fluss bisher noch nicht überquert.«

West vernahm ein Gähnen hinter sich. Es war von der anderen Seite des Tisches gekommen und dennoch laut und deutlich. Er spürte, wie Zorn in ihm aufstieg, und fuhr herum. Prinz Ladisla zumindest schien aufmerksam zuzuhören. Der Schuldige war ein Höfling seines Gefolges, der junge Lord Smund, ein Mann von makelloser Abstammung und unermesslichem Reichtum, der zwar etwas über zwanzig Jahre zählte, aber mit den Charaktereigenschaften eines verzogenen Zehnjährigen gesegnet war. Er hing auf seinem Stuhl und starrte mit weit offenem Mund in die Luft.

West konnte sich gerade noch zurückhalten, zu ihm hinüberzuspringen und ihm eins mit dem Stock überzuziehen. »Langweile ich Sie?«, zischte er.

Smund wirkte tatsächlich überrascht, derart angeranzt zu werden. Er blickte mit leerem Gesichtsausdruck nach links und rechts, als ob West mit einem seiner Platznachbarn gesprochen haben könnte. »Wer, ich? Nein, nein, Herr Major, nicht im Geringsten. Langweilen? Nicht doch! Der Cumnur teilt die Provinz in zwei Teile und so weiter. Spannende Sache! Spannend! Ich muss mich entschuldigen. Ist spät geworden letzte Nacht, Sie verstehen?«

Daran zweifelte West keinesfalls. Natürlich hatte dieser Stutzer die ganze Nacht saufend und protzend mit den übrigen Speichelleckern verbracht, die den Prinzen umgaben, und stahl nun heute Morgen anderen die Zeit. Kroys Männer waren pedantisch und Poulders arrogant, aber sie waren zumindest doch Soldaten. Das Gefolge des Prinzen zeichnete sich durch keinerlei Fähigkeiten aus, soweit West erkennen konnte, abgesehen von dem Talent, ihn zur Weißglut zu bringen. Darin waren sie alle Fachleute. Er knirschte vor unterdrückter Wut beinahe mit den Zähnen, als er sich wieder der Karte zuwandte.

»Auf der nördlichen Seite des Flusses zeigt sich jedoch ein völlig anderes Bild«, knurrte er. »Die Gegend ist geprägt von ungemütlich weit ausgedehnten Wäldern, pfadlosen Mooren und zerklüfteten Bergen, die kaum bewohnt sind. Dort gibt es Bergwerke, Holzfällerlager und Dörfer, und die Inquisition betreibt einige Strafkolonien, aber sie sind sehr weit verstreut. Nur zwei Straßen sind auch nur annähernd in einem solchen Zustand, dass man größere Truppen oder Versorgungszüge auf ihnen bewegen könnte, vor allem, wenn man bedenkt, dass bald der Winter kommt.« Sein Stock folgte den zwei gepunkteten Linien, die von Nord nach Süd durch die Wälder führten. »Die westliche Straße verläuft nahe an den Bergen und verbindet die Bergbaugemeinden miteinander. Die östliche folgt mehr oder weniger dem Küstenverlauf. Sie treffen sich bei der Festung Dunbrec an der Weißflut, der nördlichen Grenze Anglands. Diese Festung ist, wie wir alle wissen, bereits in die Hände des Feindes gefallen.«

West wandte sich von der Karte ab und setzte sich wieder, wobei er versuchte, langsam und gleichmäßig zu atmen, seinen Ärger hinunterzuschlucken und den Kopfschmerz zurückzudrängen, der bereits wieder hinter seinen Augen pulsierte.

»Danke, Herr Major«, sagte Burr, der nun aufstand. Die Anwesenden raschelten und rührten sich, als würden sie jetzt erst wach. Der Lord Marschall schritt mehrmals vor der Karte hin und her und sammelte sich. Dann tippte er mit seinem eigenen Stock auf einen Fleck nördlich des Cumnur.

»Hier liegt die kleine Ortschaft Schwarzenquell, eine unbedeutende Ansiedlung, etwa zehn Meilen von der Küstenstraße entfernt. Es handelt sich um kaum mehr als um eine Ansammlung von Häusern, die inzwischen verlassen sind. Auf der Karte ist der Ort nicht einmal vermerkt. Eine Siedlung, die keinerlei Aufmerksamkeit verdient hätte. Wäre da nicht der Umstand, dass genau dort vor kurzem unsere Truppen von den Nordmännern niedergemetzelt wurden.«

»Diese verdammten, blöden Angländer«, brummte jemand.

»Die hätten auf uns warten sollen«, sagte Poulder mit selbstzufriedenem Gesicht.

»Das hätten sie tatsächlich«, gab Burr kurz angebunden zurück. »Aber sie waren selbstbewusst und zuversichtlich, und wieso auch nicht? Einige tausend Männer, gut ausgerüstet und von Kavallerie begleitet. Viele von ihnen waren Berufssoldaten, vielleicht nicht so herausragende wie bei den Königstreuen, aber dennoch gut ausgebildet und sehr entschlossen – diesen Wilden mehr als überlegen, hätte man jedenfalls denken können. «

»Sie haben aber einen guten Kampf geliefert«, unterbrach Prinz Ladisla, »nicht wahr, Marschall Burr?«

Burr funkelte ihn über den Tisch hinweg an. »Ein guter Kampf ist einer, den man gewinnt, Euer Hoheit. Sie wurden abgeschlachtet. Nur die, die über gute Pferde und eine große Portion Glück verfügten, konnten entkommen. Abgesehen von der sehr bedauerlichen Verschwendung kämpfender Truppen haben wir Ausrüstung und Proviant verloren. In beiden Fällen in bedeutendem Maße, und unserem Feind kommt nun beides zugute. Aber besonders besorgniserregend ist, dass diese Niederlage Panik in der Bevölkerung ausgelöst hat. Die Straßen, die für unsere Truppenbewegungen von größter Bedeutung sein werden, sind gegenwärtig verstopft mit Flüchtlingen, die der festen Überzeugung sind, dass Bethod ihre Höfe, ihre Dörfer, ihre Häuser jeden Moment niederbrennen könnte. Das ist natürlich eine fürchterliche Katastrophe, vielleicht die schlimmste, die es in jüngster Zeit in der Union gegeben hat. Aber zumindest kann man aus Katastrophen lernen.«

Der Lord Marschall stützte sich mit seinen großen Händen auf den Tisch und beugte sich nach vorn. »Dieser Bethod ist vorsichtig, schlau und unbarmherzig. Er ist mit Reiterei, Fußvolk und Bogenschützen ausgerüstet und verfügt über eine Organisation, die es ihm erlaubt, all das gut einzusetzen. Er hat hervorragende Kundschafter, und seine Truppen sind äußerst beweglich, vermutlich mehr als die unseren – vor allem in dem schwierigen Gelände, das wir im nördlichen Teil der Provinz vorfinden werden. Er hat den Angländern eine Falle gestellt, und sie sind hineingetappt. Das darf uns nicht passieren.«

General Kroy stieß ein Schnauben aus, das als freudloses Lachen durchging. »Wir sollten diese Barbaren also fürchten, Herr Marschall? Das wäre Ihr Rat?«

»Wie heißt es bei Stolicus, Herr General? ›Bringe deinen Feinden niemals Furcht entgegen, aber stets Respekt.‹ Das wäre wohl mein Rat, wenn ich überhaupt einen geben wollte.« Burr blickte finster in die Runde um den Tisch. »Aber ich gebe keine Ratschläge. Ich gebe Befehle.«

Kroy zuckte ob dieser Zurechtweisung unangenehm berührt zusammen, aber wenigstens gab er Ruhe. Jedenfalls für den Augenblick. West wusste, dass das nicht von Dauer sein würde. Der General konnte seinen Mund einfach nicht halten.

»Wir müssen mit äußerster Vorsicht vorgehen«, fuhr Burr nun an die gesamte Versammlung gewandt fort, »aber wir sind immer noch im Vorteil. Wir haben zwölf Regimenter der Königstreuen, mindestens noch einmal genauso viele Einberufene von den Adelshäusern sowie jene Angländer, die dem Gemetzel von Schwarzenquell entgehen konnten. Den Berichten zufolge, die uns vorliegen, sind wir dem Feind fünf zu eins überlegen, wenn nicht sogar noch mehr. Das ist den Nordmännern offenbar durchaus bewusst. Trotz ihrer jüngsten Erfolge bleiben sie nördlich des Cumnur und geben sich mit kleinen Überfällen und gelegentlichen Plünderungen zufrieden. Sie scheinen keine Lust zu haben, den Fluss zu überqueren und uns in offener Schlacht gegenüberzutreten.«

»Das kann man ihnen kaum zum Vorwurf machen, den dreckigen Feiglingen«, gluckste Poulder, begleitet vom beifälligen Gemurmel seines Stabs. »Denen tut es wahrscheinlich schon leid, dass sie überhaupt die Grenze überschritten haben!«

»Vielleicht«, brummte Burr. »Jedenfalls laufen sie uns nicht in die Arme, also müssen wir den Fluss überqueren und sie jagen. Der Großteil unserer Truppen wird sich daher in zwei Flügel gliedern. Den linken befehligt General Kroy, den rechten General Poulder.« Die beiden Männer beäugten sich über den Tisch hinweg mit offener Feindseligkeit. »Wir werden ausgehend von unseren Lagern hier in Ostenhorm die östliche Straße entlangmarschieren, uns dann unterhalb des Cumnur verteilen und hoffen, Bethods Streitkräfte dabei aufzuspüren und ihn zur Entscheidungsschlacht zu zwingen.«

»Bei allem Respekt«, unterbrach General Kroy in einem Ton, der erkennen ließ, dass er keinen solchen hatte, »wäre es nicht besser, die eine Hälfte des Heeres die westliche Straße hinaufmarschieren zu lassen?«

»Der Westen hat wenig zu bieten, von den Eisenminen abgesehen, und mit Eisen sind die Nordmänner bereits gut versorgt. Die Küstenstraße bietet ihnen reichere Beute und liegt zudem näher an ihren eigenen Versorgungs- und Rückzugslinien. Davon abgesehen möchte ich unser Heer nicht zu sehr ausdünnen. Wir berufen uns noch immer auf Vermutungen, was Bethods wahre Stärke betrifft. Wenn wir ihn in eine Schlacht treiben können, dann möchte ich in der Lage sein, unsere Truppen schnell zusammenzuziehen, um ihn zu besiegen.«

»Aber Herr Marschall!« Kroy klang, als spreche er mit einem senilen Verwandten, der bedauerlicherweise noch immer selbst über seine Angelegenheiten bestimmte. »Die westliche Straße sollten wir aber doch wohl nicht unbewacht lassen?«

»Dazu komme ich jetzt«, polterte Burr und wandte sich wieder der Karte zu. »Eine dritte Abordnung, unter dem Befehl von Kronprinz Ladisla, wird das Land hinter dem Cumnur besetzen und die westliche Straße bewachen. Sie soll dafür sorgen, dass die Nordmänner uns nicht einkreisen und in den Rücken fallen können. Sie wird hier, südlich des Flusses, Stellung beziehen, während sich unsere Truppen teilen und den Feind aufstöbern.«

»Selbstverständlich, Herr Lord Marschall.« Kroy lehnte sich mit einem lauten Seufzen in seinen Stuhl zurück, als hätte er zwar nichts anderes erwartet, doch zumindest zum Wohle aller Beteiligten sein Bestes versucht, während die Offiziere seines Stabs mit kleinen, aber deutlich hörbaren Geräuschen ihre Ablehnung bekundeten.

»Also, ich finde, das ist ein hervorragender Plan«, erklärte Poulder mit warmer Stimme. Er warf Kroy ein selbstgefälliges Lächeln zu. »Ich bin ganz Ihrer Meinung, Herr Marschall, und stehe Ihnen auf jede Weise zur Verfügung, die Sie wünschen. Meine Männer werden in zehn Tagen zum Aufbruch bereit sein.« Sein Stab nickte und brummte zustimmend.

»Fünf wären besser«, sagte Burr.

Für einen kurzen Augenblick zuckte Ärger über Poulders rundes Gesicht, aber er hatte sich schnell wieder im Griff. »Dann in fünf, Herr Marschall.« Jetzt war es an Kroy, selbstzufrieden dreinzuschauen.

Kronprinz Ladisla hingegen sah mit gerunzelter Stirn auf die Karte, und allmählich überzog ein Ausdruck der Verwirrung sein gut gepudertes Gesicht. »Herr Marschall Burr«, begann er langsam, »meine Einheiten sollen die westliche Straße zum Fluss hinaufmarschieren, sehe ich das richtig?«

»Ganz genau, Euer Hoheit.«

»Aber wir sollen den Cumnur nicht überqueren?«

»So ist es, Euer Hoheit.«

»Unsere Rolle ist demnach«, und hier warf er Burr einen beleidigten Blick zu, »eine rein defensive?«

»Ganz genau. Eine rein defensive.«

Ladisla verzog das Gesicht. »Das klingt nach einer wenig bedeutenden Aufgabe.« Seine lächerlich herausgeputzten Gefolgsleute rutschten auf den Stühlen hin und her und murmelten Abfälligkeiten über eine Rolle, die ihren Talenten so gar nicht gerecht zu werden schien.

»Eine wenig bedeutende Aufgabe? Entschuldigen Sie, Euer Hoheit, aber so ist es ganz und gar nicht! Angland ist ein weitläufiges, unübersichtliches Land. Die Nordmänner können uns entschlüpfen, und wenn das geschieht, ruhen all unsere Hoffnungen auf Ihnen. Denn dann wird es an Ihnen sein, den Feind daran zu hindern, dass er den Fluss überquert und unseren Nachschub gefährdet oder, schlimmer noch, vielleicht sogar gegen Ostenhorm marschiert.« Burr beugte sich nach vorn, sah den Prinzen mit festem Blick an und schüttelte mit größter Überzeugung die Faust. »Sie werden unser Fels sein, Euer Hoheit, unsere Stütze, unsere Grundfeste! Sie werden die Angel sein, an der das Tor hängt, jenes Tor, das diesen Eindringlingen vor der Nase zuschlagen wird, bevor sie dann aus Angland vertrieben werden!«

West war beeindruckt. Die Aufgabe des Prinzen war tatsächlich eine wenig bedeutende, aber dem Lord Marschall wäre es gelungen, sogar das Leeren von Latrinen als edle und aufopferungsvolle Arbeit zu präsentieren. »Ausgezeichnet!«, rief Ladisla, und die Feder an seinem Hut wippte energisch vor und zurück. »Die Angel, natürlich! Hervorragend!«

»Wenn es keine weiteren Fragen gibt, meine Herren, dann wartet jetzt viel Arbeit auf uns.« Burr sah in das Halbrund abweisender Gesichter. Niemand sagte ein Wort. »Die Besprechung ist hiermit beendet.«

Die Offiziere Kroys und Poulders warfen sich eisige Blicke zu und beeilten sich, jeweils als Erste aus dem Saal zu kommen. Die zwei großen Generäle stießen in der Tür zusammen, die zwar für sie beide mehr als breit genug war, aber keiner von ihnen wollte dem anderen den Rücken zukehren oder den Vortritt lassen. Nachdem sie sich auf den Flur hinausgeschoben hatten, wandten sie einander zornbebend zu.

»Herr General Kroy«, sagte Poulder abfällig mit einer hochfahrenden Kopfbewegung.

»Herr General Poulder«, zischte Kroy und zupfte seine makellose Uniform zurecht.

Dann stolzierten sie in entgegengesetzte Richtungen davon.

Als auch die Letzten aus dem Gefolge Prinz Ladislas den Raum verlassen hatten – die sich lautstark miteinander darüber unterhielten, wer die teuerste Rüstung besaß –, wandte sich auch West zum Gehen. Hunderte von Dingen, die erledigt werden mussten, warteten auf ihn, und die wurden nicht weniger, wenn man sich vor ihnen drückte. Bevor er die Tür erreichte, erhob Lord Marschall Burr jedoch noch einmal die Stimme.

»Das ist also unser Heer, was, West? Verdammt noch eins, manchmal fühle ich mich wie ein Vater mit seinen streitenden Söhnen, der keine Frau hat, die ihm zur Seite steht. Poulder, Kroy und Ladisla.« Er schüttelte den Kopf. »Meine drei Befehlshaber! Jeder von ihnen scheint zu glauben, dass diese ganze Geschichte nur seinem persönlichen Vorankommen dient. In der ganzen Union gibt es keine aufgeblaseneren Köpfe.« Er rülpste unvermittelt. »Verdammte Magengeschichte.«

West zermarterte sich den Kopf nach einer aufmunternden Bemerkung. »General Poulder scheint zumindest Befehle entgegenzunehmen, Herr Marschall.«

Burr schnaubte. »Scheint so, ja, aber ich traue ihm noch weniger als Kroy, falls das überhaupt geht. Kroy ist wenigstens berechenbar. Bei ihm kann man davon ausgehen, dass er mir bei jeder Gelegenheit widersprechen und auf die Nerven gehen wird. Poulder kann man überhaupt nicht einschätzen. Er grinst in sich hinein, schmeichelt einem und befolgt jeden Befehl bis in die kleinste Einzelheit, bis er einen Vorteil für sich sieht, und dann wird er mir mit doppelter Kraft in die Beine grätschen, verstehen Sie. Sie beide zufrieden zu stellen ist unmöglich.« Er kniff die Augen zusammen, schluckte und rieb sich den Bauch. »Aber solange, wie wir sie beide gleichermaßen unzufrieden halten, haben wir zumindest eine Aussicht. Wir können dankbar dafür sein, dass sie einander sogar noch mehr hassen als mich.«

Burrs Miene verfinsterte sich. »Sie waren beide vor mir an der Reihe, als meine Position frei wurde. General Poulder ist ein alter Freund des Erzlektors, müssen Sie wissen. Kroy ist der Vetter von Kronrichter Marovia. Als der Posten des Lord Marschalls neu besetzt werden musste, konnte sich der Geschlossene Rat nicht zwischen ihnen entscheiden, und daher fiel ihre Wahl am Schluss als unglücklicher Kompromiss auf mich. Ein Dummkopf aus der Provinz, was, West? Das bin ich doch für die. Ein nützlicher Dummkopf, aber eben ein Dummkopf. Ich würde einmal vermuten, falls Poulder oder Kroy morgen stürben, dann würde ich am nächsten Tag vom anderen ersetzt werden. Eine albernere Lage kann man sich für einen Lord Marschall wohl gar nicht vorstellen. Wäre da nicht noch der Kronprinz.«

West zuckte beinahe zusammen. Welche positive Seite konnte man diesem Albtraum abgewinnen? »Prinz Ladisla ist … sehr enthusiastisch?«, versuchte er es.

»Wo wäre ich nur ohne Ihren Optimismus?« Burr lachte ohne echte Freude auf. »Enthusiastisch? Er lebt in einem Traum! Sein ganzes Leben lang wurde er verhätschelt, umsorgt und fürchterlich verwöhnt! Für diesen Jungen ist Wirklichkeit doch ein Fremdwort!«

»Muss er denn ein eigenes Kommando haben, Herr Marschall? «

Burr rieb sich die Augen mit seinen plumpen Fingern. »Leider ja. Der Geschlossene Rat war in diesem Punkt überaus deutlich. Dort ist man besorgt, weil der König nicht bei guter Gesundheit ist und sein Erbe von der Öffentlichkeit als Narr und Verschwender wahrgenommen wird. Man hofft, dass wir hier einen großen Sieg erringen und etwas von dem Ruhm auf den Prinzen abfällt. Dann verfrachtet man ihn wieder nach Adua – strahlend nach einer gewonnenen Schlacht und bereit, ein König zu werden, wie ihn seine Untertanen lieben.«

Burr hielt kurz inne und sah zu Boden. »Ich habe alles getan, was in meiner Macht stand, um Ladisla zu schützen. Ich habe ihn an genau jene Stelle versetzt, wo die Nordmänner meiner Meinung nach nicht sind und mit ein bisschen Glück auch nicht hinkommen werden. Aber Krieg ist alles andere als vorhersehbar. Ladisla mag vielleicht doch in Kämpfe verwickelt werden. Deswegen brauche ich jemanden, der ihm über die Schulter guckt. Einen Mann mit Felderfahrung. Ein zähes, hartnäckiges Arbeitstier als Ausgleich für die verweichlichten und faulen Witzfiguren in seinem Stab. Jemanden, der den Prinzen vielleicht daran hindern kann, in Schwierigkeiten zu geraten.« Er blickte unter seinen dichten Augenbrauen auf.

West beschlich ein fürchterlich flaues Gefühl im Magen. »Mich?«

»Leider ja. Es gibt niemanden, den ich lieber hier behielte, aber der Prinz hat Sie persönlich angefragt.«

»Mich, Herr Marschall? Aber ich bin kein Höfling! Ich bin nicht einmal von Adel!«

Burr schnaubte. »Abgesehen von mir ist Ladisla vermutlich der Einzige in unserem Heer, dem es völlig egal ist, aus welcher Familie Sie stammen. Er ist der Thronerbe! Edelmann oder Bettler, wir stehen alle gleich weit unter ihm.«

»Aber wieso ich?«

»Weil Sie ein Kämpfer sind. Der Erste, der die Bresche von Ulrioch gestürmt hat und so, Sie wissen schon. Sie waren mittendrin, und das mehr als einmal. Sie stehen im Ruf eines Kriegshelden, West, und genau das wäre der Prinz selbst gern. Deshalb.« Burr fischte einen Brief aus seiner Jacke und reichte ihn hinüber. »Vielleicht kann ich Ihnen diese bittere Medizin damit ein wenig versüßen.«

West brach das Siegel, faltete das schwere Papier auseinander und überflog die wenigen, in Schönschrift verfassten Zeilen. Als er fertig war, las er sie erneut, um sich noch einmal zu versichern. Er sah auf. »Es ist eine Beförderung.«

»Ich weiß, was es ist. Ich habe das arrangiert. Vielleicht wird man Sie mit einem weiteren Stern auf Ihrer Jacke etwas ernster nehmen, vielleicht auch nicht. So oder so, Sie haben es verdient. «

»Vielen Dank, Herr Marschall«, sagte West, der sich wie betäubt fühlte.

»Wofür, für die übelste Aufgabe in diesem Krieg?« Burr lachte und klopfte ihm väterlich auf die Schulter. »Ich werde Sie vermissen, das steht fest. Jetzt aber reite ich erst einmal aus, um das erste Regiment zu inspizieren. Ein Befehlshaber sollte sich bei seinen Truppen sehen lassen, das war jedenfalls immer meine Ansicht. Haben Sie Lust, mich zu begleiten, Herr Oberst?«

 

Als sie aus dem Stadttor hinausritten, fiel Schnee. Weiße Flocken, die der Wind vor sich her trieb und die sofort wieder schmolzen, auf der Straße, den Bäumen, dem Sattelzeug von Wests Pferd und den Rüstungen der Wachleute, die sie begleiteten.

»Schnee«, brummte Burr über seine Schulter hinweg. »Jetzt schon. Ist es nicht noch ein bisschen früh dafür?«

»Sehr früh, Herr Marschall, aber es ist kalt genug.« West nahm eine Hand von den Zügeln, um sich den Mantel am Hals ein wenig enger zu ziehen. »Kälter als sonst für Ende Herbst üblich.«

»Nördlich des Cumnur wird es noch einmal eine verdammte Ecke kälter sein, das möchte ich wetten.«

»Ja, und es wird erst einmal auch nicht wieder wärmer werden. «

»Da steht uns vielleicht ein harter Winter bevor, was, Herr Oberst?«

»Höchstwahrscheinlich, Herr Marschall.« Oberst? Oberst West? Die Worte schienen noch immer nicht recht zueinander zu gehören, noch nicht einmal in seinem eigenen Kopf. Niemand hätte sich je träumen lassen, dass der Sohn eines gemeinen Mannes es je so weit bringen würde. Er selbst sich schon gar nicht.

»Ein langer, harter Winter.« Burr dachte laut. »Wir müssen Bethod schnell erwischen. Ihn schnappen und ihm ein Ende machen, bevor wir alle einfrieren.« Er warf den Bäumen, an denen sie vorüberritten, einen düsteren Blick zu, sah finster auf die Schneeflecken, die sich langsam um sie herum bildeten, und dann hinüber zu West. »Schlechte Straßen, schlechtes Gelände, schlechtes Wetter. Das ist nicht gerade die beste Ausgangssituation, was, Herr Oberst?«

»Nein«, sagte West düster, aber zunächst einmal war es seine eigene Situation, die ihm den meisten Kummer bereitete.

»Kommen Sie schon, es könnte schlimmer sein. Sie dürfen sich südlich des Flusses irgendwo eingraben, an einem hübschen, warmen Ort. Wahrscheinlich werden Sie den ganzen Winter über kein Härchen von den Nordmännern zu Gesicht bekommen. Und ich habe gehört, dass der Prinz und sein Gefolge eine sehr gute Tafel halten. Das ist um einiges besser, als sich mit Poulder und Kroy durch den Schnee zu quälen.«

»Natürlich, Herr Marschall.« West war sich allerdings nicht so sicher.

Burr warf einen Blick über die Schulter zu den Wachen, die in respektvollem Abstand hinter ihnen her trotteten. »Wissen Sie, als ich noch jung war, bevor mir die zweifelhafte Ehre zuteil wurde, das Heer des Königs zu kommandieren, liebte ich es zu reiten. Ich ritt Meilen um Meilen in vollem Galopp. Dann fühlte ich mich … lebendig. Heutzutage scheint dafür einfach keine Zeit mehr zu sein. Besprechungen, Papiere, man sitzt an irgendwelchen Tischen, ich tue gar nichts anderes mehr. Manchmal möchte man einfach mal lospreschen, nicht wahr, West?«

»Sicher, Herr Marschall, aber jetzt wäre doch wohl …«

»Hü!« Der Lord Marschall gab seinem Pferd energisch die Sporen, und das Tier galoppierte den schmalen Pfad entlang und schleuderte mit seinen Hufen Dreckklumpen hoch. West sah ihm einen Moment lang mit leerem Blick nach.

»Verdammt«, flüsterte er. Der starrköpfige alte Narr konnte abgeworfen werden und sich seinen dicken Hals brechen. Was würde dann aus ihnen werden? Prinz Ladisla müsste den Befehl übernehmen. West erschauerte bei dem Gedanken und spornte sein eigenes Tier an. Welche Wahl blieb ihm?

Die Bäume schossen auf beiden Seiten vorbei, die Straße floss unter ihm dahin. Seine Ohren dröhnten vom Donnern der Hufe und dem Rasseln seiner Rüstung. Der Wind fuhr ihm in den Mund und brannte in seinen Augen. Geradewegs, wie aus dem Nichts, schossen die Schneeflocken auf ihn zu. West sah kurz hinter sich. Die Wachen waren sich ins Gehege gekommen, ihre Pferde rempelten sich gegenseitig an, und so blieben sie immer weiter zurück.

Er konnte nichts weiter tun, als mit Burr Schritt zu halten und darauf zu achten, dass er nicht aus dem Sattel geworfen wurde. Das letzte Mal, dass er so schnell geritten war, lag Jahre zurück, und da war er über eine trockene Ebene gejagt, mit einem Grüppchen gurkhisischer Reiter auf den Fersen. Er hatte damals kaum mehr Angst gehabt als jetzt. Seine Hände umklammerten die Zügel beinahe schmerzhaft fest, sein Herz schlug schnell vor Angst und Aufregung. Er merkte, dass er lächelte. Burr hatte recht gehabt. Man fühlte sich lebendig.

Der Lord Marschall ritt allmählich langsamer, und West zügelte sein eigenes Pferd ein wenig, als er mit ihm auf gleicher Höhe war. Er lachte jetzt, und er hörte, wie Burr neben ihm ebenfalls leise vor sich hin gluckste. So hatte er seit Monaten nicht mehr gelacht. Seit Jahren vielleicht nicht mehr, er konnte sich an das letzte Mal gar nicht mehr erinnern. Plötzlich fiel ihm im Augenwinkel etwas auf.

Er spürte einen entsetzlichen Ruck, einen wuchtigen Schmerz in der Brust. Sein Kopf schnellte nach vorn, die Zügel wurden ihm aus den Händen gerissen, und plötzlich stand alles auf dem Kopf. Sein Pferd war verschwunden. Er rollte über den Boden und überschlug sich mehrfach.

Dann versuchte er aufzustehen, und die Welt begann zu schlingern. Bäume und weißer Himmel, die ausschlagenden Hufe eines Pferdes, herumfliegender Dreck. Er stolperte und stürzte auf die Straße, bekam Erde in den Mund. Jemand half ihm auf, riss ruppig an seinem Mantel und versuchte, ihn in den Wald zu zerren.

»Nein«, keuchte er, wobei er wegen des Schmerzes in seiner Brust kaum atmen konnte. Es gab keinen Grund, dorthin zu gehen.

Ein schwarzer Strich zwischen den Bäumen. Er taumelte vorwärts, vornübergebeugt, stolperte über den Saum seines Mantels und brach durchs Unterholz. Ein Seil hatte über der Straße gelegen und war gespannt worden, als sie vorbeikamen. Jemand zog ihn halb, halb trug er ihn. Sein Kopf drehte sich, und er hatte jegliches Richtungsgefühl verloren. Eine Falle. West griff unsicher nach seinem Schwert. Es dauerte einen Augenblick, bis er merkte, dass die Scheide leer war.

Die Nordmänner. West fühlte Angst wie einen Stich in seinem Magen. Die Nordmänner hatten ihn erwischt, ihn und auch Burr. Meuchelmörder, von Bethod ausgesandt, um sie zu töten. Von irgendwoher jenseits der Bäume erklang ein raschelndes Geräusch; mit Mühe versuchte er herauszufinden, worum es sich handelte. Die Wachleute, die ihnen die Straße hinunter folgten. Wenn er ihnen nur irgendwie ein Zeichen geben könnte …

»Hier drüben …«, krächzte er schrecklich heiser, bevor eine dreckige Hand ihm den Mund verschloss und ihn ins nasse Unterholz zog. Er wehrte sich, so gut er konnte, aber er hatte keine Kraft mehr. Er sah, wie die Umrisse der Wachleute nur ein paar Dutzend Schritt entfernt durch die Bäume aufblitzten, aber er konnte nichts tun.

Nun biss er in die Hand, so heftig er konnte, aber sie fasste nur noch härter zu, presste seinen Kiefer zusammen und zerdrückte seine Lippen. Er schmeckte Blut. Sein eigenes vielleicht, oder aber Blut von der Hand. Die Geräusche der Wachleute wurden immer leiser und waren schließlich verschwunden, und nun packte ihn die Angst. Die Hand ließ los, gab ihm abschließend einen Schubs, und er fiel auf den Rücken.

Über ihm kam ein verschwommenes Gesicht in sein Blickfeld. Ein hartes, hageres, brutales Gesicht, umgeben von kurz abgesäbeltem schwarzem Haar, die Zähne in einer tierischen Grimasse gebleckt, mit kalten, flachen Augen, in denen reine Wut flackerte. Das Gesicht wandte sich ab und spuckte auf den Boden. Auf der anderen Seite des Kopfes war kein Ohr. Nur eine rosige, wulstige Narbe und ein Loch.

Noch nie in seinem Leben hatte West einen derartig bösartig aussehenden Menschen erblickt. Seine ganze Erscheinung schien von Gewalt geprägt. Er sah aus, als sei er stark genug, um West zu zerreißen, und als habe er auch gute Lust, das zu tun. Blut tropfte von einer Wunde an seiner Hand. Der Wunde, die Wests Zähne hinterlassen hatten. Es tropfte von seinen Fingern auf den Waldboden. Seine andere Faust umklammerte einen langen, glatten, hölzernen Stiel. Wests Augen glitten voller Entsetzen daran entlang. An seinem Ende saß ein schweres, geschwungenes Metallblatt, hell glänzend poliert. Eine Axt.

Das war also ein Nordmann. Nicht von der Art, wie sie betrunken in den Gossen von Adua lagen. Auch nicht von der Art, wie sie zum Hof seines Vaters gekommen waren und um Arbeit gebettelt hatten. Sondern von der anderen Art. Jener, von der seine Mutter ihm Schauermärchen erzählt hatte, als er noch ein Kind gewesen war. Ein Mann, dessen Arbeit, dessen Vergnügen und dessen ganzer Lebenszweck darin bestand zu töten. West sah von der glänzenden Axt zu den harten Augen und zurück, wie betäubt vor Entsetzen. Er war erledigt. Er würde hier im kalten Wald sterben, im Dreck wie ein Hund.

Getrieben von dem plötzlichen Drang wegzulaufen, stützte West sich auf einer Seite auf. Er sah hinter sich, aber auch dort gab es kein Entkommen. Ein Mann hielt durch die Bäume auf sie zu. Ein großer Mann mit einem dichten Bart und einem Schwert über der Schulter, der ein Kind auf seinen Armen trug. West zwinkerte in dem Bemühen, den Maßstab richtig einzuschätzen. Es war der größte Mann, den er je gesehen hatte, und das Kind war Lord Marschall Burr. Der Riese warf seine Last auf den Boden wie ein Bündel Feuerholz. Burr starrte zu ihm hoch und rülpste.

West knirschte mit den Zähnen. Einfach so loszureiten, der alte Narr, was hatte er sich nur dabei gedacht? Er hatte sie beide umgebracht mit dieser beschissenen Idee, »einfach mal loszupreschen«. Man fühlte sich lebendig? Keiner von ihnen beiden würde das noch länger als eine Stunde tun.

Er musste kämpfen. Jetzt war vielleicht seine letzte Gelegenheit gekommen. Selbst wenn er nichts hatte, womit er kämpfen konnte. Besser, man starb auf diese Weise, als auf den Knien im Dreck. Er versuchte, Zorn in sich aufsteigen zu lassen. Wenn er ihn nicht brauchen konnte, hatte er endlos viel davon. Jetzt war da gar nichts. Nur diese verzweifelte Hilflosigkeit, die jedes seiner Glieder bleischwer werden ließ.