12,99 €
Band 3 der großen „Klingen-Saga"
Erneut muss Logen Neunfinger in die Schlacht ziehen, denn überall im Land herrscht Krieg, der König liegt im Sterben, und das Reich versinkt im Chaos. Das weiß auch Großinquisitor Glokta, und mit List und Tücke versucht er den größtmöglichen Vorteil für sich herauszuschlagen. Nur der erste Magier Bayaz ahnt, was bei all dem wirklich auf dem Spiel steht: das Schicksal ihrer Welt. Doch um diese zu retten, muss er die obersten Gesetze der Magie brechen ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 1252
Noch einmal muss der Barbarenkrieger Logen in die Schlacht ziehen: Es gilt das Reich vor den hereinbrechenden Schatten des Bösen zu retten. Über alle Vernunft hinweg schließt er sich den Nordmännern an und legt einen Hinterhalt, denn die Truppen der Union zählen auf Logens Unterstützung.
Währenddessen liegt der König auf dem Sterbebett, und seine möglichen Nachfolger buhlen schon um die Krone. Hauptmann Jezal dan Luthar kehrt von seiner Mission ans Ende der Welt zurück und hofft nun auf Trost bei seiner Geliebten. Stattdessen wird ihm seine wahre Herkunft offenbart; er muss sich einer neuen Aufgabe stellen. Doch niemand ahnt, dass die heraufziehende Gefahr bereits über dem Thron und damit dem Herzen des Reiches schwebt: Im Süden rückt das gewaltige Heer der Gurkhisen näher und näher.
Der zynische Großinquisitor Glokta hat inzwischen ein ganz anderes Problem: Er hat an zu vielen Fronten gekämpft und weiß nun nicht mehr, wem er noch trauen kann. Durch seine Geheimniskrämerei hat er sich und andere in eine bedrohliche Situation gebracht. Mit List und Täuschung versucht sich Glokta aus der Affäre zu ziehen. Auch der Erste der Magi wappnet sich – doch diesmal geht er ein Risiko mit unvorhersehbaren Folgen ein: Er muss eines der ungeschriebenen, ehernen Gesetze der Magie brechen. Bald schon werden die Gefährten Seite an Seite um das Bestehen ihrer Welt kämpfen – und um ihr Leben …
Von Joe Abercrombie erscheinen im WILHELM HEYNE VERLAG:
KriegsklingenFeuerklingenKönigsklingenRacheklingen
Joe Abercrombie lebt mit seiner Frau und seiner Tochter in London und arbeitet als freischaffender Fernsehredakteur und Autor. Mit »Kriegsklingen« und dem Nachfolger »Feuerklingen« ist ihm sowohl in Großbritannien als auch in den USA und in Europa ein beeindruckender Erstauftritt gelungen. »Königsklingen« ist der Abschluss der Trilogie um den Barbaren, den Inquisitor und den Magier.
Joe Abercrombie
Königsklingen
Roman
Aus dem Englischen von Kirsten Borchardt
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Titel der Originalausgabe LAST ARGUMENT OF KINGS (THE FIRST LAW: BOOK THREE)
Deutsche Erstausgabe 10/2008 Redaktion: Angela Kuepper
Copyright © 2008 by Joe Abercrombie Copyright © 2008 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Covergestaltung: Nele Schütz Design
unter Verwendung von shutterstock (MIKAIL BALASHOV, Milan M, Munimara, Evgeniia Litovchenko)
Satz: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-06882-0 V003
www.heyne.de
FÜR DIE VIER LESER IHR WISST, WEN ICH MEINE
PAUL GAUGUIN
Superior Glokta stand in der Halle und wartete. Er streckte seinen verdrehten Hals erst zur einen, dann zur anderen Seite, bis er das gewohnte Knacken hörte und die vertrauten Schmerzfinger die verknoteten Muskeln zwischen seinen Schulterblättern packten. Wieso mache ich das, wenn es mir doch jedes Mal wehtut? Wieso fordern wir den Schmerz heraus? Lecken am Geschwür, reiben an der Schürfwunde, kratzen am Schorf?
»Nun?«, fauchte er.
Die Marmorbüste am Fuß der Treppe strafte ihn mit schweigender Verachtung. Davon bekomme ich auch sonst schon genug. Glokta schlurfte davon, seinen nutzlosen Fuß über die Fliesen nachziehend, und das Klappern seines Stocks hallte von der hoch über ihm schwebenden, stuckverzierten Decke.
Unter den großen Edelleuten des Offenen Rates war Lord Ingelstad, der Besitzer dieser überdimensionierten Halle, ein eher kleines Licht. Das Oberhaupt einer Familie, von dem sich das Glück im Lauf der Jahre abgewandt hatte und dessen Reichtum und Einfluss beinahe völlig dahingeschmolzen waren. Und je kleiner der Mann, desto größer seine Anmaßung. Wieso begreifen sie es nie? Kleine Dinge sehen in einem großen Rahmen noch unbedeutender aus.
Irgendwo in den Schatten würgte eine Uhr ein paar nachlässige Schläge hervor. Schon recht spät. Je kleiner der Mann, desto länger lässt er auf sich warten. Aber ich kann geduldig sein, wenn ich muss. Auf mich warten keine atemberaubenden Bankette, keine begeisterten Menschenmengen, keine schönen Frauen. Das ist vorbei. Dafür haben die Gurkhisen gesorgt, in der Dunkelheit unter den Gefängnissen des Imperators. Er drückte seine Zunge gegen das leere Zahnfleisch und keuchte, als er sein Bein verlagerte, die Nadelstiche von dort bis in den Rücken schossen und sein Augenlid zu zucken begann. Ich habe Geduld. Das ist das einzig Gute daran, wenn jeder Schritt zur Qual wird. Man lernt schnell, vorsichtig aufzutreten.
Die Tür neben ihm öffnete sich abrupt, und Glokta warf den Kopf herum; dabei versuchte er sein Bestes, nicht das Gesicht zu verziehen, als seine Halswirbel knackten. Lord Ingelstad stand in der Tür, ein breiter, väterlich wirkender Mann mit gerötetem Gesicht. Er setzte ein freundliches Lächeln auf, als er Glokta ins Zimmer bat. Als ob ich ihm einen Anstandsbesuch abstattete, noch dazu einen willkommenen.
»Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie habe warten lassen, Superior. Ich hatte so viele Gäste, seit ich in Adua angekommen bin, dass ich gar nicht weiß, wo mir der Kopf steht.« Hauptsache, er ist noch dran. »So viele Gäste!« Gäste mit gewissen Angeboten, davon bin ich überzeugt. Angeboten für Ihre Stimme. Angeboten für Ihre Hilfe bei der Wahl des nächsten Königs. Aber mein Angebot, so denke ich, werden Sie kaum ablehnen können. »Darf ich Ihnen einen Schluck Wein anbieten, Herr Superior?«
»Nein, Lord Ingelstad, vielen Dank.« Glokta humpelte unter Schmerzen über die Schwelle. »Ich bleibe nicht lange. Auch ich habe sehr viele Dinge, um die ich mich kümmern muss.« Wahlen manipulieren sich nicht von selbst, müssen Sie wissen.
»Natürlich, natürlich. Bitte setzen Sie sich.« Ingelstad ließ sich schwer in einen Sessel fallen und deutete auf einen zweiten. Glokta benötigte einen Augenblick, um es sich halbwegs bequem zu machen. Er ließ sich vorsichtig auf das Polster sinken und schob dann die Hüften hin und her, bis er eine Haltung gefunden hatte, in der sein Rücken nicht ständig schmerzte. »Und was wünschen Sie mit mir zu besprechen?«
»Ich komme im Auftrag von Erzlektor Sult. Ich hoffe, Sie werden es mir nicht verübeln, wenn ich es rundheraus sage: Seine Eminenz wünscht Ihre Stimme.«
Die schweren Gesichtszüge des Edelmannes verzogen sich in vorgetäuschter Verwunderung. Sehr schlecht vorgetäuscht, im Vergleich. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie recht verstehe. Meine Stimme hinsichtlich welcher Angelegenheit?«
Glokta wischte sich ein wenig Feuchtigkeit aus dem Augenwinkel. Müssen wir denn hier einen derart würdelosen Tanz aufführen? Sie haben dafür nicht die Statur und ich nicht die Beine. »Hinsichtlich des nächsten gekrönten Hauptes, Lord Ingelstad. «
»Ah. Das.« Ja, das. Idiot. »Superior Glokta, ich hoffe, ich enttäusche weder Sie noch Seine Eminenz, einen Mann, für den ich den höchsten Respekt empfinde.« Ingelstad neigte übertrieben dienstbeflissen den Kopf. »Aber ich muss Ihnen sagen, dass ich es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren kann, mich in irgendeine Richtung beeinflussen zu lassen. Mir ist bewusst, dass man mir, wie allen Mitgliedern des Offenen Rates, ein heiliges Vertrauen ausgesprochen hat. Ich bin verpflichtet, für den Mann zu stimmen, der mir von allen hervorragenden Männern als der am besten geeignete Kandidat erscheint.« Er schloss den Satz mit einem höchst selbstzufriedenen Lächeln.
Eine hübsche Rede. Ein Dorfdepp hätte sie ihm vielleicht sogar abgekauft. Wie oft habe ich solche oder ähnliche Worte in den letzten Wochen gehört? Erfahrungsgemäß sollte nun das Feilschen folgen. Die Diskussion darüber, wie viel ein derart heiliges Vertrauen wert ist. Wie viel Silber ein gutes Gewissen aufwiegt. Wie viel Gold eine Verpflichtung aufzulösen vermag. Aber ich bin heute nicht in Stimmung, lange zu verhandeln.
Glokta zog seine Augenbrauen in die Höhe. »Ich gratuliere Ihnen zu Ihrer edlen Haltung, Lord Ingelstad. Wären nur alle so charakterfest wie Sie, dann lebten wir in einer besseren Welt. Eine wirklich edle Haltung … vor allem, wenn man bedenkt, dass Sie so viel zu verlieren haben. Tatsächlich sogar alles, würde ich sagen.« Er verzog gequält das Gesicht, als er seinen Stock in die andere Hand nahm und sich mit schaukelnden Bewegungen auf die Kante des Stuhls vorarbeitete. »Aber ich sehe schon, dass Sie sich nicht umstimmen lassen, und von daher will ich mich verabschieden …«
»Was meinen Sie damit, Herr Superior?« Dem Edelmann stand nun die Besorgnis auf dem fülligen Gesicht geschrieben.
»Nun, Lord Ingelstad, Ihre korrupten Geschäfte.«
Die rosigen Wangen des Lords hatten ein Gutteil ihrer frischen Farbe verloren. »Da muss ein Irrtum vorliegen.«
»O nein, das kann ich Ihnen versichern.« Glokta ließ einen Packen Dokumente aus der Innentasche seines Mantels gleiten. »Sie werden oft in den Geständnissen ranghoher Tuchhändler erwähnt, verstehen Sie?« Er hielt die knisternden Seiten hoch, so dass sie beide die Papiere sehen konnten. »Hier werden Sie – und das sind nicht meine Worte – als ›Komplize‹ genannt. Und hier als ›hauptsächlicher Nutznießer‹ eines höchst unerquicklichen Schmuggelgeschäfts. Und hier wird Ihnen auffallen – und mir ist es wirklich unangenehm, Sie darauf hinzuweisen –, dass Ihr Name und das Wörtchen ›Verrat‹ in unmittelbarer Nähe zueinander auftauchen.«
Ingelstad sank zurück auf seinen Stuhl und setzte sein Glas klappernd auf dem Tisch neben sich ab, wobei eine beachtliche Menge Flüssigkeit auf das polierte Holz schwappte. Oh, das sollten wir aber aufwischen. Sonst bleibt ein ganz hässlicher Fleck, und manche Flecken lassen sich nie wieder abreiben.
»Seine Eminenz«, fuhr Glokta fort, »der Sie zu seinen Freunden zählt, konnte Ihren Namen zum Nutzen aller Beteiligten aus dem Beginn dieser Untersuchung heraushalten. Er versteht durchaus, dass Sie versuchen, die unglückliche Wendung umzukehren, die das Schicksal Ihrer Familie genommen hat, und er bringt Ihnen wirklich Mitgefühl entgegen. Wenn Sie ihn jedoch in dieser Sache, bei dieser Wahl, enttäuschen würden, könnte dieses Mitgefühl schnell erschöpft sein. Verstehen Sie, was ich meine?« Ich denke doch, ich habe mich klar und deutlich ausgedrückt.
»Ich verstehe«, krächzte Ingelstad.
»Und löst sich das Gefühl der Verpflichtung nun ein wenig? «
Der Edelmann schluckte, und die Farbe war ganz aus seinem Gesicht gewichen. »Ich möchte Seiner Eminenz natürlich in jeder Hinsicht zu Diensten sein, aber … die Sache ist so …« Was denn jetzt noch? Ein verzweifeltes Angebot? Ein letzter Versuch der Bestechung? Vielleicht gar ein Appell an mein Gewissen? »Ein Vertreter von Kronrichter Marovia kam gestern zu mir. Ein Mann namens Harlen Morrow. Er machte mir gegenüber durchaus ähnliche Ausführungen … und durchaus ähnliche Drohungen.«
Glokta runzelte die Stirn. Hat er das tatsächlich? Marovia und sein kleiner Wurm. Immer einen Schritt voraus, und wenn nicht, dann stets nur einen Schritt hinter uns.
Ein schriller Ton schlich sich in Ingelstads Stimme. »Was soll ich denn tun? Ich kann Sie nicht beide unterstützen! Ich werde Adua verlassen, Herr Superior, und nie zurückkehren! Ich werde … ich werde mich der Stimme enthalten …«
»Das werden Sie verdammt noch mal nicht tun!«, zischte Glokta. »Sie werden so abstimmen, wie ich es Ihnen sage! Marovia soll sich zur Hölle scheren!« Noch mehr nachbohren? Es ist ja eklig, aber was sein muss, muss sein. Sind meine Hände nicht ohnehin schon bis über die Ellenbogen beschmutzt? Wenn sie sich jetzt durch noch ein oder zwei weitere Kloaken wühlen müssen, macht das kaum einen Unterschied. Er senkte die Stimme zu einem öligen Schnurren. »Ich habe gestern im Park Ihre Töchter beobachtet.« Das Gesicht des Edelmannes war nun wachsbleich. »Drei unschuldige Mädchen, fast schon junge Frauen, alle nach der neuesten Mode gekleidet und eine hübscher als die andere. Die Jüngste ist sicher gerade erst … fünfzehn?«
»Dreizehn«, krächzte Ingelstad.
»Ah.« Glokta zog die Lippen zurück und offenbarte sein zahnloses Lächeln. »Sie erblüht früh. Sie haben Adua noch nie zuvor besucht, wenn ich mich nicht irre?«
»Nein, das haben sie nicht.« Ingelstad flüsterte beinahe.
»Das dachte ich mir. Ihr Entzücken und ihre Begeisterung bei ihrem Spaziergang durch die Gärten des Agrionts waren ausgesprochen liebreizend. Ich wette, dass sie den Blick eines jeden Junggesellen auf Freiersfüßen in der Hauptstadt auf sich gezogen haben.« Er ließ sein Lächeln willentlich verblassen. »Es würde mir das Herz brechen, Lord Ingelstad, wenn solch zarte Geschöpfe ganz plötzlich in die härtesten Straflager Anglands verbracht würden. An Orte, an denen Schönheit, Herkunft und sanfte Wesensart eine völlig andere und wesentlich weniger wünschenswerte Art der Aufmerksamkeit auf sich ziehen.« Glokta erschauerte sichtbar und wohl geplant, als er sich langsam vorbeugte, um nun zu flüstern: »Dieses Leben würde ich keinem Hund wünschen. Und all das wegen der Uneinsichtigkeit eines Vaters, der durchaus über die Mittel verfügt hätte, ihnen dieses Schicksal zu ersparen.«
»Aber meine Töchter, sie haben nichts damit zu tun …«
»Wir wählen einen neuen König! Jeder hat damit zu tun!« Vielleicht ist das ein wenig hart. Aber in harten Zeiten braucht man eine harte Einstellung. Glokta kam mit Mühe auf die Beine, und seine Hand, fest um den Griff seines Stocks gekrallt, bebte vor Anstrengung. »Ich werde Seine Eminenz wissen lassen, dass er auf Ihre Stimme zählen kann.«
Ingelstad brach plötzlich vollständig zusammen. Wie ein angestochener Weinschlauch. Er ließ die Schultern hängen, und Entsetzen und Hoffnungslosigkeit ließen seine Gesichtszüge erschlaffen. »Aber der Kronrichter …«, hauchte er. »Haben Sie kein Mitleid?«
Glokta konnte nur mehr die Achseln zucken. »Hatte ich einmal. Als Junge war ich so weichherzig, dass es schon beinahe närrisch war. Damals, das schwöre ich, weinte ich, wenn ich eine Fliege in einem Spinnennetz erblickte.« Er zuckte zusammen, als er sich der Tür zuwandte und ein heftiger Krampf sein Bein packte. »Ständige Schmerzen haben mir das jedoch ausgetrieben.«
Es war eine kleine, intime Runde. Aber diese Gesellschaft lädt nicht gerade dazu ein, an Wärme und Behaglichkeit zu denken. Superior Goyle starrte Glokta über den riesigen, runden Tisch im riesigen, runden Dienstzimmer an; die wachsamen Augen standen knopfartig in seinem knochigen Gesicht. Und sie drücken wohl kaum zärtliche Gefühle aus, wenn ich mich nicht irre.
Die Aufmerksamkeit Seiner Eminenz des Erzlektors, Oberhaupt der Inquisition Seiner Majestät, war jedoch auf einen anderen Punkt gerichtet. An die ausgebuchtete Wand waren dreihundertzwanzig Papierbogen geheftet, die beinahe die Hälfte der gesamten Fläche einnahmen. Einen für jedes große Herz in unserem edlen Offenen Rat. Sie raschelten leise in dem leichten Luftzug, der von den großen Fenstern hineinwehte. Flatternde kleine Papiere für flatterhafte kleine Stimmen. Jedes Blatt war mit einem Namen versehen. Lord Dings, Lord Bums, Lord Soundso. Große Männer und kleine Männer. Männer, um deren Ansichten sich eigentlich kaum jemand scherte, bis Prinz Raynault aus dem Bett und gleich in sein Grab fiel.
Viele der Blätter waren in einer Ecke mit einem Klecks farbigen Wachses gezeichnet. Einige wiesen zwei oder sogar drei Markierungen auf. Bündnisse. Wie werden sie abstimmen? Blau für Lord Brock, rot für Lord Ischer, schwarz für Marovia, weiß für Sult und so weiter. All das mag sich natürlich von einem Tag auf den anderen ändern, je nach dem, aus welcher Richtung der Wind weht. Darunter standen ein paar Zeilen in kleiner, enger Schrift. Zu klein, als dass Glokta sie von seinem Platz aus hätte lesen können, aber er wusste auch so, was dort stand. Ehefrau war früher eine Hure. Hat eine Schwäche für junge Männer. Trinkt mehr, als für ihn gut wäre. Hat im Zorn einen Dienstboten erschlagen. Hat Spielschulden, die er nicht bezahlen kann. Geheimnisse. Gerüchte. Lügen. Die Waffen eines ehrbaren Handwerks. Dreihundertzwanzig Namen und beinahe genauso viele schmutzige kleine Geschichten, die man ausgraben, nutzen und in unserem Sinne ins Feld führen kann. Politik. Wahrhaftig die Bühne der Rechtschaffenen.
Wieso also tue ich das? Wieso?
Der Erzlektor hatte jedoch andere, drängendere Sorgen. »Brock liegt immer noch in Führung«, brummte er mürrisch und starrte, die Hände in den weißen Handschuhen auf dem Rücken ineinander verschränkt, die sich bewegenden Papiere an. »Um die fünfzig Stimmen hat er mehr oder weniger sicher.« So sicher, wie man in diesen unsicheren Zeiten sein kann. »Ischer liegt nicht weit dahinter, er kann vierzig oder mehr Stimmen auf sich vereinen. Skald hat kürzlich einige dazugewonnen, soweit wir wissen. Ein unerwartet gewissenloser Mann. Die Abordnung aus Starikland hat er mehr oder weniger in der Hand, und das allein verschafft ihm vielleicht dreißig Stimmen. Barezin kommt ungefähr auf die gleiche Zahl. Sie sind die vier Hauptkandidaten, so wie die Dinge liegen.«
Aber wer weiß? Vielleicht lebt der König noch ein Jahr, und wenn es zur Wahl geht, haben wir uns schon alle umgebracht. Glokta musste angesichts dieses Gedankens ein Grinsen unterdrücken. Das Fürstenrund läge voller prunkvoll gekleideter Leichname, unter denen sich alle großen Edelleute und die zwölf Mitglieder des Geschlossenen Rates befänden. Ein jeder von seinem Nebenmann in den Rücken gestochen. Die hässliche Wahrheit hinter der Kunst des Regierens …
»Haben Sie mit Heugen gesprochen?«, blaffte Sult.
Goyle warf den Kopf mit dem schütteren Haar herum und schickte einen brennenden Blick voller Zorn und Ärger zu Glokta hinüber. »Lord Heugen ist noch immer der verblendeten Annahme, er selbst könne unser nächster König werden, obwohl er kaum mehr als zwölf Sitze auf sich vereint. Er hatte keine Zeit für unser Angebot, da er so sehr damit beschäftigt war, ein paar mehr Stimmen an sich zu binden. Vielleicht wird er in einer oder zwei Wochen vernünftiger geworden sein. Dann könnte man ihn vielleicht dazu bewegen, sich unserer Sache anzuschließen, aber ich würde nicht darauf wetten. Es ist wahrscheinlicher, dass er zu Ischer überläuft. Die zwei standen sich immer schon sehr nahe, soweit ich weiß.«
»Wie schön für sie«, zischte Sult. »Was ist mit Ingelstad?«
Glokta rührte sich auf seinem Platz. »Ich habe ihm unser Ultimatum auf sehr drastische Weise unterbreitet, Euer Eminenz. «
»Dann können wir also auf seine Stimme zählen?«
Wie drückt man das nun am besten aus? »Das kann ich nicht mit absoluter Sicherheit sagen. Kronrichter Marovia konnte durch seinen Mann, Harlen Morrow, leider mit Drohungen aufwarten, die den unseren gleichkommen.«
»Morrow? Ist das nicht einer von Hoffs kleinen Speichelleckern? «
»Offenbar ist er inzwischen aufgestiegen.« Oder ab, je nach Blickwinkel.
»Um den könnte man sich kümmern.« Goyles Gesicht hatte einen höchst abstoßenden Ausdruck angenommen. »Man könnte leicht …«
»Nein!«, schnauzte Sult. »Wie kommt es nur, Goyle, dass Sie jedes Problem, das auftritt, sofort um die Ecke bringen wollen? Wir müssen im Augenblick ganz vorsichtig vorgehen und uns als vernünftige Menschen zeigen, die für Verhandlungen offen sind.« Er trat zum Fenster; das helle Sonnenlicht ließ den großen Edelstein an dem Ring, den er kraft seines Amtes am Finger trug, aufblitzen. »Und in der Zwischenzeit kümmert sich niemand darum, dieses Land zu regieren. Steuern werden nicht mehr eingezogen, Verbrechen nicht mehr bestraft. Dieser Drecksack, den man den Gerber nennt, dieser Volksverhetzer, dieser Verräter, spricht öffentlich auf den Dorfmärkten und ruft zum Aufstand auf! Jeden Tag verlassen mehr Bauern ihre Höfe und werden zu Banditen, die stehlen und andere Schäden anrichten. Überall breitet sich Chaos aus, und wir haben nicht die Mittel, es einzudämmen. In Adua stehen nur noch zwei Regimenter der Königstreuen, und die genügen kaum, um Recht und Ordnung in der Stadt aufrechtzuerhalten. Wer weiß, ob nicht einer unserer edlen Lords des Wartens müde wird und beschließt, sich die Krone vorzeitig selbst aufzusetzen? Das würde ich durchaus für möglich halten!«
»Wird das Heer bald aus dem Norden zurückkehren?«, fragte Goyle.
»Wohl kaum. Dieser Idiot, Marschall Burr, hat drei Monate vor Dunbrec gelegen und Bethod damit reichlich Zeit gegeben, seine Truppen hinter der Weißflut neu aufzustellen. Wer weiß schon, wann er seinen Auftrag abschließen wird, wenn es ihm überhaupt je gelingt!« Monate haben wir damit zugebracht, unsere eigene Festung zu zerstören. Da wünscht man sich beinahe, wir hätten uns beim Bau weniger Mühe gegeben.
»Fünfundzwanzig Stimmen.« Der Erzlektor warf den raschelnden Blättern einen bösen Blick zu. »Fünfundzwanzig, und Marovia hat schon achtzehn? Wir kommen kaum voran! Für jede Stimme, die wir gewinnen, verlieren wir eine an anderer Stelle!«
Goyle beugte sich ein wenig vor. »Vielleicht, Euer Eminenz, ist es an der Zeit, uns noch einmal an unseren Freund von der Universität zu wenden …«
Der Erzlektor gab ein wütendes Zischen von sich, und Goyle klappte den Mund hastig wieder zu. Glokta sah aus dem großen Fenster und tat so, als hätte er nichts Ungewöhnliches gehört. Die sechs zerbröselnden Türmchen der Universität beherrschten den Ausblick, den man von hier oben hatte. Aber was könnte man dort überhaupt finden? Was könnten die Adepti inmitten des Verfalls und des Staubs zu bieten haben?
Verdammt kalte Nacht!«, rief der Hundsmann. »Dabei sollte doch jetzt wohl Sommer sein!«
Die drei Männer sahen auf. Der, der ihm am nächsten stand, war ein alter Mann mit grauem Haar und einem Gesicht, dem man ansah, dass es oft dem Wetter ausgesetzt gewesen war. Der Mann direkt hinter ihm war jünger, und ihm fehlte unterhalb des Ellenbogens der linke Arm. Der dritte war noch ein Junge, der am Ende des Anlegers stand und auf das dunkle Meer hinausblickte.
Hundsmann tat so, als hinke er heftig, während er zu ihnen hinüberging; er schleppte ein Bein nach und verzog das Gesicht, als hätte er Schmerzen. Dann trat er unter die Lampe, die neben der Warnglocke von einem hohen Pfahl herabhing, und hob den Krug, so dass sie alle ihn sehen konnten.
Der Alte grinste und lehnte seinen Speer gegen die Mauer. »Ist immer kalt, hier unten am Wasser.« Er kam näher und rieb sich die Hände. »Nur gut, dass wir dich haben, damit wir uns warm halten können, was?«
»Joh. Da haben wir alle Glück.« Hundsmann zog den Stopfen aus dem Tonkrug und ließ ihn hinunterbaumeln, während er einen Henkelbecher nahm und einen Schluck eingoss.
»Kein Grund zur Schüchternheit, was, Junge?«
»Daran liegt’s doch bestimmt nicht.« Hundsmann goss weiter ein. Der Mann mit dem einen Arm musste den Speer absetzen, bevor er seinen Becher in Empfang nahm. Der Junge kam als Letzter näher und sah Hundsmann wachsam an.
Der Alte stieß ihm den Ellenbogen in die Rippen. »Bist du sicher, dass deine Mutter nichts dagegen hätte, wenn du hier mittrinkst, Junge?«
»Wen kümmert, was die sagt?«, knurrte der Angesprochene und versuchte, seine hohe Stimme rau klingen zu lassen.
Hundsmann reichte ihm einen Becher. »Wenn du alt genug bist, um einen Speer zu tragen, dann bist du auch alt genug zum Trinken, würde ich sagen.«
»Ich bin alt genug!«, gab der Kleine heftig zurück und riss dem Hundsmann den Becher aus der Hand, aber er schüttelte sich, als er daraus trank. Hundsmann erinnerte sich an seinen ersten Schluck, nach dem er sich richtig elend gefühlt und sich gefragt hatte, weshalb alle so viel Aufhebens um dieses Zeug machten, und er lächelte in sich hinein. Der Junge dachte vermutlich, dass sie sich über ihn lustig machten. »Wer bist du überhaupt?«
Der Alte sah Hundsmann beschwichtigend an. »Achte nicht auf ihn. Der ist noch so jung, dass er glaubt, sich durch Grobheit Respekt verdienen zu können.«
»Schon gut«, sagte Hundsmann, der sich nun selbst einen Schluck einschenkte und dann den Krug auf den Steinen absetzte. Er nahm sich Zeit, die nächsten Worte zu überdenken und sicherzugehen, dass er keinen Fehler machte. »Ich heiße Cregg.« Er hatte einmal einen Mann dieses Namens gekannt, der in einem Scharmützel oben in den Bergen umgekommen war. Hundsmann hatte ihn nicht sehr gemocht, und er wusste nicht, wieso ihm dieser Name plötzlich einfiel, aber einer war so gut wie der andere, dachte er. Bedeutsam tätschelte er seinen Schenkel. »Mich hat bei Dunbrec einer ins Bein gestochen, und es will nicht richtig heilen. Kann nicht mehr marschieren. Die Zeiten, in denen ich eine Stellung halten konnte, sind wohl vorbei. Deswegen hat mich mein Häuptling hierhergeschickt, damit ich mit euch am Meer Ausschau halte.« Er blickte über das Wasser, das im Mondlicht schwappte und funkelte, als ob es lebendig sei. »Kann aber auch nicht sagen, dass es mir leidtut. Um ehrlich zu sein, ich habe mein Maß an Kämpfen gesehen. « Das zumindest war keine Lüge.
»Weiß schon, wie du dich fühlst«, sagte der Einarmige und machte mit seinem Armstumpf eine Bewegung in Hundsmanns Richtung. »Wie steht’s denn da oben?«
»Ganz gut. Die Union hockt immer noch vor den eigenen Mauern und versucht um jeden Preis reinzukommen, und wir sitzen auf der anderen Seite des Flusses und warten auf sie. So geht das schon seit Wochen.«
»Ich hab gehört, dass ein paar Jungs zur Union übergelaufen sind. Der alte Dreibaum, hieß es, war da oben und wurde in dieser Schlacht getötet.«
»Das war ein großer Mann, Rudd Dreibaum«, sagte der Alte, »ein großer Mann.«
»Joh«, nickte Hundsmann. »Das war er wohl.«
»Hab gehört, dass der Hundsmann seinen Platz eingenommen hat«, berichtete nun der Einarmige.
»Ehrlich?«
»So sagt man. Ein echt fieser Drecksack. Und ein Riesenkerl. Sie nennen ihn den Hundsmann, weil er mal einer Frau die Nippel abgebissen hat.«
Hundsmann blinzelte. »Ist ja ’n Ding. Tja, also, mir ist der nie begegnet.«
»Ich hab gehört, der Blutige Neuner war auch da oben«, flüsterte der Junge, und seine Augen weiteten sich, als habe er gerade einen Geist gesehen.
Die anderen beiden schnaubten verächtlich. »Der Blutige Neuner ist tot, Junge, und diesem bösartigen Arschloch weint niemand eine Träne nach.« Der Einarmige erschauerte. »Verdammt noch eins, es sind aber auch komische Ammenmärchen im Umlauf!«
»Ich sag nur, was ich gehört hab, das ist alles.«
Der Alte nahm noch einen Schluck Grog und machte ein schmatzendes Geräusch. »Spielt doch keine Rolle, wer wo ist. Der Union wird wahrscheinlich langweilig, wenn sie das Fort erst mal zurückerobert hat. Und wenn diesen Kerlen dann langweilig ist, fahren sie übers Wasser zurück nach Hause, und alles ist wieder wie früher. Keiner von denen wird hierher nach Uffrith kommen, das steht mal fest.«
»Nein«, sagte der Einarmige zufrieden. »Hierher kommen sie nicht.«
»Wieso halten wir dann hier nach ihnen Ausschau?«, quengelte der Junge.
Der Alte rollte mit den Augen, als habe er diese Frage schon zehnmal gehört und jedes Mal dieselbe Antwort gegeben. »Weil das die Aufgabe ist, die man uns anvertraut hat, Junge.«
»Und wenn man eine Aufgabe übernommen hat, dann erfüllt man sie am besten so gut wie möglich.« Hundsmann erinnerte sich, dass Logen ihm einmal dasselbe gesagt hatte, und Dreibaum auch. Beide waren nun nicht mehr da, wieder zu Schlamm geworden, aber die Worte waren immer noch genauso wahr wie früher. »Selbst wenn es eine langweilige Aufgabe, eine gefährliche oder eine dunkle ist. Selbst wenn man es lieber nicht täte.« Verdammt, er musste pissen. Das war einfach immer so in solchen Augenblicken.
»Das ist wohl wahr«, sagte der Alte und lächelte in seinen Becher hinein. »Bestimme Sachen müssen eben erledigt werden. «
»Das stimmt. Es ist wirklich eine Schande. Ihr scheint ziemlich nette Kerle zu sein.« Und damit griff der Hundsmann hinter sich, als ob er sich mal schnell am Hintern kratzen wollte.
»Schande?« Der Junge sah ihn verblüfft an. »Was meinst du mit Schan…«
Dann erschien Dow hinter ihm und schnitt ihm die Kehle durch.
Fast im gleichen Augenblick legte sich Grimms dreckige Hand auf den Mund des Einarmigen, und die blutige Spitze einer Klinge glitt vorn aus dem Spalt seines Mantels. Hundsmann sprang vor und stach den Alten dreimal schnell zwischen die Rippen. Er keuchte, stolperte, die Augen geweitet, den Becher noch in der Hand, und grogversetzter Speichel troff aus seinem Mund. Dann stürzte er zu Boden.
Der Junge kroch ein kleines Stück davon. Er hatte eine Hand an den Hals gepresst, um das Blut am Herausströmen zu hindern, die andere griff nach dem Pfahl, an dem die Warnglocke hing. Er hatte ganz schön Mumm, fand der Hundsmann, mit einer durchgeschnittenen Kehle noch an die Glocke zu denken, aber er war kaum einen Schritt weit gekommen, als Dow hart auf seinen Kopf trat und ihn zerquetschte.
Hundsmann zuckte zusammen, als er die Knochen des Jungen knacken hörte. Er hatte es vermutlich nicht verdient, so zu sterben. Aber so ist es nun mal im Krieg. Eine Menge Leute müssen ihr Leben lassen, obwohl sie es nicht verdienen. Die Aufgabe hatte erfüllt werden müssen, sie hatten sie erfüllt, und sie waren alle drei noch am Leben. Das war schon eine Menge angesichts dessen, was sie erledigen sollten, aber dennoch hinterließ es irgendwie einen bitteren Geschmack in seinem Mund. Es war ihm nie leichtgefallen, aber jetzt, da er Häuptling war, fiel es ihm noch schwerer denn je zuvor. Seltsam, dass es so viel leichter ist, Leute umzubringen, wenn jemand anders es befiehlt. Eine harte Sache, das Töten. Härter, als man glauben möchte.
Außer natürlich, man war der Schwarze Dow. Dieser Drecksack tötete einen Mann genauso leicht, wie er mal eben pinkeln ging. Deswegen war er ja so verdammt gut darin. Hundsmann sah, wie Dow sich hinunterbückte, den Mantel vom schlaffen Körper des Einarmigen zog, ihn um die eigenen Schultern legte und den Leichnam dann ins Meer rollte, so achtlos, als ob er gerade Abfall entsorgte.
»Du hast zwei Arme«, sagte Grimm, der bereits den Mantel des Alten trug.
Dow sah an sich herunter. »Was genau willst du damit sagen? Ich werde mir nicht den Arm abhacken, damit die Verkleidung stimmiger ist, du Idiot!«
»Er meinte, du solltest ihn besser ein wenig verstecken.« Hundsmann sah Dow zu, wie der einen Becher mit einem dreckigen Finger auswischte, sich selbst einen Schluck einschenkte und ihn hinunterkippte. »Wie kannst du in so einem Augenblick trinken?«, fragte er und zog den blutigen Mantel des Jungen von dessen Leiche.
Dow zuckte die Achseln, während er sich noch einmal nachschenkte. »Ist doch eine Schande, das Zeug verkommen zu lassen. Und wie du schon gesagt hast, es ist verdammt kalt.« Er verzog den Mund zu einem hässlichen Grinsen. »Verdammt noch eins, du kannst echt reden, Hundsmann. Ich heiß Cregg.« Er machte ein paar humpelnde Schritte. »Hat mich doch einer in Dunbrec in den Arsch gestochen! Wo hast du das bloß her?« Mit dem Handrücken gab er Grimm einen Klaps auf die Schulter. »Verdammt großartig, was? Es gibt doch so ’n Wort dafür, oder nicht? Wie heißt das noch?«
»Glaubwürdig«, sagte Grimm.
Dows Augen leuchteten auf. »Glaubwürdig. Genau das bist du, Hundsmann. Du bist ein echt glaubwürdiger Drecksack. Du hättest denen erzählen können, du wärst Skarling Ohnekapp, und die hätten dir das abgekauft. Keine Ahnung, wie du es schaffst, bei so was ein dermaßen ernstes Gesicht zu machen!«
Hundsmann war nicht nach Lachen zumute. Ihm gefiel der Anblick der beiden Leichen nicht, die auf den Steinen ausgestreckt lagen. Er konnte den Gedanken nicht abschütteln, dass der Junge sich ohne den Mantel erkälten würde. Natürlich kompletter Quatsch angesichts der Tatsache, dass er in einer Lache seines eigenen Blutes lag, die mindestens einen Schritt breit war.
»Ist doch egal«, brummte er. »Schafft die beiden weg und kommt rüber zum Tor. Man weiß nie, wann hier andere Leute auftauchen könnten.«
»Hast recht, Häuptling, hast recht, wie du sagst.« Dow rollte die beiden Toten ins Wasser, dann schob er den Klöppel aus seiner Aufhängung und schleuderte ihn weit hinaus ins Meer.
»Eine Schande«, sagte Grimm.
»Was denn?«
»Ist Verschwendung einer Glocke.«
Dow blinzelte ihn an. »Verschwendung einer Glocke, meine Fresse! Du hast ja plötzlich jede Menge zu sagen, und weißt du was? Ich glaube, ich konnte dich früher besser leiden. Verschwendung einer Glocke? Bist du übergeschnappt, Kumpel?«
Grimm zuckte die Achseln. »Die Südländer hätten vielleicht gerne eine, wenn sie hier ankommen.«
»Dann können sie verdammt noch mal nach dem Scheiß-Klöppel tauchen!« Damit ergriff Dow den Speer des Einarmigen und schritt zum offenen Tor, eine Hand in den gestohlenen Mantel gewickelt. Noch immer brummelte er vor sich hin. »Verschwendung einer Glocke … bei den verdammten Toten …«
Der Hundsmann stellte sich auf die Zehenspitzen und nahm die Lampe aus ihrer Halterung. Er reckte sie hoch, zum Meer gewandt, und hob eine Seite seines Mantels, um sie zu bedecken, dann machte er sie wieder frei. Bedeckte sie, machte sie frei. Nach einem weiteren Mal hängte er sie flackernd zurück auf den Pfahl. Eine winzig kleine Flamme, so schien es ihm, um all ihre Hoffnungen daran zu wärmen. Eine winzig kleine Flamme, die von weit draußen auf dem Wasser gesehen werden sollte, aber eine andere hatten sie nicht.
Er wartete die ganze Zeit darauf, dass die Sache schiefgehen würde, dass in der Stadt plötzlich Lärm ausbrechen, dass fünf Dutzend Carls aus dem offenen Tor stürmen und ihnen den Hals umdrehen würden, so wie sie es verdienten. Wenn er daran dachte, dann musste er sofort unglaublich dringend pinkeln. Aber sie kamen nicht. Es war nichts zu hören außer dem Quietschen der leeren Glocke, die an ihrer Befestigung hin und her schwang, und außer den kalten Wellen, die sich an Stein und Holz brachen. Es war alles genau so, wie sie es geplant hatten.
Das erste Boot glitt aus der Dunkelheit. Vorn im Bug saß Espe und grinste. Zwanzig Carls hatten sich hinter ihm im Boot zusammengedrängt und führten die Ruder ganz vorsichtig, die weißen Gesichter angespannt, die Zähne gefletscht in dem Bemühen, kein Geräusch zu machen. Dennoch zerrte jedes Knirschen und Klappern von Holz und Metall an Hundsmanns Nerven.
Espe und seine Jungs hängten Strohsäcke über die Bordseite, als sie das Boot in Ufernähe brachten, und verhinderten so, dass das Holz an den Steinen schabte – genau so, wie sie es sich eine Woche zuvor ausgedacht hatten. Sie warfen Taue an Land, und Hundsmann und Grimm fingen sie auf, zogen das Boot an den Anleger und banden es fest. Hundsmann sah zu Dow hinüber, der ruhig und gelassen nahe dem Tor an der Mauer lehnte, und Dow schüttelte leicht den Kopf, um anzudeuten, dass sich in der Stadt nichts rührte. Dann kam Espe die Treppe hoch, still und geschmeidig, und setzte sich in der Dunkelheit auf den Boden.
»Gute Arbeit, Häuptling«, sagte er und lächelte über das ganze Gesicht. »Sauber und ordentlich.«
»Wir können uns später gegenseitig auf die Schultern klopfen. Helft den übrigen Booten beim Anlegen.«
»Hast ja recht.« Es kamen nun weitere Boote, noch mehr Carls, noch mehr Strohsäcke. Alle möglichen Leute, die im Lauf der letzten Wochen zu ihnen gestoßen waren. Männer, denen Bethods neue Vorgehensweise nicht gefiel. Schon bald hatte sich eine recht große Menge unten am Wasser versammelt. So viele, dass der Hundsmann kaum glauben konnte, dass man sie nicht entdeckte.
Sie taten sich zu Gruppen zusammen, ganz wie geplant, jede mit eigenem Häuptling und eigener Aufgabe. Ein paar der Jungs kannten sich in Uffrith aus, und sie hatten ihnen einen Plan der Stadt in den Sand gezeichnet, so wie Dreibaum es früher immer getan hatte. Hundsmann hatte sie alle dazu gebracht, ihn sich einzuprägen. Er musste grinsen, als er daran dachte, wie sehr der Schwarze Dow deswegen gestänkert hatte, aber jetzt zahlte sich seine Hartnäckigkeit aus. Er hockte sich neben dem Tor hin, und sie alle schritten vorbei, eine dunkle und schweigsame Gruppe nach der anderen.
Tul war der Erste, gefolgt von einem Dutzend Carls. »Donnerkopf«, sagte Hundsmann, »du übernimmst das Haupttor.«
»Joh«, nickte Tul.
»Das ist die wichtigste Aufgabe, also versuche, sie möglichst still über die Bühne zu bringen.«
»Still, kein Problem.«
»Viel Glück, Tul.«
»Brauch ich nicht.« Damit eilte der Riese gefolgt von seinen Mannen davon und verschwand in den dunklen Straßen.
»Rotkapp, du übernimmst den Turm beim Brunnen und die Mauer daneben.«
»Geht klar.«
»Espe, du und deine Jungs, ihr haltet auf dem Marktplatz Wache.«
»Wir werden wachen wie die Eulen, Häuptling.«
Und so kamen sie vorüber, durchschritten das Tor und tauchten in die dunklen Straßen, und dabei waren sie nicht lauter als der Wind über dem Meer und die Wellen am Kai. Hundsmann gab jeder Gruppe ihre Aufgabe und klopfte ihnen auf ihrem Weg auf die Schulter. Der Schwarze Dow kam als Letzter, und hinter ihm ging eine Abordnung Männer mit harten Gesichtern.
»Dow, du übernimmst das Haus des Ältesten. Stapelt Brennholz an den Mauern auf, so wie wir gesagt haben, aber zünde es nicht an, verstanden? Tötet niemanden, den ihr nicht töten müsst. Noch nicht.«
»Noch nicht, geht in Ordnung.«
»Und Dow.« Der Kämpe wandte sich noch einmal um. »Dass mir auch kein Weibsvolk belästigt wird.«
»Wofür hältst du mich?«, fragte Dow, und seine Zähne schimmerten in der Dunkelheit. »Für ein Tier oder so was?«
Und dann war es vollbracht. Nur er und Grimm standen noch dort, zusammen mit einigen anderen, und sahen übers Wasser. »Hm«, sagte Grimm und nickte langsam mit dem Kopf. Von ihm war das tatsächlich das höchste Lob.
Hundsmann deutete zum Pfahl hinauf. »Hol uns diese Glocke mal runter, ja?«, sagte er. »Vielleicht haben wir ja doch noch Verwendung dafür.«
Bei den Toten, sie war verdammt laut. Hundsmann musste halb die Augen schließen, und sein ganzer Arm bebte, als er mit dem Griff seines Messers auf die Glocke einschlug. Zwischen all diesen Gebäuden fühlte er sich nicht besonders wohl, eingezwängt zwischen Mauern und Zäunen. Er hatte wenig Zeit seines Lebens in Städten verbracht, und an diese Zeiten erinnerte er sich nicht allzu gern. Entweder hatte er etwas verbrannt oder nach einer Belagerung irgendwelches Unheil angerichtet, oder er hatte in Bethods Kerkern vor sich hin gedarbt und darauf gewartet, umgebracht zu werden.
Er blinzelte dem Durcheinander von Schieferdächern entgegen, sah Mauern aus alten grauen Steinen, schwarzem Holz, dreckig grauem Putz, die im dünnen Regen speckig glänzten. Es erschien ihm ein seltsames Leben, in so einer Schachtel zu schlafen und jeden Tag an genau demselben Ort aufzuwachen. Schon allein die Vorstellung machte ihn unruhig, als ob ihn die Glocke nicht schon völlig durchgerüttelt hätte. Er räusperte sich und setzte die Glocke neben seinen Füßen auf dem Kopfsteinpflaster ab. Dann blieb er abwartend stehen und legte die Hand dabei an den Schwertgriff, in der Hoffnung, dass diese Geste vermittelte, dass er es wirklich ernst meinte.
Aufgeregte Schritte waren aus einer der Gassen zu hören, und ein kleines Mädchen lief auf den Platz. Ihr klappte der Unterkiefer herunter, als sie die Männer dort stehen sah, ein Dutzend bärtige, bewaffnete Kerle, mit Tul Duru in ihrer Mitte. Höchstwahrscheinlich hatte sie noch nie einen so großen Mann gesehen. Mit einem Ruck fuhr sie herum und wollte in die andere Richtung rennen, wobei sie fast auf dem nassen Pflaster ausrutschte. Dann sah sie Dow, der auf einem Holzstapel direkt hinter ihr saß und sich lässig gegen die Mauer lehnte, das gezogene Schwert auf den Knien, und sie erstarrte.
»Ist schon gut, Kleine«, knurrte Dow. »Du kannst bleiben, wo du bist.«
Nun kamen weitere Menschen auf sie zu, sie eilten von allen Seiten auf den Platz und bekamen alle denselben Schreck, als sie den Hundsmann mit seinen Leuten erblickten. Es waren vor allem Frauen und Jungen, ein paar alte Männer waren auch dabei. Die Glocke hatte sie aus dem Bett geholt, und sie waren noch ganz verschlafen, mit roten Augen und verquollenen Gesichtern, in hastig übergestreiften Kleidungsstücken und mit allem bewaffnet, was ihnen in die Hände gefallen war. Ein Junge mit einem Schlachterbeil. Ein alter Mann, der über ein Schwert gebeugt stand, das noch älter zu sein schien als er selbst. Ein Mädchen in vorderster Reihe trug eine Mistgabel. Sie hatte dunkles Haar und einen Ausdruck in ihrem Gesicht, der den Hundsmann an Schari erinnerte. Hart und nachdenklich, so wie sie ihn immer angesehen hatte, bevor sie beieinander lagen. Hundsmann sah finster auf ihre nackten Füße und hoffte, dass er sie nicht würde umbringen müssen.
Wenn man sie einschüchtern und auf diese Weise überwältigen konnte, würde es am leichtesten und schnellsten gehen. Daher versuchte Hundsmann, wie jemand zu reden, den man fürchten musste, und nicht wie einer, der sich gleich in die Hosen machte. Wie Logen geredet hätte. Nun gut, das wäre vielleicht ein bisschen furchteinflößender als nötig. Besser wie Dreibaum. Hart, aber gerecht; jemand, der für alle das Beste wollte.
»Ist der Älteste hier?«, knurrte er.
»Das bin ich«, krächzte der Alte mit dem Schwert, dessen Gesicht vor Schreck ganz starr wirkte, entsetzt, dass zwanzig bewaffnete Fremde mitten auf seinem Marktplatz standen. »Brass heiße ich. Wer, zur Hölle, seid ihr?«
»Ich bin der Hundsmann, und das hier ist Harding Grimm; der große Kerl dort drüben ist Tul Duru Donnerkopf.« Ein paar machten große Augen und murmelten sich etwas zu. Offenbar hatten sie diese Namen schon einmal gehört. »Wir sind mit fünfhundert Carls hierhergekommen und haben letzte Nacht eure Stadt erobert.« Erschrecktes Luftholen und einzelne Schreie folgten auf diese Nachricht. Es waren wohl eher nur zweihundert, aber es wäre unklug gewesen, den Leuten das zu sagen. Sonst wären sie vielleicht auf den Gedanken gekommen, ihr Heil im Kampf zu suchen, und er wollte keine Frau erstechen oder selbst von einer erstochen werden. »In der Nähe sind noch mehr Krieger, eure Wächter sind allesamt gefesselt, jedenfalls die, die wir nicht töten mussten. Ein paar meiner Jungs, und ihr solltet wissen, dazu zählt auch der Schwarze Dow …«
»Das bin ich.« Dow ließ sein hässliches Grinsen sehen, und einige Leute rückten angstvoll von ihm ab, als hätte man ihnen gesagt, dass dort, wo er stand, die Hölle lauerte.
»… nun, sie waren dafür, gleich die Fackeln an eure Häuser zu halten und mit dem Morden anzufangen. Eben so vorzugehen, wie wir es taten, als der Blutige Neuner unser Anführer war. Ihr wisst schon, was ich meine.« Ein Kind begann zu weinen, ein schniefendes, ersticktes Geräusch. Der Junge starrte in seine Richtung, und das Beil zitterte in seiner Hand; das dunkelhaarige Mädchen blinzelte und hielt die Mistgabel noch fester gepackt. Sie hatten begriffen, was er sagen wollte. »Aber ich dachte mir, ich gebe euch die Möglichkeit, euch zu ergeben, da die Stadt schließlich voller Frauen und Kinder und so ist. Ich habe eine Rechnung mit Bethod zu begleichen, nicht mit euch. Die Union möchte diese Stadt als Hafen nutzen, um Männer und Nachschub an Land bringen zu können. Die Soldaten werden binnen einer Stunde mit ihren Schiffen hier sein. Ziemlich viele. Das wird mit oder ohne eure Zustimmung geschehen. Damit will ich sagen, wir können diese Angelegenheit auf blutige Weise erledigen, wenn ihr es so haben wollt. Die Toten wissen, dass wir reichlich Übung darin haben. Oder ihr könnt eure Waffen niederlegen, falls ihr welche habt, und wir können uns einigen, ganz sauber und … wie heißt das noch?«
»Zivilisiert«, sagte Grimm.
»Genau. Zivilisiert. Was sagt ihr dazu?«
Der alte Mann befingerte sein Schwert und sah dabei aus, als ob er sich lieber darauf abgestützt denn es geschwungen hätte. Er hob den Blick zu den Mauern, von denen einige der Carls hinunterschauten. Dann ließ er die Schultern hängen. »Wie es scheint, habt ihr uns überrumpelt. Der Hundsmann, sieh mal an. Ich habe schon gehört, dass du ein schlauer Drecksack bist. Hier sind sowieso kaum noch Leute, die gegen euch kämpfen könnten. Bethod hat jeden Mann mitgenommen, der einen Speer und einen Schild zur gleichen Zeit tragen konnte.« Er sah sich zu dem traurigen Grüppchen hinter sich um. »Werdet ihr die Frauen in Frieden lassen?«
»Das werden wir.«
»Jedenfalls die, die in Frieden gelassen werden wollen«, sagte Dow und warf dem Mädchen mit der Mistgabel einen lüsternen Blick zu.
»Wir lassen sie in Ruhe«, knurrte der Hundsmann und sah ihn scharf an. »Dafür werde ich sorgen.«
»Nun gut«, keuchte der alte Mann, schlurfte zu ihm hinüber und verzog das Gesicht, als er sich vor dem Hundsmann hinkniete und ihm die rostige Klinge zu Füßen legte. »Du bist ein besserer Mann als Bethod, jedenfalls meiner Meinung nach. Ich denke, ich sollte dir für deine Gnade danken, jedenfalls, wenn du Wort hältst.«
»Hm.« Der Hundsmann fühlte sich nicht allzu gnädig. Er bezweifelte, dass der Alte unten am Kai ihm gedankt hätte, oder der Einarmige, der von hinten erstochen worden war, oder der Junge, dem man das ganze Leben gestohlen hatte.
Einer nach dem anderen kamen die übrigen Leute nach vorn und legten ihre Waffen ab, wenn man denn von Waffen reden wollte. Es war ein Haufen alter, rostiger Werkzeuge und allerlei Müll. Der Junge kam als Letzter und ließ sein Beil ebenso fallen. Dann warf er dem Schwarzen Dow einen ängstlichen Blick zu, lief hastig zu den anderen zurück und hielt sich an der Hand des schwarzhaarigen Mädchens fest.
Und so standen sie da, zusammengedrängt, und der Hundsmann konnte ihre Angst beinahe riechen. Sie warteten darauf, von Dow und seinen Carls an Ort und Stelle in Stücke gehackt zu werden. Sie warteten darauf, in ein Haus getrieben und eingeschlossen zu werden, bevor man dann das Gebäude anzündete. Hundsmann hatte all das schon miterlebt. Daher machte er ihnen keinen Vorwurf, dass sie sich aneinanderdrängten wie Schafe auf einer Winterweide. Er hätte es nicht anders getan.
»In Ordnung!«, bellte er. »Das war’s! Geht zurück in eure Häuser oder wohin auch immer. Die Union wird noch vor Mittag hier sein, und dann wäre es besser, wenn die Straßen leer wären.«
Sie sahen blinzelnd zum Hundsmann, zu Tul und zum Schwarzen Dow, und dann blickten sie einander an. Sie schluckten und zitterten und bedankten sich murmelnd bei den Toten. Dann löste sich die Menge langsam auf und verteilte sich; alle gingen ihrer Wege. Lebend, zu ihrer aller Erleichterung.
»Schön gelöst, Häuptling«, raunte Tul in Hundsmanns Ohr, »Dreibaum selbst hätte es nicht besser machen können.«
Dow glitt an seine andere Seite. »Was die Frauen angeht, also, wenn du mich fragst …«
»Ich frag dich aber nicht«, sagte Hundsmann.
»Habt ihr meinen Sohn gesehen?« Eine Frau war noch da, die nicht nach Hause wollte. Sie ging von einem Mann zum nächsten, die Augen halb voller Tränen und das Gesicht vor Sorge verzerrt. Hundsmann senkte den Kopf und sah in die andere Richtung. »Mein Sohn, er hatte Wache, dort unten am Wasser. Habt ihr ihn gesehen?« Sie zupfte an Hundsmanns Mantel, und mit gebrochener, erstickter Stimme fragte sie wieder: »Bitte, wo ist mein Sohn?«
Der große Burggraben war bereits zu Anfang der Belagerung trocken gelegt worden und bestand nun nur noch aus einer Rinne voll schwarzem Schlamm. Am entgegengesetzten Ende der Brücke machten sich vier Soldaten an einem Karren zu schaffen, zogen Leichen zur Böschung und ließen sie auf den Grund des Grabens rollen. Die Leichen der letzten Verteidiger, verbrannt und voller klaffender Wunden, blut- und schlammverschmiert. Wilde Männer, aus Ländern weit im Osten, weit hinter der Crinna, mit Bärten und zotteligen Haaren. Ihre schlaffen Körper wirkten mitleiderregend eingeschrumpelt, nachdem sie drei Monate lang hinter den Mauern von Dunbrec festgesessen und Hunger gelitten hatten. Kaum noch menschlich. Es fiel West schwer, sich am Sieg über derart traurige Geschöpfe freuen zu können.
»Ist doch irgendwie eine Schande«, murmelte Jalenhorm, »nachdem sie derart tapfer gekämpft haben. So zu enden.«
West sah zu, wie ein weiterer zerlumpter Körper die Böschung hinabrutschte und auf dem Haufen verdrehter, schlammiger Glieder zu liegen kam. »So enden die meisten Belagerungen. Vor allem für die Tapferen. Sie werden hier unten im Schlamm begraben, und dann wird der Burggraben wieder geflutet. Die Wasser der Weißflut werden über ihnen dahinfließen, und es wird keinen Unterschied machen, ob sie tapfer waren oder nicht.«
Die Festung Dunbrec ragte vor den zwei Offizieren auf, als sie die Brücke überquerten, schwarze Umrisse von Mauern und Türmen wie große, kahle Löcher im schweren, weißen Himmel. Ein paar struppige Vögel kreisten über ihnen. Ein paar weitere krächzten von der zernarbten Brustwehr zu ihnen hinunter.
Für ebendiesen Weg über die Brücke hatten die Männer von General Kroy einen Monat gebraucht. Ein ums andere Mal waren sie blutig zurückgeschlagen worden, bis sie endlich unter einem stetigen Hagel von Pfeilen, Steinen und kochend heißem Wasser die schweren Tore gestürmt hatten. Eine weitere Woche Kämpfe auf furchtbar engem Raum war nötig gewesen, um den etwa ein Dutzend Schritt langen Tunnel zu erobern, der dahinter lag, dann mit Axt und Feuer das zweite Tor zu durchbrechen und endlich die äußere Burgmauer in die Gewalt der Union zu bringen. Jeder Vorteil war aufseiten der Verteidiger gewesen. Schließlich war diese Festung mit Bedacht entworfen worden, damit es sich genau so verhielt.
Und nachdem sie die Tore gestürmt hatten, war es erst richtig schwierig geworden. Die innere Mauer war doppelt so hoch und doppelt so breit wie die äußere und überschattete die Gänge darunter an jeder Stelle. Vor den Wurfgeschossen, die von den sechs riesenhaften Türmen auf sie herunterprasselten, hatte es keinerlei Schutz gegeben.
Um diese zweite Mauer zu knacken, hatten Kroys Männer es mit jeder Strategie versucht, die im Belagerungshandbuch verzeichnet war. Sie waren mit Hacken und Brechstangen angetreten, aber das Mauerwerk war am Sockel fünf Schritt tief. Sie hatten sich hindurchgraben wollen, aber der Boden war außerhalb der Festung von Wasser durchdrungen, unter dem solider, angländischer Fels lauerte. Sie hatten die Mauer mit Katapulten beschossen, die mächtige Bastion damit jedoch kaum angekratzt. Dann waren sie mit Belagerungsleitern angerückt, wieder und wieder, in Wellen und in Gruppen, überraschend bei Nacht oder kühn bei Tag, und im Hellen wie im Dunklen waren die ausgefransten Linien verwundeter Unionisten nach ihren gescheiterten Versuchen wieder abgerückt und hatten ihre Toten feierlich hinter sich hergeschleppt. Dann endlich hatten sie versucht, mit den wilden Verteidigern zu verhandeln, mittels eines nordländischen Übersetzers, und der arme Mann war mit dem Inhalt einiger Nachttöpfe übergossen worden.
Letztlich war es reine Glückssache gewesen. Ein unternehmungslustiger Korporal hatte die Bewegungen der Wachleute genau studiert und dann im Schutz der Dunkelheit sein Glück mit einem Wurfanker versucht. Es war ihm gelungen, die Mauer zu erklimmen, und ein Dutzend anderer mutiger Männer war ihm gefolgt. Sie hatten die Verteidiger überrumpelt, einige von ihnen getötet und das Torhaus erobert. Die ganze Aktion hatte zehn Minuten gedauert und nur einen Unionisten das Leben gekostet. Es erschien West passend aberwitzig, dass, nachdem sie ungefähr jede erprobte Herangehensweise versucht hatten und jedes Mal blutig gescheitert waren, das Heer der Union schließlich durch das weit geöffnete Tor ins Innere der Festung marschierte.
Ein Soldat beugte sich nahe dem Tunnel vornüber und erbrach sich geräuschvoll auf die fleckigen Steinplatten. West ging voll böser Vorahnungen an ihm vorüber, und das Klacken seiner Stiefelabsätze hallte durch den langen Gang, bis er an seinem Ende den großen Innenhof inmitten der Festung erreichte. Es war ein gleichseitiges Sechseck, dessen Form die Anordnung der inneren und äußeren Burgmauern spiegelte und genau der perfekten Symmetrie des Gebäudes entsprach. West bezweifelte jedoch, dass den Architekten der Zustand gefallen hätte, in dem die Nordmänner die Festung verlassen hatten.
Ein langes Holzgebäude, das an einer Seite des Innenhofs gelegen war und vielleicht einen Stall darstellte, hatte bei dem Angriff Feuer gefangen und war nur noch ein Durcheinander verkohlter Balken, die vor sich hin schwelten. Jene, die mit den Aufräumarbeiten betraut worden waren, hatten draußen vor den Toren genug zu tun, und daher war der Boden hier immer noch mit weggeworfenen Waffen und verkrümmten Körpern übersät. Die toten Unionisten hatte man in ordentlichen Reihen in der Nähe einer Ecke aufgereiht und mit Decken verhüllt. Die Nordmänner lagen kreuz und quer, auf dem Bauch oder auf dem Rücken, zusammengerollt oder ausgestreckt, so wie sie gefallen waren. Die Steinfliesen unter den Leichen waren tief eingekerbt, aber dabei handelte es sich nicht nur um die zufälligen Spuren der dreimonatigen Belagerung. Ein großer Kreis war in den Steinboden gemeißelt worden, der in sich weitere Kreise trug und der mit seltsamen Zeichen und Symbolen ausgefüllt war, die einem komplizierten System folgten. West gefiel der Anblick überhaupt nicht. Aber schlimmer noch war der ekelhafte Gestank, der sogar den stechenden Geruch verbrannten Holzes überlagerte.
»Was riecht denn hier so?«, brummte Jalenhorm, der sich eine Hand über den Mund legte.
Ein Korporal in der Nähe hörte ihn. »So wie’s aussieht, haben unsere nordländischen Freunde die Festung noch hübsch dekoriert.« Damit deutete er über ihre Köpfe, und West folgte dem behandschuhten Finger mit dem Blick.
Sie waren so stark verwest, dass er einen Augenblick brauchte, um zu erkennen, dass er menschliche Überreste vor sich hatte. Man hatte sie mit ausgestreckten Armen und Beinen an die nach innen zeigenden Mauern eines jeden Turms genagelt, hoch über den Unterständen, die sich um die Wände des Innenhofs zogen. Verfaulende Eingeweide hingen aus ihren Bäuchen, von Fliegen übersät. Mit dem Blutkreuz gezeichnet, wie die Nordmänner gesagt hätten. Zerlumpte Fetzen leuchtender Unionsuniformen waren noch vage zu erkennen und zuckten neben dem verwesten Fleisch in der leichten Brise.
Sie hingen ganz offensichtlich schon lange dort. Sicherlich schon, bevor die Belagerung begonnen hatte. Vielleicht schon, seit die Festung zuerst den Nordmännern in die Hände gefallen war. Leichen der ursprünglichen Verteidiger, die man dort angenagelt hatte und die seitdem all diese Monate vor sich hin faulten. Drei von ihnen schienen keine Köpfe mehr zu haben. Vielleicht gehörten sie zu den drei Geschenken, die man Marschall Burr schon vor so langer Zeit geschickt hatte. West ertappte sich dabei, wie er sich völlig sinnlos fragte, ob man sie lebendig dort oben angenagelt hatte. Spucke strömte in seinen Mund, und das Summen der Fliegen erschien plötzlich übelkeiterregend laut.
Jalenhorms Gesicht hatte eine beinahe geisterhafte Blässe angenommen. Er sagte nichts. Das war auch nicht nötig. »Was ist hier geschehen?«, stieß West durch die zusammengebissenen Zähne hervor und sprach mehr zu sich selbst als zu jemand anderem.
»Nun, Herr Oberst, wir vermuten, dass sie versuchten, Hilfe zu bekommen.« Der Korporal, der offensichtlich mit einem sehr starken Magen gesegnet war, grinste ihn an. »Hilfe von irgendwelchen Göttern, die ihnen nicht wohl gesonnen waren, wie wir annehmen. Offenbar hat ihnen da unten dann doch niemand zugehört, was?«
West betrachtete mit gerunzelter Stirn die zerklüfteten Zeichnungen auf dem Boden. »Die Zeichen müssen weg. Reißen Sie die Steine raus und ersetzen Sie sie, wenn es nicht anders geht.« Seine Augen glitten zu den verwesenden Kadavern über ihnen, und er spürte, wie sich sein Magen schmerzhaft zusammenzog. »Und bieten Sie dem Mann, der den Mumm hat, dort hochzuklettern und die Leichen herunterzuholen, eine Prämie von zehn Mark.«
»Zehn Mark, Herr Oberst? Holt mir mal die Leiter von dort drüben!«
West wandte sich ab und schritt durch die geöffneten Tore der Festung von Dunbrec, hielt den Atem an und hoffte mit aller Macht, dass er nie wieder gezwungen sein würde, diesen Ort ein weiteres Mal aufzusuchen. Er wusste jedoch schon, dass er wiederkommen würde. Spätestens in seinen Träumen.
Besprechungen mit Poulder und Kroy hätten dem gesündesten Menschen Übelkeit verursacht, und Lord Marschall Burr war alles andere als gesund. Der Befehlshaber der Heere Seiner Majestät in Angland war ebenso mitleiderregend eingeschrumpft wie die Verteidiger von Dunbrec; die schlichte Uniform schlackerte um seinen Körper, während seine bleiche Haut viel zu straff über die Knochen gespannt zu sein schien. In einem Dutzend kurzer Wochen war er um viele Jahre gealtert. Seine Hände zitterten, die Unterlippe bebte, er konnte nicht lange stehen, und reiten war ihm überhaupt nicht mehr möglich. Von Zeit zu Zeit verzog er das Gesicht und erschauerte, als ob ihn unsichtbare Stiche quälten. West war es fast unbegreiflich, wie Burr überhaupt weiter durchhielt, aber er hielt durch, vierzehn Stunden am Tag, oft auch mehr. Er versah all seine Pflichten mit der Gewissenhaftigkeit, die man von ihm gewohnt war. Nur schienen sie ihn allmählich Stück für Stück aufzufressen.
Burr warf einen grimmigen Blick auf die große Landkarte des Grenzgebiets, die Hände auf den Bauch gelegt. Die Weißflut zog sich als gewundene blaue Linie durch die Mitte, Dunbrec war ein schwarzes Sechseck, das mit geschwungener Schrift bezeichnet war. Auf der Linken die Union. Auf der Rechten der Norden. »Also«, krächzte er, dann räusperte er sich mit einem Husten, »die Festung ist wieder in unserer Hand.«
General Kroy nickte steif. »Das ist sie.«
»Endlich«, bemerkte Poulder unterdrückt. Die zwei Generäle schienen Bethod und seine Nordmänner noch immer als kleinere Ablenkung vom einzig wahren Feind zu betrachten – nämlich den jeweils anderen.
Kroy fuhr auf, und sein Stab begann wie eine Schar zorniger Krähen zu lärmen. »Dunbrec wurde von den führenden Militärarchitekten der Union entworfen, und beim Bau wurden keine Kosten und Mühen gescheut! Diese Eroberung war keine geringe Leistung!«
»Natürlich nicht«, knurrte Burr, der sich alle Mühe gab, ihn abzulenken. »Verdammt schwer einzunehmen, diese Festung. Haben wir Hinweise darauf, wie es den Nordmännern gelungen sein mag?«
»Es hat niemand überlebt, der uns hätte berichten können, welche Tricks sie dabei angewandt haben, Herr Marschall. Sie haben alle ausnahmslos bis zum Tod gekämpft. Die Letzten verbarrikadierten sich in den Ställen und zündeten sie an.«
Burr warf West einen Seitenblick zu und schüttelte langsam den Kopf. »Wie kann man einen solchen Feind begreifen? Und wie ist der Zustand der Bauten jetzt?«
»Der Burggraben wurde trocken gelegt, das äußere Torhaus ist teilweise zerstört, und auch die inneren Mauern haben beträchtliche Schäden erlitten. Die Verteidiger haben einige der Gebäude abgerissen, um das Holz zum Feuermachen und die Steine zum Werfen zu benutzen, und sie haben den Rest in einem …« Kroy bewegte die Lippen, als ob er nach den richtigen Worten suchte, »…sehr schlechten Zustand zurückgelassen. Die Instandsetzung wird mehrere Wochen dauern.«
»Hm.« Burr rieb sich unzufrieden den Bauch. »Der Geschlossene Rat drängt darauf, dass wir so bald wie möglich die Weißflut in Richtung Norden überqueren und den Feind in eine Schlacht verwickeln. Gute Nachrichten für die unruhige Bevölkerung und so weiter.«
»Durch die Eroberung von Uffrith«, warf Poulder nun mit einem überlegenen, aalglatten Lächeln ein, »wurde unsere Position entscheidend gestärkt. Wir haben mit einem Schlag einen der besten Häfen im Norden für uns gewonnen, der hervorragend geeignet ist, um unsere Truppen zu versorgen, während wir weiter in feindliches Gebiet vordringen. Zuvor mussten wir alle Güter quer durch Angland mit Wagen heranschaffen, die sich bei schlechtem Wetter über fürchterliche Straßen quälten. Jetzt können wir Nachschub und Verstärkung per Schiff beinahe direkt bis an die Front bringen! Und das alles haben wir ohne einen einzigen Toten bewerkstelligt!«
West wollte nicht zulassen, dass Poulder sich mit fremden Federn schmückte. »Durchaus«, erklärte er mit monotoner, emotionsloser Stimme. »Unsere nordländischen Verbündeten haben sich wieder einmal als unschätzbar wertvoll erwiesen.«
Poulders rotberockter Stab verzog die Gesichter und brummte vor sich hin. »Sie haben eine Rolle dabei gespielt«, musste der General zugeben.
»Ihr Anführer, der Hundsmann, hat den Plan entwickelt und ihn uns vorgeschlagen, er führte ihn mit Unterstützung seiner eigenen Leute aus und übergab Ihnen die Stadt, mit offenen Toren und einer widerstandslosen Bevölkerung. Das jedenfalls ist mein Kenntnisstand.«
Poulder warf einen zornigen Blick auf Kroy, der sich wiederum ein äußerst dünnes Lächeln erlaubte. »Meine Männer halten die Stadt und bauen bereits große Vorratslager auf. Wir haben den Feind überlistet und ihn gezwungen, sich nach Carleon zurückzuziehen! Das, Oberst West, ist wohl das Entscheidende, und nicht, wer genau was getan hat!«
»In der Tat!«, unterbrach ihn Burr und machte eine Geste mit seiner großen Hand. »Sie haben sich beide sehr um Ihr Land verdient gemacht. Aber nun müssen wir in die Zukunft und auf kommende Erfolge schauen. General Kroy, stellen Sie Arbeitstrupps zusammen, die hier zurückgelassen werden können, um den Wiederaufbau von Dunbrec zu übernehmen, und ein Regiment von Einberufenen, um die Mauern zu bemannen. Bitte mit einem Befehlshaber, der weiß, was er tut. Es wäre doch sehr peinlich, wenn wir die Festung ein zweites Mal verlieren würden.«
»Es werden keine Fehler gemacht werden«, zischte Kroy an Poulder gewandt, »darauf können Sie sich verlassen.«
»Der übrige Teil der Truppen kann die Weißflut überqueren und sich am anderen Ufer neu formieren. Dann werden wir damit beginnen, nach Osten und Norden vorzustoßen, in Richtung Carleon, und wir werden den Hafen von Uffrith dazu nutzen, unseren Nachschub ins Land zu bringen. Wir haben den Feind aus Angland vertrieben. Jetzt müssen wir weiter vorandrängen und Bethod in die Knie zwingen.« Und der Marschall hieb mit der Faust heftig in die Innenfläche seiner anderen Hand, um das zu bekräftigen.