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Die Niederbrenner haben das Königreich in eine blutige Revolution gestürzt. Jetzt werden die Schicksalskarten neu gemischt – für den abgesetzten König, der nun Bürger Orso genannt wird, genauso wie für Bürgerin Savine und für Rikke, der im Norden die Verbündeten ausgehen. Eine neue Ordnung bricht an, in der Silber wichtiger ist als Stahl …
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Seitenzahl: 1132
DAS BUCH
Die alten Heldenlieder sind gesungen, und eine neue Zeit bricht an. Eine Zeit, in der neue Kriege drohen, neue Bündnisse geschmiedet und alte Feindschaften erneuert werden. Die Niederbrenner haben das Königreich der Union in eine blutige Revolution gestürzt. Jetzt werden die Schicksalskarten neu gemischt – für den abgesetzten König, der nun Bürger Orso genannt wird, genauso wie für Bürgerin Savine und für Rikke, der im Norden die Verbündeten ausgehen. Eine neue Ordnung bricht an, in der Silber wichtiger ist als Stahl …
DER AUTOR
Joe Abercrombie arbeitet als freischaffender Fernsehredakteur und Autor. Mit seinen weltweit erfolgreichen »Klingen«-Romanen hat er sich auf Anhieb in die Herzen aller Fans von packender, düsterer Fantasy geschrieben und schafft es regelmäßig auf die internationalen Bestsellerlisten. Joe Abercrombie lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in Bath.
Mehr über Autor und Werk auf: joeabercrombie.com
JOE ABERCROMBIE
Silberklingen
Roman
Aus dem Englischen von Kirsten Borchardt
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
Titel der Originalausgabe:
THE WISDOM OF CROWDS
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Deutsche Erstausgabe 11/2021
Redaktion: Joern Rauser
Copyright © 2021 by Joe Abercrombie
Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design,
unter Verwendung von Motiven von shutterstock
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-16475-1V001
@HeyneFantasySF
FÜR LOU, MIT EINER »GRIMMIG-DUNKLEN« UMARMUNG
ERSTER TEIL
»Die Großen erscheinen nur groß, weil wir auf Knien liegen. Lasst uns aufstehen!«
ELYSÉELOUSTALLOT
Wissen Sie was, Tunny?«
Die leicht blutunterlaufenen Augen des Korporals glitten zu Orso hinüber. »Euer Majestät?«
»Ich muss zugeben, dass ich gerade ziemlich zufrieden mit mir bin.«
Die Standhaften-Standarte mit dem sich aufbäumenden weißen Pferd und der glitzernden, goldenen Sonne flatterte leise in der leichten Brise; den Namen Stoffenbeck hatte man bereits als jüngsten der ruhmreichen Siege in Stickerei darauf verewigt. Wie viele Hochkönige waren schon triumphierend unter diesem Tuchfetzen dahingeritten? Und nun zählte Orso, obwohl er zahlenmäßig unterlegen, viel geschmäht und allgemein abgeschrieben gewesen war, zu ihnen. Der Mann, den die Pamphlete gern als Hurenprinz bezeichnet hatten, war wie ein herrlicher Schmetterling aus einer ekligen Larve gekrochen und stand nun da wie der neue Kasamir! Das Leben nahm schon seltsame Wendungen. Vor allem das Leben von Königen.
»Sie sollten auch verdammt noch mal zufrieden mit sich sein, Euer Majestät«, tönte Marschall Rucksted, und das kam aus berufenem Mund; mit Selbstzufriedenheit kannte er sich bestens aus. »Sie haben Ihre Feinde abseits des Schlachtfelds mit kluger Strategie und auf dem Schlachtfeld in mutigem Kampf überwältigt und den schlimmsten Verräter gefangen genommen!« Und er warf einen selbstzufriedenen Blick über seine Schulter.
Leo dan Brock, jener Held, der noch vor wenigen Tagen so groß erschienen war, dass ihm die Welt zu klein gewesen wäre, steckte jetzt in einem elenden Wagen mit vergitterten Fenstern, der hinter Orsos Tross hergezuckelt kam. Aber inzwischen war auch weit weniger an ihm dran als früher. Sein zertrümmertes Bein war, ebenso wie sein zertrümmerter Ruf, auf dem Schlachtfeld zurückgeblieben.
»Sie haben gesiegt, Euer Majestät«, piepte Bremer dan Gorst, der dann schnell den Mund wieder zuklappte und grimmig zu den Türmen und Schornsteinen Aduas hinübersah, denen sie sich unaufhaltsam näherten.
»Das habe ich, nicht wahr?« Ein ungezwungenes Lächeln glitt ganz von selbst über Orsos Züge. Er konnte sich kaum an das letzte Mal erinnern, dass er ganz spontan gelächelt hatte. »Der Junge Löwe, blutig geschlagen vom Jungen Lamm.« Sogar seine Kleidung schien besser zu sitzen als vor der Schlacht. Er rieb sich das Kinn; in den letzten Tagen hatte er vor lauter Aufregung vergessen, sich zu rasieren. »Sollte ich mir einen Bart wachsen lassen?«
Hildi schob sich das übergroße Käppi ein wenig in den Nacken und warf einen zweifelnden Blick auf seine Stoppeln. »Können Sie das denn?«
»Ganz richtig, in der Vergangenheit ist mir das oft nicht gelungen. Aber das könnte man von ziemlich vielen Dingen sagen, Hildi. Die Zukunft sieht plötzlich völlig anders aus!«
Zum ersten Mal in seinem Leben war er gespannt darauf, was ihm die Zukunft bringen mochte – ja, er freute sich sogar darauf, mit ihr zu ringen und sie in eine Form zu pressen, die ihm gefiel. Aus diesem Grund hatte er auch Marschall Forest zurückgelassen, um die schwer mitgenommene Kronprinz-Division mit viel Gebrüll wieder in Schwung zu bringen, und hatte sich schon einmal mit hundert Berittenen nach Adua aufgemacht. Er musste in die Hauptstadt zurückkehren und das Staatsschiff auf Kurs bringen. Nun, da die Rebellen geschlagen waren, konnte er endlich zu seiner großen Rundreise durch die Union aufbrechen und sich seinen Untertanen als königlicher Sieger präsentieren. Und dabei herausfinden, was er für sie tun und wie er Dinge verbessern konnte. Lächelnd dachte er darüber nach, welche Namen ihm die begeisterte Menge zurufen würde. Orso der Standhafte? Orso der Entschlossene? Orso der Unerschrockene, der Steinerne Wall von Stoffenbeck?
Er lehnte sich zurück, ließ sich leicht im Sattel schaukeln und atmete die kühle Herbstluft ein. Da ein frischer Wind aus Norden die Rauchnebel von Adua zum Meer blies, musste er anschließend nicht einmal husten.
»Jetzt endlich begreife ich, was die Leute meinen, wenn sie sagen, dass sie sich wie ein König fühlen.«
»Oh, darüber würde ich gar nicht so lange nachgrübeln«, sagte Tunny. »Ich bin mir sicher, Sie werden ruckzuck wieder das Gefühl haben, hilflos und verwirrt zu sein.«
»Ohne Zweifel.« Unwillkürlich sah Orso noch einmal zum Ende seiner Kolonne hinüber. Der verwundete Lord Gouverneur von Angland war nicht ihr einziger bedeutender Gefangener. Hinter dem Gefängniswagen ratterte die Kutsche dahin, in der Brocks hochschwangere Frau saß. War das Savines blasse Hand, die sich da an der Fensterfüllung festhielt? Beim bloßen Gedanken an ihren Namen zog sich in Orso alles zusammen. Als die einzige Frau, die er je geliebt hatte, erst einen anderen Mann heiratete und ihn dann betrog, hatte er sich nur zu gern der Vorstellung hingegeben, dass er sich niemals noch elender fühlen würde. Bis er dann herausgefunden hatte, dass sie seine Halbschwester war.
Der Geruch der Elendsquartiere, die sich planlos vor den Stadtmauern Aduas ausbreiteten, trug auch nicht gerade dazu bei, die Übelkeit zu vertreiben, die ihn plötzlich überkam. Er hatte sich vorgestellt, von lächelnden Bürgern begrüßt zu werden, von sommersprossigen Kindern, die kleine Unionsflaggen schwenkten, und von hübschen Frauen, die parfümierte Blütenblätter von Balkonen warfen. Zwar hatte er über derartige patriotische Gesten gern die Nase gerümpft, wenn sie für andere Sieger inszeniert wurden, aber nun hatte er sich doch darauf gefreut, selbst damit bedacht zu werden. Stattdessen jedoch blickten ihm zerlumpte Gestalten grimmig aus den Schatten hinterher. Eine Hure, die an einem Hühnerbein kaute, lachte aus einem schiefen Fenster. Ein schlecht gelaunter Bettler spuckte demonstrativ auf die Straße, als Orsos Pferd vorübertrottete.
»Es wird immer Unzufriedene geben, Euer Majestät«, raunte Yoru Sulfur. »Fragen Sie nur meinen Meister. Niemand dankt ihm je für die vielen großen Anstrengungen, die er unternimmt.«
»Hmmm.« Obwohl Bayaz, soweit Orso sich erinnerte, stets mit äußerst unterwürfigem Respekt behandelt worden war. »Und wie geht er damit um?«
»Er ignoriert das.« Sulfur warf einen unbeteiligten Blick auf die Bewohner des Elendsviertels. »Als wären sie Ameisen.«
»Richtig. Lassen wir uns davon nicht die Laune verderben.« Aber dafür war es nun ein wenig zu spät. Der Wind schien plötzlich kühl zu sein, und Orso spürte schon wieder das vertraute, nervöse Kribbeln im Nacken.
Im Wagen wurde es sogar noch düsterer. Das Klappern der Räder entwickelte ein hallendes Echo. Hinter dem vergitterten Fenster sah Leo behauene Steine vorübereilen und erkannte, dass sie gerade durch eines der Stadttore Aduas fuhren. Er hatte davon geträumt, an der Spitze eines Triumphzugs wieder in die Hauptstadt zurückzukehren. Und nun nahm er diesen Weg in einem Gefängniswagen, der nach fauligem Stroh, Wunden und Schande roch.
Der Fußboden erzitterte und versetzte seinem Beinstumpf einen schmerzhaften Stich, der ihm die Tränen in die entzündeten Augen treten ließ. Was war er nur für ein Narr gewesen! Wie viele gute Gelegenheiten hatte er ausgeschlagen. Wie viele Chancen vertan. In wie viele Fallen war er gestolpert.
Als dieser verräterische Feigling Ischer anfing, von Rebellion zu quatschen, hätte er ihm gleich sagen sollen, dass er ihn am Arsch lecken konnte. Noch besser wäre es gewesen, er wäre sofort zu Savines Vater marschiert und hätte dem Alten Humpelfuß die Geschichte erzählt. Dann wäre er immer noch der meistgefeierte Held der Union gewesen. Der Kämpe, der den Großen Wolf besiegt hatte! Und nicht der Holzkopf, der sich dem Jungen Lamm geschlagen geben musste.
Er hätte gegenüber König Jappo seinen Stolz herunterschlucken sollen. Er hätte katzbuckeln und flirten und den Diplomaten spielen, ihm mit leisem Lachen Westport anbieten und diesen wertlosen Wurmfortsatz der Union gegen den ganzen Rest eintauschen sollen, um dann mit Unterstützung styrischer Truppen in Midderland anzukommen.
Er hätte seine Mutter mitbringen sollen. Wenn er daran dachte, wie sie ihn am Hafen angefleht hatte, dann hätte er sich jetzt am liebsten die Haare ausgerissen. Sie hätte dieses fürchterliche Durcheinander am Strand in Ordnung gebracht, nach einem ruhigen Blick auf die Landkarten das Terrain sondiert und die Männer zügig nach Süden gesandt, damit sie Stoffenbeck als Erste erreichten und den Feind zu einer Schlacht zwangen, die er doch nur hätte verlieren können.
Er hätte Orsos Einladung zum Dinner am Ende einer Lanze zurücksenden sollen, vor Sonnenuntergang mit allen Kräften angreifen und diesen lügnerischen Drecksack von dem höher gelegenen Gelände hinwegfegen sollen, um dann sofort, als sie sich zeigte, dessen Verstärkung zu vernichten.
Selbst dann, als Leos Streitkräfte am linken Flügel mit ihrem Kanonenangriff scheiterten und der rechte Flügel überrannt wurde, hätte er diesen letzten Angriff noch abbrechen können. Dann wären ihm wenigstens Antaup und Jin geblieben. Und sein Bein und sein Arm. Vielleicht hätte Savine irgendeine schlaue Vereinbarung aushandeln können. Immerhin war sie die ehemalige Geliebte des Königs. Nach dem, was Leo bei seiner eigenen Hinrichtung gesehen hatte, war sie wahrscheinlich sogar die jetzige. Und er konnte es ihr nicht einmal verübeln. Sie hatte ihm das Leben gerettet, oder etwa nicht? Was auch immer sein Leben noch wert sein mochte.
Schließlich war er ein Gefangener. Ein Verräter. Nur ein Krüppel.
Die Fahrt hatte sich holpernd verlangsamt. Von vorn hörte er Stimmen, Parolen wurden gerufen, erregte Rufe wurden laut. Mochten das König Orsos treue Untertanen sein, die erschienen waren, um seinen Sieg zu feiern? Nach einer Feier klang es allerdings nicht gerade.
Früher war der Übungsplatz Leos Tanzfläche gewesen. Jetzt war es eine Qual, das eine Bein, das ihm noch verblieben war, überhaupt nur auszustrecken, sodass er mit der gesunden Hand die Gitter am Fenster packen und sich daran emporziehen konnte. Als er den kühlen Wind auf dem Gesicht fühlte und auf eine Straße hinausspähte, die durch den Rauch der Gießereien in der Nähe düster verhangen war, kam der Wagen ruckelnd zum Stehen.
Seltsame Einzelheiten prägten sich ihm ein. Eingeschlagene Ladenfenster, aufgebrochene Türen, die in ihren Angeln hingen, und dann all der Abfall, der auf der Straße verteilt lag. Er vermutete, dass es sich bei dem Lumpenbündel in einem Hauseingang um einen schlafenden Obdachlosen handelte. Mit wachsender Sorge, die ihn die eigenen Schmerzen kurz vergessen ließ, kam ihm dann der beklemmende Verdacht, dass es sich vielleicht um eine Leiche handelte.
»Bei den Toten«, flüsterte er. Ein Lagerhaus war ausgebrannt, die verkohlten Dachsparren ragten wie die Rippen eines abgenagten Kadavers in die Höhe. Über die geschwärzte Häuserfront zog sich in drei Schritt hohen Buchstaben eine Parole:
Die Zeit ist reif.
Er drückte das Gesicht gegen das Gitter und versuchte, mehr von der Straße zu erhaschen. Hinter den Offizieren, Bediensteten und Rittern der Wacht auf ihren unruhigen Pferden drängten sich Gestalten vor einer Mauer, die mit stählernen Dornen besetzt war, und Banner erhoben sich über dem Pöbel wie Standarten über einem Regiment. Darauf prangten weitere Parolen: Faire Bezahlung für faire Arbeit und Nieder mit dem Geschlossenen Rat und Erhebt euch! Sie strömten der Kolonne des Königs bereits entgegen, begleitet von dem düsteren Grollen unterdrückten Zorns, Buhrufen und lauten Gehässigkeiten. Waren das … Maschinenstürmer?
»Bei den Toten«, flüsterte er wieder. Jetzt sah er auch Leute eine Seitenstraße hinunterkommen. In Arbeiterkleidung, mit geballten Fäusten. Sie rannten, offenbar jagten sie jemanden. Als sie die Flüchtigen erwischten, hagelte es Tritte und Schläge.
Weiter vorn erscholl ein bellender Ruf. Möglicherweise war das Rucksted. »Macht Platz, im Namen Seiner Majestät!«
»Mach gefälligst selbst Platz, du Wichser!«, fauchte ein halsloser Mann mit dichtem Bart.. Die Leute strömten jetzt aus den umliegenden Gässchen heran und vermittelten das beunruhigende Gefühl, die Kolonne werde eingekreist.
»Das ist der Junge Löwe!«, schrie jemand, und Leo hörte halbherzige Jubelrufe. Sein gutes Bein, das vor wenigen Tagen noch sein schlimmes Bein gewesen war, brannte zwar wie Feuer, aber er klammerte sich weiter an die Gitterstäbe, während sich die Menschen um den Wagen drängten und ihm ihre Hände entgegenstreckten.
»Der Junge Löwe!«
Völlig hilflos sah Savine durch das Kutschenfenster zu, hatte eine Hand auf ihren enormen, gewölbten Bauch gelegt und hielt mit der anderen Zuris Finger umklammert, während sich Gesindel um Leos Gefängniswagen scharte wie Schweine um einen Trog. Sie konnte kaum einschätzen, ob sie ihn befreien oder ermorden wollten. Wahrscheinlich wussten sie das selbst nicht.
Ihr wurde bewusst, dass sie sich nicht mehr erinnern konnte, wie es sich anfühlte, keine Angst zu haben.
Wahrscheinlich hatte es mit einem Streik begonnen. Savine kannte jede Fabrik in Adua, und das hier war die Papiermühle von Foss dan Harber, ein Unternehmen, in das zu investieren sie schon zweimal abgelehnt hatte. Die Profite waren zwar verlockend, aber Harber stand in einem üblen Ruf. Er war einer von diesen brutalen, ausbeuterischen Fabrikbesitzern, die es allen anderen schwer machten, ihre Arbeiter anständig auszunutzen. Wahrscheinlich hatte es mit einem Streik begonnen, der sich dann offenbar, wie es bei Streiks so schnell geschah, in etwas wesentlich Hässlicheres verwandelt hatte.
»Zurück!«, brüllte ein junger Offizier und schlug mit der Reitgerte in die Menge. Ein berittener Gardist riss einen Mann an der Schulter beiseite und schlug einem weiteren seinen Schild über den Kopf. Rot leuchtendes Blut schimmerte, als der Getroffene stürzte.
»Oh«, sagte Savine, deren Augen sich weiteten.
Jemand schlug den Offizier mit einem Stock und schubste ihn fast aus dem Sattel.
»Warten Sie!« Sie glaubte, dass es Orsos Stimme war. »Warten Sie!« Aber es half nichts. Der König der Union war plötzlich ebenso machtlos wie sie. Von allen Seiten drängten Menschen heran, ein Meer wütender Gesichter, geschwenkter Plakate und geballter Fäuste. Der Lärm ließ sie kurz an Valbeck denken, an den Aufstand, aber die schreckliche Gegenwart war schlimm genug, auch ohne dass sie sich an die schreckliche Vergangenheit erinnern musste.
Weitere Soldaten trieben ihre Pferde auf die Leute zu. Ein Schrei erstarb, als jemand niedergeritten wurde.
»Arschlöcher!«
Dann erklang ein leises, metallisches Klingen, als ein Säbel gezogen wurde.
»Schützt den König!«, ertönte Gorsts quiekender Schrei.
Ein Soldat schlug mit dem Knauf seines Säbels zu, dann mit der flachen Klinge, riss dabei einem Mann die Mütze vom Kopf und stieß ihn aufs Pflaster. Einer der anderen Ritter der Wacht war weniger achtsam. Stahl blitzte auf, ein heller Schrei erklang. Jetzt sah Savine die Klinge niederfahren; sie hinterließ eine klaffende Wunde in der Schulter eines Mannes. Etwas prallte gegen die Seitenwand der Kutsche, und sie fuhr zusammen.
»Gott steh uns bei«, flüsterte Zuri.
Savine starrte sie an. »Tut Er das denn jemals?«
»Ich gebe die Hoffnung nicht auf.« Zuri legte Savine schützend den Arm um die Schultern. »Kommen Sie vom Fenster weg …«
»Wohin denn?«, flüsterte Savine, die sich an ihre Zofe drückte.
Draußen herrschte nun völliges Chaos. Ein berittener Soldat und eine rotgesichtige Frau rangen um das eine Ende eines Banners, auf dem Alle gleich zu lesen war, während das andere Ende in einem Durcheinander aus Armen und Gesichtern verschwand. Ein Ritter der Wacht wurde vom Pferd gezogen und ging in der Menge unter wie ein Matrose in stürmischer See. Sie waren überall, drängten sich zwischen die Pferde, schubsten, krallten sich fest und kreischten.
Mit einem Krachen barst das Kutschenfenster, und Savine fuhr zurück, als Glassplitter ins Innere prasselten.
»Verräter!«, schrie jemand. War sie damit gemeint? Oder Leo? Ein Arm schob sich hindurch und angelte nach irgendetwas, das sich greifen ließ. Ungeschickt schlug Savine mit ihrer Faust danach, wobei sie sich nicht sicher war, was schlimmer sein würde – vom Pöbel aus der Kutsche gezerrt oder von der Inquisition ins Haus der Befragungen verschleppt zu werden.
Zuri wollte gerade aufstehen, als draußen etwas aufblitzte. Tropfen klatschten auf Savines Wange. Rote Flecken auf ihrem Kleid. Der Arm rutschte weg. Feuer flammte plötzlich hinter dem Fenster auf, und sie krümmte sich zusammen, beide Arme um den Bauch geschlungen, als ein scharfer Schmerz durch ihre Eingeweide fuhr.
»Gott steh uns bei«, hauchte sie. Würde sie hier ihr Kind gebären, auf dem mit Glassplittern bestreuten Boden einer Kutsche mitten in einem Aufstand?
»Ihr Arschlöcher!« Ein großer Mann mit einer Schürze hatte die Zügel des Pferdes gepackt, auf dem das blonde Mädchen saß, das Orso als Dienerin beschäftigte und ihr früher seine Botschaften überbracht hatte, vor tausend Jahren. Der Kerl umklammerte ihr Bein, und sie trat nach ihm, spuckte und fauchte. Savine sah, wie Orso sein Pferd umwandte und dem Mann auf die beginnende Glatze schlug. Er fasste nach Orso, wollte ihn aus dem Sattel ziehen. »Ihr …«
Sein Schädel zerplatzte, und Rot spritzte zu allen Seiten. Savine sah mit starrem Blick zu. Sie hätte schwören können, dass dieser Sulfur den Angreifer mit der offenen Hand berührt und ihm dabei halb den Kopf abgerissen hatte.
Gorst sprengte an ihnen vorüber, bleckte die Zähne, schlug links und rechts mit dem Säbel nach dem Pöbel und fällte einen nach dem anderen. »Der König!«, quiekte er. »Der König!«
»Zum Agriont!«, bellte jemand. »Auf keinen Fall anhalten, für nichts und niemanden!«
Mit einem Ruck setzte sich die Kutsche in Bewegung. Savine wäre vom Sitz gefallen, hätte Zuri nicht schnell den Arm ausgestreckt. Sie klammerte sich verzweifelt an den leeren Fensterrahmen und biss sich auf die Lippe, als wieder ein Stich durch ihren schweren Bauch ging.
Sie sah, wie die Leute auseinanderstoben. Hörte entsetzte Schreie. Die Kutsche streifte einen Menschen und schleuderte ihn gegen die Tür, bevor er stürzte und unter die Hufe eines vorüberpreschenden Heroldsritters geriet. Einige Strähnen blonden Haars blieben an dem zerstörten Rahmen hängen.
Wagenräder rumpelten über ein zertrampeltes Schild, fuhren über Pamphlete, die mit flatternden Ecken im Matsch der feuchten Straße klebten. Der Gefängniswagen, dessen Räder Funken auf den Pflastersteinen schlugen, ratterte voran, um ihn herum panische Pferde, peitschende Mähnen, schnalzende Geschirre. Etwas stieß klappernd gegen die andere Seite der Kutsche, und dann waren sie vorüber, ließen Harbers Fabrik und die revoltierenden Arbeiter hinter sich zurück. Kalter Wind fasste ins Kutschenfenster. Savines Herz hämmerte. Ihre Hand, die immer noch am Fenster lag, war eiskalt, aber ihr Gesicht brannte, als hätte jemand sie geohrfeigt. Wie konnte Zuri neben ihr so ruhig bleiben? Das Gesicht der Zofe war derart gefasst, ihr Arm lag so fest um Savine. Das Kind trat, während die Kutsche schaukelte und ruckelte. Immerhin lebte es. Ja, es lebte.
Vor dem Fenster sah sie Lordkanzler Hoff, der sich an die Zügel klammerte; seine Amtskette hatte sich verwickelt und fest um den roten Hals geschlungen. Sie sah den alten, grauhaarigen Standartenträger des Königs, der die Fahnenstange umklammerte, damit die Sonne der Union über ihnen flatterte, mit einem fettigen Fleck auf dem goldenen Tuch.
Straßen glitten vorüber, so vertraut, und doch so fremd. Diese Stadt hatte einmal ihr gehört. Niemand war so bewundert, so beneidet worden wie sie. Oder so sehr gehasst, was sie immer als das einzig ehrliche Kompliment betrachtet hatte. Gebäude zogen vorbei. Gebäude, die sie kannte. Die ihr zum Teil sogar gehörten. Oder einmal gehört hatten.
Das würde jetzt alles vorbei sein.
Sie kniff die Augen zusammen. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie es sich anfühlte, keine Angst zu haben.
Noch wusste sie, wie es gewesen war, als sie Leos Ring angenommen hatte, und wie sich der Agriont mit all seinen kleinen Menschen zu ihren Füßen ausgestreckt hatte. Ihnen hatte die Zukunft gehört. Wie war es ihnen nur gelungen, das alles so gründlich zu zerstören? Sein Leichtsinn oder ihr Ehrgeiz hätten das allein nicht bewerkstelligen können. Aber wie zwei Chemikalien, die für sich genommen allenfalls ein wenig giftig gewesen wären, hatten sie zusammen eine schwer berechenbare Sprengkraft entwickelt, die sowohl ihr Leben wie auch das Tausender anderer in Stücke gerissen hatte.
Die Schnittwunde auf ihrer Kopfhaut juckte unaufhörlich unter dem Verband. Vielleicht wäre es gnädiger gewesen, wenn das Metallstück, das sie gestreift hatte, ein wenig niedriger geflogen wäre und ihr den Schädel sauber gespalten hätte.
»Langsam!« Gorsts quäkende Stimme. »Langsam!« Sie überquerten eine der Brücken, die in den Agriont hineinführten, und die großen Festungsmauern ragten vor ihnen auf. Früher einmal hatte sie sich darin so sicher gefühlt wie in einer elterlichen Umarmung. Jetzt sahen sie wie Gefängnismauern aus. Jetzt waren es Gefängnismauern. Noch hatte sie den Hals nicht aus der Schlinge gezogen, ebenso wenig wie Leo.
Nachdem man ihn vom Schafott geholt hatte, hatte sie die Verbände an seinem Bein gewechselt. So wurde es wohl von der Frau eines Verwundeten erwartet. Zumal dann, wenn sie an seinen Wunden zumindest zum Teil schuld war. Sie hatte geglaubt, stark sein zu können. Schließlich war sie für ihre kühle Unbarmherzigkeit berüchtigt. Aber dann hatte sie die Verbände in einem obszönen Akt des Entkleidens abgewickelt, erst braun gefleckt, dann rosa, dann schwarz. Der Stumpf kam zum Vorschein. Grobe Nähte, der Albtraum einer jeden geschickten Schneiderin. Gezackte Wundränder, lilarot und nässend. Und dann das entsetzliche, bizarre, irgendwie verkehrt wirkende Fehlen des restlichen Beins. Der Gestank nach billigem Fusel und Metzgerei. Sie hatte sich die Hand vor den Mund gehalten. Es fiel kein Wort, aber sie hatte ihm ins Gesicht gesehen und dort ein Spiegelbild ihres eigenen Entsetzens wahrgenommen, und dann hatten die Wachen sie weggeführt, und dafür war sie dankbar gewesen. Von der Erinnerung wurde ihr übel. Übel vor Schuldgefühl. Übel vor Ekel. Übel vor Schuldgefühl wegen ihres Ekels.
Sie merkte, dass sie zitterte, und Zuri drückte ihr die Hand. »Alles wird gut«, sagte sie.
Savine starrte in ihre dunklen Augen und flüsterte: »Wie denn?«
Die Kutsche kam zum Stehen. Als ein Offizier die Tür öffnete, fielen Glasscherben klimpernd aus dem Fensterrahmen. Es dauerte einen Augenblick, bis sie es fertigbrachte, ihren Griff zu lockern. Sie musste die Finger einzeln aufbiegen, wie bei einem totenstarren Leichnam. Hatte sie sich schon in die Hose gepinkelt?
Der Marschallsplatz. Früher hatte sie ihren Vater einmal im Monat auf den breiten Steinplatten ums Karree geschoben, und sie hatten über das Unglück anderer gelacht. Sie war zu den Versammlungen des Offenen Rats im Fürstenrund gegangen, um aus alldem Geschwätz herauszufiltern, welche Gelegenheiten sich künftig boten. Sie hatte mit Geschäftspartnern darüber verhandelt, wen man aufbauen, wen man zerstören, wen man auszahlen und wem man die Kosten dafür aufbürden würde. Sie kannte die markanten Gebäude, die sich hinter den rußgeschwärzten Dächern erhoben – den schlanken Finger des Kettenturms, das Haus des Schöpfers mit seinem dräuenden Umriss. Aber sie gehörten zu einer anderen Welt. In ein anderes Leben. Um sie herum glotzten die Menschen sie ungläubig an. Menschen mit abgeschürften Gesichtern, die schönen Uniformen waren zerrissen, die gezogenen Schwerter rotbefleckt.
»Ihre Hand«, sagte Zuri.
Sie war blutverschmiert. Savine drehte sie verständnislos um und entdeckte eine Glasscherbe, die sich in ihre Handfläche gebohrt hatte, als sie sich am Fensterrahmen festgeklammert hatte. Sie hatte den Schmerz kaum gefühlt.
Als sie den Kopf hob, fingen ihre Augen Orsos Blick. Er wirkte bleich und mitgenommen, sein goldener Stirnreif saß schief, und er hatte den Mund geöffnet, als wollte er etwas sagen, und sie hatte ihren Mund geöffnet, als wollte sie etwas darauf entgegnen. Aber eine Weile sagten sie beide nichts.
»Finden Sie eine Unterkunft für Lady Savine und ihren Ehemann«, krächzte er schließlich. »Im Haus der Befragungen.«
Savine schluckte, als er davonging und sie ihm hinterherblickte.
Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie es sich anfühlte, keine Angst zu haben.
Orso marschierte über den Marschallsplatz in ungefähr die Richtung, in der sich der Palast befand, und er ballte die Fäuste. Ihr Anblick hatte ihm irgendwie den Atem verschlagen. Doch es gab drängendere Probleme als die rauchenden Trümmer seines Liebeslebens.
Beispielsweise, dass aus seiner triumphalen Rückkehr erst eine veritable Enttäuschung und dann ein Blutbad geworden war.
»Die Leute hassen mich«, murmelte er. Natürlich war er daran gewöhnt, verachtet zu werden. An verleumderische Pamphlete, infame Gerüchte und verächtliche Blicke im Offenen Rat. Dass ein König hinter seinem Rücken höflich verabscheut wurde, war in einer Gesellschaft normal. Dass ein König aber offen von einer Menschenmenge angegriffen wurde, bedeutete: Man befand sich kurz vor einem Aufstand. Vor dem zweiten binnen eines Monats. Adua – der Mittelpunkt der Welt, der Zenit der Zivilisation, die leuchtende Fackel von Fortschritt und Wohlstand – war in gesetzloses Chaos abgeglitten.
Es war eine schockierende Enttäuschung. Als hätte man sich eine verlockende Süßigkeit in den Mund gesteckt und beim Kauen festgestellt, dass es sich um ein Stück Scheiße handelte. Aber solche Erfahrungen machte man als Monarch andauernd. Ein enttäuschender Bissen Scheiße nach dem anderen.
Lord Hoff schnaufte bei dem Bemühen, mit Orso Schritt zu halten. »Es gibt ja immer … irgendwelche Beschwerden …«
»Die Leute hassen mich, verdammt noch mal! Haben Sie gehört, wie sie nach dem Jungen Löwen gerufen haben? Seit wann ist denn dieser privilegierte Arsch je ein Mann des Volkes gewesen?« Vor Orsos Sieg hatte man ihn allgemein als verachtenswerten Feigling und Brock als den großen Helden betrachtet. Es wäre wohl nur recht und billig gewesen, wenn sich diese Einschätzung jetzt ins Gegenteil verkehrt hätte. Aber nun sah man in ihm den verachtenswerten Tyrannen und bejubelte den Jungen Löwen als zwar bemitleidenswerten, aber edlen Unterlegenen. Wenn Brock auf offener Straße gewichst hätte, wäre ihm der donnernde Jubel der Menge sicher gewesen.
»Verdammte Verräter!«, grollte Rucksted, ballte eine behandschuhte Hand zur Faust und schlug damit in die andere. »Wir sollten diese ganze verdammte Bande aufknüpfen!«
»Sie können nicht jeden hängen«, sagte Orso.
»Mit Ihrer Erlaubnis kehre ich gern sofort in die Stadt zurück und sehe dann zu, wie weit ich komme.«
»Ich fürchte, unser Fehler war bisher, eher zu viele als zu wenige Menschen gehängt zu haben …«
»Euer Majestät!« Ein einschüchternd hochgewachsener Heroldsritter stand wartend, den Flügelhelm unter den Arm geklemmt, auf dem Weg der Könige neben der Statue von Harod dem Großen. »Ihr Geschlossener Rat erbittet dringend Ihre Anwesenheit in der Weißen Kammer.« Er schloss sich Orso an und ging neben ihm her, wobei er seine Schritte beträchtlich verkürzen musste. »Dürfte ich Ihnen zu Ihrem beeindruckenden Sieg in Stoffenbeck gratulieren?«
»So, wie es sich anfühlt, ist das schon fast verjährt«, erwiderte Orso und ging weiter. Inzwischen trieb ihn die Sorge, dass er, wenn er stehen blieb, wie der Bauklotzturm eines Kindes in sich zusammenfiele. »Mir wurde bereits die Gratulation einer recht großen Gruppe von Aufrührern auf dem Weg der Könige überbracht.« Damit sah er zu der hoch aufragenden Statue von Kasamir dem Standhaften auf und fragte sich, ob der jemals vom eigenen Volk durch die Straßen seiner eigenen Hauptstadt gejagt worden war. In den Geschichtsbüchern stand davon jedenfalls nichts.
»In Ihrer Abwesenheit ist es hier ein wenig … unruhig gewesen, Euer Majestät.« Orso gefiel nicht, wie der Mann unruhig sagte. Es klang nach einem Euphemismus für etwas wesentlich Schlimmeres. »Kurz nachdem Sie die Stadt verlassen hatten, kam es zu Unmutsäußerungen. Über die steigenden Brotpreise. Wegen der Rebellion und des schlechten Wetters wurde nicht genug Mehl in die Stadt geliefert. Eine große Gruppe Frauen brach in einige Bäckereien ein. Sie verprügelten die Besitzer. Einen bezeichneten sie als Spekulanten und … ermordeten ihn.«
»Das ist bedenklich«, sagte Sulfur mit bemerkenswerter Untertreibung. Orso bemerkte, dass er sich mit einem Taschentuch sorgfältig etwas Blut von der Handkante tupfte. Von dem überlegenen Grinsen, das er während der Exekution von zweihundert Menschen vor den Toren von Valbeck gezeigt hatte, war nichts mehr zu sehen.
»Am Tag darauf gab es einen Streik in der Gießerei an der Bergstraße. Und am Tag darauf drei weitere Arbeitsniederlegungen. Einige Wachleute weigerten sich, dort zu patrouillieren. Andere stellten die Aufrührer.« Der Heroldsritter bewegte betreten seine Gesichtsmuskeln. »Es hat Tote gegeben.«
Orsos Vater war der letzte in der Prozession verewigter Monarchen, und seine Statue blickte über den verlassenen Park mit einer befehlsgewohnten, entschiedenen Miene, wie er sie zu Lebzeiten nie gezeigt hatte. Ihm gegenüber dräuten in etwas weniger monumentalem Format der berühmte Kriegsheld Lord Marschall West, der berüchtigte Folterknecht Erzlektor Glokta und der Erste der Magi, der mit gekräuselten Lippen auf sie hinuntersah, als seien für ihn tatsächlich alle Menschen Ameisen, die sich bei ihm beschweren wollten. Orso hatte sich oft gefragt, welche Berater auf der anderen Seite seiner eigenen Statue stehen würden, wenn die Zeit gekommen war. Jetzt fragte er sich zum ersten Mal, ob er überhaupt eine Statue bekommen würde.
»Bald wird wieder Ordnung herrschen!« Hoff gab sich alle Mühe, die niedergedrückte Stimmung zu heben. »Sie werden sehen!«
»Das hoffe ich, Euer Ehren«, sagte der Heroldsritter. »Einige Gruppen von Maschinenstürmern haben Fabriken besetzt. Sie marschieren ganz offen durch Drei Höfen und verlangen die … na ja, die Abdankung des Geschlossenen Rats Eurer Majestät.« Orso gefiel nicht, wie er Abdankung sagte. Es klang nach einem Euphemismus für etwas wesentlich Endgültigeres. »Die Menschen sind aufgebracht, Euer Majestät. Die Leute dürsten nach Blut.«
»Nach meinem Blut?«, fragte Orso, der erfolglos versuchte, seinen Kragen zu lockern.
»Nun ja …« Der Heroldsritter grüßte recht nachlässig zum Abschied. »Nach Blut jedenfalls. Ich bin mir nicht sicher, ob ihnen wichtig ist, von wem es stammt.«
Es war ein stark reduzierter Geschlossener Rat, der sich mit altersschwachen Knien erhob, als Orso klappernd Einzug in die Weiße Kammer hielt. Lord Marschall Forest war mit den traurigen Resten des Heeres in Stoffenbeck geblieben. Erzlektor Pike war damit beschäftigt, den stets aufrührerischen Bewohnern Valbecks genug Angst und Schrecken einzujagen, damit sie sich erneut unterwarfen. Für Kronrichter Bruckel war noch immer kein Ersatz gefunden worden, seit ihm bei einem früheren Anschlag auf Orsos Leben unglücklicherweise der Kopf gespalten worden war. Bayaz’ Stuhl am Fuß des Tisches war – wie die meiste Zeit in den vergangenen Jahrhunderten – leer. Und der Generalinspektor war vermutlich wieder einmal ausgetreten, nachdem ihn ein natürliches Bedürfnis überkommen hatte.
Lord Schatzmeister Gorodets’ Stimme klang recht schrill. »Dürfte ich Eurer Majestät zu Ihrem ruhmreichen Sieg in Stoffenbeck gratulieren …«
»Vergessen Sie das.« Orso ließ sich auf seinen unbequemen Stuhl fallen. »Habe ich auch schon.«
»Wir wurden angegriffen!« Rucksted marschierte mit klingenden Sporen an seinen Platz. »Der königliche Tross!«
»Aufständische in den Straßen von Adua, aufsässig bis aufs Blut!«, schnaufte Hoff, der auf dem Stuhl zusammensank und sich mit dem Ärmel seiner Amtsrobe den Schweiß von der Stirn wischte.
»Bis aufs Blut, tatsächlich«, murmelte Orso, fuhr sich über die Wange und zog dann die Fingerspitzen leicht rotverschmiert wieder zurück. Bei Gorsts Säbelhieben hatte er von oben bis unten Spritzer abbekommen. »Gibt es Neuigkeiten von Erzlektor Pike?«
»Haben Sie es noch nicht gehört?« Gorodets, der früher die Angewohnheit gehabt hatte, sich den langen Bart endlos zu zausen und wieder glatt zu streichen, raufte ihn sich jetzt mit klauenartig gekrümmten Fingern. »Valbeck ist von Aufständischen erobert worden!«
Das Gluck, mit dem Orso schluckte, hallte hörbar von den nackten, weißen Wänden zurück. »Erobert?«
»Schon wieder?«, quiekte Hoff.
»Von seiner Eminenz dem Erzlektor haben wir nichts gehört«, sagte Gorodets. »Wir befürchten, dass er ein Gefangener der Niederreißer ist, wie sich die Maschinenstürmer jetzt nennen.«
»Ein Gefangener?«, wiederholte Orso leise. Der Raum wirkte noch beengter als sonst schon.
»Aus ganz Midderland kommen Nachrichten von Aufständen und Aufruhr!«, entfuhr es dem Hochkonsul, in dessen Stimme aufkommende Panik mitschwang. »Wir haben keine Verbindung mehr zu den Behörden in Keln. Auch aus Holsthorm berichtet man Besorgniserregendes. Überfälle. Lynchmorde und … Säuberungen.«
»Säuberungen?«, hauchte Orso. Offenbar war er dazu verdammt, einzelne Worte in entsetzter Erregung endlos zu wiederholen.
»Gerüchteweise ziehen ganze Banden dieser Niederreißer plündernd durchs Land!«
»Riesige Banden«, ergänzte Lord Admiral Krepskin. »Und sie ziehen zur Hauptstadt! Die Dreckskerle nennen sich inzwischen Volksheer.«
»Verdammte Verräterbrut«, hauchte Hoff, dessen Blick starr auf den leeren Platz am Ende des Tisches gerichtet war. »Können wir Lord Bayaz eine Nachricht zukommen lassen?«
Orso schüttelte wie betäubt den Kopf. »Nicht schnell genug, dass es etwas nützen würde.« Ohnehin vermutete er, dass der Erste der Magi sich hübsch aus allem heraushalten würde, bis er herausgefunden hatte, wie er am besten von den Ereignissen profitieren konnte.
»Wir haben alles getan, was in unserer Macht stand, damit die Nachrichten nicht an die Öffentlichkeit dringen …«
»Um Panik zu vermeiden, verstehen Sie, Euer Majestät, aber …«
»Sie könnten binnen weniger Tage vor unseren Toren stehen!«
Eine lange Stille folgte. Das Triumphgefühl, mit dem sich Orso der Stadt genähert hatte, war nur noch ein verblassender Traum.
Falls es das genaue Gegenteil davon gab, sich wie ein König zu fühlen, dann wusste er jetzt, wie das war.
Sie müssen schon zugeben«, sagte Pike. »Es ist beeindruckend.«
»Das stimmt«, sagte Vick. Und sie war nicht leicht zu beeindrucken.
Dem Volksheer mochte es an Disziplin, Ausrüstung und Vorräten mangeln, aber seine Größe war unbestreitbar. Die Menge der Bewaffneten erstreckte sich bis in die Ferne, verstopfte die Straße am Grund des Tals und zog sich an den sumpfigen Hängen auf beiden Seiten empor, bis sie sich im regenfeuchten Dunst verlor.
Vielleicht waren es zehntausend gewesen, als sie in Valbeck aufgebrochen waren. Einige Regimenter aus ehemaligen Soldaten hatten die leuchtende Speerspitze gebildet, die vor frisch geschmiedeten Geschenken aus Savine dan Brocks Eisengießereien nur so blitzte. Aber die Ordnung wich schnell einem zerlumpten Chaos. Arbeiter aus Fabriken und Gießereien, Färberinnen und Waschfrauen, Flickschuster und Messerschmiede, Metzger und Lakaien tanzten mehr, als dass sie marschierten, während alte Arbeiterlieder und Trommeln aus Kochtöpfen den Takt vorgaben. Es war ein überwiegend gut gelaunter Aufstand.
Vick hatte halb befürchtet und halb gehofft, dass ihre Armee auf dem Weg durch schlammiges Gelände in widrigem Wetter zusammenschmelzen würde, doch sie war vielmehr schnell gewachsen. Zu ihnen stießen Landarbeiter, Kleinbauern und Pächter mit Sensen und Mistgabeln, was zunächst für Bedenken sorgte, aber auch mit Mehl und Schinken, was die Bedenken zügig wieder auflöste. Dazu kamen Banden von Bettlern und Waisen. Soldaten, die von irgendwelchen verlorenen Bataillonen desertiert waren. Und Drogenhändler, Huren und Demagogen, die an den zu Matsch getrampelten Straßen ihre Zelte aufbauten und Spreu, schnelle Nummern und politische Theorien feilboten.
An Begeisterung mangelte es ebenfalls nicht. In den Nächten zogen sich die Lagerfeuer über Meilen, und die Leute wickelten sich eng in die taubesetzten Decken, um sich gegen die kühle Herbstluft zu wappnen, sprachen von ihren Träumen und Wünschen und redeten mit glänzenden Augen vom Umbruch. Vom Großen Umbruch, der endlich gekommen war.
Vick hatte keine Ahnung, wie weit diese durchweichte Kolonne inzwischen zurückreichen mochte. Oder wie viele Niederreißer und Niederbrenner dazugehörten. Viele Meilen von Männern, Frauen und Kindern zogen durch den Schlamm gen Adua. Einer besseren Zukunft entgegen. Vick hatte da natürlich ihre Zweifel. Aber diese ganze Hoffnung. Sie überschwemmte alles wie eine Flut. So abgestumpft man auch sein mochte, sie bewegte einen unweigerlich doch. Oder vielleicht war sie gar nicht so abgestumpft, wie sie sich immer eingeredet hatte.
Im Lager hatte Vick gelernt, dass man sich immer auf die Seite der Sieger stellte. Das war seitdem ihre goldene Regel gewesen. Doch im Lager und in der Zeit, die darauf folgte, hatte sie stets genau gewusst, wer die Sieger waren. Die Männer, die das Sagen hatten. Die Inquisition, der Geschlossene Rat, der Erzlektor. Wenn sie nun auf diese ungebärdige Menschenmenge blickte, die fest entschlossen war, die Welt zu verändern, dann war sie sich nicht mehr so sicher, wer am Ende den Sieg davontragen würde. Sie wusste nicht einmal genau, welche Seiten es in diesem Spiel gab. Wenn Leo dan Brock Orso besiegt hätte, dann hätte es vielleicht einen neuen König gegeben, neue Gesichter im Geschlossenen Rat, neue Ärsche auf alten Stühlen, aber die Lage wäre mehr oder weniger dieselbe geblieben. Wenn aber diese Truppe hier Orso besiegte, wer konnte da schon sagen, was als Nächstes kam? All die alten Sicherheiten brachen dann weg, und nun fragte sie sich, ob es die überhaupt jemals wirklich gegeben hatte, oder ob sie nichts als närrische Mutmaßungen gewesen waren.
In Starikland hatte Vick während der Rebellion einmal ein Erdbeben erlebt. Der Boden hatte gezittert, Bücher waren von den Regalen gefallen, ein Schornstein war auf die Straße gestürzt. Nicht lange, aber lange genug hatte sie das schreckliche Gefühl gepackt, dass alles, was sie für unverrückbar und solide gehalten hatte, in einem einzigen Augenblick zusammenbrechen konnte.
Jetzt spürte sie dieses Gefühl erneut, aber sie wusste, dass das Erdbeben gerade erst begonnen hatte. Wie lange würde die Erde beben? Was würde stehen geblieben sein, wenn es vorüber war?
»Wie ich sehe, sind Sie noch bei uns, Schwester Victarine.« Pike schnalzte mit der Zunge und trieb sein Pferd den Hang hinunter, der Spitze der heruntergekommenen Kolonne entgegen.
Vicks Instinkt wollte sie daran hindern, ihm zu folgen. Aber sie tat es trotzdem. »Ich bin noch bei Ihnen.«
»Demnach haben wir Sie für unsere Sache gewinnen können?«
In ihr war ein Stückchen Hoffnung, das sie glauben machen wollte, Sibalts Träume von einer besseren Welt, die sie liebend gern erlebt hätte, könnten hier tatsächlich wahr werden. Gleichzeitig war in ihr ein Stückchen Unruhe, das bevorstehendes Blutvergießen witterte, die Nacht am liebsten hinter sich gelassen hätte und ins Fernland geflohen wäre. Ein Stückchen Berechnung sagte ihr, dass man ein durchgehendes Pferd nur im Sattel wieder zur Räson bringen kann, und dass es weit weniger riskant ist, oben zu bleiben, als abzuspringen.
Sie warf Pike einen Seitenblick zu. Die Wahrheit sah so aus, dass sie immer noch herauszufinden versuchte, worin ihre Sache eigentlich bestand. Vermutlich handelte es sich für jeden der kleinen Punkte in diesem Volksheer um etwas anderes. Aber jetzt war keine Zeit für die Wahrheit. Wann ist es das schon? »Es wäre dumm von mir, würde ich sagen wollen, dass ich nicht ganz und gar überzeugt bin.«
»Und wenn Sie sagen, dass Sie ganz und gar überzeugt sind, wäre ich dumm, wenn ich Ihnen das glaubte.«
»Und da wir beide nicht dumm sind … sagen wir einfach vielleicht.«
»Oh, wir sind alle dumm. Aber ein gutes Vielleicht macht mir Spaß.« Allerdings sah Pike nicht im Geringsten so aus, als ob er gerade Spaß hatte. »Dem Absoluten ist nie zu trauen.«
Vick bezweifelte, dass die beiden Anführer des Großen Umbruchs, die gerade über den grasbewachsenen Hang zu ihnen herübergeritten kamen, dieser These zugestimmt hätten.
»Bruder Pike!«, rief Risinau und winkte fröhlich mit seiner plumpen Hand. »Schwester Victarine!«
Risinau machte Vick Sorgen. Der einstige Superior von Valbeck galt zwar als tiefsinniger Denker, aber soweit sie das erkennen konnte, entsprach er allenfalls der Idiotenvorstellung eines Genies, dessen Ideen ein Labyrinth darstellten, in dessen Mitte sich nur Leere befand. Er salbaderte unaufhörlich von der gerechten Gesellschaft der Zukunft, aber ohne die geringste Ahnung, auf welchem Weg man dieses hehre Ziel erreichen konnte. Seine Jackentaschen quollen über vor Papieren. Hingekritzelte Theorien, Manifeste, Proklamationen. Reden, die er vor eifrigen Zuhörern abspulte, sobald das Volksheer auf seinem Marsch einmal anhielt. Vick gefiel es nicht, wie die Menge seine blumigen Aufrufe zur Vernunft mit geschwenkten Waffen und zustimmendem Wutgeheul bedachte. Ihrer Erfahrung nach richtete nichts mehr Schaden an als Leute, die hehren Prinzipien folgten.
Richter machte Vick allerdings noch mehr Sorgen. Richter trug einen rostigen, alten Brustpanzer, über dem gestohlene Ketten klapperten, und darunter ein Ballkleid, das mit gesprungenen, kleinen Kristallsteinchen benäht war. Da sie jedoch rittlings auf ihrem Pferd saß, nicht im Damensattel, hatte sie sich die zerrissenen Unterröcke bis zu den Schenkeln hochgeschlagen. Ihre dreckigen, nackten Füße steckten in abgestoßenen Kavalleriesteigbügeln. Sie hatte ein Gesicht wie ein Sack Dolche, die knochigen Kiefer zornig zusammengepresst, die schwarzen Augen zornig zusammengekniffen, und ihr sonst so flammendes Haarnest war vom Regen braun gefärbt und hing feucht an einer Kopfseite herab. Prinzipien interessierten sie nur als Entschuldigung für Aufruhr. Als ihre Niederbrenner das Gerichtsgebäude in Valbeck besetzt hatten, hatten ihre Geschworenen niemanden für unschuldig befunden, sondern nur Todesurteile ausgesprochen.
Während Risinau den Blick ausnahmslos gen Himmel richtete und die Trümmer, über die er hinwegschritt, nicht beachtete, starrte Richter regelmäßig nach unten und versuchte, alles niederzutrampeln, was ihr in die Quere kam. Und Pike? An dem verbrannten, maskenhaften Gesicht des ehemaligen Erzlektors war nichts abzulesen. Wer konnte sagen, was Bruder Pike beabsichtigte?
Vick nickte zu den rußigen Schlieren Aduas hinüber, dessen Rauchnebel immer näher rückten. »Was passiert, wenn wir die Stadt erreichen?«
»Der Umbruch«, sagte Risinau selbstgefällig wie ein Gockel. »Der Große Umbruch.«
»Wie wird der aussehen?«
»Ich bin nicht mit dem Langen Auge gesegnet, Schwester Victarine.« Risinau kicherte bei dieser Vorstellung: »An der verpuppten Larve lässt sich nur schwer erkennen, welcher Schmetterling daraus hervortritt, um den Morgen zu grüßen. Aber ein Umbruch.« Sein dicker Zeigefinger zuckte in ihre Richtung. »Dessen können Sie sicher sein! Eine neue Union, erbaut aus hohen Idealen!«
»Die Welt muss nicht verändert werden«, knurrte Richter, deren schwarze Augen auf der Hauptstadt ruhten. »Man muss sie niederbrennen.«
Vick hätte keinem der beiden das Hüten einer Schweineherde anvertrauen wollen, von den Zukunftsträumen vieler Millionen Menschen ganz zu schweigen. Natürlich machte sie ein ausdrucksloses Gesicht, aber Pike sah ihr wohl doch etwas an. »Sie scheinen Ihre Zweifel zu haben.«
»Ich habe noch nie gesehen, dass sich die Welt schnell verändert hätte«, sagte Vick. »Wenn überhaupt.«
»Allmählich beginne ich zu glauben, dass Sibalt Sie so gern mochte, weil Sie sein genaues Gegenteil waren.« Risinau legte ihr spielerisch die Hand auf die Schulter. »Sie sind so eine Zynikerin, Schwester!«
Vick schüttelte ihn ab. »Ich glaube, das habe ich mir verdient.«
»Nachdem Ihnen die Kindheit im Lager gestohlen wurde«, sagte Pike, »und Sie sich Ihr Geld damit verdient haben, sich für Erzlektor Glokta mit Menschen anzufreunden, die Sie dann später betrügen mussten, wie könnte es Ihnen da auch anders gehen? Aber man kann auch zu zynisch sein. Sie werden schon sehen.«
Zugegebenermaßen hatte Vick erwartet, dass der Große Umbruch schon längst in sich zusammengebrochen sein würde. Entweder, weil Richter und Risinau endlich vom kleinlichen Beharken zum offenen Angriff übergegangen sein würden, weil die fragile Koalition aus Niederreißern und Niederbrennern, Gemäßigten und Extremisten in die Brüche ging, oder weil sich das Volksheer bei dem nassen Wetter ganz einfach in seine Bestandteile auflöste. Oder eben auch, weil Lord Marschall Rucksteds Kavallerie hinter jeder Hügelkuppe lauern konnte, die sie hier vor sich sah, um die zerlumpten Massen in Stücke zu reißen.
Aber Risinau und Richter tolerierten sich weiterhin, und von den Königstreuen war nichts zu sehen. Nicht einmal jetzt, da der Regen nachließ und sie das baufällige, übel riechende Labyrinth aus Hütten erreichten, das sich vor den Mauern Aduas erstreckte, wo das Wasser aus den beschädigten Regenrinnen auf die schlammigen Straßen pladderte, um sich dort mit den Abwässern zu vermischen. Vielleicht gab es noch andere Aufstände, mit denen sich die Armee herumschlagen musste. Vielleicht geriet die eigene Loyalität in diesen seltsamen Zeiten auch aus so vielen Richtungen unter Druck, dass man gar nicht mehr wusste, für wen man kämpfen sollte. Vick konnte das jedenfalls nachfühlen, als die Sonne herauskam und sie schließlich die Tore von Adua vor sich sah.
Kurz fragte sie sich, ob sich Unselt in der Stadt befand. Sorgte sich, ob er vielleicht in Gefahr war. Dann wurde ihr klar, wie verrückt es war, sich inmitten all dieser Ereignisse um eine einzelne Person zu sorgen. Was konnte sie auch für ihn tun? Was konnte überhaupt irgendjemand für einen anderen tun?
Risinau warf einen nervösen Blick auf die Mauern und Zinnen, von denen das Wasser herunterlief. »Es könnte sich als vernünftig erweisen, sich vorsichtig zu nähern. Vielleicht sollten wir erst einmal unsere Kanonen in Stellung bringen und, äh …«
Richter schnaubte angeekelt, schlug ihrem Pferd die nackten Fersen in die Weichen und ritt voran.
»Mut hat sie schon, das muss man ihr lassen«, sagte Pike.
»Nur keine Vernunft.« Vick hoffte beinahe auf einen Pfeilhagel, aber der blieb aus. Es herrschte eine unheimliche Stille, als Richter, das Kinn verächtlich erhoben, den Mauern entgegentrottete.
»Ihr da drinnen!«, kreischte sie und zügelte vor dem Tor ihr Pferd. »Soldaten der Union! Männer von Adua!« Nun erhob sie sich in den Steigbügeln und deutete rückwärts zu der Horde, die über die matschigen Straßen auf die Hauptstadt zumarschierte. »Das hier ist das Volksheer, und es ist gekommen, um die Menschen zu befreien! Wir brauchen nur eins von euch zu wissen!« Sie reckte einen klauenartig gekrümmten Finger in die Höhe. »Seid ihr auf der Seite des Volkes – oder auf der anderen?«
Ihr Pferd scheute, daraufhin riss sie an den Zügeln und ließ es in einem engen Kreis herumgehen, hielt dabei den Finger weiter ausgestreckt, während das Donnern von Tausenden und Abertausenden trampelnder Füße beständig lauter wurde.
Vick fuhr zusammen, als hinter den Toren etwas laut hallend klapperte, dann tat sich ein Streifen Licht zwischen den großen Torflügeln auf, und mit knarrenden Angeln, die dringend geölt werden mussten, schwangen sie auf.
Ein Soldat beugte sich über die Brüstung, grinste irrsinnig und schwang seinen Hut. »Wir sind aufseiten des Volkes!«, brüllte er. »Der Große Umbruch!«
Richter warf den Kopf herum, trieb ihr Pferd von der Straße und gab dem Volksheer mit einer ungeduldigen Armbewegung das Zeichen zum Vormarsch.
»Scheiß doch auf den König!«, kreischte der einsame Soldat, und die Parole wurde von den anrückenden Niederreißern mit einer Welle des Gelächters begrüßt, woraufhin der Mann sein Leben riskierte, indem er den nassen Fahnenmast hinaufrobbte, um die Standarte über dem Torwächterhäuschen herunterzureißen.
Das Banner des Hochkönigs, das seit Jahrhunderten über den Mauern von Adua geflattert hatte. Die goldene Sonne der Union, die Harod der Große als Emblem von Bayaz persönlich erhalten hatte. Die Flagge, vor der die Menschen gekniet, zu der sie gebetet, der sie ihre Treue geschworen hatten … fiel flatternd herab und blieb auf der pfützenbedeckten Straße vor dem Tor liegen.
»Die Welt kann sich ändern, Schwester Victarine.« Pike hob eine haarlose Braue, als er Vick ansah. »Sehen Sie es sich nur an.« Dann schnalzte er mit der Zunge und ritt auf das offene Tor zu.
Und so geschah es mit einer beinahe übertrieben symbolischen Geste, dass das Volksheer, als es in Adua einmarschierte, die Flagge der Vergangenheit mit Füßen trat.
Sie sind da!« Jakib war so aufgeregt und überwältigt, dass sich seine Stimme überschlug. »Verdammt noch mal, die Niederreißer sind wirklich da!« So lange hatte er gewartet, Tage und Wochen und Monate, und jetzt ließ er einen wilden Blick durch ihren kleinen Salon schweifen, seine Hände schlossen und öffneten sich, und er wusste kaum, was er zuerst tun sollte.
Petree sah nicht gerade überwältigt aus. Eher besorgt. Sogar ein bisschen verbittert. Die Jungs hatten ihn gleich gewarnt, dass er einen Sauertopf heiratete, aber damals hatte er das nicht so gesehen. Er war immer so ein hoffnungsvoller Typ gewesen. »Du bist ja die Hoffnung in Person«, hatten sie zu ihm gesagt. Und nun schien sie mit jedem Tag verbitterter zu werden. Aber es war jetzt nicht die Zeit, mit seiner Ehe zu hadern. »Sie sind verdammt noch mal da!«
Als er seinen Mantel nahm, rutschte ein ganzer Stapel Flugblätter vom Tisch. Nicht, dass er die gelesen hätte. Oder dass er überhaupt hätte lesen können. Aber allein sie zu besitzen, das fühlte sich doch schon wie ein erster Schritt in Richtung Freiheit an. Und wer brauchte überhaupt noch Flugblätter, wenn die Niederreißer bereits hier waren?
Er reckte sich, um nach dem Säbel seines Großvaters zu hangeln, der an einem Haken über dem Kamin hing. Zischend stieß er einen Fluch aus, weil Petree dafür gesorgt hatte, dass er ihn hoch oben außer Reichweite angebracht hatte. Er musste sich auf Zehenspitzen stellen, um das verdammte Ding zu fassen zu bekommen, und beinahe wäre es ihm dabei noch auf den Kopf gefallen.
Als er ihr Gesicht sah, fühlte er sich schlecht. Vielleicht war sie gar nicht einmal verbittert, sondern eher verängstigt. Das wollten diese Drecksäcke ja, die Inquisition und der Geschlossene Rat. Dass alle Menschen Angst hatten. Er fasste sie an der Schulter. Versuchte ihr etwas von seiner Hoffnung abzugeben. »Jetzt werden die Brotpreise sicher sinken«, sagte er, »du wirst schon sehen. Dann gibt es Brot für alle!«
»Meinst du?«
»Das weiß ich.«
Sie legte die Fingerspitzen auf die abgestoßene Scheide. »Nimm den Säbel nicht mit. Wenn du ihn dabeihast, wirst du ihn vielleicht auch benutzen wollen. Und du weißt doch gar nicht, wie man damit umgeht.«
»Weiß ich wohl!«, fuhr er sie an, obwohl sie beide genau wussten, dass das nicht stimmte, jedenfalls nicht so richtig. Aber er wand ihr die Waffe aus der Hand, hielt sie mit der falschen Seite nach oben, und die rostbefleckte Klinge rutschte halb aus der Scheide, bevor er sie packen und wieder zurückschieben konnte. »Ein Mann sollte bewaffnet sein, am Tag des Großen Umbruchs! Wenn genug von uns Waffen haben, werden wir sie gewiss nicht benutzen müssen.« Und bevor sie weitere Zweifel äußern konnte, rannte er aus dem Haus und ließ die Tür krachend gegen den Rahmen schlagen.
Die Straßen waren hell, alles glänzte und schimmerte und sah nach dem jüngst gefallenen Regen aus wie neu. Überall waren Menschen, und es herrschte eine Stimmung, die irgendwo zwischen Karneval und Aufstand lag. Rennende Menschen, rufende Menschen. Manche Gesichter kannte er. Die meisten waren ihm aber fremd. Eine Frau umschlang seinen Hals und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Eine Hure stand an ein Geländer gelehnt, stützte sich mit einer Hand gegen die Mauer und zog sich mit der anderen die Röcke hoch, um den Vorbeieilenden einen Ausblick auf ihre Ware zu gewähren. »Den ganzen Tag zum halben Preis!«, kreischte sie.
Er war bereit gewesen zu kämpfen. Bereit, sich Reihen royalistischer Speere entgegenzustellen, mit nichts als Freiheit und Gleichheit als Rüstung. Petree hatte von dieser Idee nichts gehalten, und wenn er ehrlich war, waren auch ihm einige Zweifel gekommen, als der Tag näher rückte. Aber er sah nur wenige Soldaten, die zudem lachten und mit offenen Jacken herumliefen, jubelten und herumsprangen und feierten, so wie alle anderen.
Leute sangen. Leute weinten. Leute tanzten in den Pfützen und spritzten alle Umstehenden nass. In einem Hauseingang lag jemand. Wahrscheinlich betrunken, aber dann sah Jakib das Blut auf dem Gesicht. Vielleicht sollte er helfen? Aber die rennenden Menschen rissen ihn mit sich. Er wusste nicht, warum. Er wusste gar nichts mehr.
Es ging hinaus auf den Spurweg, der breit durch die Fabriken von Drei Höfen schnitt und zur Stadtmitte führte. Dort sah er Bewaffnete – polierte Rüstungen, brandneu und glänzend. Wie erstarrt blieb er an der Straßenecke stehen und versteckte seinen Säbel halb hinter dem Rücken; das Herz schlug ihm bis zum Hals, weil er glaubte, Königstreue vor sich zu haben. Dann sah er ihre bärtigen Gesichter und ihren großspurigen Gang und die Banner, die sie trugen und die in grober Stickerei gesprengte Ketten zeigten, und da wusste er, dass es das Volksheer war, das in die Freiheit marschierte.
Arbeiter strömten aus den Fabriken, um sich der Menge anzuschließen, und er drängte sich hindurch, lachte und schrie so lange, bis er heiser war. Er kletterte auf eine Kanone. Eine verdammte Kanone, die von grinsenden Färberinnen gezogen wurde, deren Unterarme die seltsamsten Schattierungen aufwiesen. Leute sangen und umarmten sich und weinten, und Jakib war kein Schuhmacher mehr, sondern ein Kämpfer für die gerechte Sache, ein stolzer Bruder der Niederreißer, der an einem der Großereignisse seines Zeitalters beteiligt war.
An der Spitze des Zugs sah er eine Frau auf einem weißen Pferd, die den Brustpanzer eines Soldaten trug. Richter! Das musste Richter sein. Durch die Tränen in seinen Augen, die seinen Blick verschleierten, erschien sie noch schöner und wilder und rechtschaffener, als er sie sich je vorgestellt hatte. Sie war der Geist der Bewegung, die fleischgewordene Idee. Eine Göttin, die ihr Volk seinem Schicksal entgegenführte.
»Brüder! Schwestern! Zum Agriont!« Sie deutete die Straße entlang, zur Freiheit. »Ich habe große Lust, seine beschissene Erhabene Majestät persönlich zu begrüßen!«
Es folgte eine neue Welle von Gelächter und Freudenrufen. In einem Gässchen glaubte Jakib ein paar Männer zu sehen, die auf jemanden eintraten, der vor ihnen am Boden lag, wieder und wieder, und er hob den rostigen Säbel seines Großvaters, reckte ihn hoch in die Luft und fiel in den Gesang ein.
»Sie sind da«, flüsterte Grau.
Hauptmann Leeb zog seinen Säbel. Das schien ihm jetzt das Richtige zu sein. »Ist mir aufgefallen, Korporal.« Er versuchte ein gewisses Selbstbewusstsein zu vermitteln. Das machte schließlich einen Offizier aus, denn er konnte sich noch gut daran erinnern, wie sein Bruder ihm das eingebläut hatte. »Ich kann sie hören.«
Dem Lärm nach zu urteilen, handelte es sich um eine beträchtliche Menge. Eine beträchtliche Menge, und sie kam ständig näher. Leeb musste an den Jubel der Zuschauer beim Großen Wettstreit denken. Hunderte von Stimmen, die sich in aufgeregter Begeisterung erhoben. Tausende von Stimmen sogar. Aber deutlich hörbar lag ein gewisser Irrsinn darin. Ein Hauch wilder Wut, gelegentlich unterbrochen durch splitterndes Glas, berstendes Holz.
Leeb wäre gern weggerannt. Er wollte kein Blut an seinen Händen, schon gar nicht sein eigenes. Außerdem war es nicht so, dass er das Anliegen dieser Leute nicht nachvollziehen konnte, jedenfalls bis zu einem gewissen Punkt. Freiheit und Gerechtigkeit und so weiter, wer fand so was denn nicht prinzipiell gut? Aber er hatte dem König einen Eid geschworen. Nicht dem König persönlich, das war ja klar, aber eben trotzdem. Er war gern bereit gewesen, diesen Eid zu leisten, als alles gut lief, und jetzt konnte er ihn ja wohl nicht brechen, nur weil es gerade mal ein wenig knifflig wurde. Was wäre das denn für ein Eid gewesen?
Sein Oberst hatte ihm versichert, dass Verstärkung unterwegs war. Erst von den Königstreuen. Dann aus Westport. Dann aus Starikland. Und schließlich aus immer unwahrscheinlicheren Orten. Aber offenbar war überhaupt keine Verstärkung angekommen.
Leeb warf einen Blick auf seine Männer, die sich über die Breite des Spurwegs aufgestellt hatten. Wie erbärmlich dünn ihre rote Linie wirkte. Vielleicht vierzig Flachbogenschützen, achtzig Speerträger. Die Hälfte seiner Kompanie war überhaupt nicht angetreten. Die nahmen es mit ihrem Eid offenbar nicht so genau wie er. Er war immer der Ansicht gewesen, dass es keine erstrebenswertere Eigenschaft gab, als ein Mann zu sein, der zu seinem Wort stand. Treue machte einen Offizier schließlich aus. Das hatte ihm auch sein Vater oft gesagt. Aber jetzt hatte es ein wenig den Anschein, als könnte eine gewisse Elastizität in den persönlichen Grundsätzen ganz nützlich sein.
»Sie sind da«, flüsterte Grau wieder.
»Das ist mir aufgefallen, Korporal.« Leebs Mund wurde sehr trocken, als ein leichter Wind die Rauchschwaden vertrieb, die von der Gießerei an der Straße aufstiegen. »Ich kann sie sehen.«
Immer mehr von ihnen, mehr und mehr. Viele sahen wie ganz gewöhnliche Stadtbewohner aus, es waren Frauen und Kinder darunter, und sie schwangen Stuhlbeine und Hämmer und Messer und Speere, die sie aus Wischmopps gefertigt hatten. Andere wirkten wie Profis, deren Rüstungen und schimmernde Waffen glänzten, als sich die Sonne durch die Wolken schob. Leeb klappte allmählich die Kinnlade herunter, als er zu erfassen begann, wie viele es tatsächlich waren.
Ganz offensichtlich hatten die zunehmend schrilleren Proklamationen, die Ausgangssperren, Drohungen und Exempel des Geschlossenen Rats nicht die gewünschte Wirkung gehabt. Im Gegenteil.
»Bei den Schicksalsgöttinnen«, murmelte jemand.
»Standhalten«, sagte Leeb, aber es kam so quietschend aus seiner Kehle, dass es niemandem Ruhe vermittelt hätte. Eher war es dazu angetan, jene nervös zu machen, die gerade noch einigermaßen ruhig gewesen waren. Es war schmerzhaft offensichtlich, dass seine hinfällige kleine Front keine Chance hatte, diese brodelnde Flut aufzuhalten. Nicht die geringste sogar.
Als die Leute Leeb und seine Soldaten sahen, kamen sie unsicher zum Stehen, schoben sich gegen die Vordermänner und -frauen, und die Rufe und Gesänge erstarben. Eine angespannte, seltsame Stille breitete sich aus, und eine völlig unpassende Erinnerung drängte sich Leeb plötzlich auf. Die Erinnerung nämlich an die angespannte, seltsame Stille, als er an diesem Tanzabend in betrunkenem Zustand versucht hatte, seine Kusine Sithrin zu küssen und sie entsetzt den Kopf weggedreht hatte, sodass er ihr am Ende irgendwie den Mund aufs Ohr gedrückt hatte. So eine Stille war das jetzt auch. Allerdings wesentlich Furcht einflößender.
Was war denn nun zu tun? Bei den Schicksalsgöttinnen, was denn bloß? Die Leute durchlassen? Sich ihnen anschließen? Gegen sie kämpfen? Wegrennen und nie wieder stehen bleiben? Das waren alles keine guten Ideen. Leebs Unterlippe zuckte blödsinnig, aber es kam kein Ton aus seinem Mund. Ihm wollte nicht einmal einfallen, was jetzt die am wenigsten dümmste Idee gewesen wäre. Entscheidungskraft macht einen Offizier aus, aber für eine solche Lage war er nicht ausgebildet worden. Man wurde nicht darauf vorbereitet, dass die Welt plötzlich aus den Angeln geriet.
Und jetzt drängte sich eine Reiterin an die Spitze der Menge. Eine Frau mit einem Gestrüpp feuchten roten Haars und einem wilden, verächtlichen Grinsen. Es war, als sei ihre Wut ansteckend, sie sprang jedenfalls sofort auf die Umstehenden über. Gesichter verzogen sich zu Grimassen, Waffen wurden geschwenkt, Schreie und Rufe und Spott ertönten, und plötzlich hatte Leeb keine Wahl mehr.
»Flachbogen anlegen!«, stieß er hervor. Es war beinahe, als ob er jetzt, da die Zeit für eine bessere Idee verronnen war, nur noch auf diesen ganz offensichtlich schrecklichen Einfall kommen konnte. Seine Männer sahen sich an und traten unbehaglich von einem Bein aufs andere.
»Flachbogen anlegen!«, brüllte Korporal Grau, dem die Adern an seinem dicken Hals hervortraten. Gleichzeitig bedachte er Leeb mit einem leicht verzweifelten Blick, wie ihn vielleicht der Lotse eines kenternden Schiffs seinem Kapitän zuwerfen mochte und in dem die unausgesprochene Frage lag, ob sie wirklich mit ihrem Kahn untergehen mussten. Vielleicht bleiben Kapitäne nur deswegen immer an Bord. Weil es an einer besseren Idee mangelte.
»Und Schuss!«, quiekte Leeb und machte eine Abwärtsbewegung mit seinem Säbel.
Er war sich nicht sicher, wie viele es tatsächlich taten. Weniger als die Hälfte. Hatten sie Angst, auf so viele zu schießen? Wollten sie nicht auf Menschen schießen, die vielleicht ihre Väter, Brüder oder Söhne hätten sein können? Oder ihre Mütter, Schwestern, Töchter? Ein paar schossen in die Luft, entweder mit Absicht oder aus Nervosität. Es machte keinen Unterschied. Wie denn auch.
Die entsetzliche Teufelin an der Spitze stach mit einem gebogenen Finger in Leebs Richtung.
»Bringt diese Arschlöcher um!«
Und sie griffen zu Hunderten an.
Leeb war ein einigermaßen tapferer Mann, ein einigermaßen ehrbarer Mann, ein einigermaßen überzeugter Monarchist, der seinen Eid gegenüber dem König sehr ernst nahm. Aber Leeb war kein Narr. Er wandte sich um und rannte mit seinen Männern davon. Es war keine Kompanie mehr, sondern eine quiekende, sich anrempelnde, wimmernde Schweineherde.
Jemand schubste ihn, und er stürzte, überschlug sich. Das war vielleicht sogar Korporal Grau gewesen, verdammt noch eins. Sie zerstreuten sich jetzt alle, warfen ihre Waffen weg, und er duckte sich in ein Gässchen, rannte an einem überrascht aussehenden Bettler vorüber und wäre beinahe noch einmal gestürzt. Wie konnte ein Mann seinem Eid treu bleiben, wenn alle anderen ihn brachen? Eine Armee baute schließlich darauf auf, dass alle dasselbe Ziel verfolgten.
Zum Agriont, das war alles, was er denken konnte. Er hastete durch die verwinkelten kleinen Straßen, und sein Hals prickelte vor Angst, sein Atem sägte in seiner Kehle. Diese verdammte schwache Lunge, die hatte ihm schon immer Beschwerden gemacht. Fällt dir vielleicht ein Lord Marschall mit schwacher Lunge ein?, hatte ihn sein Bruder immer gefragt. Die Lunge macht einen Offizier doch aus! Aduas giftiger Rauchnebel war auch nicht gerade förderlich gewesen. Er sank in einem Hauseingang zusammen und versuchte, den Husten zu unterdrücken. Irgendwo hatte er seinen Säbel verloren. Oder hatte er ihn weggeworfen?
»Verdammte Scheiße.« Er starrte auf seine Uniformjacke. Leuchtend rot. Röter hätte sie gar nicht sein können. Ihr ganzer Zweck bestand darin, ihn deutlich sichtbar zu machen. Wie eine Zielscheibe.
Er stolperte von der Tür weg, fummelte an den Messingknöpfen und lief geradewegs in eine Gruppe kräftig gebauter Kerle hinein. Arbeiter vielleicht, aus einer der Gießereien in dieser Gegend. Aber es lag etwas Wildes in ihren Augen, das Weiße leuchtete grell in ihren ölverschmierten Gesichtern.